Celluloid Viennale Sonderheft 2016

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VIENNALe

celluloid filmmagazin Nr. 6a/2016 I Oktober/November I Sonderausgabe zur Viennale 2016

celluloid filmmagazin

die viennale-filmtipps der celluloid-redaktion

Mit programm

„Stille reserven“ von valentin hitz



celluloid

filmmagazin Ausgabe 6a/2016 - 17. jahrgang OKTOBER 2016

VIENNALe INFOS UND TICKETS: www.viennale.at I 0800 664 016 Vorverkauf ab 15.10.2016

S

HURCH

eit einigen Jahren Produziert die Viennale zu jedem Festival ein großes Plakat, auf dem 200 Bilder aus den verschiedensten Filmen des jeweiligen Programms zu sehen sind. 200 ganz und gar unterschiedliche Photos, Farbbilder neben schwarz-weißen, alte Aufnahmen neben neuen, Bilder aus Tributes, Spezialprogrammen und den vielen aktuellen Spiel- und Dokumentarfilmen. Die Zusammenstellung ist ein eher zufälliges Arrangement, in dem die unterschiedlichsten und gegensätzlichsten Filme nebeneinander stehen, andere wieder sich im benachbarten Werk fortzusetzen scheinen. Betrachtet man dieses Plakat aus einiger Entfernung, so erscheint es wie ein unruhiges Flimmern, ein heilloses Durcheinander, eine Irritation die jedoch neugierig macht. Neugierig mehr und Genaueres zu erkennen, einzelne Bilder zu studieren, sich zu erinnern, das eine oder andere zu entziffern. Sich in Einzelnes zu vertiefen, anderes zu vergessen. So ähnlich stelle ich mir das Bild unseres Festivals vor, das Bild unserer Arbeit. Das wäre der Wunsch, ein unhierarchisches, ebenso friedliches wie kontroversielles Neben- und Gegeneinander der unterschiedlichen Anmutungen, Farben, Gesten, Geschichten und erst in der konkreten Beschäftigung und Auswahl erschließt sich ein Ganzes. Es fällt mit immer schwer Einzelnes vorwegzunehmen, aber ein Paar Namen möchte ich nennen von Regisseuren und Filmen, die von diesem vergangenen Kinojahr vielleicht bleiben, die besondere Momente im aktuellen Filmgeschehen markieren. Dazu zählen Kenneth Lonergans Eröffnungsfilm „Manchester by the Sea“, „Aquarius“ von Kleber Mendonça Filho, Bertrand Bonellos „Nocturama“, Tim Suttons „Dark Night“, der Siegerfilm des Festivals von Venedig „Ang Babaeng Humayo“ von Lav Diaz, Paul Verhoevens „Elle“ oder „Certain Women“ von Kelly Reichardt um nur die bekannteren zu nennen. Aber ebenso wie bisher weniger Vertrautes, das einen zweiten Blick verdient, darunter „El futuro perfecto“ von Nele Wohlatz, „La Permanence“ von Alice Diop, „I Cannot Tell You How I Feel“ von Su Friedrich, „A Magical Substance Flows Into Me“ von Jumana Manna, „Eldorado XXI“ von Salomé Lamas oder „Territorio“ von Aexandra Cuesta, im Übrigen sämtliche filmische Arbeiten von Regisseurinnen. Jetzt auch noch von all unseren wunderbaren Tributes und Special Programms zu erzählen würde das große Bild ganz und gar zum Flimmern bringen. Von „The Kinks“ zu Pete Hutton, von Kuba bis Christopher Walken. Wie heißt es so schön, wenn die Schausteller und Ausrufer zur Betrachtung ihrer Kunststücke und kleinen Wunder bitten: „Zögern Sie nicht! Träten Sie näher! Machen Sie sich Ihr eigenes Bild!“ -Hans Hurch

200 Filme in 14 tagen

20.

EDITORIAL Liebe Leser, Die Viennale ist immer die beste Zeit des Jahres für Filmfeinschmecker - hier können sie entdecken und verkosten, was sie sonst im Kino eher nicht zu sehen bekommen. Hans Hurch hat mit seiner 20. Viennale wieder einen kompakten Überblick über das aktuelle Weltkino zusammen gestellt und wird damit einmal mehr dem Ruf dieses wunderbaren Filmfestivals gerecht, das man in Nah und Fern als eine große Verbeugung vor den Spielformen des Kinos kennt. Die Viennale bietet noch viel mehr Vielfalt, als auf diese Seiten passen. Wir vom Filmmagazin celluloid präsentieren als Medienpartner der Viennale daher unsere ganz persönlichen Highlights des Festivals in unserer Festivalausgabe, die Sie nun in Händen halten. In der Heftmitte finden Sie eine Programmübersicht. In diesem Sinne, Viel Spaß beim Schmökern, Matthias greuling Chefredakteur & Herausgeber celluloid@gmx.at

Die viennale 2016 ist die 20. unter der ägide von hans hurch. noch zwei weitere mit ihm werden folgen.

29 euro kostet ein ticket für das konzert von viennale-stargast patti smith am 1. november im gartenbaukino. Folgen sie uns auf twitter: www.twitter.com/mycelluloid unser Youtube-Channel: www.youtube.com/celluloidVideo Unsere Website: www.celluloid-filmmagazin.com finden sie uns auf Facebook: www.facebook.com

celluloid FILMMAGAZIN Nummer 6a/2016 Oktober 2016. Sonderausgabe zur Viennale 2016. Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Werbeagentur Matthias Greuling für den Verein zur Förderung des

österreichischen und des europäischen Films. Chefredakteur: Matthias Greuling. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Gunther Baumann, Paul Heger, Katharina Sartena, Doris Niesser, Sandra Wobrazek. Layout / Repro: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Fotos, sofern nicht anders angegeben: Viennale. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Anschrift: celluloid Filmmagazin, Spechtgasse 57/5, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@gmx.at, Internet: www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2016 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.

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Casey Affleck und Michelle Williams in „Manchester by the Sea“

KENNETH LONERGAN

MANCHESTER BY THE SEA Viennale-Termine: 20.10., 19.00 Uhr (mit einladung), 23.00, Gartenbau I 21.10., 13.00 Uhr, Gartenbau

Die viennale eröffnet mit „Manchester by the sea“, dem sundance-hit von Kenneth Lonergan, der als einer der oscar-favoriten 2017 gilt. Der regisseur kommt persönlich nach wien.

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as Leben von Lee Chandler (Casey Affleck) – zentrale Figur in „Machester by the Sea“, dem Eröffnungsfilm der 54. Viennale – ist wenig ereignisreich: Der introvertierte Handwerker aus Boston verbringt seinen Arbeitsalltag als Hausmeister mit Säubern verstopfter Toiletten, Streichen von Wänden und monotonem Laubkehren. Als Lees alleinerziehender Bruder Joe (Kyle Chandler) an einem Herzinfarkt stirbt, übernimmt Lee die alleinige Obsorge seines 15 Jahre alten Neffen Patrick (Lucas Hedges). Gemeinsam mit dem Teenager zieht der Neo-Vater in seine alte Heimatstadt Manchester-by-the-Sea zurück. Doch auch dort erwartet ihn wenig Erfreuliches: Ex-Frau Randi (Michelle Williams) macht ihm immer noch das Leben schwer – und auch die anderen Bewohner seiner Nachbarschaft zeigen sich zurückhaltend und misstrauisch. Mit der Zeit wird Lee mehr und mehr die düstere Vergangenheit seiner eigenen Familie und eine Tragödie, die viele Jahre zurück liegt, bewusst. „Es geht um jemanden, der Unerträgliches erlitten hat. Aber da er eine enge Verbindung zu seiner Familie hat, kann er sich nicht einfach zurückziehen und verschwinden. Mich hat dabei in erster Linie interessiert, wie man es schafft, mit solch einem Verlust umzugehen. Ich bin davon

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überzeugt, dass es einzig die Liebe ist, die es den Menschen ermöglicht, solche Phasen durchzustehen,“ sagt Drehbuchautor und Regisseur Kenneth Lonergan („Margaret“), dem die Viennale auch eines ihrer heurigen Tributes widmet, über sein komplexes Drama, das er persönlich in Wien vorstellen wird. Das pendelt zwischen tragischen Momenten und lebensfrohem Humor

und wird seit seiner Premiere beim Sundance Film Festival als Oscar-Anwärter gehandelt. Lonergans Film ist dabei nicht nur die berührende Geschichte eines Onkels und seines Neffen sowie eine Studie über Trauma und Verlust – „Manchester by the Sea“ ist vor allem eine Geschichte über nichts Geringeres als das Leben selbst. - Sandra Wobrazek

Kenneth Lonergan (mit Kopfhörer) am Set

Fotos: Universal

Eröffnungsfilm


abschlussfilm

DAMIEN CHAZELLE

LA LA LAND Viennale-Termine: 31.10., 18.00 Uhr, Gartenbau I 3.11., 13.00 Uhr, Urania Viennale-Termine: 2.11., 19.30 Uhr (mit einladung), 23.00, Gartenbau

Foto: Constantin

„Einer von uns“

Emma Stone (mit Ryan Gosling) ist dank „La La Land“ auf Oscar-Kurs

„Musicals sind simpel, sie sind da zum Träumen“, findet Regisseur Damien Chazelle, der mit „La La Land“ vom guten, alten hollywood erzählt.

G

eDas Musical „La La Land“ des jungen USRegietalents Damien Chazelle („Whiplash“) ist vollgestopft mit Referenzen an die Filmhistorie. „La La Land“ ist ein Film, der Kitsch und Glamour mindestens ebenso umfassend abfeiert, wie er mit großer Ernsthaftigkeit eine dramatische Liebesgeschichte durchdekliniert. Emma Stone und Ryan Gosling spielen zwei darbende Künstler im zeitgenössischen Los Angeles: Sie erfolglos als Schauspielerin, die von Vorsprechen zu Vorsprechen nur mehr noch frustrierter wird. Tagsüber jobbt sie im Café auf dem Studiogelände von Warner Bros. Das ist in Hollywood kein Einzelschicksal. Er ist ein dem Jazz verfallener, begnadeter Pianist, dessen einstige Arbeitsstätte, ein Jazzclub, durch einen Samba-Tapas-Laden ersetzt

wurde. Also Samba aus dem Lautsprecher und Tapas für das leibliche Wohl. „Der Jazz stirbt“, ist seine schlüssige Diagnose. „La La Land“ würde seine musikalischen Einlagen mit den überaus exakt und diszipliniert agierenden Akteuren Stone und Gosling gar nicht brauchen, um seine nahe am Kitsch und am Wasser gebaute Geschichte überzeugend zu erzählen, und doch sind es die Musical-Elemente, die Chazelles Hommage an die großen Zeit der Filmmusicals so richtig lebendig werden lassen. Stepptanz über den Hügeln von Los Angeles zur blauen Stunde oder eine perfekt choreografierte Eröffnungssequenz mit Tanz auf einer durch Stau lahmgelegten Autobahn sind in sich geschlossene Highlights des Films. Angenehm ist, dass Chazelle seine Referenzen an

die gute, alte Zeit nicht zum Teil der Handlung per se macht, sondern stets im Heute bleibt; dadurch hat man nie das Gefühl, das „schon einmal gesehen zu haben“, sondern wohnt tatsächlich einer Novität bei: Ein stilistisch überhöhtes Musical im prinzipiell bodenständigen Milieu zunächst gescheiterter Künstler ist ein Balanceakt, der auch peinlich sein könnte. Dank der grandiosen Besetzung bleibt Chazelle das aber trotz so manch dick aufgetragener Szene erspart. Hauptdarstellerin Emma Stone wurde beim Filmfestival von Venedig für „La La Land“ mit dem Preis für die beste Schauspielerin bedacht, was sie in eine gute Ausgangslage für die kommende Oscar-Verleihung bringt. -Matthias Greuling celluloid 6a/2016

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Isabelle Huppert mit „Elle“-Regisseur Paul Verhoeven in Cannes, Mai 2016

isabelle huppert

Foto:Katharina Sartena

die frau, die überall ist Viennale-Termine „ELLE“: 25.10., 23.00 Uhr, Gartenbau I 27.10., 20.30 Uhr, Gartenbau Viennale-Termine „L‘AVENIR“: 25.10., 20.30 Uhr, Gartenbau I 29.10., 12.00 Uhr, Gartenbau

ISABELLE HUPPERT ist gleich mit zwei filmen bei der viennale zu sehen: Mit „Elle“ von Paul verhoeven“ und mit „L‘AVENIR“ von Mia hansen love. wir trafen sie zum gespräch.

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in Einzel-Interview mit Isabelle Huppert? Kann das wirklich wahr sein? Staunen beim Blick auf den Terminplan. Und ja, da steht schwarz auf weiß - „One-on-one“ mit Isabelle Huppert. Zu viel der Ehre. Und auch die zwei Tage später überarbeitete Fassung des Plans enthielt noch immer dieselben Worte. „One-on-one“. Isabelle Huppert, 62, gilt unter Journalisten zuweilen als Giftschlange. Als jemand, den man nur schwer interviewen kann. Geschichten über Allüren machen die Runde. Über ganz mühsame Allüren. Doch wie immer im Leben kommt es anders, als man denkt. Überraschung eins: Die Agentur, die das Interview mit Hupperts in Paris organisiert hat, spricht von einem sehr bedauerlichen Fehler, denn Frau Huppert gibt schon lange keine Einzelinterviews mehr, heißt es. „Désolé.“ Stattdessen ein schnöder Round Table mit sechs anderen Journalisten. Längst die Realität im internationalen Interview-Betrieb. Aber noch nie wurden Erwartungen (One-on-one!) bitterer enttäuscht. Fragen werden wild durcheinander geworfen, roten Faden im Gespräch gibt es schon gar keinen. Aber immerhin die zweite Überraschung des Tages: Frau Huppert ist weit entfernt davon, in der Schublade mit anderen Zicken des Filmgeschäfts zu landen, sondern kommentiert geduldig jede noch so sprunghafte Gesprächswendung. Eine geraffte Aufzeichnung von 30 Minuten mit dem französischen Weltstar Isabelle Huppert, die bei dieser Viennale gleich in zwei außerghewöhnlich starken Filmen zu sehen sein wird: In „L’avenir“ von Mia Hansen-Love und in „Elle“ von Paul Verhoeven. celluloid: Sie gehören zu den meistbeschäftigten Schauspielerinnen Frankreichs. Was ist der Grund für Ihre Arbeitswut? Isabelle Huppert: Das letzte Jahr war be-

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sonders intensiv. Ich hatte sechs Filme hintereinander gedreht - und eigentlich waren es sieben, denn Luc Bondy hat das Stück im Odeon Theater, das wir dort im Vorjahr aufgeführt haben, mitgedreht, bevor er gestorben ist. Daraus wird ein weiterer Film entstehen. Sehen Sie, ich bin glücklich, wenn ich arbeite. Denn meine Arbeit fällt mir nicht schwer. Beim Theater ist es etwas anders, da ist man mehr herausgefordert als beim Film. Für mich ist das Filmemachen eine gegenwärtige Erfahrung. Ich arbeite sehr im Hier und Jetzt. Da gibt es weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft. Wenn ein Film abgedreht ist, dann ist er auch für mich passé. Ich meine damit, dass ich keinerlei Erinnerungen an Filme, die ich gedreht habe, aufbewahre - also nicht bewusst. Die Freude an der Arbeit liegt an der Arbeit selbst, in dem Moment, wo ich sie tue. Davor und danach nicht. Das ist alles. Wie behalten Sie eigentlich den Überblick über Ihre vielen Projekte? Haben Sie einen Manager? Nein, ich bin erwachsen. In unserem kleinen Land machen wir die Dinge immer noch selbst. Im Sommer drehten Sie „Happy End“ mit Michael Haneke. Ein Film von Haneke, der „Happy End“ heißt, das klingt per se schon wie ein Witz. Ja, und ich kann Ihnen verraten: Haneke hat einen ganz großartigen Sinn für Humor! Der Film wird eine Familiengeschichte erzählen, die im Norden Frankreichs, unweit von Calais angesiedelt ist. Dort, wo viele Flüchtlinge versuchen, nach Großbritannien überzusetzen. Der Film wird keineswegs ein Flüchtlingsdrama, sondern zirkelt um diese sehr wohlhabende Familie und ihre Probleme. Mehr zu sagen ist schwer, denn ich weiß leider selbst nicht wirklich, wie das werden wird.

Wissen Sie, ob Haneke Sie schon beim Schreiben des Buches im Kopf hatte? Ich weiß es gar nicht, ich habe ihn nicht gefragt. Aber er hatte sicher Jean-Louis Trintignant im Kopf, als er schrieb. Er spielt wieder meinen Vater, wie schon in „Amour“. Schreiben Sie auch? Nein! Wieso nicht? Weil ich nicht weiß, wie das geht. Ich habe es auch nie probiert, ich habe einfach zu viel Arbeit. Ich habe dafür keine Zeit. Ich bin einfach nur eine Schauspielerin. Einige Ihrer Kollegen berichten gerne, wie sehr sie für ihre Rollen leiden müssen. Sie scheinen eine gesunde Distanz dazu zu haben, und zugleich sieht man als Zuschauer, wie sehr Sie sich in diese Figuren einleben. Was ist Ihr Geheimnis? Das ist vielleicht der Grund, weshalb ich so gut mit Haneke auskomme: Ich verstehe das Schauspielen als ein Objekt, dem ich eine Form gebe. Es ist eine Skulptur. Ich muss dafür nicht leiden, ich gebe einfach nur eine Form. Ich bin weder innerhalb der Form noch außerhalb. Es ist einfach nur eine Arbeit. Warum ist das wichtig für Haneke? Haneke ist ein großer Pragmatiker. Ich liebe das. Er ist nicht sentimental, sondern er macht seine Arbeit. Sein Mantra ist: Keine Sentimentalität! Ich bin auch nicht sentimental. Am Set entsteht oft großes Gelächter, wenn er auf seine typische Art sagt, dass er bitte jetzt keine Sentimentalität haben möchte. - Aufgezeichnet von Matthias Greuling


LAV DIAZ

TRIUMPH DER LANGSAMKEIT Viennale-Termine: „Hele sa hiwagang hapis“ 1.11., 12 Uhr, METRO Viennale-Termine: „Ang Babaeng Humayo“: 26.10., 13.30 Uhr, Gartenbau

Dbrechen weniger mit Sehgewohnheiten als

ie Filme von Lav Diaz aus den Philippinen

Foto:Katharina Sartena

vielmehr mit den Tempi der hastigen Gesellschaftsordnung, in der wir leben. Diaz’ Film „Ang Babaeng Humayo“ („The Woman Who Left“), der beim 73. Filmfestival von Venedig soeben mit dem Goldenen Löwen prämiert wurde, gehört dabei zu den eher kurzen Werken des Regisseurs. Mit 226 Minuten Spielzeit unterbietet Diaz sowohl seinen sechsstündigen Locarno-Sieger von 2014, „Mula sa kung ano ang noon“, als auch seinen achtstündigen „Hele Sa Hiwagang Hapis“ (ebenfalls bei der Viennale zu sehen), der ihm bei der heurigen Berlinale den Alfred-Bauer-Preis für innovatives Kino einbrachte. Nun also der Goldene Löwe. Wenn dieser Mann so weitermacht, dann hat er bald alle wichtigen Filmpreise dieser Welt zuhause stehen - vorausgesetzt, die Jurys der Filmschauen bringen weiterhin die Geduld dazu auf, sich von seinen Werken beseelen zu lassen. Denn schon wird harsche Kritik laut an den Juroren, die sich für Diaz’ träges Kino stark machen. Dabei tut man dem philippinischen Filmemacher auch ein wenig Unrecht. Zwar mag es eine Herausforderung an die Auf-

merksamkeit der Zuschauer sein, sechs Stunden lang durch den philippinischen Dschungel zu gleiten, noch dazu in Schwarzweiß, aber Diaz versteht sich als akribischer Chronist der Befindlichkeiten seiner Heimat und solche Stimmungsbilder brauchen eben ihre Zeit, davon ist der Filmemacher überzeugt. Regisseur Lav Diaz

„The Woman Who Left“, das neue Werk, wirkt mit seinen vier Stunden wie ein Kurzfilm. Diaz erzählt von Horacia (Charo Santos-Concio), die jahrzehntelang zu Unrecht im Gefängnis saß und nach ihrer Freilassung die Umstände ihrer Haft und die wahren Täter herausfinden will. Diaz reflektiert hier wie in all seinen Filmen die Mentalität seiner Heimat, historisch verankerte Wendepunkte und ihre oftmals schwerwiegenden Auswirkungen auf die Gesellschaft. Scheinbar unbeirrbar folgt er diesem Weg, auch wenn das bedeutet, dass seine Filme fast nie einen regulären Kinoeinsatz erhalten, sondern nur in Sondervorführungen auf Festivals laufen oder im Nachtprogramm mancher Kultursender. Immerhin verlässt Diaz für „The Woman Who Left“ seinen sonst so ausufernden Stil in die Länge gezogener Bilder. Der Film wirkt beinahe wie eine Reportage, es gibt Mord und Totschlag, aber auch Rachegefühle und Hinterlist. Dennoch landet Diaz bald wieder bei seinem Ruhepuls; das Schwarzweiß ist hier noch kontrastreicher als sonst, es lässt weniger Grauschattierungen zu. Gestalterisch will uns Diaz sagen, wie schwarz und weiß die Welt geworden ist - er nennt das bei all der bildlichen Stilisierung: wahrhaftig. -Matthias Greuling

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Kleber Mendonca Filho

AQUARIUS Viennale-Termine: 21.10., 20.30 Uhr, Gartenbau I 2.11., 15.30 Uhr, Gartenbau

ein kleiner brasilianischer film mit der herausragenden Sonia Braga.

Foto: Katharina Sartena

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n Cannes hat heuer im Wettbewerb ein kleiner Film aus Brasilien für viel Aufsehen gesorgt, den nun auch die Viennale zeigt: „Aquarius“ von Kleber Mendonca Filho erzählt von der 65-jährigen pensionierten Musikkritikerin Clara (Sonia Braga), die in Recife in einem alten Wohnkomplex mit Meerblick namens „Aquarius“ lebt. Doch alle Apartments im Haus wurden bereits von einer Firma aufgekauft, die mit dem Haus bestimmte Pläne haben. Clara weigert sich standhaft, die Wohnung aufzugeben, für die sie ein Wohnrecht bis zu ihrem Lebensende hat. Ein kalter Krieg zwischen ihr und den Eigentümern beginnt. „Aquarius“ sagt in seiner Schlichtheit sehr viel über die brasilianische Gesellschaft aus und reflektiert auf subtile Weise, wie mit Immobilienspekulation in Brasilien, speziell in Recife, nicht nur Politik gemacht wird, zu der immer auch der Geruch der Korruption gehört, sondern wie man auch auf einer psychologischen Ebene mit alten Mietern verfährt. „Es gab hier vor der Rezession eine regelrechte Ralley, wenn es darum ging, alte Häuser aufzukaufen und sie abzureißen“, erzählt Regisseur Kleber Mendonca Filho. Der

Sonia Braga

47-Jährige erzählt auch, wie sehr man Mieter und auch Eigentümer unter Druck gesetzt hat, „bis sie letztlich ausgezogen sind. Man hat die Häuser abgerissen, ein neues drauf gebaut und teuer verkauft. Ich wollte in meinem Film zeigen, wie dieser Vorgang mit einem persönlichen Schicksal verknüpft sein kann“. Ganz nebenbei ist „Aquarius“ dadurch auch eine metaphorische Szenensammlung vom Handeln moderner Großkonzerne, die längst mit psychologischen Mitteln agieren, um ihre

Ziele zu erreichen. „Clara gerät zunehmend unter Druck, und beginnt bald, an ihrem Verstand zu zweifeln. Da sieht man, wie weit psychologische Einschüchterung gehen kann“. Sonia Braga spielt diese Clara sehr überzeugend. Die brasilianische Schauspielerin, die durch Telenovelas berühmt wurde und in den 80er Jahren in Hollywood mit Regisseuren wie Clint Eastwood oder Robert Redford drehte, war Fihlos Wunschbesetzung für die Rolle. „Sonia Braga kann mit ihrer unglaublichen Präsenz einer Figur wie Clara Leben einhauchen, weil sie versteht, wie wichtig es ist, sich auf eben diese Präsenz zu konzentrieren. Alles im Film dreht sich um Clara, und diese Last muss eine Schauspielerin erst einmal tragen können“. Dass Braga in ihrer Jugend auch als Sexsymbol des brasilianischen Films galt, war für den Regisseur nicht ausschlaggebend. „So habe ich sie nie gesehen. Für mich ist sie mehr ein Symbol für ewige Schönheit. Jeder in Brasilien kennt ihr Gesicht, sie ist Teil unserer Kultur. Und diesen Umstand wollte ich in meinem Film feiern“. - Paul Heger

Dennis villeneuve

arrival Viennale-Termine: 21.10., 23.30 Uhr, Gartenbau I 24.10., 15.00 Uhr, Gartenbau

„Arrival“ von Denis Villeneuve: Amy Adams findet gut, nicht alles zu wissen, was kommt.

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Foto: Katharina Sartena

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liens, die auf die Erde kommen und der Menschheit damit mehr oder weniger Freude bereiten – eine Thematik, an der sich Hollywood in den vergangenen Jahrzehnten durchaus, und dies in höchst unterschiedlicher Qualität, abgearbeitet hat. Dass es auch in diesem Genre durchaus noch Neues zu entdecken gibt, beweist Dennis Villeneuves „Arrival“. In der Verfilmung der Kurzgeschichte „Story of Your Life“, von Science-Fiction-Autor Ted Chiang, landen zwölf Raumschiffe an den unterschiedlichsten Orten der Erde, versetzen die Menschen in Panik, führen zu Plünderungen und Aufständen. Um Kontakt mit den unbekannten und sich friedlich verhaltenden Wesen aufzunehmen, engagiert das US-Militär die renommierte Linguistin Louise Banks (Amy Adams). Die zahlreiche Sprachen sprechende Wissenschafterin soll herausfinden, was genau die Aliens, die sich die ganze Zeit über in ihren Raumschiffen verstecken, genau wollen. An ihrer Seite: der Mathematiker Ian Donnelly (Jeremy Renner). Doch das erste Zusammentreffen mit den fremden Wesen erweist sich als schwierig, verwenden sie doch statt Sprache unbekannte Zeichen, um ein Vielfaches komplexer als jede nur erdenkliche bekannte Sprache. Hinzu kommt, dass immer

Amy Adams mit Jeremy Renner

mehr Staaten die neuen Wesen mit Waffengewalt vertreiben möchten – und niemand weiß, wie diese darauf reagieren werden. Im Zuge der Recherchen zur Bedeutung der Symbole wird Louise intensiv mit ihrer eigenen schmerzvollen Familiengeschichte und dem größten Verlust ihres Lebens konfrontiert. Anders als die meisten cineastischen Aliengeschichten geht es in dem spannenden und visuell ansprechenden Film von Regisseur Villeneuve („Sicario“) nicht um den Kampf Mensch gegen Alien, sondern um Kommunikation, Verständnis und Akzeptanz. In langen, mehr an einen klassischen Krimi denn an einen Thriller erinnernden

Sequenzen wird die Frage nach der Botschaft der Außerirdischen zum zentralen Handlungselement – und wie Louise, von Adams überzeugend und mit großer Tiefe verkörpert, mit ihnen sprachlich und visuell in Kontakt tritt. Für Amy Adams ist „Arrival“ nicht nur ein Film über Kommunikation, sondern auch einer über eine liebende Mutter: „Ich bin selber Mutter und weiß nur zu gut, was dieses ganz besondere Band zu einem Kind bedeutet. Deshalb hat mich das Drehbuch schon nach den ersten Zeilen angesprochen und ich wollte diese Rolle unbedingt spielen“, meint Adams im Gespräch. Das Wissen um die eigene Zukunft und der Umgang damit, ein ebenfalls zentraler Bestandteil des Films, sind Fähigkeiten, die die 42-jährige Amerikanerin keinesfalls besitzen möchte, würde es ihr doch all zu viel Angst machen: „Es ist nun einmal so, dass das Leben auch seine Schattenseiten hat und die Zukunft nicht immer rosig ist. Denn jeder von uns wird mit Verlust und Trauer konfrontiert. Und das sind Dinge, die ich nun wirklich nicht vorab erfahren wollen würde. Keine von uns kann sagen, was die Zukunft bringen wird, und gerade deshalb müssen wir auch im Moment leben und ihn so intensiv wie nur möglich genießen.“ - Sandra Wobrazek


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VAlentin hitz

Dagmaer Koller und Clemens Schick in „Stille Reserven“

Viennale-Termine: 21.10., 18.00 Uhr, Gartenbau I 4.11., 23.30 Uhr, STadtkino

der österreichische regisseur valentin hitz entwirft eine clevere dystopie im wien der nahen zukunft.

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ien in der nahen Zukunft: Konzerne haben längst die Macht übernommen. Grenzen verlaufen durch die Stadt und durch die Gesellschaft: Zwischen denen, die sich eine Todesversicherung leisten können, und der Mehrheit der anderen. Versicherungsagent Vincent Baumann (Clemens Schick) wird selbst Opfer dieses Systems, das er eigentlich vertritt. Der faszinierenden Aktivistin Lisa Sokulowa (Lena Lauzemis) auf der Spur, erscheint ihm Widerstand plötzlich als Möglichkeit. Aber die Grenzen sind nicht so eindeutig, wie er bisher angenommen hat. Regisseur Valentin Hitz hat mit „Stille Reserven“ einen etwas anderen Wien-Film gedreht, nämlich einen, der neue Perspektiven auf die klassische Sichtweise auf diese Stadt bietet. Außerdem gelingt Hitz eine clevere Dystopie über unser Verhältnis zu Leben und zum Tod. Science Fiction, wie man sie aus Österreich kommend nicht für möglich gehalten hätte. Wie sehr kann man sich wirklich vorstellen, dass eine Dystopie wie „Stille Reserven“ einmal Wirklichkeit werden könnte? Valentin Hitz: Grundsätzlich sind wir von dem, was im Film passiert, nicht allzu weit entfernt. Es kommt allerdings immer auf die Verpackung an, wie uns etwas angepriesen wird. Für mich war es spannend, eine Science-Fiction-Geschichte aus einer vermeintlichen Zukunft zu entwerfen, obwohl man sehr schnell merkt, dass wir eigentlich über die Gegenwart sprechen. Wenn das rüberkommt, habe ich mein Ziel erreicht. Was Films?

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war

der

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Ausgangspunkt

des

Nicht sterben zu dürfen, und zwar als beunruhigender Gegenentwurf zu der unser Leben bestimmenden, nicht minder beunruhigenden Feststellung, sterben zu müssen. Wenn sterben zu dürfen ein Privileg wäre, was würde das für die Nichtprivilegierten bedeuten? Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, in der das möglich ist, die das zulässt, sich darauf stützt, daraus sogar Profit schlägt? Um diesen Fragen nachzugehen, hat sich eine Verlagerung der Geschichte in die Zukunft aufgedrängt. In die nahe Zukunft allerdings. Gegenwärtige Tendenzen konsequent weiter gedacht, auf die Spitze getrieben, im Detail umgedeutet. Hier treffen dann zwei sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander… Vor dem Hintergrund der Absicherung und der Verwirtschaftlichung aller Lebensbereiche bis in den Tod und darüber hinaus, in einer Gesellschaft, in der jeder einzelne finanziell für sich selber verantwortlich gemacht wird, trifft Vincent Baumann, Agent für Todesversicherungen, auf die „Recht auf Tod“-Aktivistin Lisa Sokulowa. Was sie zusammenführt, sind ihre jeweiligen Interessen. Er will sie benutzen, um sich wieder einzugliedern, seine unterbrochene Karriere fortzusetzen, sein beschädigtes Selbstbild wiederherzustellen. Sie hofft darauf, über ihn eine Befreiungsaktion einzuleiten, die das System empfindlich trifft und ihrer Forderung nach „Recht auf Tod“ entspricht. Im Umkreisen und Bezirzen realisieren beide erst spät, dass sich in ihr manipulatives Spiel der vorgegaukelten Anziehung echte Gefühle eingeschlichen haben. Und für beide bedeutet dieser Kontrollverlust Gefahr. Vertrauen scheint unmöglich. Verrat allgegenwärtig.

Gibt es für Sie ein Resümee aus der Arbeit an „Stille Reserven“? Viele Fragen, die der Film im Grenzbereich zwischen Leben und Tod aufwirft, können nicht beantwortet werden, sollen es auch nicht. Für Kontroversen und Debatten im unmittelbaren thematischen Umfeld können keine Lösungen präsentiert werden. Doch für mich gibt „Stille Reserven“ Anlass zur Beschäftigung mit diesen Fragen, auch zur Beschäftigung mit dem Leben, vom Ende her betrachtet sozusagen, eine Auseinandersetzung mit Lebens-Werten und Lebenswertem.

Regisseur Valentin Hitz

Fotos: Filmladen

stille reserven


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Corinna Belz

Foto: Viennale

Peter Handke: BIN Im Wald. Kann sein, dass ICH mich verspäte

Viennale-Termine: 23.10., 20.30 Uhr, URANIA I 25.10., 11.00 Uhr, Stadtkino

C

orinna Belz zeigt, wie Schriftsteller Peter Handke lebt und arbeitet. In seinem durch und durch entschleunigten Dasein braucht es Stille, aber auch Wut, um Handkes Literatur zustande zu bringen, das hat die Dokumentarfilmerin in „Peter Handke - Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte“ mit viel Akribie aufgezeigt. Mehr noch als die Frage „Wie tickt Peter Handke?“ interessierte sich Belz aber im Verlauf der Arbeit an ihrem Film an Handkes Lebensthema: „Wie sollen wir leben?“ Frau Belz, Ihr letzter Film porträtierte den Maler Gerhard Richter. Nun nehmen Sie sich Handke vor. Haben Sie ein Faible für solche Persönlichkeiten? Corinna Belz: Ja, mich faszinieren Künstlerpersönlichkeiten, vor allem, wenn sie ein großes Werk haben, weil man da eine Entwicklung entdecken kann. In jeder der Künste greift die digitale Veränderung so stark ein, dass man hier noch einmal genauer hinschauen muss. Aber mit der digitalen Entwicklung in der Welt wird alles schnelllebiger und man hat kaum mehr Zeit für eine Auseinandersetzung mit der Kunst. Genau deshalb mache ich solche Filme. Gerade Handkes Literatur erfordert diese eingehende Beschäftigung… Ja, für ein Buch braucht man ein paar Wochen. Also zumindest ich brauche diese Zeit. Wittgenstein meinte, der Leser solle soviel Zeit zum Lesen brauchen wie der Autor zum Schreiben gebraucht hat. Ich wünsche mir die Zeit zurück, die ich als Studentin mit Lesen verbrachte. Handke findet ja: Das elfte Gebot müsste heißen: Du sollst Zeit haben. Da ist der Handke ein unglaublich vorbildhaftes Beispiel. Beim Dreh

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merkte ich, wie wenig er sich beeinflussen lässt und wie rundherum der digitale Overkill uns alle durchs Leben hetzt. Das ist ihm völlig egal. Ich fand an Ihrem Film faszinierend, dass Handke zunächst als ein Mann erscheint, der nicht die einfachsten Gedanken hat, und dem man darob mit einer gewissen Abstandshaltung begegnet. Und dann hört man ihm zwei Minuten zu und alles wirkt auf einmal so schlüssig. Ich fand das auch verblüffend. Ich habe vier Jahre lang an dem Film gedreht. Man konnte meist nicht länger als eineinhalb Tage am Stück drehen. Ich hatte so viel unterschiedliches Material, dass das gar keine Chronologie zugelassen hätte. Im Schneideraum bin ich dann hin- und hergesprungen zwischen den einzelnen Besuchen, und habe gar nicht erst versucht, eine Linearität herzustellen. Mein Film über Gerhard Richter hatte eine lineare Struktur, denn da stand am Anfang eine leere Leinwand und am Ende war das Bild fertig. Das war vergleichsweise einfach. Bei Handke war mir klar, dass das nicht so leicht werden würde. Ich sichte mein Material immer zweimal, gleich nach dem Dreh und nach einem halben Jahr nochmals. Während dieser Sichtung lernt man das Material erst kennen. Und deshalb braucht es dafür auch ein ausreichendes Maß an Zeit. Daraus ergab sich die episodische Form des Films. Dabei tragen wir verschiedene Themen Handkes auch in mehreren Episoden weiter, zum Beispiel das immer wiederkehrende Verhältnis zwischen Realität und Fiktion, das Handke beschäftigt. Oder auch seine Beziehung zu Sprache. Wie sehr kann man sich als Dokumen-

tarfilmerin an jemanden wie Handke tatsächlich annähern? Das Verhältnis bleibt immer distanziert. Es gab Momente, wo man ganz intensive Begegnungen hatte, aber er hat nicht erwartet, dass ich so lange mit ihm drehen musste und so oft auf Besuch kam. Für einen 90-MinutenFilm muss man ganz viel drehen, was am Ende gar nicht im Film landet. Ich hatte 29 Drehtage, war oft zur Recherche da. Man muss bei einem Langfilm so strukturieren, dass man ihn auch anschauen will. Ich finde es immer ganz furchtbar, wenn manche Filme kein Ende finden und versuchen, alles noch mit hineinzupacken. Man muss auch Weglassen können. Handke stellt die Frage, wie wir leben sollen. Beantworten kann er sie auch nicht. Die Frage ist nicht nur unter den heutigen weltpolitischen Verhältnissen sehr aktuell, sondern auch vor dem Hintergrund der digitalen Welt. Eigentlich hätte ich heute früh meine Emails lesen sollen, habe ich aber nicht getan. Seit Freitag nicht. All diese Zwänge, die unser Leben beschleunigen. Das ist in Handkes Literatur immer mit drin. Von „Angst des Tormanns beim Elfmeter“ bis zu „Über die Dörfer“. Handke ist ein ganz genauer Beobachter, er vermisst sein Umfeld. Mit ihm entdeckt man beim Lesen einen ganz besonderen Realitätsbezug, wenn man es zulässt. Dazu gehört auch, dass er einem dann und wann ein bisschen auf die Nerven geht. Er nimmt einen sofort auseinander, wenn er etwas in einer Frage nicht präzise genug empfindet. Das muss man dann aushalten. - Interview: Matthias Greuling


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ANTITHESE   Mit seiner tiefenentspannten Erzählhaltung wirkt „Paterson“ wie die Antithese zu Hollywoods hektischem Blockbusterkino: statt Globalität herrscht Intimität, statt Überfrachtung regiert Verzicht. Kein Konflikt, kein Bogen, keine Heldenreise. Nur Busfahrten. Und eine unveränderliche, streitlose Beziehung zwischen Mann und Frau, die sich bereits vor Filmbeginn lieben und es auch noch tun, wenn der Abspann läuft. Kein überlebensgroßes Drama, keine schematischen Überraschungen. Was bleibt, ist die immer neue Variation des immer gleichen Tagesablaufs. Und der vielleicht poetischste Film des Jahres. Jarmusch legt mit „Paterson“ im wahrsten Sinne ein Gedicht von einem Film vor, mit dem er sich einmal mehr als Meister des Minimalismus zeigt. Wobei sich der US-Regisseur weniger als Minimalist, denn als Realist sieht, der das Leben einfach nur abbildet, ohne es zu werten. Ganz im Sinne des Kritikers André Bazin, der mit Bezug auf den europäischen Neorealismus betonte, „dass die Welt, bevor sie etwas zu Verurteilendes ist, einfach ist.“ „Paterson“ steht damit in einer langen Tradition von Filmen, die sich der emotionalen Steuerung des Publikums durch affektierte Einstellungsgrößen, Musik und Montage bewusst verwehren. Hier zeigt sich der Kontrast zum hollywoodschen Studiofilm besonders deutlich, gibt dieser seinem Massenpublikum doch insbesondere auf der Tonebene regelmäßig vor, was es zu fühlen hat. Neben der mittlerweile legitimen Recyceltechnik stimmiger Musikkompositionen, setzt der moderne Blockbuster auf verständniserleichternde Szenenklänge: eine witzige Dialogstelle erhält „humorvolle“ Bläser, ein dramatisches Ereignis „tieftraurige“ Streicher. Die

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„Paterson“ von Jim Jarmusch

Foto: Filmladen

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In seiner berühmten Erzählung „Das Aleph“ beschreibt der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einen winzigen, kreisförmigen Gegenstand, der das gesamte Universum enthält. Zu Beginn von „Paterson“ ist es eine Streichholzschachtel, in deren Betrachtung sich ganze Welten abspielen: Der Busfahrer mit Namen Paterson (Adam Driver) sitzt vor Schichtbeginn am Frühstückstisch und betrachtet die Aufschrift einer Packung Ohio Blue Tip Matches. In seiner Mittagspause wird er den Wasserfällen von Paterson, New Jersey, lauschen und die Streichholzschachtel in seinem Notizbuch verewigen. Denn Paterson schreibt Gedichte. Heimliche, große Gedichte. In wenigen Zeilen erhebt er die Ohio Blue Tip Matches zum intimen Gegenstand von Liebe, Sehnsucht und Existenz. Ein Universum der Gedanken – hervorgegangen aus einer winzigen Packung Streichhölzer. „Paterson“ nimmt sich jede Zeit der Welt für solch kleine Beobachtungen und Vorgänge, aus denen die Poesie des Alltags spricht. Da wartet kein verzwickter Plot auf seine Einlösung, keine Backstory auf ihre Erklärung. Nur eine Woche aus dem Leben eines Busfahrers, der nicht weiß, dass er Dichter ist. Mit Adam Driver ist die Titelrolle dabei nicht nur namenstechnisch perfekt gewählt: seine unaufgeregte Darstellung strahlt eine ansteckende Ruhe aus, und man folgt ihm wohlwollend durch die Woche. Paterson erwacht jeden Morgen neben seiner liebevollen, idealistischen Frau Laura (Golshifteh Farahani), fährt jeden Tag dieselbe Busroute, verbringt jede Pause über seinem Notizbuch, geht jeden Abend mit der Dogge hinaus, bleibt jeden Abend an der Bar stehen, in der jeden Abend ein Bier auf ihn wartet. Nein, es passiert nicht viel in Paterson, New Jersey. Das muss es auch nicht. Die Stärke des Films liegt eben in seinen Details, in dem präzisen Blick für die unscheinbaren Prozesse des Alltags, die er mit kindlicher Faszination einfängt – wie das Betrachten einer Streichholzschachtel oder den aufgeschnappten Gesprächsfetzen während einer Busfahrt.

JIM JARMUSCH

PATERSON Viennale-Termine: 24.10., 20.30 Uhr, Gartenbau I 25.10., 6.30, Gartenbau, 27.10., 13.00 Uhr, Gartenbau

über die poesie des busfahrens. Konsequenz ist eine bewusste Audionorm, der musikalische Einheitsbrei, der allen schmecken soll. Die Möglichkeit, eine Szene falsch zu konsumieren, wird von vornherein ausgeschlossen. „Paterson“ bleibt sparsam bei der Zwangsbeschallung, nur gelegentlich setzen elektronisch wabernde Sphären kleine Irrlichter in die nüchterne Arbeiterwelt von New Jersey. Doch die Klänge bleiben ambivalent, die Grundstimmung kann Hoffnung, Resignation oder ein Drittes heißen. Als Independent-Ikone genießt Jarmusch die kreative Unabhängigkeit seines Werkes, dessen simple Narration er mit Leerstellen und Mehrdeutigkeiten anreichert. Hinzu kommt Jarmuschs Hang zur Kleptomanie, der „Paterson“ doppelte Erzählkraft verleiht. VERSCHMELZUNG  Im Gegensatz zur Spektakelmaschine Hollywood, die jeder neuen Generation ihre eigenen, neuen Geschichten verspricht, bekennt sich Jarmusch ganz offen dazu, an allen Ecken und Enden zu stehlen. In „Paterson“ geht sein Selbstverständnis, sich an Vorbildern und Kulturreferenzen zu bedienen, aber noch einen Schritt weiter: Er zitiert nicht bloß, er verschmilzt seine Regiearbeit mit der Lyrik seines Lieblingsdichters. Die gesamte Idee hinter Jarmuschs Film basiert auf dem Schaffen des US-amerikanischen Poeten William Carlos Williams, zu dessen Hauptwerk ein fünfteiliger Gedichtband namens Paterson zählt. Zwischen 1946 und 1958 entstanden, verfolgt der aus New Jersey stammende Williams in dieser lyrischen Kleinstadtodyssee den fantastischen Gedanken, ein Mann könne gleichzeitig ein ganzer Ort sein. Eine symbolische Figur, in der sich Privates und Öffentliches spiegeln und doppeln, wie in einem Kippbild, deren Seiten un-

unterscheidbar ineinander tendieren: „Paterson has gone away / to rest and write. Inside the bus one sees / his thoughts sitting and standing. His thoughts / alight and scatter –“ So heißt es am Ende einer Kurzversion von Williams’ PatersonGedichts. Er beschreibt darin nämliche Stadt und gleichzeitig die Person. Der Ort fängt zu Denken an, der Mensch wird zum Ort – eines kippt ins andere, keine Seite kann ohne einander. „Paterson“ ist Stadt und Mensch, Gedicht und Film. Jarmusch vermengt die Ebenen ohne einen Anflug von zeitgenössischer (Selbst-)Ironie, weil er an seine Figuren glaubt, und porträtiert Paterson, New Jersey, als ein zeitloses, magisches Kaff, zwischen dessen Busrouten, Familienhäusern und Wasserfällen überall die Ahnung eines kleinen Traums durchschimmert. Diese surreale Magie des Alltäglichen strophenförmig zu artikulieren, ohne dem Film seinen visuellen Reiz zu nehmen, das ist der eigentliche Triumph von „Paterson“. Das ist großes Kino ohne große Ereignisse. Erst, wenn Patersons Woche dem Ende zusteuert und am freien Samstag doch noch etwas Ungeplantes passiert, ist das menschliche Drama für einen Moment greifbar nah. Doch Jarmusch lässt es unberührt und beschenkt das aufgeschlossene Publikum stattdessen mit der schönsten Szene des Films, in der ein japanischer Reisender für ein besonderes Aha-Erlebnis sorgt. Dort, an den epischen Wasserfällen, da erspürt Jarmuschs stilles, kleines Herzensprojekt, dessen Treatment fast zwanzig Jahre in der Schublade lag, tatsächlich einen Hauch von Hollywood und dessen unermüdlichen Glauben an den amerikanischen Traum. Doch „Paterson“ spricht ihn nicht aus. Sein Traum ruht zwischen den Zeilen – wie in einem Gedicht. -Constantin Schwab


Jean-Pierre und Luc Dardenne mit ihrem Star Adèle Haenel

KEN LOACH

I, DANIEL BLAKE Ein überraschender cannes-sieger 2016.

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ie Überraschung und die Rührung waren ihm anzusehen: Ken Loach ist ein Cannes-Routinier, der an der Croisette etliche seiner Filme uraufgeführt hat. Dass er für sein neuestes Werk „I, Daniel Blake“ heuer seine zweite Goldene Palme nach „The Wind that Shakes the Barley“ (2006) bekommen würde, daran hat der 79-jährige Brite wohl nicht geglaubt. Zumal andere im diesjährigen Wettbewerb höher gehandelt wurden als Loach. Doch dieser alte Mann mit dem Spürsinn für soziale Brennpunkte, für Alltagsprobleme und -Sorgen hat mit seiner Geschichte um einen 60-jährigen Mann überzeugt, der nach 40 Jahren Arbeit vor dem Nichts steht: Daniel Blake, gespielt von Dave Johns, hat niemals etwas von seinem Staat gebraucht, aber jetzt ist er erstmals in seinem Leben bedürftig: Nach einem Herzinfarkt ist der Tischler arbeitsunfähig, die Sozialämter gewähren ihm gerade einmal zwei Monate Genesungszeit. Blake droht durch den sozialen Rost zu fallen. „I, Daniel Blake“ ist ein Pamphlet gegen die soziale Bürokratie. „Die Welt, in der wir leben, ist in Gefahr, weil die Ideen, die wir ‚neoliberal‘ nennen zu einer Katastrophe führen", sagte Ken Loach in seiner Dankesrede in Cannes. „Eine andere Welt ist möglich und notwendig“. VORBILD EINER NEUEN GENERATION  „I, Daniel Blake“ ist der vorläufige Schlusspunkt in einer langen Karriere, in der Loach, inspiriert von Italiens Neorealisten den Sozialrealismus nach Großbritannien importierte und ihn dort zu seinem Markenzeichen formte, ihn aber auch als Spezialität der Insel etablierte: Bis heute hat das britische Kino - von Mike Leigh bis zu Andrea Arnold - diesen sozialrealistischen Touch behalten. Schon in seinem ersten Film stürzte sich Loach, der Sohn eines Elektrikers und somit selbst Teil der „Working Class“, auf sein Lebensthema: „Cathy Come Home“ (1966) erzählte von einem jungen Paar, das unverschuldet arbeits- und obdachlos wird, und dem darob die gemeinsamen Kinder vom Sozialamt weggenommen werden. Mit seinem letzten Film „Jimmy’s Hall“ über einen irischen Politaktivisten wollte Loach eigentlich seine aktive Karriere beenden, jedoch überlegte er es sich noch einmal anders: „Ich habe voreilig gesagt, aufhören zu wollen“, sagte er. „Denn es gibt noch so viele Geschichten zu erzählen“. Im konkreten Fall wollte Loach „die universelle Geschichte von Menschen, die in eine Notlage geraten“, erzählen. „Wenn man genau hinsieht, kann man die bewusste Grausamkeit sehen, die sich im Herzen der Staatsbürokratie breit gemacht hat: Dort wird dir vermittelt: ‚Wenn du nicht arbeitest, wirst du schon sehen, was dir passiert. Du wirst leiden‘“, sagt Loach. „Die Wut auf genau diese Denkweise ist das Motiv hinter dem Film“. „I, Daniel Blake“ forscht zutiefst politisch an Grundsatzproblemen. Loach hat hier einen Dauerbrenner unter den Sozialproblemen thematisiert; ein Problem, das sich mit zunehmender Arbeitslosigkeit europaweit verstärkt. „Die Jobcenter von heute sind nicht mehr dazu da, den Leuten zu helfen, sondern ihnen Hindernisse in den Weg zu legen“, meint Loach. „In Großbritannien gibt es Job Coaches, die einem Arbeitslosen heute nicht mehr sagen dürfen, welche Jobs verfügbar sind. Das war früher ganz anders. Die Jobcenter-Mitarbeiter müssen eine gewisse Quote von Arbeitslosen mit Sanktionen ‚abstrafen‘ sonst stehen sie intern selbst auf der Abschussliste.“ Für Loach ist „I, Daniel Blake“ nicht nur Tragödie, sondern auch Komödie. „Wir alle kennen ja die Frustration, die sich beinahe in eine schwarze Komödie verwandelt, wenn man an dieser dummen und verrückten Bürokratie scheitert. Ich habe versucht, in diesem Film möglichst wahrhaftig und mit viel Subtext zu arbeiten - damit die Komödie und die Tragödie ihre ganze Grausamkeit zeigen können. Das Motto lautet: ‚Die Armen sind selbst schuld an ihrer Armut‘. Mit einer solchen Einstellung sichert sich die herrschende Klasse ihre Macht ab“, so Loach. Der Regisseur zeigt mit seinem Film, dass er ganz nah an der Zeit geblieben ist. -Doris Niesser

Foto: Lunafilm

„I, Daniel Blake“ von Ken Loach

Foto: Katharina Sartena

Viennale-Termine: 28.10., 18.30 Uhr, Gartenbau I 1.11., 12.30 Uhr, Gartenbau

LA FILLE INCONNU

(Regie: jean-pierre & luc Dardenne)

EPraxis nicht mehr, als es läutet. Am nächsten Tag ine junge Ärztin öffnet Abends die Tür zu ihrer

ist ein Mädchen tot, die Polizei beginnt mit Untersuchungen und auch die Ärztin forscht nach, wie es zu all dem kam. Die belgischen Regiebrüder JeanPierre und Luc Dardenne erzählen in ihrem neuen Film „La fille inconnu“ (Das unbekannte Mädchen) eine Geschichte, die - wie immer bei den Dardennes - eine simple Aussage hat: Die Verantwortung für unsere Mitmenschen kann nicht negiert werden, sie endet nicht bei Büroschluss. Dass die Dardennes diesmal allerdings übers Ziel ihrer ansonsten so simplen, aber wirkungsvollen Erzählweise hinausgeschossen haben, mag daran liegen, dass ihr Plot mit dem Fortgang der Ereignisse so simpel nicht bleibt: „La fille inconnu“ wirkt stellenweise wie ein Sonntags-Krimi anstatt wie eine niveauvolle Auseinandersetzung mit dem Thema. EINFACH KOMPLEX  Sehr beeindruckend agiert aber immerhin die Hauptdarstellerin des Films. Adèle Haenel sieht man bei ihrer Ursachenforschung sehr gerne zu, weil sie sich perfekt in das Universum der Geschichte einfühlt. Das geht auch gar nicht anders, wenn man in jeder Szene zu sehen ist. „Mich hat die Einfachheit und zugleich die Komplexität der Geschichte angesprochen“, sagt Haenel im Gespräch. „Die Dardennes arbeiten sehr präzise, sie kommen schnell zum Punkt und halten sich nicht unnötig mit Nebensächlichkeiten auf“. Dazu gehört auch, dass sich die Belgier kaum um die Backstory ihrer Figuren kümmern. „Man weiß fast nichts von meiner Figur, auch nicht über ihr Privatleben. Bei den Dardennes spielt Psychologisierung keine Rolle, sie filmen lieber die Körperlichkeit ihrer Figuren ab, anstatt sie zu verkopfen“. Was sich auch in einer starken physischen Präsenz äußert, mit der Dardenne-Schauspieler arbeiten müssen. „Hier ist es wichtiger für die Glaubwürdigkeit einer Rolle, dass man als Schauspieler weiß, wie man sich am schnellsten medizinische Handschuhe anzieht, oder wie man eine Spritze setzt, wenn man eine Ärztin spielt. Mit solchen scheinbar nebensächlichen Details steht und fällt die Glaubwürdigkeit einer Performance“. Die Konsultation von medizinischem Fachpersonal gehörte also zur Vorbereitung dazu, damit alles möglichst natürlich wirkte. Die Natürlichkeit von Adèle Haenel, die die Dardennes in ihren Filmen wie „Suzanne“, „In the Name of my Daughter“ oder „Love at First Sight“ (für den Haenel 2014 einen César als beste Schauspielerin erhielt) kennen lernten, war für die Rolle obligatorisch, sagt Haenel: „Bei den Dardennes muss eine Performance so gut wie unsichtbar sein, damit sie wirkt“. -Matthias Greuling 28.10., 20.30, Gartenbau 29.10., 13.00, URANIA celluloid 5a/2016

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weitere viennale-tipps

michael Palm

DE PALMA

(Regie: Noah Baumbach/Jake Paltrow) „Scarface“, „Mission: Impossible“, „Carrie“ – die Liste der Klassiker, die Brian de Palma im Laufe seiner Karriere geschaffen hat, ließe sich noch beliebig fortsetzen. Zwei seiner Kollegen, Noah Baumbach („Frances Ha“) und Jake Paltrow

Cinema futures Viennale-Termine: 30.10., 20.30 Uhr, stadtkino I 31.10., 15.30 Uhr, METRO (PLESKOW-SAAL)

„De Palma“

Wie sieht die Zukunft des Kinos aus?

Mden Bilder des Kinos. Vom Stummfilm

ehr als 120 Jahre sind sie alt, die laufen-

der Anfangsjahre über die Goldene Ära Hollywoods bis hin zum digitalisierten Kino der Gegenwart. Kaum eine andere Kunstform hat sich innerhalb eines Jahrhunderts so stark verändert wie der Film. In seiner Dokumentation „Cinema Futures“, vom Wiener Filmmuseum anlässlich seines 50-jährigen Jubiläums initiiert, setzt der österreichische Cutter und Regisseur Michael Palm („Low Definition Control“) dem Kino ein Denkmal. Seine filmische Bestandaufnahme der eigenen Branche, seit 2014 an zahlreichen verschiedenen internationalen Schauplätzen gedreht, bleibt dabei allerdings nicht in Gegenwart und Vergangenheit verhaftet: Gemeinsam mit bekannten Künstlern wie Martin Scorsese und Christopher Nolan, Museumskuratoren, Historikern und Technikern beleuchtet Palm vor allem die Zukunft von Film und Kino, die sich im Zeitalter digitaler Laufbilder so radikal verändert haben wie nie zuvor. In einzelnen Episoden stellt sich Michael

Palm die Frage, was in Zeiten der Digitalisierung mit weltweiten Filmarchiven und dem analogen Trägermaterial Film passiert, bildet Zukunftsszenarien, kulturelle Ängste aber auch verheißungsvolle Utopien ab. Zentrale Fragen der Dokumentation, die bei den vergangenen Filmfestspielen von Venedig ihre Uraufführung erlebte: Was passiert mit den Bildern und Erinnerungen an vergangene Zeiten, wenn sie keine analog-physische Grundlage mehr haben? Und: Wie lange ist unser kollektives, kulturelles Gedächtnis vergangener Zeiten auf den verheißungsvollen digitalen Trägermaterialien haltbar? Die Antwort des Filmers: „Noch vor ein paar Jahren war es die Ausnahme, dass ein Film digital ins Kino kam. Ich hatte es immer gemieden, da rein zu gehen. Für mich gehören Kratzer, Staub und das Rauschen der Silberkörner zu den prägenden Kinoerfahrungen. Aber Nostalgie ist keine Option. Das Kopierwerk hat inzwischen zugesperrt. Wir machen weiter.“ -Sandra Wobrazek

„Cinema Futures“

(„Boardwalk Empire“) , haben dem Großmeister der laufenden Bilder in ihrem Film mit dem schlichten Titel „De Palma“ ein filmisches Denkmal gesetzt. Die Dokumentation zeigt, welchen Einfluss de Palmas bereits mehr als fünf Jahrzehnte andauerndes Schaffen hat, wie seine Werke nicht nur Filme sondern auch die Popkultur massiv beeinflussten und es immer noch tun. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Ära des New Hollywood der 1970er und 1980er Jahre gelegt, das es ohne Brian de Palma in dieser Form nicht gegeben hätte. Ergänzt wird das dokumentarische Biopic durch lange Gespräche mit dem Regisseur selbst, der ausführlich, meist humorvoll und mitunter auch melancholisch über seine Arbeit und die sich stetig verändernde Filmindustrie reflektiert und nicht mit zahlreichen Anekdoten seiner ebenfalls prominenten Wegbegleiter wie Martin Scorsese, George Lucas und Steven Spielberg geizt. -sw 22.10., 15.30, URANIA 27.10., 23.30, Stadtkino

GIMME DANGER

(Regie: JIM JARMUSCH)

Mischief Films

Als sie 1967 erstmals auftraten nannten sie sich noch „Psychedelic Stooges“. Wenige Jahre später änderte die US-amerikanische Rockband ihren Namen in „The Stooges“ – und wurde zu einer der legendärsten Formationen der Musikgeschichte, der Jim Jarmusch mit seinem Dokumentarfilm „Gimme Danger“ nun ein filmisches Denkmal gesetzt hat. Unterstützt wird der Regisseur dabei vom bekanntesten „The Stooges“-Mitglied: Iggy Pop, unter anderem Protagonist in Jarmuschs legendärem Kurzfilm-Panoptikum „Coffee and Cigarettes“. In seinem bevorzugtem Stil, eleganten schwarz-weiß Bildern, beleuchtet der Meister des US-Independentfilms eine Kultband, die sich ihren Status erst mühsam erarbeiten musste. Mit ihrem ganz speziellem Stil aus Jazz, Blues und Rock hatten „The Stooges“ anfangs mit heftigem Gegenwind zu kämpfen, galten als Bürgerschreck-Formation, die nicht lange bestehen würde. Zentrales Element der Doku ist Iggy Pop selbst, einzig noch lebendes Gründungsmitglied der Band: In langen Gesprächen, ergänzt von Bild- und Tondokumenten der Popkultur der letztem vierzig Jahre, erinnert er sich an eine äußerst bewegte Zeit der Musikgeschichte, ist dabei stets unterhaltsam und erfrischend selbstironisch.

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29.10., 23.00, Gartenbau 22.10., 13.00, GARTENBAU


I HAD NOWHERE TO GO

(Regie: douglas gordon) Flucht und Migration sind die großen Themen unserer Zeit. Doch schon vor mehr als sieben Jahrzehnten bestimmten sie das Leben Europas, führten dazu, dass sich das soziale Gefüge des Kontinents maßgeblich und nachhaltig veränderte, Millionen Menschen ihre Heimat verließen. Einem jener Flüchtenden, dem in Litauen geborenen Jonas Mekas, hat Douglas Gordon seine Doku „I Had Nowhere to Go“ gewidmet. Mekas verbrachte das Ende des Zweiten Weltkrieges viele Jahre lang in deutschen Flüchtlingslagern in Wiesbaden und Kassel, wanderte schließlich nach Brooklyn aus. In den USA begann er Filme zu drehen, seine eigene Geschichte aufzuarbeiten und das größte Trauma des 20. Jahrhunderts künstlerisch zu verarbeiten. Mit seinen wegweisenden cineastisch-biografischen Tagebüchern wurde er schließlich zu einem der bedeutendsten Filmer des amerikanischen Avantgardekinos. „I Had Nowhere to Go“ beleuchtet dabei die ersten Jahre Mekas, seine Suche nach einer neuen Identität, nach Heimat – und die lange Sehnsucht endlich anzukommen. -sw 25.10., 20.30, metro (Pleskow-saal) 26.10., 23.00, Metro (pleskow-saal)

DARK NIGHT

LA MORT DE LOUIS XIV (Regie: ALBERT SERRA)

Opulent, düster, phantastisch – anders lässt sich „La Mort de Louis XIV“ wohl kaum beschreiben. Der spanische UndergroundRegisseur Albert Serra („Honor de Cavalleria“) hat dem französischen Herrscher mit seinem Drama, bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes als Meisterwerk der Saison gefeiert, ein cineastisches Denkmal der besonderen Art gesetzt. Serra erzählt in seinem düsterhumorvollen Kammerspiel von den letzten Lebenswochen von Louis XIV. Dabei handelt es sich nicht unbedingt um einen stringent ablaufenden Film im klassisch-dramaturgischem Sinn: „La Mort de Louis XIV“ erzählt in kurzen aneinandergereihten Ereignissen – teils real, teils fiktiv – nicht nur von der Biografie eines Herrschers. Serras bildgewaltiger Film ist auch eine elegante und vielschichtige Betrachtung über nichts geringeres als Leben und Tod, über die menschliche Existenz. Highlight der Geschichte ist Jean-Pierre Léaud, Star der Nouvelle Vague, der den sterbenden Sonnenkönig auf großartige Weise verkörpert. Selbst in der Rolle eines kaum noch bewegungsfähigen, und von schweren Krankheit gezeichneten, Mannes vermag es Léaud, nur mit Hilfe minimalster Mimik und feiner Gestik von einem bewegten Leben zu erzählen. -sw 24.10., 17.30, Gartenbau 26.10., 11.00, METRO

(Regie: TIM SUTTON) „Dark Knight“

KATER

(Regie: Händl klaus)

Fotos: Viennale

Es war einer der verheerendsten Amokläufe in der Geschichte des US-Bundesstaates Colorado: Ein junger Mann schoss am 20. Juli 2012 während der mitternächtlichen Premiere von Christopher Nolans „The Dark Knight Rises“ in einem Multiplexx-Kino im Städtchen Aurora um sich – und tötete zwölf Menschen. Regisseur Tim Sutton hat sich der Geschichte angenommen und sie in „Dark Night“ in ein bildgewaltiges Drama für die Leinwand verwandelt. Der amerikanische Regisseur erzählt darin die Geschichten von sechs Menschen, die alle durch ein Schicksal miteinander verbunden sind: Einen Tag lang begleitet der Film seine Protagonisten, darunter eine frustrierte Jungschauspielerin, ein Skater und einen Supermarktmitarbeiter, in ihrem scheinbar ereignislosem Alltag. Doch im Gegensatz zu den Zusehern, weiß keiner der sechs, was ihm wenige Stunden später Entsetzliches widerfahren wird. „Dark Night“ ist weit mehr als nur ein Drama über das Massaker eines Waffennarren. Der bewegende Film ist auch eine Analyse der liberalen Waffenpolitik der Vereinigten Staaten, die einen schonungslosen Blick auf eine verunsicherte und von Gewalt geprägte Gesellschaft wirft. -sw 21.10., 23.00, URANIA 22.10., 18.00, Gartenbau

Andreas und Stefan haben ein glückliches Leben voller Leidenschaft: Gemeinsam mit ihrem geliebten Kater Moses bewohnen sie ein schönes altes Haus in den Weinbergen von Wien, sie arbeiten als Musiker und Disponent in demselben Orchester; sie lieben ihren großen Freundeskreis. Ein Gewaltausbruch, plötzlich und unerklärlich, erschüttert ihre Beziehung der blinde Fleck, den wir in uns tragen. Händl Klaus findet in seinem zweiten Spielfilm „Kater“ intime und stimmige Bilder einer sensiblen Liebesgeschichte und wurde bei der

„Kater“

Berlinale in der Reihe „Panorama Special“ gefeiert. Am Ende gewann „Kater“ beim 30. Teddy Award als bester Spielfilm. -db 27.10., 20.30, Gartenbau 1.11., 11.00, Stadtkino

NOCTURAMA

(Regie: BERTRAND BONELLO)

„Nocturama“

Lange fragt sich der Zuseher, was die jungen Frauen und Männer, die sich „Nocturama“ durch Paris bewegen, vorhaben. Sie schleichen durch Metro-Stationen, laufen gehetzt durch die Straßen, schreiben sich Textnachrichten und wirken dabei immer extrem angespannt. Die bunt gemischte Truppe trifft schließlich in einem Luxuskaufhaus aufeinander, lässt sich dort abends einschließen und streunt durch die bunte Konsumwelt mit all ihren Verlockungen. Dabei verbindet die Teenager eine gemeinsame Sache: sie alle finden sich in der Gesellschaft, in der sie leben, nicht zurecht, haben genug von ihr – und wollen ein gewalttätiges Zeichen ihres Frustes setzen. Bertrand Bonello bewies bereits in seinem Yves Sant Laurent Biopic „Saint Laurent“, dass er ein feines Gespür für menschliche Abgründe und Leidenswege hat. Das setzt sich auch in „Nocturama“ fort. In seinem thrillerhaften Drama erzählt der französische Regisseur von Teenagern, die glauben, ihren Frust nicht anders verarbeiten zu können als durch Gewalt – mit verheerenden Auswirkungen für sie und die Menschen in ihrem Umfeld. Ein düsteres und mitunter an ein cleanes Musikvideo errinerndes Porträt der Lost Generation Frankreichs. -sw 25.10., 23.30, Stadtkino 26.10., 20.30, Gartenbau

THE END

(Regie: Guillaume Nicloux) Frankreichs Superstar Gérard Depardieu verläuft sich im Wald und trifft dort auf eine Reihe bizarrer Wesen wie eine weinende, splitternackte Frau und übergroße Wüstenskorpione. Es ist eine durchaus spezielle und zugleich faszinierende Geschichte, die der französische Thriller „The End“ erzählt. Depardieu spielt darin einen Jäger, der sich in einem phantastischen Wald verirrt. Eigentlich ist ihm die Gegend, in der er mit seinem Hund nur ein paar Hasen jagen wollte, vertraut, doch an diesem Tag ist alles anderes – und der Waidmann findet nicht mehr heim. Während er immer verzweifelter durch das Dickicht der Bäume und Büsche irrt, verschwinden zuerst sein treuer Vierbeiner, dann auch noch seine Waffe und sein Handy, und schlussendlich ist er vollkommen auf sich selbst gestellt. Dabei scheint der dunkle Wald mehr Geheimnisse zu verbergen, als der Jäger anfangs für möglich hält. Thriller, Fantasyfilm, Märchen, Drama – Regisseur Guillaume Nicloux verpackt in „The End“ diverseste Genres auf spannende und ungewöhnliche Weise. Getragen wird die Handlung dabei von Anfang bis Ende von einem großartigen Gérard Depardieu, der sein Können einmal mehr unter Beweis stellt.-sw 1.11., 23h Urania, 25.10., 13.00, Gartenbau

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weitere viennale-tipps „Miles Ahead“

(Regie: don CHEADLE) New York, um 1980. Der Jazz-Megastar Miles Davis hat sich in seinem Haus verbarrikadiert. Nicht nur für ein paar Tage. Seit Jahren ist er von den Konzertbühnen verschwunden. Doch die Szene ist elektrisiert. Das Gerücht geht um, Miles habe heimlich ein neues Album aufgenommen. Seine Plattenfirma Columbia Records, die dem Exzentriker monatlich 20.000 Dollar überweist, ist natürlich höchst interessiert an den Bändern. Und die Presse auch. Das ist die Grundsituation von „Miles Ahead“, einem Biopic, das sich weit vom Durchschnitt des Genres abhebt. „Miles Ahead“ ist meilenweit voraus. Don Cheadle, der Star aus „Hotel Ruanda“, konzentriert sich als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller auf einen Zeitraum von zwei Tagen, um eine komplette und gelegentlich, im Sinne des Wortes, durchgeknallte Geschichte über Leben und Werk des Ausnahme-Jazzers Miles Davis (1926 - 1991) zu erzählen. Als roter Faden der Story dient das Gezerre um Miles’ neue Aufnahmen. Die Plattenfirma will die Bänder unbedingt haben. Der Star gibt sie nicht her. Schließlich werden sie ihm im Auftrag eines Produzenten, in dessen Büro etliche Goldene Schallplatten hängen, schlicht geklaut. Als Miles den Diebstahl spitz kriegt, dreht er durch. Mit Waffengewalt und einem halbseidenen Reporter (Ewan McGregor) als Chauffeur rast er los, um die Tapes wieder zurückzubekommen. Dieser Handlungsstrang, in dem heftig geballert wird, wirkt wie eine grotesk überdrehte Gangster-Saga. Doch dazwischen, davor und danach geht’s um Musik. Gute Musik, geniale Musik, die den Klang des 20. Jahrhunderts prägte. Man hört Miles mit Bebop, mit Cool Jazz, mit dem Pianisten Gil Evans bei der Aufnahme seiner legendären LP „Sketches of Spain“. Man hört aber auch die elektrische. rockende Musik, mit welcher der späte Miles noch einmal zu neuen Ufern aufbrach. Obendrein gibt’s den privaten Miles. Den aufbrausenden Macho, den mit Drogen vollgepumpten Exzentriker, den großen Liebenden, der auf ewig seiner Muse und Ex-Ehefrau Frances Taylor nachhängt. Die allerdings hatte er durch seine Untreue und seinen besitzergreifenden Egoismus vertrieben. Die vielen Bestandteile des Films sind wie eine Komposition ineinander gefügt. So entsteht das atemraubende Porträt eines der größten Musiker der letzten 100 Jahre. Eines Mannes, bei dem man sich oft wundert, welche Diskrepanz besteht zwischen der vollendeten, klangschönen Klarheit der Musik und der selbstzerfleischenden Aggressivität ihres Schöpfers. Don Cheadle spielt all diese Facetten von Miles Davis ganz hinreißend aus. -G. Baumann 22.10., 23.00, Urania 27.10., 18.00, Gartenbau

SIERANEVADA

(Regie: cristi puiu) Wie das verflossene System des Sozialismus heute noch in die Abläufe der Gesellschaft hineinreicht, zeigt „Sieranevada“ von Cristi Puiu. Er erzählt vom Leben in Rumänien heute. Die Grundsituation des Films: Lary, ein rumänischer Arzt, trauert um seinen Vater. Als würde eine Kamera zufällig bei einer Feier für den Verstorbenen dabei sein, schildert das Drama in

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Fotos: Viennale (2); Katharina Sartena

MILES AHEAD

knapp drei Stunden (die nach einem quälend langsamen Beginn immer faszinierender werden), wie die neue Zeit sich noch nicht entfalten kann, weil die Diskussionen um die alte noch nicht endgültig geführt wurden. Ein enorm anstrengender, aber sehr lohnender Film, der deutlich zeigt, dass der Sozialismus für die Zukunft keine Lösung sein kann. -P. Beddies 29.10., 14.00, Gartenbau 31.10., 10.30, metro

RESTER VERTICAL

(Regie: ALAIN GUIRAUDIE) Soll man es sich vielleicht doch in seiner eigenen kleinen kapitalistischen Welt gemütlich machen? Diesen Vorschlag greift der Franzose Alain Giraudie in seiner Groteske „Rester Vertical“ auf. Mitsamt der Erkenntnis, dass so ein Lebensentwurf grandios schief gehen kann, aber nicht muss. Der Plot: Der Drehbuchautor Leo (Damien Binnard) ist auf der Suche nach der Idee für einen neuen Film. Bei einem Aufenthalt auf dem flachen Land wird er von einer Schäferin vernascht, die ihn dann mit dem neugeborenen Sohn sitzen lässt. Worauf ihm der Vater der Frau an die Wäsche will. Viel Chaos, sehr interessant bebildert, mit ordentlich Sex und einer brutal gefilmten Geburtsszene versehen, dürfte „Rester Vertical“ wohl kaum eine Chance haben, in die Kinos zu kommen. Aber der Film setzt interessante Gedankenspiele frei, wie man im Jahr 2016 leben möchte. -P. Beddies 22.10., 20.30, Gartenbau 23.10., 13.00, Gartenbau

PERSONAL SHOPPER (Regie: Olivier Assayas)

„Personal Shopper“ erzählt von der jungen Amerikanerin Maureen (Kristen Stewart), die für den exzentrischen Filmstar Kyra (Nora von Waldstätten) in Paris die Einkäufe erledigt. Zwischen dem Tütenschleppen von Cartier ins Appartement und wieder zurück zu Chanel verfolgt Maureen eine fixe Idee. Ihr Zwillingsbruder ist vor ein paar Monaten gestorben. Nun hofft sie, dass er sein Versprechen einhält und ihr Nachrichten aus dem Jenseits zukommen lässt. Olivier Assayas hatte sicher die allerbesten Ideen, als er diesen sehr ungewöhnlichen Arthaus-Grusel erdacht hat. Aber er bleibt nicht bei einer Geschichte. Von der Geister-Story geht es zum Thriller, dann zum Selbstfindungsund Sinnsucherdrama, zurück zum Horrorfilm. Bis im Finale eine Szene wartet, die entweder zum intensiven Nachdenken oder zum Kopfschütteln einlädt. -gb 29.10., 20.30, Gartenbau 30.10., 13.00, GARTENBAU

Inimi cicatrizate (Regie: radu jude)

Der erst 29-jährige Knochentuberkulose-Patient aus „Inimi cicatrizate“ des Rumänen Radu Jude sollte eigentlich wehmütig sein. Er liegt nämlich einkaserniert in einem Sanatorium an der Schwarzmeerküste darnieder, fest einbandagiert und ans Bett gefesselt. Die Zeit des Siechtums bis zum absehbaren Ende wird hier aber nicht mit Trübsal gefüllt, sondern mit Lebenslust kompensiert, bei der auch die Liebe zu einer Patientin eine Rolle spielt. Radu


Jude verleiht dem auf dem autobiografischen Roman „Vernarbte Herzen“ des rumänischen Schriftstellers Max Blecher basierenden Film eine sympathisch-groteske Note. -mg 29.10., 13.30, metro

MISTER UNIVERSO

(Regie: Tizza covi/Rainer Frimmel) Humorvoll und ein Stück weit grotesk ist „Mister Universo“ des österreichischen Filmerpaares Tizza Covi und Rainer Frimmel. Ein Zirkusdompteur geht auf die Suche nach seinem verlorenen Talisman und bereist dafür halb Italien, bis er den ehemaligen Mister Universum ausfindig macht, der ihm den Glücksbringer einst geschenkt hat. Unterwegs schildern Covi und Frimmel in gewohnt dokumentarischen, aber nie zu distanzierten Bildern, wie der Dompteur zwischen Bangen und Hoffnungslosigkeit pendelt, denn Aberglaube ist ein gewichtiger Faktor im Zirkus. Die Welt außerhalb des Zirkuszelts ist ein Italien der Stadtränder und Peripherien, der Armut und des Chaos, und doch ist „Mister Universo“ ein zutiefst optimistischer Film: Und zwar einer, der sich wundersamen Phänomenen verschreibt und wo sogar das Wasser bergauf fließen kann. -mg 26.10., 18.00, Gartenbau 28.10., 13.30, Stadtkino

HOMO SAPIENS

(Regie: NIKOLAUS GEYRHALTER) Eines ist wirklich bemerkenswert an Nikolaus Geyrhalters neuem Film „Homo Sapiens“: Da fährt einer allein mit seiner Kamera in verlassene und gemiedene Gegenden, aus denen Menschen ganz offensichtlich Hals über Kopf geflüchtet sind, und bildet diesen Zustand der völligen Verlassenheit mit größtmöglicher Ruhe und Sorgfalt ab; der Mensch, in diesem Film gänzlich absent, gibt ihm seinen Titel, denn „Homo Sapiens“ ist keine Auseinandersetzung des Regisseurs mit dem Menschen, sondern mit dessen Hinterlassenschaft. Eine Kollekte aus statischen Bildern mit sorgfältiger Kadrage, durch die dann und wann ein Lüftchen weht, das der österreichische Regisseur eigenen Angaben zufolge auch schon mal selbst mitgebracht hat: Ein bisschen Bewegung dank einer kleinen Windmaschine, so ein Maß an Manipulation muss ein Dokumentarfilm aushalten. Wobei: Als Dokumentarfilm wäre dieses dialoglose Stück Film wohl fehlbewertet. Denn Geyrhalter geht in der für ihn typischen nüchternen Art weit über die Grenzen des Dokumentarischen hinaus, weil er mit seinen Bildern grausames Kopfkino entfacht. Geyrhalter begibt sich für „Homo Sapiens“ an verlassene Orte, also solche, die von Menschen nicht mehr besiedelt werden; man hat sie aus unterschiedlichen Gründen aufgegeben. Ein Teil der Aufnahmen entstand in Fukushima in Japan, und zwar in Gebieten, die seit dem verheerenden Tsunami und dem darauf folgenden AKW-SuperGau im Jahr 2011 schlagartig ihre Population verloren. In den Kinos werden noch die Filme von damals beworben, die Häuser wirken wie gerade eben verlassen, an den Orten der Verwüstung finden sich Ruinen, aber auch prall gefüllte, scheinbar intakte Automaten voller Süßigkeiten, die die Katastrophe unbeschadet überstanden

„Homo Sapiens“

haben und noch immer auf Kundschaft warten. Dazwischen beginnt die Natur, sich über Ritzen und Spalten das Territorium zurück zu erobern. Ganz ohne Menschen hat sie wunderbar Zeit und Raum, sich zu entfalten. Es ist diese Vorstellung der Apokalypse, der post-traumatischen Erfahrung, die Geyrhalter seinen Zuschauern unmittelbar spüren lässt. Weil der Regisseur seine statischen Einstellungen manchmal 20 oder 30 Sekunden, manchmal auch fast eine Minute lang unkommentiert stehen lässt, gibt das dem Zuschauer die Gelegenheit, diese Bilder für sich zu entdecken, sie auszulesen, von oben nach unten, von links nach rechts. Dabei entsteht besagtes Kopfkino, das dem Regisseur hier als alleiniges Mittel zur Dramatisierung dient: Sich vorzustellen, was an diesen Orten in den Minuten der Katastrophe passiert sein muss, ist angesichts der gezeigten Relikte schlimmer als jeder Schockeffekt. „Homo Sapiens“ ist unter diesen Vorzeichen eigentlich ein Horrorfilm und dreht sich dabei um das Thema, das jeder andere Horrorfilm auch hat: Es geht im wahrsten Sinne um die Entmenschlichung der Welt, um die Auslöschung unserer Spuren. Was bleibt, sind Ruinen, die keine Hoffnung bieten. Ein großer Film, wenn man ihn zulässt. -mg 30.10., 18.00, Gartenbau 31.10., 13.30, Stadtkino

AUSTERLITZ

(Regie: SERGEJ LOZNITSA) Selfies im KZ? Das gibt es, und zwar häufiger als angenommen, wie Loznitsas beobachtende Doku zeigt. Die Kamera hat er dafür in verschiedenen KZ aufgestellt und unkommentiert aufgenommen, wie sich Menschen im KZ verhalten; allesamt Touristen, die die Stätten des Mordens als Attraktion begreifen. Die Bilder vom Handy landen auf Facebook und werden mit „Dachau“ getaggt, ein seltsames Vergnügen, findet (nicht nur) der Regisseur. Wieso tut jemand so etwas? Über dies lässt sich in Austerlitz nachdenken, denn der Film selbst gibt zu keiner Zeit Antworten. Er ist einfach nur da, beobachtet still. Die schwarz-weißen Bilder schaffen ebenfalls ein Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Man ist weder so richtig im Hier und Jetzt, noch ist man in einer historischen oder historisierten Zeit. -mg 23.10., 13.00, Metro (Pleskow-saal) 24.10., 21.00, Stadtkino

„Austerlitz“

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Ausgewählte sonderprogramme

Düster, geheimnisvoll, schräg – für viele gilt Christopher Walken als das klassische Enfant terrible des amerikanischen Kinos. In über 100 Filmen hat der heute 73-Jährige bereits mitgewirkt, in den meisten davon war er der Bad Guy, der verhuschte und zugleich höchst verstörende Mann mit den wässrig blauen Augen und den weißblonden Haaren. Die Viennale ehrt den Schauspieler in ihrem heurigen Tribute mit einigen seiner bekanntesten Werke. Klassiker wie „The Dead Zone“ (1983) sind ebenso darunter wie die GangsterFarce „Catch Me If You Can“ (2002) und weniger bekannte Arbeiten. Dabei zeigt sich: Der Wechsel zwischen Mainstream- und Independent-Kino gelingt wohl nur den wenigsten Schauspielern so genial wie Mister Walken. In Wien wird Kult-Regisseur Abel Ferrara anwesend sein, der seine mit Walken gedrehten Filme „The Addiction“ (1995) und „King of New York“ (1990) präsentieren wird.

TRIBUTE KENNETH LONERGAN Gleich, ob Regie oder Drehbuchschreiben – Kenneth Lonergan ist in beiden Genres zuhause. Berühmt wurde der New Yorker Autor, der seine Karriere mit mehrfach ausgezeichneten Theaterstücken startete, jedoch vorallem durch sein Drehbücher zur Mafia-Komödie „Analyze This“ (1999) mit Robert De Niro und Billy Crystal sowie Martin Scorseses Meisterwerk „Gangs of New York“ (2002), das dem New Yorker eine Oscar-Nominierungen einbrachte. Mit seinen Regiearbeiten wie „You Can Count on Me“ (2000) und „Margaret“ (2005) überzeugte Lonergan darüberhinaus auch als Regisseur subtiler Beziehungsportraits. Bei der Viennale zeigt er im Rahmen einer Carte Blanche zudem die Filme „Arch of Triumph“ (1948, Lewis Milestone), „Five Easy Pieces“ (1970, Bob Rafelson) und „My Darling Clementine“ (1946, John Ford).

TRIBUTE PETER HUTTON Nichts Geringeres als die Sehnsucht, die Welt zu erkunden war es, die Peter Hutton Zeit seines Lebens in den Mittelpunkt seines Schaffens stellte. Vergangenen Juni verstarb der Meister solch stiller cinematografischer Arbeiten wie „At Sea“ (2007) und „Three Landscpaes“ (2013) im Alter von 71 Jahren. Hutton war bekannt für seine großartigen Portraits und detaillierten Analysen von Städten, Wäldern, Meeren und Architekturen für die er die ganze Welt bereiste, in fremde Kulturen eintauchte und tiefe Einblicke in die Vielfalt der Welt gab. Die Viennale ehrt sein künstlerisches Lebenswerk mit zahlreichen seiner Werke, die in ihrer poetischen Arbeitsweise allesamt aus der Zeit gefallen erscheinen.

DAS KINO GEHÖRT UNS: JACQUES RIVETTE Zur Erinnerung an rivette (1928 - 2016) Vieles von dem, was Rivettes erster Spielfilm„Paris nous appartient“ (1961) beinhaltet, findet sich später immer wieder in Rivettes Oeuvre. Es sind Spiegel-, manchmal aber auch Zerrbilder der damaligen Gesellschaft. Seine Figuren begaben sich auf die Suche, oft ohne zu wissen, wonach. Viele seiner Filme sind Abbilder dieser Unruhezustände und reflektieren auf die Zeit, in der sie spielen, beziehen dabei aber auch immer den vorherrschenden Intellektualismus mit ein; Rivettes Filme sind mit Leben gefüllte Theorien, die einmal von der Ratio, ein andermal von Mysterien getrieben werden. Mit Chabrol, Godard, Truffaut und Rohmer war Rivette der Begründer eines visuellen, aber auch dramaturgischen Umsturzes im Kino der späten 50er Jahre, der nicht folgenlos blieb, sondern die Ästhetik vieler späterer Strömungen beeinflusste und das Kino als bunt funkelnde Jahrmarktattraktion und Illusionsmaschinerie dekonstruierte. Die Viennale zeigt einige von Rivettes Filmen, darunter „L‘amour fou“ (1969) und „Le pont du nord“ (1980), sowie drei erst kürzlich wiederentdeckte frühe Kurzfilme.

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RETROSPEKTIVE: EIN ZWEITES LEBEN.

Das Österreichische Filmmuseum widmet die Viennale-Retro dieses Jahr der Zeit, dem Raum, der sich wiederholenden Geschichte und vielgestaltigen Variationen dieser Themen. Komplex und umfangreich, wie immer sorgfältig kuratiert. Alle Programminfos: www.filmmuseum.at

Fotos: Viennale (2); Österreichisches Filmmuseum

TRIBUTE to christopher walken




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