celluloid VIENNALE 2019 Special

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CINEMA FOREVER!

celluloid 5A/2019 OKTOBER/NOVEMBER

filmmagazin

MATI DIOP

Foto: Katharina Sartena

UND DIE GEISTER, DIE DIE FLUCHT VERSUCHTEN

VIENNALE 2019 SONDERHEFT ZUR VIENNALE MIT KOMPLETTEM SPIELPLAN



celluloid

Filmmagazin Ausgabe 5a/2019 - 20. Jahrgang Sonderausgabe zur Viennale, Oktober 2019

VIE NNA LE 24.10. BIS 6.11.2019

INFOS UND TICKETS: VIENNALE.AT 01/ 526594769 VORVERKAUF AB 19.10.2019

„Porträt einer jungen Frau in Flammen“ von Céline Sciamma

DAS ERBLÜHEN DER LIEBE

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Viennale-Eröffnungsfilm: „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ erzählt von zwei Frauen, die starke Gefühle füreinander entwickeln.

m Jahr 1770 verschlägt es die Malerin Marianne (Noémie Merlant) auf eine Insel in der Bretagne, wo sie im Auftrag einer Adeligen (Valeria Golino) deren Tochter Héloïse (Adèle Haenel) porträtieren soll. Der jungen Frau, die erst kürzlich eine Klosterschule verlassen hat, steht eine Heirat mit einem ihr unbekannten Mann aus gutem Hause bevor, gegen die sie sich allerdings vehement sträubt. Da das gewünschte Bild die arrangierte Verbindung offiziell machen würde, hat sich Héloïse bislang standhaft geweigert, für das Gemälde Modell zu stehen. Getarnt als neue Gesellschafterin tritt Marianne nun in ihr Leben, begleitet sie auf ihren Spaziergängen über das Eiland und bringt ihre Beobachtungen heimlich auf die Leinwand. Irgendwann fühlen sich die beiden schließlich stark zueinander hingezogen. „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ hätte leicht eine kitschige Ausstattungsromanze werden können, avanciert in den Händen der französischen Filmemacherin Céline Sciamma („Girlhood“) aber zu einer ehrlich berührenden Liebesgeschichte, die 2019 in Cannes den Preis für das beste Drehbuch erhielt. Mit angenehmer Unaufgeregtheit führt die Regisseurin den Zuschauer in ihr historisches Setting ein, macht ihn vertraut mit der Situation der Protagonistinnen und zeichnet ihre langsame Annäherung in subtilen Blicken und kleinen Gesten nach. Die wachsende Zuneigung geht auch deshalb immer mehr unter die Haut, weil Noémie Merlant und Adèle Haenel ein tolles Gespür für Zwischentöne an den Tag legen und in ihrem Zusammenspiel wunderbar harmonieren. Exemplarisch sind etwa die behutsam gefilmten, sinn-

lichen, erfreulich unverkrampft daherkommenden Liebesszenen, in denen sich die Emotionen auf intensive Weise entladen. Parallel zum Erblühen der intimen Beziehung illustriert der Film sehr eindringlich, was es heißt, in einem starren, von Konventionen geprägten Gesellschaftssystem zu leben. Obschon sich Marianne und Héloïse kleine Freiheiten nehmen und ihre gemeinsame Zeit genießen, wird deutlich, wie wirkmächtig die von der Umwelt auferlegten Grenzen und Erwartungen sind. Ein Ausbruch ist mit enormem Kraftaufwand und vielen Schmerzen verbunden, die längst nicht jeder auf sich nehmen kann. Dass sich tiefe Gefühle jedoch nicht immer von Normen und Regeln abtöten lassen, zeigt „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ gegen Ende in einem dramaturgisch klug vorbereiteten Moment bei einer Kunstausstellung. Sehenswert ist das Liebesdrama nicht nur wegen seiner sorgsam konstruierten Erzählung und seiner eindrucksvollen Darbietungen. Auch formal weiß es zu überzeugen. So gleichen die zumeist statischen Bilder häufig selbst kleinen Gemälden, die den rauen Zauber des Inselsettings treffend einfangen. Ferner tragen der dezente Musikeinsatz und das überlegte Spiel mit den Umgebungsgeräuschen dazu bei, dass eine behutsam-knisternde Atmosphäre entsteht. CHRISTOPHER DIEKHAUS 24.10., 19.30 H, GARTENBAUKINO (ERÖFFNUNGSGALA, NUR MIT EINLADUNG, IN ANWESENHEIT VON ADÈLE HAENEL) 24.10., 23 H, GARTENBAUKINO

liebe leserInnen, Die Viennale ist der Wiener Filmfeinkostladen, und zwar schon seit geraumer Zeit. Wie gut, dass mit der nunmehr bis zum Jahr 2026 zur Viennale-Direktorin bestellten Eva Sangiorgi jemand am Ruder ist, der kulinarische Genüsse schätzt. Ihre Programmauswahl beinhaltet nicht nur die „No-na“-Filme aus dem Arthaus-Betrieb, sondern auch Schmankerln aus ganz entlegenen Regionen des Weltkinos. Und manche von ihnen mögen für unseren Kulturgeschmack gewöhnungsbedürftig schmecken. Aber das ist ja gerade das Tolle an der Viennale: Man kann hier seine Geschmacksknospen immer wieder aufs Neue trainieren. Die Viennale bietet noch viel mehr Vielfalt, als auf diese Seiten passen. Wir vom Filmmagazin celluloid präsentieren als Medienpartner der Viennale daher unsere ganz persönlichen Highlights des Festivals in unserer Festivalausgabe, die Sie nun in Händen halten. In der Heftmitte finden Sie außerdem den beliebten, auf Kompaktmaße geschrumpften Spielplan, den Sie nicht erst umständlich auffalten müssen. In diesem Sinne, Viel Spaß beim Schmökern,

MATTHIAS GREULING CHEFREDAKTEUR UND HERAUSGEBER

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INTERVIEW

FILMSTART: 01.11.19

Filmladen

DIE PFLANZE, DIE UNS GLÜCKLICH MACHT Jessica Hausner zeigt mit „Little Joe“, ihrem englischsprachigen Debüt, einen entrischen Thriller rund um die Kreation einer seltsamen Pflanze.

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Hausner ihren Film - übrigens ihr englischsprachiges Debüt - in ein strenges, selbst auferlegtes stilistisches Konzept, wie man es auch aus ihren früheren Filmen kennt. Diesmal dominieren kräftige Farben und eine ausgeklügelte Farbregie die Räume, ebenso wie eine stringente, famos komponierte Bildersprache von Kameramann Martin Gschlacht. Mit diesen Stilmitteln gelingt es Hausner, den Plot nur um dieses kleine Stückchen weit aus der Realität zu entrücken, das notwendig ist, um die Geschichte einerseits glaubhaft zu machen, andererseits zum Verwirrspiel werden zu lassen; auch der Soundtrack, pfeifende Töne und Gekreische, pulsierende Beats, allesamt aus der Komposition des Japaners Teiji Ito, tun ihr Übriges, um aus „Little Joe“ rasch einen spannenden, angespannten und auch gruseligen Psychothriller zu machen, bei dem nie klar ist, welchen von den handelnden Personen nun eigentlich Veränderungen durch die Pflanze widerfahren sind. MYSTERIUM Hausners Regie spielt gekonnt und sehr konsequent mit dem Grübeln des Publikums, und ihr nüchterner, trockener Erzählstil heizt das Mysterium noch einmal ordentlich an. „Little Joe“ funktioniert dabei wie eine Parabel über die Frage, was wir seltsam finden und warum. Das gentechnische Experiment ist dabei nur der Rahmen für einen viel weiter gesteckten Raum, den Hausner skizziert: Ein Mensch findet das Fremde nicht nur in seinem Gegenüber, sondern vor allem auch in sich selbst. MATTHIAS GREULING

celluloid sprach mit Jessica Hausner über ihren Film: celluloid: Worauf basiert die Idee zu „Little Joe“? Jessica Hausner: Meine ursprüngliche Idee war eine Geschichte über einen weiblichen Frankenstein - über eine Wissenschaftlerin, die ein Monster erfindet, das sich dann ihrer Kontrolle entzieht. Wobei mir bald klar war, dass es ein Film mit einem Happy End werden sollte. Also nicht die klassische Geschichte, in der der Wissenschaftler seine Kreatur umbrin-

Katharnia Sartena

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it „Little Joe“ war Jessica Hauser heuer beim Filmfestival in Cannes erstmals im Wettbewerb um die Goldene Palme dabei, am Ende gab es den Preis für die beste Hauptdarstellerin. Die wird gespielt von Emily Beecham, die in der Geschichte als Wissenschaftlerin Alice zu sehen ist, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Chris (Ben Whishaw) eine neuartige Pflanze entwickelt hat. Sie nennt sie „Little Joe“, weil auch ihr halbwüchsiger Sohn (Kit Connor) Joe heißt. Little Joe verströmt einen Duft, der die Menschen um sie herum glücklich machen soll - und das ganz ohne Nebenwirkungen. Bald aber entdecken die Forscher seltsame Dinge an jenen Probanden, die zufällig mit den Pollen der Pflanze in Berührung kommen - sie verändern sich auf seltsame, kaum spürbare Weise und sind fortan für ihre Umwelt nicht mehr die, die sie einmal waren. Doch was genau passiert? Schnell gibt es eine Pflanzenzüchterin, die behauptet, dass die zur Fortpflanzung unfähige Pflanze sich einen perfiden Weg ausgedacht hat, um trotzdem am Leben zu bleiben: Der süße Duft würde im Gehirn der Riechenden dafür sorgen, dass sich diese fortan nur mehr um den Fortbestand von Little Joe kümmerten und alles andere vernachlässigten. Doch lässt sich so eine absurde Theorie erhärten? Jessica Hausner wählte das wissenschaftliche Thema, um von einem ganz grundsätzlichen Phänomen zu erzählen: Das zwischenmenschliche Lieben und Geliebtwerden gehört unbedingt zum Leben dazu, ist lebensnotwendig und nicht verhandelbar. Wie immer kleidet


Warum haben Sie „Little Joe“ in englischer Sprache gedreht? „Little Joe“ hat etwas von einem Genrefilm - einerseits Science Fiction, andererseits Psychothriller. Genrefilme sind eine amerikanische Erfindung, und ich finde, dass die englische Sprache sich dafür sehr gut eignet: Sehr knapp, sehr klar, sehr trocken. Das hat mich dazu angeregt, auf Englisch zu drehen. Genrefilme folgen klaren Regeln und der Zuschauer weiß, was ihn erwartet. Das gibt dem Publikum Sicherheit - es kann sich auf den Grusel einlassen. Auch mein Film folgt den klaren Regeln. Doch trotzdem nimmt die Geschichte eine Wendung, die nicht zu einem Genrefilm gehört. Die Erwartungshaltung wird nicht erfüllt. Man bekommt ein Ende mit einem Augenzwinkern, das ironisch ist und durchaus ambivalent bleibt. Ist es Ihnen wichtig, mit Ihren Filmen ein großes Publikum zu erreichen? Ja und nein. Es wird mir wichtig, weil es für alle anderen so wichtig ist. Die Menschen, die Geld in meinen Film investiert haben, wollen natürlich, dass er erfolgreich ist. Ich will das auch - aber ich bin nicht bereit, dafür Kompromisse einzugehen. Ich mache meine Filme so, wie ich es gut finde. Und im besten Fall interessiert das dann nicht nur mich, sondern auch viele andere Leute. Sie erzählen manchmal, dass Sie schon als Teenager den Plan fassten, Filmregisseurin zu werden. Wie ist das entstanden? Nun, ursprünglich wollte ich Schriftstellerin werden. Als ich 16 oder 17 war, habe ich dann mit einem Freund, dessen Vater beim ORF arbeitete und der eine Videokamera hatte, aus einer Kurzgeschichte von mir einen Kurzfilm gemacht. Mich hat damals extrem begeistert, dass Filmbilder anders wirken als Worte. Ich fühlte mich sofort zuhause im Medium Film. Weil es das Unausgesprochene ist, was mich eigentlich interessiert. Und ich glaube, dass ich das mit Bildern besser ausdrücken kann als mit Worten. Den Gang über den roten Teppich kennen Sie inzwischen bestens aus Cannes. Wie ist das Gefühl? Wenn ich ein schönes Kleid finde, dann freu’ ich mich drauf - wenn nicht, dann fürchte ich mich (lacht). Man muss in 1000 Kameras lächeln und gleichzeitig ist es sehr aufregend, weil gleich der eigene Film gezeigt wird. Das ist eine verrückte Situation.

INTERVIEW: MATTHIAS GREULING

26.10., 20.15 H, GARTENBAUKINO 27.10., 12 H, GARTENBAUKINO

DER SCHOCK DES KRIEGES

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Terrence Malick begeistert mit der emotionalen Wucht seines Films „A Hidden Life“ über den Fall Jägerstätter.

s gibt einen Moment gleich zu Anfang dieses wunderbaren Films, der rührt einen zu Tränen, ohne dabei besonders traurig zu sein. Es ist dies eine Sequenz aus Postkartenidyllen, eine Kamera, die über saftig grüne Wiesen streift, eine Alm, inmitten intakter Natur, mächtige Berge, ein Bauernhof, das Dreschen von Weizen, die bäuerliche Arbeit, eine junge Frau und ein junger Mann, die sich ganz augenscheinlich nach einander verzehren, eine Liebe, die zwei Kinder brachte, und ein Moment, da der Vater seine beiden kleinen Töchter liebevoll herzt, dass einem dieses Idyll die Tränen abverlangt; noch oft in diesem Film wird Terrence Malick dieses Kunststück gelingen, denn sein „A Hidden Life“ perfektioniert die Form, die er seit „Tree of Life“ in all seinen Filmen angewandt hat. Die rastlose, aber immer elegante Kamera, immer auf Augenhöhe mit den Protagonisten, ein Schwebezustand, philosophisch angereichert mit sehr viel OffText, in dem es um das Leben, die Liebe und den Glauben geht.

Dieser Brückenschlag ins Heute ist, angesichts der derzeitigen politischen Lage in Europa mit vielen rechten Tendenzen, die logische Schlussfolgerung, es wäre Malicks Ansinnen, dass der Film auch zeitkritisch gelesen wird. Malick zeigt die komplexe Verquickung gesellschaftlicher Mechanismen auf, die die Politik und den Glauben determinieren - das ist ein sehr zeitgenössischer und zeitkritischer Ansatz. KEINE SCHLACHTFELDER Malick gelingt jedenfalls das Kunststück, einen Film über den Krieg zu drehen, ohne dabei Schlachtfelder zu zeigen. An den Anfang stellt er Bilder aus Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“, als Ouvertüre für das, was die nachfolgende heile Bergwelt bald ins Wanken bringen wird. Jägerstätter und seine Frau Fani (absolut preisverdächtig: Valerie Pachner) verweigern sich konsequent dem aufkeimenden Nationalsozialismus, werden im Dorf bald angefeindet, sowohl vom Bürgermeister (Karl Markovics) als auch vom Pfarrer (Tobias Moretti). Weil er

Katharina Sartena

gen muss, um selbst zu überleben. Oder umgekehrt. In meiner Geschichte überleben beide, und zwar in schönster Harmonie. Mir geht es um einen Blick in die Zukunft. In unserer Zeit wird mit Gentechnik gearbeitet. Ich sehe das nicht rein negativ, doch was ich spannend finde, ist die Ambivalenz: Dass etwas, das in die Welt gesetzt wird, gute und schlechte Effekte haben wird.

August Diehl und Valerie Pachner in „A Hidden Life“ und bei der Premiere des Films in Cannes

Malick erzählt in „A Hidden Life“ auf diese Weise in knapp drei atemberaubenden Stunden die Geschichte des Franz Jägerstätter, eines Bergbauern aus St. Radegund in Oberösterreich. Jägerstätter wehrte sich dereinst gegen die Nazis, als einziger in seinem Dorf, was am Ende zu seiner Verhaftung und später zu seiner Ermordung führte. Es ist ein bekannter Fall des österreichischen Widerstands, und auch, wenn Malick seine Geschichte stark in der Optik der heimischen Alpen verortet, so ist dieses Einzelschicksal doch sehr universell erzählt. „Der Film zeigt, dass wir in unseren heutigen Gesellschaften viel uniformer sind“, sagt August Diehl, der Jägerstätter im Film spielt. „Niemand hat heute mehr den Mut, gegen etwas zu sein. Alle schwimmen im selben Strom mit, keiner hinterfragt doch, ob das richtig ist, was wir tun. Jägerstätter war jemand, der aus dem Bauch heraus befand, dass die Nazis der falsche Weg sind. Diese Haltung, sich auf das Bauchgefühl zu verlassen, wird seltener“, findet Diehl.

den Kriegsdienst verweigert, wird Jägerstätter schließlich wegen „Wehrdienstzersetzung“ inhaftiert, von einem Richter (Bruno Ganz in einer seiner letzten Rollen) verurteilt und hingerichtet. Malick erzählt all dies in einer Abfolge präzise und durchdacht geschnittener Sequenzen, die Off-Kommentare werden dominiert von des Briefwechseln zwischen Jägerstätter und seiner Frau, was diesem Erzählkonzept einen dramaturgischen Sinn gibt und sich daher vom monologartigen Erzählen der letzten Malick-Filme abhebt. Die Kombination der Bilder mit dem hinreißenden Zusammenspiel der beiden Protagonisten produziert eine emotionale Wucht, die im Kino selten geworden ist. Es ist schon nach 15 Minuten klar, dass man ein Meisterwerk sieht. Und dieses Gefühl geht bis zur letzten Szene nicht mehr weg. MATTHIAS GREULING 25.10., 20.15 H, GARTENBAUKINO 27.10., 14.30 H, GARTENBAUKINO

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AHMED WI

HIGHLIGHTS

Die belgischen Brüder Jean-Pierre & en Film „Jeune Ahmed“ eine Zuspitz

„Marriage Story“ von Noah Baumbach

Netfilx

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VORSICHT, EHE! „Marriage Story“: Ein entfesselter Rosenkrieg zwischen Scarlett Johansson und Adam Driver.

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ie „Marriage Story“ von Nicole (Scarlett Johansson) und Charlie (Adam Driver) ist keine glückliche. Zwar überschütten sie einander, wie man zu Filmbeginn erfährt, mit Lobeshymnen und Komplimenten. Aber die schönen Worte, die wie Liebeserklärungen klingen, sind nur zur Vorlage beim Mediator gedacht. Denn Nicole und Charlie lassen sich scheiden. Anfangs geloben sie noch, ohne Streit auseinander zu gehen. Doch bald blüht ein schillernder Rosenkrieg, der zusätzlich von gierigen Anwälten befeuert wird. „Marriage Story“ ist eine melancholische Komödie von Noah Baumbach, der sich mit Filmen wie „Frances Ha“ den Ruf erwarb, der Chronist der Generation X zu sein – ein Nachfahre des Stadtneurotiker-Stils von Woody Allen. Auch in „Marriage Story“ hat er das passende Personal aus der Intellektuellen-Szene versammelt. Charlie ist ein recht erfolgreicher Theaterregisseur aus New York, Nicole eine Schauspielerin aus Los Angeles, die ihre beginnende Filmkarriere erst mal aufs Eis legte, um mit Charlie in New York zu leben und Theater zu machen. Gemeinsam sind sie Eltern eines kleinen Sohnes, um dessen Wohl bald herzhaft gestritten wird. Trennungskomödien sind nun nicht gerade ein rasend neues Genre, aber Noah Baumbach gelingt es, dem Thema einige originelle Facetten abzugewinnen. Mit Laura Dern kommt eine Anwältin ins Spiel, die äußerlich schön

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wie ein Paradiesvogel und innerlich giftig wie eine Schlange ist. Sie kümmert sich um Nicoles Interessen, und um dem etwas entgegenzusetzen, heuert Charlie gleich zwei Advokaten an, gespielt vom sanften Alan Alda und vom rabiaten Ray Liotta. Der Anwalts-Streit wird zu einem juristischen Gemetzel, aus dem man als Europäer nur zwei Schlüsse ziehen kann: Erstens sollte man es in den USA wohl tunlichst vermeiden, zu heiraten. Und zweitens sollte man sich dort niemals scheiden lassen. Denn wenn man das tut, ist man nicht nur unglücklich, sondern auch pleite. Der Film lebt auch vom hinreißenden Spiel seiner zwei Hauptdarsteller. Noah Baumbach hat für Scarlett Johansson und Adam Driver streckenweise ausgesprochen rabiate Dialoge geschrieben. Die Stars nehmen dieses Angebot dankend an und beflegeln sich gelegentlich derart massiv, dass man als Zuschauer froh ist, im Kino zu sitzen und nicht im gleichen Zimmer wie das einstmals glückliche Paar. Leider bleibt das Vergnügen, diesen Film zu sehen, vielen potenziellen Zuschauern versagt. Denn „Marriage Story“ wurde nicht fürs Kino, sondern für Netflix produziert. Viennale-Geher haben hier also ein kleines Privileg. GUNTHER BAUMANN 28.10., 12.45 H, GARTENBAUKINO 29.10., 6.30 H, GARTENBAUKINO 31.10., 20.15 H, GARTENBAUKINO

in 13-jähriger Schüler namens Ahmed, gläubiger Moslem und belgischer Staatsbürger, radikalisiert sich vor den Augen der Gesellschaft, der eigenen Familie, der Schule, der Freunde, und zieht in einen seltsamen heiligen Krieg. Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne nehmen sich in ihrem neuen Film "Jeune Ahmed" ("Der junge Ahmed"), der heuer in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme lief, des brisanten Themas des religiösen Fanatismus an. Sie zeigen, wie sich ein Bub durch einen Imam zu einem fehlgeleiteten Hassenden entwickelt, der eine Lehrerin aus seinem Umfeld ermorden will, weil sie Arabisch als Alltagssprache unterrichtet, und für sie nicht der Koran das Maß aller Dinge beim Erlernen dieser Sprache ist. Ahmed (Idir Ben Addi) wird mehrere Mordversuche planen, sogar aus einer Jugendsicherheitsverwahrung heraus; nicht alle kann er in die Tat umsetzen, weil die Umstände gegen ihn sprechen. Aber durch den Wissensvorsprung, den die Dardennes dem Publikum geben, indem sie Ahmeds Vorbereitungen minutiös mitverfolgen können, gerät "Jeune Ahmed" trotz seiner einfachen dramaturgischen Mittel zu einem spannenden und wendungsreichen Drama. "Als wir mit dem Drehbuch begannen, hätten wir nie gedacht, dass wir so eine unbegreifliche Figur erschaffen würden, die uns dermaßen entgleiten würde", sagt Jean-Pierre Dardenne. "Wir wussten schnell: Niemand in Ahmeds Umfeld, weder seine Lehrer, noch seine Mutter, seine Schwestern, die Jugendarbeiter, die Psychologen, die ihn betreuen, auch nicht die Richter oder auch die junge Bauerntochter, auf deren Hof er zum Arbeiten geschickt wird - niemand kann sich einen Reim darauf machen, warum sich dieser Bub derart radikalisiert". Nachsatz: "Nicht einmal der Imam der fundamentalistischen Moschee, die-


LL MORDEN Luc Dardenne zeigen in ihrem neuung von religiösem Fanatismus.

RADIKALE BILDER „Wir fragten uns, welche Bilder wir zu finden imstande wären, um diese Radikalität Ahmeds abzubilden", so Luc Dardenne. "Dramaturgisch stellte sich die Frage, wie man Ahmed von seinem mörderischen Vorhaben abhalten könnte, ohne in einen naiven Optimismus abzugleiten". "Jeune Ahmed" erzählt eine sehr dichte und kompakte Geschichte mit einfachsten Mitteln, wie so oft bei den Dardenne-Brüdern. Sie ist auf der Höhe der Zeit, einerseits, aber sie ist auch die Sicht zweier westlicher Filmemacher. Sie lässt dem Fanatismus viel Raum, gibt aber leider keinerlei Einblick in die Denke des jungen Fanatikers, mehr in seine Gefühlswelt. Die Zuspitzung dieses Fanatismus, so scheinen die Dardennes überzeugt, ist etwas, das zu Lesen wir erst erlernen müssen. MATTHIAS GREULING 28.10., 23 H, GARTENBAUKINO 29.10., 18 H, GARTENBAUKINO

Viennale

„Jeune Ahmed“ von Jean-Pierre und Luc Dardenne

„Il traditore“ von Marco Bellocchio

Viennale

se magnetische Figur für Ahmed, versteht die Dynamik seiner Entschlossenheit zu Töten". Die belgischen Autorenfilmer, die bereits zwei Mal die Goldene Palme von Cannes gewannen (für "Rosetta", 1999, und für "Ein Kind", 2005), sind wieder einmal auf der Suche nach Wahrhaftigkeit. Mit ihrer Handkamera folgen sie dem nicht unsympathischen Ahmed durch seinen Leidensweg in der Jugendhaft und schildern auch seine Uneinsichtigkeit, was den Glauben angeht. Zu Töten im Namen des Koran? Das ist eindeutig darin festgeschrieben, findet Ahmed. Davon lässt er sich zunächst auch nicht abbringen. Nicht einmal von einem Kuss der gleichaltrigen Louise, die er auf einem Bauernhof kennen lernt. Hernach empfindet er sich, der gerade erstmals in seinem Leben die Liebe gespürt hat, als unreinen Moslem.

GEGEN DIE MAFIA Mafia-Drama „The Traitor“: Marco Bellocchio zeigt brutale Kämpfe um Macht, Vermögen und Gerechtigkeit.

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er Fall machte 1984 weltweit Schlagzeilen. Der sizilianische Mafia-Boss Tommaso Buschetta, der in Brasilien festgenommen und nach Italien ausgeliefert worden war, entschied sich, vor den italienischen Behörden auszupacken. Das machte es dem Untersuchungsrichter Giovanni Falcone möglich, Verfahren gegen 400 Mafiosi einzuleiten, von denen viele zu langjährigen Strafen verurteilt wurden. Die Mafia sann auf Rache. Giovanni Falcone wurde 1992 bei einem Bombenattentat getötet. Regie-Altmeister Marco Bellocchio, 79, der sich immer wieder mal realen Ereignissen widmet, hat diese Geschichte nun in „Il Traditore“ („The Traitor“) fürs Kino aufbereitet. Sein Film ist ein Drama mit melodramatischen Zügen, das gelegentlich Thriller-Spannung erzeugt, aber auch sarkastischen Humor ins Geschehen packt (wenn die Urteile gegen die Mafiosi verkündet werden, erklingt dazu der Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“). Im Mittelpunkt steht natürlich die Titelfigur des Verräters, Tommaso Buschetta. Der italienische Schauspiel-Star Pierfrancesco Favino legt den Gangster als klassischen Macho an, der die Frauen und seine Kinder liebt, aber keine Skrupel kennt, wenn es darum geht, Morde in Auftrag zu geben oder selbst auszuführen. Seine Schäfchen hat er längst im Trockenen. Als in Sizilien ein blutiger Mafiakrieg

tobt, zieht er sich mit seiner Familie in ein luxuriöses Versteck nach Brasilien zurück. Die zentralen Szenen des Films spielen nach Buschettas unfreiwilliger Rückkehr nach Italien. Im Gefängnis trifft der Mafiamann auf den Richter Falcone (Fausto Russo Alesi). Zuzuschauen, wie aus offener Feindschaft zwischen den Männern zunächst ein gewisses Vertrauen und dann fast so etwas wie Freundschaft entsteht, ist spannend und gewährt Einblicke ins Innere der Gangsterkartelle wie auch des italienischen Staates. Die Gerichtsverhandlungen mit den vielen erst selbstbewussten, dann aber immer kleinlauteren Angeklagten schwanken zwischen Dokudrama und Groteske. In Summe ist „The Traitor“ ein packender Film geworden, der die Fans von Mafia-Thrillern genauso anspricht wie die Freunde realistischer Geschichts-Lektionen. Marco Bellocchio inszeniert mit großer Wucht, auch wenn es dem Werk manchmal ein wenig an Struktur fehlt: Die Anzahl der handelnden Personen ist einfach zu groß. Aber, um es sarkastisch auszudrücken: Viele dieser Mafiosi haben nur wenig Leinwandzeit. Weil sie früher oder später von einem ihrer Gegner umgenietet werden.

GUNTHER BAUMANN

26.10., 12 H, GARTENBAUKINO 6.11., 20.30 H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS

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NDEL A H M I T Z T JE

SK.AT O I K F U A R ODE

.AT D I O L U L L E C . ABO: WWW 9 Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Viennale


HIGHLIGHTS VOM ANDEREN UFER DER FILMKUNST „Om det oändliga“ des Schweden Roy Andersson erzählt von Menschen, die scheitern. iner klassischen Erzählung verweigert sich der Schwede Roy Andersson gerne, auch mit seinem neuen Film „Om der oändliga“ („About Endlessness“). Andersson bleibt dem stoischen und genau kadrierten, statischen Bildstil treu, den er schon in „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ etablierte. Für diesen Film erhielt er 2014 den Goldenen Löwen. Seine neue Arbeit betrachtet Menschen, die am Leben scheitern, es sind Durchschnittsbürger in beigen Einheitsmänteln und von untersetzter Statur; in manchmal zusammenhängenden, manchmal alleinstehenden kurzen Episoden zeigt Andersson das Scheitern in all seinen Facetten: Da verliert ein Priester seinen Glauben an Gott und verzweifelt daran, da ist ein trinkender Zahnarzt entnervt von seinem schmerzverzerrten Patienten, da hockt Adolf Hitler in seinem Führerbunker und wird aus dem Off als „Mann, der die Welt erobern wollte, aber einsah, dass er gescheitert war“, beschrieben. Anderssons Kunst liegt in der zugespitzten, langsamen Provokation. „About Endlessness“ steht am anderen Ufer der Filmkunst: sprödes Arthauskino in Bestform. PAUL HEGER 29.10., 23.30 H, GARTENBAUKINO 5.11., 18 H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS

Foto: Katharina Sartena

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EIN DENKMAL „Die Dohnal“: Sabine Derflingers Porträt der ehemaligen Frauenministerin Johanna Dohnal.

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ie Dohnal“ setzt Johanna Dohnal, der ehemaligen Frauenministerin und einer der ersten Feministinnen in einer europäischen Regierung, ein Denkmal und schafft damit eine Identifikationsfigur für heute und nachkommende Generationen. „Wir finden uns in ihr wieder, in ihren Kämpfen, ihren Siegen, ihrem Scheitern“, findet Regisseurin Sabine Derflinger, die mit der Doku einen Film „gegen das Vergessen und für eine gleichberechtigte Zukunft“ gedreht hat. Das Spektrum dieser Doku ist vielgestaltig: Nicht „Die Dohnal“ alleine ist Thema, sondern Vergangenheit und Zukunft der Frauenbewegung insgesamt: Johanna Dohnal war nicht nur überzeugte Sozialdemokratin, sondern hat sich in erster Linie für die Frauen in Österreich stark gemacht. Schon 1979 geht eine Reform des Sexualstrafrechts auf ihr Konto. Damit wurde die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Doch sie eckte an. 1995 ist man

die österreichische Frauenministerin Johanna Dohnal endlich losgeworden. Sie war Sand im Getriebe und unbequem. Diese Spanne erzählt Derflinger ebenso detailreich nach wie auch die Umstände, dass eine internationale Studie Österreich im Jahre 2017 bescheinigt hat, erst in 170 Jahren Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen. Zur gleichen Zeit entwickelt sich allerdings eine neue österreichische Frauenbewegung, die Derflinger ebenfalls begleitet. „Anfangs war Überzeugungsarbeit notwendig, dass es einen Film wie diesen braucht. Wir mussten den Menschen erst erklären, warum wir den Film drehen müssen. Jetzt ist er so aktuell, wie er damals hätte sein sollen“, erzählt Regisseurin Derflinger. PAUL HEGER 1.11., 18 H, GARTENBAUKINO 3.11., 16 H, METRO, HISTORISCHER SAAL

ABO-AKTION

„Om det oändliga“ von Roy Andersson.

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Fotos: Viennale

celluloid für 1 Jahr (5 Ausgaben) um nur 18,90 (statt 30,00) Bestellen unter www.celluloid-filmmagazin.com oder 0664-462 54 44 Preis gültig innerhalb Österreichs.


WER SICH ENTSCHEIDET ZU GEHEN, IST SCHON TOT Regisseurin Mati Diop über ihren fabelhaften „Geisterfilm“ „Atlantique“.

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ine sozialkritische Geschichte erzählt „Atlantique“ der 1982 in Paris geborenen Schauspielerin und Regisseurin Mati Diop, die damit eine ungewöhnliche Mischung aus realistischem Sozialdrama, Liebestragödie und Voodoo-Mystery vorlegt: Es geht um die Flucht mit dem Boot nach Europa, vom Senegal aus, die Regisseurin hat selbst Wurzeln in dem Land. Sie interessiert, wann das Sterben auf dem Meer von Hunderten, Tausenden Menschen eigentlich beginnt. Ihre Antwort: Bereits zuhause in den Familien, die sich den Wohlstand in Europa ausmalen, die sich unter Druck setzen, die daheim auf der Großbaustelle den Lohn wiederholt nicht ausbezahlt bekommen und nur noch an eine Ausreise denken. Die bildschöne Ada (Mame Bineta Sane) liebt nicht den reichen jungen Mann, den sie heiraten soll, sondern einen Arbeiter (Ibrahima Traore), der jedoch eines Nachts heimlich abhaut. Er will per Boot über den Atlantik nach Spanien flüchten. Und kommt dabei um. Doch Ada bekommt SMS-Botschaften von dem Toten, und auch sonst passiert ein mysteriöses Ereignis nach dem anderen. So wird aus der rauen Geschichte über ausgebeutete Arbeiter und eine unerfüllte Liebe schließlich ein düsteres Zaubermärchen voller innerer und äußerer Dämonen. Die Franco-Senegalesin wollte nach eigenen Aussagen einen Film über eine ganz bestimmte Zeitspanne machen, zwischen 2002 und 2010, in der junge Senegalesen massenweise Richtung Europa aufgebrochen waren. In Abwesenheit der Männer stehen in „Atlantique“ die

Frauen im Mittelpunkt bis die Verschwundenen wieder auftauchen. Zu dieser Gestaltung bemerkt Mati Diop: „Ich habe gemerkt, ich brauche Lebende, um diese Geschichte zu erzählen, eine Geschichte über diejenigen, die bleiben.“ Diop betreibt Ursachenforschung, aber in einer leisen, unaufgeregten Façon. Fatima Al Qadiris magnetische Musik, kombiniert mit starken traditionellen Klängen, betont die fantastische, oft bedrückende Atmosphäre des Atlantiks. Mati Diop frischt geschickt das Thema Hexerei und Magie auf, das oft im afrikanischen Kino vorkommt. Eine vortrefflich gemachte, auch spirituell angehauchte dramatische Auseinandersetzung mit dem Thema, für die die Regisseurin heuer in Cannes zurecht den Großen Preis des Festivals erhielt. „Wer sich entschieden hatte zu gehen, war schon tot“; sagt Diop. „Es ist wahr, dass zu dieser Zeit die Jungs, die ich kennenlernte, so wirkten, als wären sie nicht mehr da. Ihr Kopf, ihre Träume waren woanders. Ich hatte den Eindruck, dass es in Dakar eine geisterhafte Atmosphäre gibt, und es wurde unmöglich, das Meer zu betrachten, ohne an diese Dinge zu denken und an die jungen Menschen, die dort verschwunden waren. Für mich ist das Drehen

eines Films nicht nur das Erzählen einer Geschichte. Es geht vor allem darum, eine Form für eine Geschichte zu finden, eine Vision zu haben. Ich wollte einen Geisterfilm schreiben, und die Wahl des Genres ist die der fantastischen Dimension, die der Realität innewohnt, die ich beobachtet habe, vielleicht auch nur fantasiert. Ich habe nicht aufgehört, die besondere Atmosphäre zu transkribieren“. DORIS NIESSER 5.11., 20.30 H, GARTENBAUKINO (IN ANWESENHEIT VON MATI DIOP) 6.11., 18 H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS

ASSAYAS UND EIN NETZWERK AUS WESPEN

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egisseur Olivier Assayas, der mit Filmen wie „Carlos“ bewiesen hat, wie sehr ihm das Genre des Politthrillers liegt, erzählt in „Wasp Network“ eine wahre Geschichte. Die kubanische Regierung stellte in den Neunziger Jahren eine Gruppe von Agenten zusammen, die sich in Florida wie Wespen in die Kreise der Exil-Kubaner einschleusen sollten. Letztere stehen ja seit jeher im Ruf, politische Abenteurer in ihren Reihen zu haben, die mit ihren Anschauungen rechts von Dschingis Khan stehen. In jener Zeit drängten sie darauf, die Regierung Fidel Castros zu destabilisieren – zum Beispiel mit Terror-Attacken auf Einrichtungen des Fremdenverkehrs. Edgar Ramirez, der in „Carlos“ die Titelrolle des Terroristen gleichen Namens spielte, hat in „Wasp Network“ die Seiten gewechselt und fliegt als kubanischer Pilot heimlich nach Florida. Dort wird er als Flüchtling registriert und findet einen neuen Pilotenjob bei einem zwielichtigen Ex-Kubaner. Während er bald wieder abhebt, muss seine Frau (Penélopé Cruz) mit ihrer Tochter in Kuba die Schmach ertragen, von einem Verräter sitzengelassen worden zu sein. Ihr Zorn wird gelindert, als ihr ein ande-

rer Agent (Gael Garcia Bernal) verrät, dass ihr Mann im Auftrag des Staates abgehauen ist. Später kann sie ihm dann nach Florida folgen. Olivier Assayas lässt die packende Geschichte mit hohem Tempo wie eine Reportage ablaufen. Privates und Politisches werden gekonnt gemischt. Das strahlende Licht der Karibik und die rassigen Latin-Sounds verleihen dem Film immer wieder eine heitere Aura, obwohl es um ernste Themen geht. Letzteres

bekommt vor allem Edgar Ramirez als Pilot/ Agent Gonzalez zu spüren. Er wird wegen Spionage zu etlichen Jahren Haft verurteilt – obwohl er doch nachweislich dazu beitrug, Anschläge in Kuba zu verhindern, die in Florida geplant worden waren. GUNTHER BAUMANN 30.10., 13 H, GARTENBAUKINO 4.11., 18 H, GARTENBAUKINO

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HIGHLIGHTS LAN XIN DA JU

Der chinesische Beitrag „Saturday Fiction“ von Lou Ye stellt eine Spionin der Alliierten ins Zentrum der Handlung, die im Shanghai des Jahres 1941 den Angriffsplan der Japaner auf Pearl Harbor entdeckt. Gong Li spielt diese Spionin überragend, sie ist das Highlight dieses in elegantem Schwarzweiß gefilmten Thrillers, der allerdings nicht die Dichte und die dramaturgische Finesse von Lou Yes Meisterstück „Suzhou River“ (2000) erreicht. 26.10., 18 H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS 31.10., 23 H, GARTENBAUKINO

MARTIN EDEN

„Martin Eden“, die Verfilmung des autobiografischen Romans von Jack London, der 1909 veröffentlicht wurde, eroberte die Zuschauerherzen am Lido: von Venedig, wo er Premiere feierte: Die Geschichte eines Schriftstellers aus der Unterschicht, der sich um ein Mädchen aus höheren Kreisen bemüht, ist unter der Regie des Italieners Pietro Marcello zu einem Film geworden, der vieles, was zur Zeit Jack Londons noch Fiktion war, bereits mit dem Wissen von heute konfrontiert. 6.11., 19 H, GARTENBAUKINO (ABSCHLUSSGALA, NUR MIT EINLADUNG) 6.11., 23 H, GARTENBAUKINO

SPACE DOGS

Doku von Elsa Kremser und Levin Peter: Es geht um die streunende Hündin Laika, die 1957 als erstes Lebewesen von den Russen ins All geschossen wurde und dort starb. Doch eine Legende besagt, dass Laika als Geist zurück zur Erde kam, wo sie seither die Straßen Moskaus durchstreift. Die Filmemacher folgen einem Rudel streunender Hunde in Moskau,

„Lan xin da ju“ von Lou Ye

bleiben mit den Vierbeinern stets auf Augenhöhe und illustrieren ihren Alltag zwischen Futtersuche und - nun ja, Futtersuche. Dabei wird auch so manch anderes Getier, zum Beispiel Katzen, mit brutaler Bissigkeit getötet. Sonst passiert in „Space Dogs“ nicht viel: Als Zuschauer kann man sich in die Perspektive hineinversetzen, die Hunde auf den Menschen haben, aber das ist freilich nur die Perspektive, die die Filmemacher sich erdacht haben; „Space Dogs“ versteht sich als Denkmal für die russischen Straßenköter, die dem Land dereinst viel Stolz und einen Vorsprung im Wettrennen um die bemannte Raumfahrt verschafften. Der Film zeigt aber auch, dass diesen Tieren schon lange nichts Glamouröses mehr anhaftet: Sie leben, um zu überleben, und „Space Dogs“ fängt die Seele dieser Tiere ein.

25.10., 20.30 H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS 27.10., 16 H, URANIA

Ema, eine junge Tänzerin, ist die Heldin aus dem Film „Ema“ des Chilenen Pablo Larrain. Sie hat ihren Adoptivsohn „zurückgegeben“, weil sie ihn nicht aufziehen konnte, und streift jetzt schuldbewusst von einer Liaison zur nächsten; das Ganze zeigt Larrain als beinahe

„Dieser Film ist ein Geschenk“ von Anja Salomonowitz

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EMA

schon hypnotische Meditation aus Reggaeton-Beats, die hier zu einer Film-Musik-Symbiose verschmelzen. Aber so ganz erschließen will sich „Ema“ dem Zuschauer nicht, es sei denn, er begreift den Film mehr als Gefühlszustand denn als Erzählung. 28.10., 20.45 H, GARTENBAUKINO 2.11., 23.15 H, GARTENBAUKINO

DIESER FILM IST EIN GESCHENK

Ein Film über die Gedankenwelt des Künstlers Daniel Spoerri. Anja Salomonowitz zeigt in „Dieser Film ist ein Geschenk“ nicht bloß ein Porträt Spoerris, sondern taucht tief ein in die Materie, was ihn und uns alle ausmacht: Die Reflexionen untereinander, zwischen den Menschen. Spoerri macht Kunst aus gefundenen Objekten, und Salomonowitz widmet dem diesem Künstler eine Bühne, die auch sehr persönliche Lebensereignisse spiegelt. Spoerri, geborener Feinstein, ist der Sohn eines rumänischen Juden, der verschleppt und ermordet wurde. Zugleich unternimmt Salomonowitz ein Experiment, indem sie ihren eigenen Sohn Oskar den Künstler nachspielen lässt, in dessen Werkstatt, und sich so diese reiche Biografie ins Heute holen lässt. 2.11., 21 H, STADTKINO IM KÜNSTLERHAUS 5.11., 13.30, METRO, HISTORISCHER SAAL


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HIGHLIGHTS

SPECIALS

LA MAFIA NON È PIÙ QUELLA DI UNA VOLTA

Der Mafia-Film „La Mafia non è più quella di una volta“ ist zwar sehr gut ausgedacht, aber handwerklich dürftig umgesetzt. Es geht um die beiden Anti-Mafia-Kämpfer Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. 25 Jahre nach ihrer Ermordung fragt sich Regisseur Franco Maresco, warum sich heute niemand mehr im Süden Italiens an die beiden erinnern mag. Und wieso die Mafia zwar da ist, aber keiner über sie redet. In einer Mockumentary geht Maresco auf Spurensuche. 29.10., 21 H, METRO, HISTORISCHER SAAL 5.11., 16 H, FILMMUSEUM

ANGELA SCHANELEC INDIRECT CINEMA

Der Begriff „Berliner Schule“ passt perfekt zu den Filmen der deutschen Regisseurin. Bei ihren Filmen zählen vor allem die leisen Gesten der Zwischenmenschlichkeit. Zu sehen sind bei der Viennale-Monografie unter anderem ihre Filme „Mein langsames Leben“, „Das Glück meiner Schwester“ oder ihr neuestes Werk „Ich war zuhause, aber“, für den sie heuer den Berlinale-Regiepreis bekam.

RETROSPEKTIVE PETER BROOK

In seinen Arbeiten für Theater und Kino legt Peter Brook das Augenmerk auf die Überwindung kultureller Grenzen. Zu sehen sind unter anderem Filme wie „The Mahabharatha“ (1990), „Meetings with Remarkable Men“ (1979) oder „Lord of the Flies“ (1963). In Anwesenheit von Peter Brook.

Unter dem Titel „O Partigiano - Paneuropäischer Partisanenfilm“ zeigt die Viennale-Retrospektive, die wie immer mit dem Österreichischen Filmmuseum ausgerichtet wird, Werke aus dem Zeitraum 1940 bis 1980, die man Partisanenfilme nannte. Sie einte, dass sie allesamt vom bewaffneten zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen den Faschismus erzählten. INFOS: WWW.FILMMUSEUM.AT

Retrospektive: „1 homme de trop“ (1967) von Costa-Gavras

BACURAU

Der Film von Kleber Mendonca Filho und Juliano Dornelles erzählt von einem Dorf in Brasilien, das von einem Tag auf den anderen von den Landkarten verschwunden zu sein scheint. Außerdem stapft eine Gruppe von schießwütigen US-Touristen durch die Landschaft, die es anscheinend auf die Bewohner des Dorfes abgesehen haben. „Bacurau“ ist lupenreines Genre-Kino. Es gibt mit der Leinwand-Legende Udo Kier einen Oberschurken der Extraklasse, der jenseits von Gut und Böse agiert. Und hinter der ganzen Geschichte – das wird sich wohl auch die Jury gedacht haben – steckt eine unheilvolle Entwicklung in Brasilien. Nämlich eine Regierung, die für neue Gesetze über Leichen geht. 29.10., 20.30 H, GARTENBAUKINO 30.10., 23 H, GARTENBAUKINO

IMPRESSUM: celluloid

FILMMAGAZIN Nummer 5a/2019 Oktober 2019. Sonderausgabe zur Viennale 2019. Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Werbeagentur Matthias Greuling für den Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films. Chefredakteur: Matthias Greuling. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Gunther Baumann, Paul Heger, Katharina Sartena, Doris Niesser, Peter Beddies, Christopher Diekhaus. Layout / Repro: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Fotos, sofern nicht anders angegeben: Viennale. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Anschrift: celluloid Filmmagazin, Spechtgasse 57/5, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@gmx.at, Internet: www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2019 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.

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