CINEMA FOREVER!
5A/2017 OKTOBER/NOVEMBER SONDERHEFT ZUR VIENNALE
celluloid filmmagazin
LICHT BARBARA ALBERT LEHRT DAS SEHEN
VIENNA LE 201 MIT KO MPLET TEM SP IELPLA N
celluloid
Filmmagazin Ausgabe 5a/2017 - 18. Jahrgang OKTOBER 2017
VIENNALE
INFOS UND TICKETS: VIENNALE.AT 01/ 526594769 VORVERKAUF AB 15.10.2017
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wie ein kleines Kind. Das ist die vielleicht geblieben wären. Und Hurch wäre nicht s gab einen Wesenszug an ehrlichste Annäherung an die Kunst. Hurch gewesen, hätte er mit dieser oft als Hans Hurch, der machte ihn Mit seiner Arbeit hat Hans Hurch der Eigenwilligkeit bezeichneten Programsympathisch widerspenstig. Einen, der imstande war, die- Viennale, diesem wichtigsten österreimierung nicht bewusst auch zu verstören sen profunden Filmkenner chischen Filmfestival, seinen Stempel versucht. Sein Verhältnis zu einigen Verund mit Herzblut prall gefüllten Cineasaufgedrückt, aber das war kein Aufdruck, tretern des österreichischen Films blieb ten zu einem liebenswürdigen „Outlaw“ der die Weitsicht beschränkte, sondern, stets gespannt, aber eine konstruktive inmitten angepasster Strukturen zu der sie überhaupt erst ermöglichte. Er Konfrontation war ihm sowieso lieber als beförderte das Unkonventionelle in das machen. Hans Hurch hatte eine charbraves Nebeneinanderherschwimmen. mante, aber auch scharfzüngige Art, seine Blickfeld, zeigte stilistisch und inhaltlich Vor allem Hurchs politische Seitenmutige Arbeiten des Weltkinos, die er bei hiebe bei den Viennale-Eröffnungsreden Meinung kundzutun, und er hat nie damit hinterm Berg gehalten, unangenehme seinen zahllosen Festival-Reisen entdeck- waren legendär. Aber er kokettierte dort Dinge anzusprechen, seien es nun politite und nach Wien brachte. Hurch hat daauch gerne mit seinem Image. Für sein sche Zustände oder seine Urteile über ge- mit wichtige Basisarbeit in der Filmveraltes, schwarzes Sakko, das er stets zu tragen pflegte, entschuldigte er sich bei wisse Filme. Hurch, der lebende, bebende mittlung geleistet: Das Wiener Publikum der Eröffnungsrede der Viennale 2016, Charakter mit Hang zum fordernden kam in den Genuss so mancher Filme, seiner 20. Auch für seine „moralischen Weltkino, der die Viennale groß gemacht die ihm sonst möglicherweise verborgen Peinlichkeiten“ und seinen „seltsahat und ihr internationale Strahlkraft verpasste, ist nicht mehr. Sein Tod ist men Filmgeschmack“. Aber Hurch ein überaus schmerzlicher Verlust für hat damit geschafft, das Kino zu die heimische Kulturszene und auch seinen Ursprüngen als Attraktion zufür die vielen Freunde, die Hurch sich rückzuführen: „Wie heißt es so schön, wenn die Schausteller und Ausrufer mit seiner Nonchalance und seiner zur Betrachtung ihrer Kunststücke ehrlichen Herzlichkeit gemacht und kleinen Wunder bitten: hatte; er war das Gegenteil ‚Zögern Sie nicht! Träten Sie von dem, was in Österreich sonst die Kultur „managt“. Er näher! Machen Sie sich Ihr war kein Verhinderer, kein eigenes Bild!‘“, sagte Hurch. Das Kino demokratischer zu Besserwisser, kein Kanalisierer, kein Manipulierer und machen, es zu öffnen für alle, auch kein Elitarist. Stattdessen im besten Sinne „auszustellen“. diskutierte er begeistert und, Dafür muss man Hans Hurch wenn es ihm wichtig war, auch ausdrücklich danken. energisch über die Filme, die sein Leben waren; Hurch war In diesem Sinne, einer, der sich auch nach 20 eine schöne Viennale im Viennale-Jahren das Denken Andenken an den Hans! „um die Ecke“ erlaubt, man müsste fast sagen: getraut hat. In seinem Dienstposten ist MATTHIAS GREULING er weder erstarrt noch weise Chefredakteur geworden, sondern hat sich & Herausgeber über filmische Entdeckungen celluloid@gmx.at Hurch bei der Eröffnung der Viennale 2016 mit dem „Team celluloid“: immer noch so freuen können Fotografin Katharina Sartena und Chefredakteur Matthias Greuling
ZUM GELEIT
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INTERVIEW
„DIESE LÜCKE BLEIB Franz Schwartz, der interimistische Leiter der Viennale 2017, über den Tod von Viennale-Direktor Hans Hurch, über das Programm und über den Zeitplan für die Findung der neuen Direktion des Wiener Filmfestivals.
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r übernahm eine der schwierigsten Aufgaben bei der Viennale 2017: Franz Schwartz, der langjährige Chef des Wiener Stadtkinos, sprang nach dem Herztod von Viennale-Direktor Hans Hurch kurzfristig als interimistischer Leiter des Wiener Filmfestivals ein. Uns erzählt Schwartz, warum es (vom tragischen Anlass abgesehen) ein Vergnügen für ihn ist, für die Viennale zu arbeiten. Er berichtet über Hans Hurchs Lieblingsfilm, über den Besuch von Stargast Christoph Waltz und über die Findung der künftigen Viennale-Leitung: „Spätestens Ende Jänner 2018 sollte die Entscheidung feststehen.“ celluloid: Die Viennale geht dieses Jahr nach dem Tod des Direktors Hans Hurch durch eine außergewöhnliche Phase. Wie fühlt sich die Aufgabe als interimistischer Leiter für Sie an? Franz Schwartz: Nach meinem Antritt habe ich gesagt, ich sei jetzt 67 Jahre alt und werde mich nach dem Festival wie mit 77 fühlen. Das kann ich jetzt nicht mehr bestätigen. Ich fühle mich sogar jünger. Sieht man vom tragischen Anlass für meine Tätigkeit ab, so ist es ein Vergnügen, für die Viennale zu arbeiten. Alles funktioniert viel lockerer, als ich das erwartet habe. Denn ich bin hier zu einem Team gekommen, das alles ermöglicht, was nötig ist. Alle Beteiligten arbeiten leidenschaftlich am Programm dieser Viennale. Inwieweit ist die Viennale 2017 noch von Hans Hurch geprägt? Meiner Meinung nach zur Gänze, weil alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wissen, was Hans Hurch wollte. Er hat über zwei Drittel des Programms und über alle Specials entschieden. Ich hatte danach nur Filme zu sichten, die er noch bestellt, aber nicht mehr gesehen hat. Dazu kamen die Sichtungsmöglichkeiten der Filme des Festivals von Locarno und mein Besuch beim Festival von Venedig. Also musste ich nur noch das letzte Drittel des Programms zusammenstellen, und das hat sich wunderbar eingefügt.
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Ein wichtiges Special der Viennale ist aber ganz ohne die aktive Teilnahme von Hans Hurch entstanden: „14 Freunde, 14 Filme“, die Hommage an den Verstorbenen. Was ist zu diesem Programm zu sagen? Dieses Special entstand in zwei Stufen. Zunächst mussten wir die 14 Freunde von Hans bestimmen, die dann Filme aussuchen sollten. Hier sagten wir: Keine Österreicher – da gibt es zu viele Freunde von ihm und wir würden gewiss Freunde beleidigen, wenn wir sie aus Quantitätsgründen nicht hineinnehmen. In einem Brainstorming mit dem Viennale-Team haben wir uns dann auf 14 internationale Personen geeinigt, von denen jede zwei Filme vorschlagen konnte. Aus den 28 Filmen dann 14 zu machen, war einfach, das ging quasi in Sekunden. Diese Filme haben wir alle im Stadtkino angesetzt, täglich um 18 Uhr, 14 Tage lang. Als letzten Film zeigen wir hier am 2. November „Au Hasard Balthazar“ von Robert Bresson, der von Tilda Swinton ausgesucht wurde. Dieses Finale hat einen Grund: „Balthazar“ ist Hans Hurchs erklärter Lieblingsfilm. Ein prägender Bestandteil der Viennale waren stets Hurchs sehr politischen Eröffnungsreden, die dann häufig tags darauf Schlagzeilen machten. Werden Sie diese Tradition fortsetzen? Nein. Für diese Reden kann es keinen Ersatz geben. Diese Lücke bleibt. Ich werde versuchen, etwas zu sagen, das wird jedoch nichts mit den Reden von Hans Hurch zu tun haben. Die zukünftige neue Direktion kann diese Tradition ab 2018 vielleicht wiederentdecken oder Gastredner engagieren. Aber es kann und darf dieses Jahr keine Nachfolge von Hans Hurch in der Rede geben. Das ist für mich unvorstellbar. Sie kennen die Viennale seit vielen Jahren sowohl von innen als auch von außen. Wodurch unterscheidet sich das Wiener Filmfest von anderen, ähnlich großen Festivals? Es gibt mindestens 1.700 Filmfestivals auf der Welt, wenn nicht mehr. Das erste Alleinstellungsmerkmal der Viennale ist dieses ein-
deutige Entscheiden, welche Filme gezeigt werden, durch eine Person; in den letzten 20 Jahren also durch Hans Hurch. Jeder Gast, der zur Viennale kommt, weiß, dass der Direktor seinen Film ausgewählt hat, und damit wird der Direktor quasi zum Verbündeten. Dann, ganz wichtig: Die Viennale findet in Wien statt, und das ist sehr attraktiv für viele Leute aus der Filmszene. Die Gästebetreuung der Viennale ist toll, die Gäste fühlen sich wohl, und so entsteht immer wieder eine gewisse Konstanz in der Beziehung zwischen Filmkünstlern und der Viennale. Da werden Regisseure dann immer wieder eingeladen – außer, wenn einmal ein Film nicht passt. All das spricht sich in der Filmszene herum, und ich nehme an, dass die Viennale dadurch ihre besondere Position im internationalen Festivalbetrieb erworben hat. Könnten Sie drei Ihrer Lieblingsfilme aus dem aktuellen Viennale-Programm nennen? Also, da wäre definitiv einmal der Thriller „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ von Martin McDonagh, in dem die Hauptfigur mit Frances McDormand gegen die Rolle besetzt ist. Dann die österreichische Produktion „Abschied von den Eltern“ von Astrid Johanna Ofner, basierend auf der autobiografischen Erzählung von Peter Weiss. Ein Film wie aus einem Guss, der Peter Weiss sehr nahe kommt. Als drittes nenne ich das stille Drama „Hannah“ von Andrea Pallaoro mit Charlotte Rampling, die den ganzen Film trägt. Das ist ein kleiner, einfacher Film, der vom Zuschauer nur eines verlangt: Dass man sich hineinfallen lässt. Als Viennale-Gast ist dieses Jahr Christoph Waltz angekündigt. Kann man sagen, dass Waltz als Oscar-Preisträger aus Wien der ideale Stargast schlechthin für das Festival ist? So muss man das sehen – sonst hätte Hans Hurch nicht jahrelang um den Besuch von Christoph Waltz gekämpft. Waltz schließt an die wunderbaren Gäste der letzten Jahre an, von Harry Belafonte bis Jane Fonda, mit dem besonderen Aspekt, dass er eben ein Öster-
Arbeitsbesuch beim Filmfestival Venedig: Franz Schwartz ist nach Hans Hurchs Tod kurzfritstig eingesprungen, um die Viennale 2017 zu leiten.
Foto: Katharina Sartena
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reicher ist. Wir haben alle Filme, die wir aus Anlass seines Besuchs zeigen, mit Waltz abgestimmt, und er hat die deutsche Produktion „Du bist nicht allein“, in der er den Schlagerstar Roy Black spielt, hineingebracht. Den Film hatten wir erst gar nicht auf der Liste, und er war als TV-Produktion auch nicht so leicht aufzutreiben. Obendrein haben wir Waltz gebeten, uns behilflich zu sein, damit wir seinen neuen Film „Downsizing“ zeigen können, der in Venedig Premiere hatte. Das hat er getan. Die Viennale ist, mit Besucherzahlen knapp unter der Hunderttausender-Marke, eines der starken Publikums-Filmfestivals in Europa. Haben Sie ein Ziel, was die Zuschauerzahlen angeht? Sagen wir es so: Ich möchte die Einnahmen aus dem Kartenverkauf, die wir budgetiert haben, erreichen. Ich weiß nicht, ob wir dazu 92.000 oder 98.000 Besucher brauchen, aber es wäre wesentlich, dass wir das Budget einhalten können. Das Schielen auf die Besucherzahlen birgt immer auch ein Problem: es gibt ja quasi eine natürliche Grenze. Daher sollte man weder einen marginalen Anstieg noch ein Sinken überbewerten. Das nächste große Viennale-Thema nach dem diesjährigen Festival ist die Bestellung der neuen Direktion. Wie wird da der Ablauf sein? Am 4. November wird die Ausschreibung für die Leitung der Viennale national und international veröffentlicht. Am 5. Dezember
endet die Bewerbungsfrist. Noch im Dezember sollten die Bewerbungen vorsortiert werden, sodass man im Jänner 2018 die Hearings machen kann. Spätestens Ende Jänner sollte die Entscheidung dann feststehen. Bei Ausschreibungen von wichtigen Positionen im Kulturbetrieb kommt es bisweilen vor, dass der Sieger intern bereits feststeht, bevor die Ausschreibung veröffentlicht wird… Ich kann garantieren, dass es keinerlei Entscheidung oder auch nur Vorentscheidung dazu gibt, obwohl man uns das aufgrund der späten Ausschreibung durchaus schon unterstellt hat. Die Auswahlkommission macht sicherlich keine Ausschreibung, für die wir 80 bis 100 Bewerbungen erwarten, nur zum Schein. Der ursprüngliche Plan sah vor, die Leitung im März 2018 für die Viennale 2019 auszuschreiben. Durch den Tod von Hans Hurch am 23. Juli 2017 ist alles anders gekommen. Rein technisch hätte man im September ausschreiben können, aber ich sagte, es käme mir komisch vor, wenn wir das so knapp vor der Viennale machen. Letztendlich entschieden wir uns dann eben dazu, die Ausschreibung gleich nach dem Ende der Viennale zu veröffentlichen. Viennale-Präsident Eric Pleskow sagte letztes Jahr, dass er sich als Nachfolger von Hans Hurch eine Frau wünschen würde. Nun, heute habe ich auch schon gehört,
dass sich Eric Pleskow eine nationale Lösung wünscht. Wir schreiben die Position aber national und international aus. Formal wird es wohl so vor sich gehen, dass die Auswahlkommission dem Präsidenten ihre Vorschläge macht, und der Präsident sich dann mit der Auswahlkommission und dem Wiener Kulturstadtrat bespricht. Würden Sie der künftigen Direktion empfehlen, mit dem heutigen Viennale-Team weiterzuarbeiten? Unbedingt. Dieses Festival hat ein tolles, eingespieltes Team, das ganz genau weiß, was es wann zu tun hat. Natürlich wird es im Lauf der Zeit zu einer gewissen Fluktuation kommen, aber es ist naheliegend, das Team zu belassen und sich aneinander zu gewöhnen. Ich selbst werde wieder ins Viennale-Kuratorium zurückkehren. Wird Viennale-Präsident Eric Pleskow dieses Jahr von seinem Wohnsitz in den USA zum Festival nach Wien kommen? Nein. Eric Pleskow ist ja schon 93 Jahre alt, und die weite Reise wurde ihm von den Ärzten verboten. Er wird uns aber wieder eine Botschaft schicken. INTERVIEW: GUNTHER BAUMANN/FILMCLICKS.AT
DIE HOMMAGE AN HANS HURCH IST TÄGLICH UM 18H IM STADTKINO ZU SEHEN.
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INTERVIEW
FILMSTART: 10.11.17
Filmladen
ES WERDE LICHT Barbara Albert meldet sich mit „Licht“ eindrucksvoll zurück: Wir sprachen mit der Regisseurin über ihre neu entdeckte Lust am Regieführen.
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ie 18-jährigen Maria Theresia von Paradis, genannt Resi (Maria Dragus), ist seit ihrem dritten Lebensjahr blind. Dafür ist sie an den Klaviertasten eine wahre Virtuosin, was ihr in der Gesellschaft viel Achtung einbringt. Sie gilt als Wunderkind und hat zahlreiche umjubelte Auftritte. Nach etlichen medizinischen Fehlbehandlungen wird sie 1777 von ihren Eltern dem umstrittenen Wunderheiler Franz Anton Mesmer (Devid Striesow) anvertraut. Bald schon beginnt Resi wieder zu sehen, was als medizinische Sensation gilt, die nicht alle Kollegen Mesmers bedingungslos glauben. Während Intrigen gegen Mesmer gesponnen werden, stellt Resi fest, dass ihre Virtuosität unter der neuen Sehkraft zu leiden beginnt. Barbara Alberts neuer Film „Licht“ ist ihr stärkstes Werk seit „Nordrand“: Sie schafft dank ihrer wunderbaren Hauptdarstellerin Maria Dragus und der virtuosen Kamera von Christine A. Maier ein kompaktes Gesellschaftsbild des Wiener Rokoko, das in vielen Bereichen von Problemen erzählt, die wir auch heute noch kennen. Vor allem aber ist „Licht“ der Befreiungsversuch einer unterdrückten Seele, die im Rahmen ihrer zarten Emanzipation eine ganz klare Richtung einschlägt. celluloid: „Licht“ zeigt sehr schön, wie die Gesellschaftsverhältnisse im Rokoko waren: Da gab es Unterdrückung und Missgunst, all das gepaart mit einer auffälligen Distanziertheit. Barbara Albert: Schon als ich den Roman von Alissa Walser gelesen hatte, hat mich ge-
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nau diese Unterdrückung der Gesellschaft so bewegt. Die Menschen rund um Resi, die sie letztlich unterdrücken, tun das, weil sie in gewisser Weise auch Opfer sind, eben derjenigen, die wiederum sie unterdrücken. Das gesellschaftliche System, das ja nicht nur im Rokoko so gewesen ist, ließ nicht zu, dass das, was in Resi steckt, herauskommen kann, und sie das Leben leben kann, das sie möchte. Dieser Aspekt hat mich aufgewühlt, und deswegen wollte ich darüber einen Film machen. Ich wollte im Verlauf des Film zeigen, wie das Innere von Resi erwacht und wie sie sich im Laufe der Zeit immer mehr entfaltet. Vieles wird da auf der visuellen Ebene gezeigt, die Bilder von Kamerafrau Christine A. Maier sind sauber kadriert und bestechen durch Ihre Brillanz. Ist das alles authentisch, was wir hier sehen? Das ist sehr genau recherchiert. Zu Beginn war uns allen sehr wichtig, Recherchen zu betreiben. Zunächst natürlich Ausstattung, Kostüme, Make up, Maske, dann die inhaltlichen Recherchen. Nach der Recherche haben wir entschieden, ob es zu viel oder genau im Sinne der Figuren ist, was wir ausstatten und herzeigen. Wir sind immer von den Figuren ausgegangen, die wir stark mit Farben, Formen und Frisuren, modelliert haben. Das ist durchaus authentisch und überhaupt nicht überzeichnet. Eine junge Frau erlangt die Sehkraft zurück, dafür schwindet gleichzeitig ihr Talent beim Klavierspiel. Offenbar darf sie nicht beides: Sehen und Talent haben. Ist das auch als Metapher
zu sehen, oder ist das einfach nur ein Schicksal? Mir war wichtig, dass es nicht nur eine Mystifizierung und Verherrlichung der Kunst ist im Sinne von „Du musst immer ein Opfer für die Kunst bringen“. Es ist eine tolle Spannung für die Figur und ein wichtiger Konflikt, den es auch braucht. Mit mehr Geduld seitens ihrer Familie hätte Resi es vielleicht geschafft, aus dieser Misere rauszukommen. Sehkraft oder Talent? Das ist natürlich ein naheliegender, spannender Konflikt, den ich aber nicht so verstanden wissen will, dass man immer etwas aufgeben muss. Reis hätte vielleicht noch mit der Entscheidung, wieder in die Blindheit zu gehen, gewartet, denn sie ist ein Mensch, der alles will, das Recht zu sehen und ihre Musik behalten. In dem Moment, wo sie sich durchringt und sagt, dass es ihr Recht ist, wird es von den Eltern, von den Ärzten und auch von der Gesellschaft verhindert. Sie steht aber im Moment der Entscheidung anders da, als zu Beginn. Sie hat trotzdem etwas gewonnen, das hat mit Selbstbewusstsein zu tun. Das Tragische daran ist, dass ihre Besonderheit die Blindheit war. Wenn man ihr die genommen hätte, hätte sie heiraten müssen, wäre weniger frei gewesen, hätte nicht ihre Reisen machen können und auch nicht komponieren. Letztlich hat sie die richtige Entscheidung getroffen. Was ist das für ein Frauenbild, das wir da sehen? Wir haben hier eine Frau, die aufgrund ihres „Andersseins“ ihre Freiheit gewinnt, die eigentlich jede Frau bzw. jeder Mensch grundsätzlich haben sollte. Und wie ist das eigentlich heute? Sehr viel anders? Gesellschaftliche Zwänge sind auf der einen
Sie haben vor bald zwanzig Jahren mit „Nordrand“ das viel gepriesene „österreichische Filmwunder“ eingeleitet. Würden Sie diesen Film heute nochmal genauso drehen? Als ich 1995 mit „Nordrand“ begonnen habe, habe ich schon ganz stark Dinge gespürt, die heute letztlich Realität sind, gerade in Bezug auf rechte Entwicklungen. Ich würde „Nordrand“ heute gar nicht so viel anders machen als damals. Ich muss grundsätzlich sagen: Die Veränderungen auf der Welt sind so hochtourig, dass man mit dem Reflektieren gar nicht mehr hinterher kommt. Ich habe vor mehreren Jahren ein Drehbuch geschrieben, ich habe das ständig umgeschrieben, weil ich gemerkt habe, dass es nicht mehr stimmt. Ich musste es ständig aktualisieren, bis ich gar nicht mehr wusste, was ich dazu sagen kann. Für mich ist es sehr schwierig, etwas über die Welt zu erzählen und darum bin ich froh gewesen, bei „Licht“ einen Stoff, eine Vorlage zu haben, die ich extrem spannend finde und sehr genau bearbeiten kann. Der Umstand, eine Vorlage zu haben, entspricht mir sehr und ist für mich wie eine Befreiung. Man merkt diese Leichtigkeit, und dass Sie sich mit diesem Stoff wohlgefühlt haben. Ich konnte mich früher als Regisseurin darauf stürzen und genau an der Umsetzung arbeiten und das hat mich sehr erfüllt. Bei meinen früheren Arbeiten, wo ich auch das Buch schrieb, was es so, dass ich länger Autorin sein musste, bevor es ans Inszenieren ging, Sie haben den Film erstmals nicht von Ihrer eigenen Produktionsfirma Coop99 produzieren lassen, sondern von Michael Kitzberger von der Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion. Wieso? Das hat auch damit zu tun, dass ich mich voll aufs Regieführung konzentrieren und nicht auch noch als Produzentin agieren wollte. Es war nach dem sehr langen Projekt „Die Lebenden“ eine gute Entwicklung, so frei von jeder Produktionsverantwortung zu sein. Ich habe ja in den letzten Jahren verschiedene Dinge gemacht, arbeitete als Autorin, Produzentin oder unterrichtete an einer Hochschule. „Licht“ war für mich die Wiederentdeckung der Freude an der Regie. Ich habe da wieder gespürt, dass das mein Element ist.
INTERVIEW: MATTHIAS GREULING
21.10., 18H, GARTENBAU 23.10., 13H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS
VOM KARGEN LEBEN In „Western“ zeigt Valeska Grisebach genau das: Einen Western, der allerdings in Bulgarien spielt. Wieso, erklärt sie uns hier.
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aleska Grisebach gehörte Anfang der 2000er Jahre einmal zu den bekanntesten jungen Vertretern der so genannten „Berliner Schule“, eine Strömung im deutschen Film, die vor allem durch ihre spröde Erzählweise, aber auch durch ein sehr simplifiziertes dramaturgisches Konzept auf- und vielen auch gefiel. Mit „Mein Stern“ legte sie 2001 ein geglücktes Debüt vor, 2006 folgte mit „Sehnsucht“ ihre zweite Arbeit, seither wurde es still um sie. Grisebach bekam eine Tochter, und fand, „dass die Zeit zwischen den Dreharbeiten auch ganz schön sein kann“, lächelt sie beim celluloid-Interview in Cannes, wo sie heuer in der Sektion „Un certain regard“ ihre dritte Langfilmarbeit „Western“ vorstellte, die zusammen mit der Produktionsfirma der oscarnominierten Regisseurin Maren Ade („Toni Erdmann“) und der Wiener „Coop99 Filmproduktion“ entstand. Grisebach folgt einer Truppe von deutschen Bauarbeitern bei der Errichtung eines Staudammes in Bulgarien und zeigt in ihren scheinbar
der Western-Charakter des Films, der eindeutig im Zentrum steht: „Wir alle sind durch das Fernsehen mit dem Western-Genre sehr vertraut und auch damit aufgewachsen“, sagt sie. „Ich schätze die Western aus den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren. Da wurde das Genre noch nicht so unverblümt demontiert. Die Ambivalenz der männlichen Figuren finde ich interessant, die auf der Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit sind und am Rand der Gesellschaft manövrieren, andererseits diese Sehnsucht haben, einfach nur nach Hause zu kommen“. Es geht Grisebach in „Western“ zuallererst um die Zeichnung gebrochener Figuren, die für sie den eigentlichen Reiz des Western-Genres ausmachen. „Einerseits wollen die Figuren raus aus der Gesellschaft, werden aber immer wieder aufgefordert, sich zu integrieren. Da gibt es diesen Horizont von Fernweh und Abenteuerlust, aber auch die Sehnsucht nach dem Zuhause, der Frau, dem bürgerlichen Leben. Natürlich ist der Western ein typisch amerikanisches Genre, aber eines, das auch wir Europäer in uns tragen“.
Katharina Sartena
Seite wieder stärker geworden, gerade, was junge Menschen betrifft. Vielleicht durch einen Drang, sich anzupassen, um möglichst gleich zu sein, um zu bestehen. Zugleich muss man auch besonders sein, um in den Medien vorzukommen. Es ist ein Gegensatz, denn man muss beides erfüllen, man muss besonders sein und gleichzeitig auch möglichst angepasst. Das ist ein bisschen perfide und macht auf junge Menschen einen ziemlich großen Druck. Der Druck wirkt auf beide Geschlechter, jedoch ist das Frauenthema weltweit gesehen von gestiegener Relevanz, und wir arbeiten ja auch in der westlichen Gesellschaft an Quoten, an Gleichstellung, aber weltweit gesehen ist die Frau noch immer extrem benachteiligt.
Endlose Weiten, lange Blicke - und Deutsche in der Fremde
belanglosen, alltäglichen, sehr dokumentarischen Beobachtungen vor allem eines: Wie die Deutschen im Ausland wahrgenommen werden, wie man sie sieht und wie sie sich selbst sehen, nämlich als herrische Draufgänger mit Machismo-Elementen, aber auch: Als hilfsbereite Menschen, deren kühl-sachliche Mentalität es einfach unmöglich zu machen scheint, sich als Ausländer jovial mit ihnen zu unterhalten. Da bleibt immer eine seltsame Distanz, die, so sieht es Grisebach, „vor allem der deutschen Geschichte geschuldet ist. So wie wir uns im Ausland geben und so, wie wir uns im Ausland fühlen, damit hat sich jeder Deutsche auseinanderzusetzen“. Die kulturellen und sprachlichen Unterschiede machen die Deutschen im Film (und auch in der Wirklichkeit) nicht zu den gemütlichsten Nachbarn, die es gibt, das weiß man auch aus dem Tourismus. Dennoch ist „Western“ keineswegs ein Film über solche kulturellen Unterschiede, sondern streift sie lediglich. Viel wichtiger ist Grisebach
Regisseurin Valeska Grisebach
Weshalb Grisebach die Handlung auch in unseren Breiten angesiedelt hat. „Für mich war es reizvoll, das Genre nach Osteuropa, genauer, nach Bulgarien zu transferieren, und die Helden hier auch als normale Menschen der Gegenwart zu zeigen. Trotzdem ist der Film durchdrungen von Western-Elementen, also vom Gefühl, Abenteuer erleben zu können". Die Protagonisten im Film werden aber auch zurückgeworfen auf ihre Vorurteile und Vertrauensdefizite gegenüber Fremden. „Western“ ist als Genre-Experiment genauso geglückt wie als Studie über das karge Leben in der Fremde, wo man trotz Kollegenschaft letztlich im Alleinseinmodus an der Welt laboriert. Grisebach hat ob der glänzenden Reaktionen beim Publikum in Cannes auch versprochen, sich mit dem nächsten Film nicht mehr zu lange Zeit zu lassen. „Ich will jetzt wieder ordentlich Gas geben“, sagt sie. DORIS NIESSER 29.10., 18H, GARTENBAU 02.11., 11H, URANIA
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HIGHLIGHTS
Viennale
KURZ & KLEIN In „Downsizing“ von Alexander Payne ist Matt Damon gerade einmal 12,5 Zentimeter groß.
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s ist der vielleicht optimistischste Filme von Alexander Payne, und das, obwohl es darin um nichts weniger als die Apokalypse geht“, sagt Matt Damon. „Wenn das mal nicht für diesen Regisseur spricht“. „Downsizing“, eine komische Dystopie, feierte Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig, und Matt Damon gab dort Auskunft über diese außergewöhnliche Rolle: Ein norwegischer Wissenschaftler erfindet eine Technik, mit der Menschen auf rund 12,5 Zentimeter geschrumpft werden können. Das spart viel Platz und löst das Problem mit der Überbevölkerung, genauso wie jenes der Müllberge (Mini-Menschen machen weniger Dreck), der Trinkwasserversorgung (sie trinken weniger) und der Geldnöte (Luxusvillen im Puppenhausformat sind selbstredend günstiger als weitläufige Anwesen in Realgröße).
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Katharina Sartena
REICH UND KLEIN Findige Unternehmer krallen sich diese revolutionäre Technik und schaffen mit dem Wohnpark „Leisureland“ eine Art Rentner-Refugium mit Luxusgarantie: Eine opulente Mini-Parkanlage, ein Minimundus als Kopie der realen Welt, in der es allerdings nur Reiche gibt, denn wer als großer Menschen wenig Geld hat, ist als kleiner plötzlich Millionär. Sogar kubanische Zigarren gibt es hier, für einen schlappen Dollar. Die Mini-Megacity ist mit Netzen überspannt, denn Insekten wären für die kleinen Menschen tödlich. Viele solcher Details werten „Downsizing“ in dieser Phase gewaltig auf. Paul Safranek (Damon) und seine Frau Audrey (Kristen Wiig), die im realen Leben mit schlechten Karriereaussichten und Durchschnittslohn von einer Villa höchstens träumen können, gefällt die Idee vom sorgenfreien
Leben in der Miniatur. Freunde, die selbst geschrumpft wurden, sagen, das sei die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen, und das sagen sie nicht nur, weil es ihnen der Hersteller der Minimenschen-Technik empfohlen hat. All das hat natürlich einen Haken, und als Paul sich schließlich schrumpfen lässt, ist es zu spät, irreversibel. Seine Frau hat einen Rückzieher gemacht, da lag er schon in der Schrumpfkammer, die ein bisschen aussieht wie
Matt Damon bei der Premiere in Venedig
eine überdimensionierte Mikrowelle. Aus der Traum, es folgt die Trennung zwischen der Großen und dem nun Kleinen, und bis hierher hat Alexander Paynes „Downsizing“ sein wirklich interessantes Sujet zu einem Gutteil mit faszinierenden Einsichten und bester Science-Fiction gefüllt. Allein: Danach ändert die immer abstrusere Geschichte mehrfach ihre Richtung, bei der nur eines konsistent bleibt: Der Protago-
nist, wie immer mit bester Durchschnittlichkeit gespielt von Damon, versagt bei allen Entscheidungen in seinem Leben. Dass zur Mitte des Films Christoph Waltz als Lebemann Dusan mit serbischem Akzent und Udo Kier im Schlepptau auftaucht, um Paul in einen Dauerpartymodus zu stürzen, macht die Sache nicht besser. Und als Paul danach auch noch seine wohltätige Ader an der einbeinigen, arg geschundenen Vietnamesin Gong Jiang (Hong Chau, sie ist echt oscarverdächtig!) entdeckt, steuert diese Dystopie endgültig in das Fahrwasser früherer Payne-Dramen, die irgendwo zwischen Hoffnung und Verzweiflung pendelten und in ihrem Verlauf immer diesen völlig deplatzierten spirituellen Charakter bekamen. Auch „Downsizing“ - so großartig dieser Film beginnt - endet bald im richtungslosen Zustand, an dessen Ende sogar die ganze Welt am Abgrund steht, oder auch nicht, je nachdem, woran man glaubt. Hätte dieser Film seine Linie aus der ersten Hälfte nicht verlassen, in der der Konflikt zwischen den neureichen Winzlingen und den groß gebliebenen Steuerzahlern zugespitzt worden wäre, es hätte ein Meisterstück sein können, das als Satire mindestens ebenso gut funktioniert hätte wie dereinst die „Truman Show“: Beide Stoffe zeigen, wie wenig sich abgeschlossene, durchgeplante Systeme als Lebensraum eignen; dieses Thema hätte „Downsizing“ vertiefen können, anstatt sich gegen Ende in einer Pilgerreise zu den Ursprüngen der Zwergenmenschen zu verlieren. Natürlich gibt es auch eine Läuterung in diesem Film, und der kleine Paul zeigt - man verzeihe die Formulierung - so richtig Größe. MATTHIAS GREULING 24.10.,21.15H, GARTENBAU
DIE BEATLES UND JESUS IRREN NICHT Guillermo del Toro hat in Venedig für „The Shape of Water“ den Goldenen Löwen gewonnen.
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it dem Fantasy-Genre ist das so eine Sache. Entweder, man mag es, oder eben nicht. Und was hat Fantasy eigentlich auf einem Kunstfilmfestival wie der Biennale verloren? Die Antwort gibt Guillermo del Toro, der seit „Pan’s Labyrinth“ als einer der Visionäre des Genres gilt. In Venedig gewann der Mexikaner für seine neue Arbeit „The Shape of Water“ gerade den Goldenen Löwen, und als Oscar-Favorit gilt er inzwischen auch. Man sieht: Fantasy kann auch künstlerischen Anspruch haben. Und das, obwohl hier vorderhand einmal recht abstruse Dinge passieren: In „The Shape of Water“ verlieben sich eine stumme Putzfrau und ein Wassermonster ineinander. Eine Lovestory, die es den Kritikern merklich angetan hat, so begeistert waren die bisherigen Wortmeldungen. „Visuell und emotional hinreißend“, fand das der „Hollywood Reporter“, „makellos“ der „Guardian“. Alberto Barbera, der Festivalchef von Venedig, nannte den Film „den besten von del Toro seit einem Jahrzehnt“. Die Story um ein Monster (Doug Jones), das von der US-Regierung geheim gehalten wird und eine Beziehung zur Putzfrau (Sally Hawkins) entwickelt, ist ein Mix aus Fantasy, Romanze und Kalter-Krieg-Thriller, der auch die zeitgenössischen Zustände kommentiert. „Fantasy war schon immer ein sehr politisches Genre“, findet der Regisseur. „Obwohl unser Film 1962 spielt, ist es doch ein Film über un-
sere Gegenwart, und über das heutige Amerika“. Damals sei Amerika voller Hoffnungen gewesen, ganz im Sinne des Slogans „Make America Great Again“, doch es gab auch ausgeprägten Rassismus und ein starkes Klassendenken. „Das ist heute wieder so“, findet del Toro. Gefühle des Fremdseins machen sich breit, das lässt auch Guillermo del Toro durchklingen: „Ich kann die Gefühle des Monsters im Film sehr gut nachvollziehen, denn ich bin Mexikaner, und als solcher gewohnt, ‚der Andere‘ zu sein.“
Aber del Toro gibt sich hoffnungsvoll, trotz aller Dramatik, die „The Shape of Water“ an den Tag legt: „Das Problem, das wir heute haben, nämlich uns zwischen Angst und Liebe entscheiden zu müssen, ist ein Desaster. Liebe ist die stärkste Kraft im Universum“, so Guillermo del Toro. „Es kann doch nicht sein, dass sich sowohl die Beatles als auch Jesus darin geirrt haben“. PAUL HEGER 20.10., 21H, GARTENBAU 21.10., 13H, GARTENBAU
CHAVELA - DIE GRÖSSTE SÄNGERIN LATEINAMERIKAS
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ie war nie das zarte Rauschen des Bächleins, sie war das Tosen des Stroms, der alles mitreißt. Ihr ungewöhnlicher, rauer Gesang beeindruckte das Publikum mit tiefen Trauerballaden, die sie niemals nur vortrug, sondern vorlebte, mal schluchzend, mal tränend. Immer kämpfend. „Mein Name ist Chavela Vagas. Vergesst das nicht“, sagt diese überzeugte Stimme gleich zu Beginn des Filmporträts, der ihr ein Denkmal setzen und der Welt erzählen möchte, wer die größte Gesangsikone Lateinamerikas war – und bis heute ist. Singend kam sie schon zur Welt, in ein religiöses Umfeld in Costa Rica, das sie niemals liebte. Ihre burschikosen Züge und Gesten befremdeten die eigene Familie, bei Besuch wurde das Kind versteckt, die baldige Scheidung ihrer Eltern würde sie nie überwinden. Früh geprägt und zur Einsamkeit erzogen, floh das Mädchen in die Stadt der Männer – nach Mexiko City, dem Sehnsuchtsort der Außenseiter und Künstler. Für Künstlerinnen allerdings war der Platz in der
Millionenmetropole arg beschränkt, die frühen Dreißiger ein hartes Pflaster für eine Frau, der kein Kleid passte und die mit Stöckelschuhen hinfiel. „Frau sein“, so wie es Ort und Zeit wollten, funktionierte bei ihr nicht. Eine Erkenntnis, die Chavela Vagas zu dem gefürchteten „Mannsweib“ machen sollte, das in den Nachclubs Mexikos jahrelang die Hosen anhatte. EHRFURCHT Sichtlich viel Ehrfurcht steckt in dem Denkmal, das die Regisseurinnen Catherine Gund und Daresha Kyi aus Archivmaterial und Interviewpassagen errichten und damit der Sängerin über neunzig Minuten huldigen. Allzu viel Ehrfurcht an manchen Stellen, die geradeaus ins Schwärmerische zielen und diese hochkomplexe Kunstgestalt gar einseitig beleuchten. So wird zwar immer wieder angesprochen, wie die Sängerin, deren sexuelle Vorliebe für Frauen nie ein Geheimnis war, sich nach und nach die Codes der Männer aneignet und bald maskuliner auftritt als alle Machos in ganz Mexiko; doch wirklich tiefgehendes Interesse für das Spannungsfeld der Geschlechter zeigt „Chavela“ nicht. Gerade die moralische Ambivalenz
zwischen angeborenem Geschlecht und selbstbestimmten Auftreten gäbe genug her, um die Lebensentwürfe der „Señora“ Vagas näher zu hinterfragen. Etwa, ob eine Frau sich erst wie ein Mann verhalten muss, um sich im Spielfeld der Männer durchzusetzen. Denn Vagas trank den Tequila wie Wasser, nahm sich die Frauen, die sie wollte, brach viele Herzen, trank noch mehr, wurde nie sesshaft, trank weiter. Mit dem Alkohol hielt sie ihre längste Beziehung, erst im hohen Alter traute sie sich erstmals nüchtern auf die Bühne – und erlebte ein märchenhaftes Comeback. Für dieses exzesshafte, ruhelose Treiben der Protagonistin, die sich rücksichtslos vor anderen und, vor allem, vor sich selbst in ein einsames Dasein stürzte, findet „Chavela“ letztlich nur bedingt die passende Form; zu gewöhnlich und abgearbeitet wirkt die dokumentarische Durcherzählung dieses widersprüchlichen, ungebändigten, traurigschönen Lebens einer Frau, die am liebsten noch singend gestorben wäre.. CONSTANTIN SCHWAB 21.10., 23H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS
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HIGHLIGHTS THE INSULT
Die Politgroteske „The Insult“ aus dem Libanon ist ein Film, der den Zuschauer mit seiner entfesselten Wucht förmlich umhaut. Der einen ungläubig staunen lässt und zugleich unter Hochspannung stellt. Obendrein liefert „The Insult“ auch Kennern der verworrenen Verhältnisse im Nahen Osten überraschende Einblicke. Auslöser der Story ist einer jener blödsinnigen Kleinkonflikte, wie sie etwa in der ORF-Reihe „Am Schauplatz“ immer wieder für Unterhaltung sorgen. Im Kern geht es um ein 30 Zentimeter langes Wasser-Abflussrohr. Als der Beiruter Bürger Toni eines Tages seinen Balkon absprüht, fließt das Abwasser durch dieses Rohr und von dort auf die Straße (denn es ist nicht an die Kanalisation angeschlossen). Auf der Straße steht, wie es der Zufall will, der Bautechniker Yasser, und der wird nass. Yasser fordert von Toni, das Rohr stillzulegen – die Vorschriften. Toni lehnt ab. Also kommt Yasser mit einer Leiter, entfernt das Rohr und ersetzt es durch eine Plastikröhre, die er mit dem Regen-Abfluss des Hauses verbindet. Jetzt erscheint der erzürnte Toni mit einem Hammer und schlägt das Kunststoffteil kaputt. Die Herren plärren aufeinander ein und werden ausfällig. Toni fordert von Yasser eine Entschuldigung. Die mag der Mann nicht aussprechen. Und das hat Konsequenzen. Denn Toni ist ein libanesischer Christ und Yasser ein Palästinenser. Der lächerliche Streit lässt in beiden Männern Aversionen hochkochen, die mit den Konflikten zwischen diesen beiden Volksgruppen zu tun haben. Die Folge: Der Konflikt eskaliert. Auf verbale Beleidigungen folgen Faustschläge und Körperverletzung. Der Fall kommt vor Gericht. Erst solidarisieren sich die jeweiligen Freunde mit den Streithähnen. Dann berichtet die Presse darüber und die Wogen schlagen immer höher. Irgendwann mischt sich sogar der libanesische Präsident in den Abflussrohr-Fall ein. Denn auf einmal besteht die Gefahr, dass Gewalt zwischen Christen und Palästinensern ausbrechen könnte – wie im Bürgerkrieg, der den Libanon von 1975 bis 1990 zerriss. „The Insult“ ist ein brillant gemachtes Dokudrama über die Tatsache, dass es im Nahen Osten noch ganz andere Trennlinien gibt als jene zwischen Israel und den Arabern; zwischen sunnitischen und schiitischen Moslems. Der Libanon wird einerseits als modernes Land geschildert, in dem es zum Beispiel die Frauen in der Berufswelt sehr weit bringen können. Andererseits begegnet man aber auch vielen Macho-Typen, denen Stolz und Vorurteil mehr bedeuten als sachliche Diskussionen und Kompromisse. Der Film ist möglicherweise auch deswegen
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„The Insult“ (Ziad Doueiri, F/Libanon 2017)
so interessant geworden, weil Regisseur Ziad Dueiri viele Jahre lang sein Handwerk in Hollywood erlernte. Er gab „The Insult“ eine fast schon thrillerhafte Struktur, die in einer gloriosen Gerichtssaal-Sequenz mündet. Großartig. GUNTHER BAUMANN 28.10., 15.30H, GARTENBAU 1.11., 18.30H, URANIA
ISMAEL‘S GHOSTS
Der französische Filmemacher Arnaud Desplechin erzählt in „Ismael’s Ghosts“ eine Geschichte über den französischen Filmemacher Ismael (Mathieu Amalric), der während des Drehs zu einem Spionage-Thriller von Geistern der Vergangenheit heimgesucht wird. Konkret geht es um einen weiblichen Geist namens Carlotta (Marion Cotillard); Ismael Ex-Ehefrau. Die verschwand vor 20 Jahren so plötzlich und spurlos von der Bildfläche, dass sie längst amtlich für tot erklärt wurde. Jetzt ist sie genauso plötzlich wieder da, begründet ihren seinerzeitigen Abgang lapidar mit dem Satz „ich konnte nicht mehr atmen“ und will ihr altes Leben zurück. Also jenes mit Ismael. Der ist aber längst mit einer neuen Frau liiert, der Astrophysikerin Sylvia (Charlotte Gainsbourg), Und die findet Carlottas Begehren überhaupt nicht lustig; genauso wenig wie Ismael selbst. Ein großer Konflikt bricht aus. „Ismael’s Ghosts“ ist ein Arthaus-Film aus dem Genre des knochentrockenen Kopfkinos. Es wird viel geredet und viel aus anderen Produktionen zitiert (von Hitchcocks „Vertigo“ bis hin zu Desplechins eigenen Filmen), doch die Story findet keinen zentralen Punkt, an dem sich das Interesse des Publikums entzünden könnte. Ganz im Gegenteil: Desplechin vermischt munter Szenen aus dem Spionagethriller, den sein Protagonist gerade dreht, mit Sequenzen aus Ismaels privater Geschichte. Diese Erzählweise schlägt tiefe Kerben in den Spannungsbogen. Der Spionage-Story fehlt es an Spannung, während das Drama um Ismael und seine zwei Frauen so vorgetragen wird, wie es der berühmte Regisseur Jean-Pierre Jeunet einmal definierte: „Französisches Kino? Depressive Dialoge in der Küche!“ Gut, die Küche steht hier nicht im Mittelpunkt, und außer endlosem Gedanken-Ping-Pong gibt es auch sinnliche Momente und solche voller Gewalt. Für erstere ist vor al-
lem Charlotte Gainsbourg zuständig, für zweitere Mathieu Amalric. „Ismael’s Ghosts“ ist ein visuell prächtiger Film, der von seinen hochklassigen Darstellern auch ansehnlich gespielt wird. GUNTHER BAUMANN 20.10., 18H, GARTENBAU 21.10., 13.30H, URANIA
HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES
Nicole Kidman ist mit 1,80 Metern nicht nur groß. Sie liebt auch die großen Auftritte. In
„How to Talk to Girls at Parties“ (John Cameron Mitchell, GB/USA 2016
„120 battements par minute“ (Robin Campillo, F 2017)
der ausgeflippten Komödie „How To Talk To Girls At Parties” von John Cameron Mitchell („Hedwig And The Angry Inch“) spielt sie eine hinreißend schrille Figur im Londoner Vorort Croydon. Ihre Queen Boadicea (was für ein Name!) erinnert vom Typ her an die Designerin Vivienne Westwood. Nur leider hat sie den Absprung in die Welt der Schönen und Reichen nicht geschafft. Und so hat sich ihr eigenes kleines Reich zusammengebaut, in dem sie Mode kreiert und neuen Punk-Bands eine Chance gibt. Ziemlich fassungslos - aber trotzdem mit einer beinahe majestätischen Größe - schaut die Kidman zu, wie plötzlich Aliens in Croydon auftauchen. Als Gefahr droht, bläst Queen Boadicea selbst zum Angriff auf das Alien-Quartier. Eine sehr vergnügliche Angelegenheit für Freunde des schrägen Humors. Dass Nicole zu dieser Gruppe gehört, ist eine gute Nachricht. Wunderbar durchgeknallter Mix aus Coming-of-Age, Punk-Rock und einer sentimentalen Alien-Komödie! GUNTHER BAUMANN 30.10., 23H GARTENBAU 2.11.,20.30H,STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS
NELYUBOV
Der für seine Filme vielfach preisgekrönte Andrey Zvyagintsev seziert messerscharf wie derzeit kein zweiter russischer Regisseur die gesellschaftlichen Zustände in seiner Heimat. In seinem Vorgängerfilm “Leviathan” hatte er sich der Korruption in verschiedenen Gesellschaftsschichten und der Kirche angenommen. Dieses Mal wird er, ohne das politische Umfeld aus dem Auge zu verlieren, privater. Die Ehe von Boris (Alexei Rozin) und Zhenya (Maryana Spivak) ist am Ende. Beide wollen sich scheiden lassen. Neue Partner sind schon längst ausgewählt. Die gemeinsame Wohnung wird verkauft. Was aber soll mit dem zwölfjährigen Sohn geschehen? Keiner der Beiden möchte ihn haben. Allabendlich brüllt man sich in der Wohnung an, während der Junge (eine ganz starke Szene) im Zimmer nebenan alles mit anhört und versucht, seine Trauer in einen stummen Schrei zu pressen. Boris und Zhenya sind derart mit sich und dem Aufbau des neuen Lebens beschäftigt, dass sie nicht mitkriegen, wie ihr Kind aus ihrem Leben verschwindet. Ist er weggelaufen oder versteckt er sich? Wurde ihm Gewalt angetan? Für eine kurze – und im Film unglaublich spannend inszenierte – Zeit ziehen die Eltern noch einmal an einem Strang. Zhenya starrt mal nicht ständig auf ihr Smartphone. Boris lebt mal wieder für seine Familie und nicht für die Arbeit. „Loveless“ ist ein kalter, ein winterlicher Film. Jede Szene sitzt passgenau. Ein schnörkelloser Film über das Scheitern von
zwei unfassbar egoistischen Menschen. Wem sie mit ihrem Handeln am meisten wehtun, erkennen sie erst, als es zu spät ist. PETER BEDDIES 27.10.,16H, URANIA 1.11.,15.30H, GARTENBAU
TEHRAN TABOO
Eines ist Fakt. Dass „Tehran Taboo“ in absehbarer Zeit im Iran offiziell zu sehen sein wird, gilt als extrem unwahrscheinlich. Denn der in Deutschland lebende Filmemacher Ali Soozandeh zeigt in seinem unerschrockenen Film, wie verlogen die iranische Gesellschaft heute ist. „Tehran Taboo“ stellt drei Frauen in den Mittelpunkt, die große Schwierigkeiten haben. Die eine arbeitet als Prostituierte und weiß nicht, wo sie ihr Kind lassen soll. Eine zweite ist schwanger und möchte arbeiten, was ihr Mann ihr verbietet. Und die Dritte muss sich ihr Jungfernhäutchen nach einer wilden Nacht im Club wieder reparieren lassen, da sie wenig später heiraten soll. Einen Film mit einem derart brisanten Inhalt konnte Soozandeh natürlich nicht in Teheran realisieren. Das hätten die Offiziellen nie zugelassen. Woanders wollte er nicht drehen, weil es nirgendwo so aussieht wie in Teheran. Also ging Ali Soozandeh einen Monat lang mit dem österreichischen Kameramann Martin Gschlacht in ein Green-Screen-Studio in Wien, wo die Darsteller vor grünen Wänden spielten. Im Anschluss wandelte der Regisseur das Material zwölf Monate lang im Rotoskopie-Verfahren in einen Trickfilm um. Visuell erinnert „Tehran Taboo“ an den preisgekrönten israelischen Film „Waltz With Bashir“. Das Ergebnis ist packend. Die Bilder wirken fiebrig. Die Spannung wird ständig hochgehal-
ten, auch wenn der Rhythmus des Films nicht sehr schnell ist. „Tehran Taboo“ ist ein Blick in eine männerdominierte und sehr verlogene Welt, in der man nicht leben möchte. Aber die starken Frauen machen Mut trotz aller Hoffnungslosigkeit. PETER BEDDIES 29.10.,21H, GARTENBAU 31.10.,11H, URANIA
120 BPM
„120 BPM (Beats Per Minute)“ - das klingt erst einmal wie der Titel eines Films über das ausgelassene Tanzen in den Pariser Clubs der 90er Jahre. Ist es auch in gewisser Weise. Es wird viel getanzt und musiziert in diesem Drama. Aber noch viel mehr wird geredet. Andauernd und bis zur Erschöpfung. Denn „120 BPM“ lenkt den Fokus auf die AIDS-Aktivisten von Act Up Paris, die sich Anfang der Neunziger zusammenschlossen und sich erst einmal finden mussten. Der Film zeigt etliche Debatten in einer Art Hörsaal. Da wird ausführlich darüber diskutiert, wie man der Gesellschaft klarmachen kann, wie homosexuelles Leben funktioniert, wie man sich gegen die aufkommende Krankheit AIDS stellt, wie man mit der pharmazeutischen Industrie wahlweise redet oder sie attackiert. Es ist ein ständiger, nie enden wollender Redefluss, den Regisseur Robin Campillo da zeigt. In der Hauptsache geht es um die Liebe der Protagonisten Sean und Nathan. Beide haben AIDS. Einer wird die Krankheit auf jeden Fall nicht überleben. Mit großer Sorgfalt und einer Zärtlichkeit blickt der Regisseur auf diese Liebe. PETER BEDDIES 23.10.,20H, GARTENBAU 25.10.,11H, URANIA
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HIGHLIGHTS SWEET COUNTRY
In dem australischen Western „Sweet Country“, der Ende der 1920er Jahre spielt, geht es um die brutale Misshandlung der australischen Ureinwohner. „Die Aborigines bekamen erst 1967 das Recht zu wählen, das muss man sich mal vorstellen“, sagt Sam Neill, der eine der Hauptrollen spielt. „Bis dahin galten sie in Australien als Bestandteil von Flora und Fauna“. In „Sweet Country“ wird dieser Umstand durch eine dramatische, wahre Geschichte unter der Regie von Warwick Thornton erzählt, der Regisseur zählt selbst zu der Bevölkerungsgruppe der Aborigines. Es geht um einen Aborigine namens Sam (Hamilton Morris), der bei einer Auseinandersetzung einen weißen Mann töten muss, um sein eigenes Leben zu retten, was dramatische Folgen nach sich zieht, weil die weißen Einwohner eine Gruppe zusammenstellen, die den Mörder suchen und zur Rechenschaft ziehen soll; die ganze Brutalität gegen die australischen Ureinwohner wird in „Sweet Country“ zu einem Porträt australischer Geschichte, aber auch zu einem Sinnbild für weltpolitische Entwicklungen der Gegenwart. „Wir erzählen hier eine schwierige Phase der australischen Geschichte, weil es damals ganz ungeniert zu offenem Rassismus kam“, sagt Sam Neill. „Und gleichzeitig stellen wir fest, dass es diese Übergriffe auch heute wieder gibt. In den USA laufen Nazis durch die Straßen! Nach 1945 hatte man gesagt: Nie wieder, aber die Menschen tendieren dazu, zu verdrängen und zu vergessen. Das finde ich traurig“. MATTHIAS GREULING 29.10.,11H, URANIA 1.11.,18H, GARTENBAU
„Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“
THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI
Der Titel ist sperrig, doch der Film explodiert nur so vor Melancholie, Witz und greller Action. Das Thriller-Drama „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ gefiel bei der Premiere in Venedig. „Mein Film handelt von einer zornigen Mutter, die keine Gefangenen macht“, sagt Regisseur Martin McDonagh. Die Mutter heißt Mildred, sie wird verkörpert durch Oscar-Preisträgerin Frances McDormand, und ihr ist das schlimmste passiert, was einer Mutter widerfahren kann. Ihre Teenager-Tochter wurde vergewaltigt und anschließend ermordet. Wenn „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ beginnt, sind sieben Monate seit der Tat vergangen. Die Polizei hat zwar ermittelt, aber keine Ahnung, wer der Täter sein könnte. Da wird es der trauernden und resoluten Mildred zu bunt. Sie mietet drei große Plakattafeln am Ortsrand, die sie mit einer Attacke gegen die Cops bekleben lässt: „Noch immer keine Festnahmen? Wie kann das sein, Chief Willoughby?“ Die Plakataktion löst im verschlafenen Provinznest Ebbing helle Aufregung aus: Man
„Sweet Country“
habe zwar Mitleid mit Mildred, aber so ein Affront gehe denn doch zu weit. Der einzige, der voll Gelassenheit auf die Plakate blickt, ist der angesprochene Chief Willoughby (Woody
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Harrelson) selbst. Bald fliegen nicht nur die (stets brillanten und schwarzhumorigen) Pointen, sondern auch die Fäuste. Es gibt eine sehr bohrende Szene bei einem Zahnarzt, einen Fenstersturz und eine brennende Polizeistation. Nur der Mörder von Mildreds Tochter scheint weiterhin wie vom Erdboden verschluckt. „Ich habe einen Film geschrieben, der mit Zorn, Zerstörung und Liebe beginnt – und der mit Hoffnung und Liebe endet“, erläuterte Martin McDonagh sein Werk. „Mildred ist eine Heldin und Antiheldin zugleich. Auch der Polizist hat von seinem Standpunkt aus durchaus Recht. Mir geht es beim Schreiben darum, das Humane in allen Figuren zu finden.“ GUNTHER BAUMANN 29.10.,11H, URANIA 1.11.,18H, GARTENBAU
HELLE NÄCHTE
Das Bild ist bekannt aus all den Filmen der so genannten „Berliner Schule“, deren Vertreter Thomas Arslan war (oder: ist). Ein Vater und sein Sohn schweigen einander an auf einer langen Autofahrt durch Nordländer, wo es nicht dunkel wird, als ob diese Tageshelle Licht in die dunklen Seelen der Protagonisten bringen sollte, was aber natürlich, dem pessimistischen Grundtenor dieser filmischen Richtung folgend, nicht wirklich gelingt. Stattdessen legt Regisseur Arslan über sein Drehbuch zu seinem Film „Helle Nächte“ einiges an Banalitäten in die Münder von Georg Friedrich (er spielt Vater Michael) und Tristan Göbel (Sohn Luis). Die Entfremdung zwischen den beiden ausgerechnet beim Zweiertrip durch die eher wenig bevölkerten Berge Norwegens ad acta legen zu können: ein Wunschdenken. Ein zähes Roadmovie, ja, das schon eher. „Helle Nächte“ ist einerseits sehr minimalistisch erzählt, andererseits wirkt der Film aber auch unfertig im Sinne seiner Dramaturgie. Leerstellen im Leben mit ebenso kargen Bildern zu illustrieren, ist jetzt nicht gerade die kreativste Idee; doch Arslan geht diesen Weg konsequent, und ist damit wenigstens seinem Erzähltempo treu geblieben, mit dem er zuletzt auch schon in „Gold“ Geduld forderte. Für Georg Friedrich gab es bei der diesjährigen Berlinale immerhin den Preis als bester Darsteller. MATTHIAS GREULING 21.10., 15.30H, GARTENBAU 22.10., 20.30H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS
SPECIALS
CHRISTOPH WALTZ BEI DER VIENNALE S
Foto: Katharina Sartena
eit vielen Jahren hatte Hans Hurch versucht, Christoph Waltz dazu zu bewegen, die Viennale mit seiner Anwesenheit zu beehren - und ausgerechnet heuer, nach Hurchs Tod, klappt es: Waltz wird der Stargast der diesjährigen Viennale sein, ihm ist auch ein Sonderprogramm gewidmet. Am 24. Oktober wird zu Waltz‘ Ehren im Gartenbaukino Roman Polanskis „Carnage“ gezeigt, in dem Waltz an der Seite von Jodie Foster und Kate Winslet zu sehen ist. Außerdem zeigt die Viennale eine Auswahl an Waltz‘ bekanntesten Filmen (darunter auch „Inglourious Basterds“) und frühen Auftritten, etwa „Du bist nicht allein“ (1996), in der Waltz Roy Black verkörperte.
VIENNALE-GALA ZU EHREN VON CHRISTOPH WALTZ: 24.10., 18 H, GARTENBAU (MIT EINLADUNG)
CARMEN CARTELLIERI
1917 drehte Carmen Cartellieri als 26-Jährige – ohne jemals vorher als Schauspielerin aktiv gewesen zu sein – ihren ersten Film „Anjula, das Zigeunermädchen, und machte sich an der Seite des Regisseurs, Drehbuchautors und Kameramanns Cornelius Hintner beim ungarischen Film einen Namen. Nach dem Ende der Räterepublik übersiedelten die beiden nach Wien, wo Cartellieri in einer beispiellosen Medienkampagne zum Star gehoben wurde. Die Jahre des Aufschwungs der heimischen Filmindustrie während der Inflationszeit von 1920–1923 markierten den Höhepunkt ihrer Karriere. Retro des Filmarchivs.
14 FILME FÜR HANS HURCH
In Erinnerung an Hans Hurch zeigt die Viennale 14 von internationalen Regisseuren ausgewählte Filme, darunter von Alain Guiraudie, Klaus Wyborny, Jean-Claude Rousseau, Manuel Mozos, Gaston Solnicki, Jem Cohen und Hartmut Bitomsky. Die Filme werden während der Filmschau täglich um 18 Uhr im Stadtkino gezeigt. Vor jedem dieser Filme wird einer der während Hans Hurchs Amtszeit 1997 bis 2017 entstandenen Viennale-Trailer gezeigt.
RETROSPEKTIVE
Unter dem Titel „Utopie und Korrektur“ wird dieses Jahr sowjetisches Kino von 1926–1940 und 1956–1977 gezeigt. 30 Filme aus zwei bedeutsamen Aufbruchs-Phasen des sowjetischen Kinos, die zu fünfzehn dialogischen „Paaren“ angeordnet sind: Werke aus den 1920er und 1930er Jahren begegnen solchen aus der Zeit während und nach der „Tauwetter“-Periode, die auf Stalins Tod folgte. INFOS: WWW.FILMMUSEUM.AT
Retrospektive: „Timur i ego komanda“ (UdSSR 1940) von Aleksandr Razumnyj
WWW.FILMARCHIV.AT
IMPRESSUM: celluloid
FILMMAGAZIN Nummer 5a/2017 Oktober 2017. Sonderausgabe zur Viennale 2017. Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Werbeagentur Matthias Greuling für den Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films. Chefredakteur: Matthias Greuling. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Gunther Baumann, Paul Heger, Katharina Sartena, Doris Niesser, Peter Beddies, Constantin Schwab. Layout / Repro: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Fotos, sofern nicht anders angegeben: Viennale. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Anschrift: celluloid Filmmagazin, Spechtgasse 57/5, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@gmx.at, Internet: www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2017 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.
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