celluloid Viennale Special 2018

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celluloid filmmagazin

styx

Zusammenhänge verstehen

Die Qualitäts-Zeitung mit der ausführlichsten österreichischen Filmberichterstattung

das drama von wolfgang fischer feiert viennale-premiere

VIENNALE 2018 MIT PROGRAMM

CINEMA FOREVER!

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CELLULOID FILMMAGAZIN 6A/18

CINEMA FOREVER!

6A/2018 I SONDERAUSGABE ZUR VIENNALE 2018


celluloid

Filmmagazin Ausgabe 6a/2018 - 19. Jahrgang Oktober/November 2018

VIENNALE 25.10. BIS 8.11.2018

INFOS UND TICKETS: WWW.VIENNALE.AT I 01 526 594 769 VORVERKAUF AB 20.10.2018

270 FILME IN 14 TAGEN

Foto: Katharina Sartena

Liebe Leser, Die Viennale ist immer die beste Zeit des Jahres für Filmfeinschmecker - hier können sie entdecken und verkosten, was sie sonst im Kino eher nicht zu sehen bekommen. Heuer hat erstmals Eva Sangiorgi die Direktion der Viennale inne; sie folgt dem verstorbenen Hans Hurch nach und gibt zu ihrem Debüt einen umfassenden Überblick über das aktuelle Weltkino. Sie folgt damit Hurchs Tradition, dessen Ziel es war, dem Ruf dieses wunderbaren Filmfestivals gerecht zu werden, das man in Nah und Fern als eine große Verbeugung vor den Spielformen des Kinos kennt. Die Viennale bietet noch viel mehr Vielfalt, als auf diese Seiten passen. Wir vom Filmmagazin celluloid präsentieren als Hauptmedienpartner der Viennale daher unsere ganz persönlichen Highlights des Festivals in unserer Festivalausgabe, die Sie nun in Händen halten. In der Heftmitte finden Sie eine praktische Programmübersicht. In diesem Sinne, Viel Spaß beim Schmökern,

EVA SANGIORGI

MATTHIAS GREULING Chefredakteur & Herausgeber celluloid@gmx.at

VIENNALE-DIREKTORIN

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EDITORIAL

weihundertsiebzig Filme in zwei Wochen! Gäste, RegisseurInnen, ProduzentInnen, KritikerInnen, SchauspielerInnen und auch MusikerInnen. Präsentationen und Diskussionen, Begegnungen und Gespräche. Ein Festival ist eine Verdichtung von Inhalten und Energie, von Filmen und Menschen. Eine Ausnahmesituation, die organisiert sein will. Files, Pläne, Programme. Der erste Teil des Rituals ist das Warten auf den Spielplan, dann kommt die Eröffnung, eine Zeremonie, die wir auf jeden Fall möglichst unkonventionell abwickeln werden. Es ist ein Ritual, das die ewige Jugend dieser knapp über hundert Jahre alten Kunstform bewahrt und solange die Festivals sie am Leben halten - für deren stetiges Wiederaufblühen sorgt. Ohne den Zauber eines Festivals wie die Viennale schmälern zu wollen, tut man gut daran zu erinnern, was diesen Zauber ausmacht: Die lange Vorbereitung, die Aufmerksamkeit bei der Auswahl, die Details und wie sich die verschiedenen Teile schließlich zu einem Ganzen zusammenfügen. Doch zuguterletzt zählt, was im Kinosaal stattfindet.

Man kündigt den Film an, die Lichter gehen aus, der Vorhang öffnet sich – und die Vorführung beginnt. Durch das Licht, das durch das Negativ strahlt, geschieht der Zauber: Ob aus Zelluloid oder in Digital: Um lebendig zu werden, braucht es das Licht. Das Wunder findet in jenem Augenblick statt, in dem Ton und Bild sich des Raums bemächtigen; und der gute Ruf der Viennale gründet nicht zuletzt in ihrer akribischen Aufmerksamkeit für die technischen Aspekte und in ihren makellosen Projektionen. Das ist eine Besonderheit eines Festivals: Nachdem man sich so lange mit dem Urteil über die Form des Kinos beschäftigt hat, wird jede mögliche Technik angewandt, um mit absoluter Hingabe dessen Physis und Materialität zu feiern. Daher ist dieses Vorwort denen gewidmet, die die Filme projizieren und dafür sorgen, dass der Zauber nie endet. EVA SANGIORGI

VORWORT

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celluloid FILMMAGAZIN Nr. 6a/2018. 20. Oktober 2018. Sonderausgabe zur Viennale 2018, erscheint am 20.10.2018 als Beilage zur Wiener Zeitung. Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Werbeagentur Matthias

Greuling für den Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films. Chefredakteur: Matthias Greuling. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Gunther Baumann, Peter Beddies, Paul Heger, Katharina Sartena, Patrick Heidmann. Layout / Repro: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Fotos, sofern nicht anders angegeben: Viennale. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Anschrift: celluloid Filmmagazin, Spechtgasse 57/5, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@gmx.at, Internet: www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2018 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.

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CELLULOID FILMMAGAZIN


VIENNALE-ERÖFFNUNGSFILM

„MEINE FILME SOLLEN

WIE HÄUSER SEIN“

Regisseurin Alice Rohrwacher über „Lazzaro Felice“, den Eröffnungsfilm der Viennale.

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Wie entstand die Geschichte zu Ihrem „Lazzaro“-Film, der realistische und märchenhafte Elemente vermischt? Dort, wo ich aufwuchs, habe ich aus der Nähe beobachtet, wie Landarbeiter, die zuvor in sklavenähnlichen Verhältnissen existierten, ihr Leben neu organisierten. Dieses Thema hat mich schon lange für einen Film interessiert. Aber ich fand zunächst keinen Weg, wie ich das umsetzen könnte. Doch dann fiel mir eines Tages die Figur des Lazzaro ein, dieses Zeitreisenden. Und ich dachte mir, durch ihn, durch seine Reisen durch die Zeit, könnte ich den Wandel versinnbildlichen. Die Story aus „Lazzaro“ ließe sich übrigens auch außerhalb Italiens ansiedeln. Überall dort, wo Menschen von der Information über ihre Rechte ferngehalten werden. Wie kamen Sie auf die Idee, durch die Figur des Lazzaro, die dem biblischen Lazarus nachempfunden ist, im Film auch Wunder geschehen zu lassen? Diese Szenen sind eine Parabel, aber natürlich ist das ein Tanz auf dünnem Seil. Das eröffnet einen Blick auf die reale Geschichte mit Augen, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Ich will nicht, dass sich die Zuschauer des Films wie Lazzaro fühlen, aber ich will, dass sie auf Lazzaro schauen und überprüfen, was sie in ihm erkennen. Ich wollte einen Film machen, der eine sehr komplexe Erfahrung ist – so wie das Leben selbst. Sind Sie in der Filmwelt nicht selbst eine Art Zeitreisende, der kleine Wunder widerfahren? „Glücklich wie Lazzaro“ ist erst Ihr dritter

Spielfilm. Doch zwei Ihrer Filme haben Preise in Cannes gewonnen, und in den USA wurden Sie kürzlich in die Academy aufgenommen, die über die Oscars entscheidet. Das sind sehr schöne Erfahrungen, die mir zeigen, dass es einen Magnetismus gibt zwischen dem Publikum und meiner Art, Filme zu machen. Ich versuche, Filme zu drehen, die wie Häuser sind. In die man eintreten kann, die Fens-

Foto: Katharina Sartena

celluloid: Signora Rohrwacher, was bedeutet Ihnen die Einladung von „Glücklich wie Lazzaro“ für die Eröffnung der Viennale 2018? Alice Rohrwacher: Wissen Sie, ich lebe in Orvieto in Umbrien, und dort hält jeden Abend ein Zug, der direkt nach Wien fährt. Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie schön es wäre, in den Zug einzusteigen. Nun kann ich mit diesem Zug fahren und werde in Wien aufwachen – wie wunderbar! Was die Viennale betrifft, habe ich dort schon viele gute Filme gesehen; es ist ein großartiges Festival. Als ich gefragt wurde, ob ich mit meinem Film zur Eröffnung kommen wollte, sagte ich sofort zu.

Foto: Filmladen

in italienischer Film steht am Beginn der italienischen Ära der Viennale. Die neue Direktorin Eva Sangiorgi lud Alice Rohrwacher mit ihrem Drama „Lazzaro felice“ („Glücklich wie Lazzaro“) zur Eröffnungsgala ein. Der stille Film, eine betörende Mischung aus realistischem Sozialdrama und mystischer KinoSaga, wurde beim Festival Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Celluloid traf die Autorin und Regisseurin Alice Rohrwacher zum Interview beim Zurich Film Festival.

Alice Rohrwacher mit ihren beiden Darstellern bei der Premiere von „Lazzaro Felice“ in Cannes.

CINEMA FOREVER!

ter öffnen, von Raum zu Raum gehen, um dann eine Zeitlang dort zu leben. Ich bin sehr glücklich darüber, dass meine Filme diese Wirkung erzeugen – aber ich habe das nie geplant. Angefangen habe ich ja mit kleinen Dokumentationen. Schon mein erster Spielfilm wurde dann sehr positiv aufgenommen. Doch ich hätte nie damit gerechnet, dass das alles so schnell geht. Sie zählen zu den wenigen renommierten Regisseurinnen des internationalen Kinos von heute. Welche Meinung haben Sie zur aktuellen Forderung, die Position der Frauen im Film zu stärken? Lassen Sie mich etwas vorausschicken: Ich finde es schade, dass diese Frage in der Regel nur Frauen gestellt wird, denn das Thema geht alle etwas an. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir auf den ersten Sprossen der Leiter beginnen, in den Filmschulen, bei der Ausbildung. Aber natürlich geht es auch darum, tradiertes Verhalten zu verändern: In meinem Land, in Italien, ist es für viele immer noch die Rolle der Frau, daheim zu bleiben, zu kochen und Kinder zu bekommen. Gar nicht so einfach, so eine Tausende Jahre alte Tradition zu überwinden. Das ist ein Prozess; ein wichtiger Prozess, der viel Engagement verlangt. INTERVIEW: GUNTHER BAUMANN VIENNALE-TERMINE: 25.10., 19.30 Uhr (mit Einladung) Gartenbau, 23.00 Uhr, Gartenbau, 26.10., 12.30 Uhr, Gartenbau 3


FILME AUS ÖSTERREICH

„WAS IST HEIMAT?

WAS IST INTEGRATION?“ Markus Schleinzer über seine zweite Regiearbeit „Angelo“, die bei der Viennale ihre Österreich-Premiere erleben wird: Es geht um das Leben des berühmten Angelo Soliman.

„Hofmohr“ Angelo Soliman (Makita Samba)

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ie Geschichte des berühmten „Hofmohren“ Angelo Soliman steckt voller skurriler und vor allem menschenfeindlicher Details. Als Kindersklave verkauft, wurde Soliman zum Kammerdiener, war aber auch umhergereichtes Exponat einer Sammlung, wurde Freimaurer und nach seinem Tod schließlich präpariertes Ausstellungsobjekt. Dieser komplexen, zugleich schweigsamen Persönlichkeit nähert sich nun Markus Schleinzers zweiter Spielfilm „Angelo“ an: Es ist Geschichts(neu)schreibung in Fragmenten und Details, aufgeteilt auf drei Akte, theatralisch vorgetragen, eingesperrt im Academy-Bildformat 1,37:1. Schleinzers Film ist mehr Essay denn Bio-Pic, und gewinnt durch seine bedachte Dramaturgie den Stellenwert einer Hommage, ist zugleich aber auch ein Brückenschlag ins Heute zu den immer noch stark verwurzelten Alltagsrassismen. celluloid: Wie haben Sie sich der Figur des Angelo Soliman genähert? Markus Schleinzer: Angelo Soliman ist bis heute eine extreme Projektionsfläche. Jeder macht mit ihm, was er will. Wenn man sich dem wirklich empirisch widmet: Es gibt ja fast nichts. Es ist ein einziger Brief von ihm erhalten, darin bittet ihn jemand, beim Liechtenstein ein gutes Wort einzulegen und er hat freundlich zurückge4

schrieben, dass er das gerne versuchen kann. Der Ausgang der Aktion ist allerdings unbekannt. Wirklich erhalten geblieben sind Aufzeichnungen ab der Zeit beim Liechtenstein, da war Angelo Soliman aber bereits Mitte Vierzig. Da gibt es dann Jahresberichte, Abrechnungen, wo man nachlesen kann, was ihm gekauft wurde, ein silbernes Wams, ein Paar Schuhe. Interessanterweise hat er da jedes Jahr eine andere Berufsbezeichnung: „Ratgeber“, „Berater“, „Hofmohr“. Das bleibt im Nebel. Ich nehme mich da nicht aus. Ich mache eigentlich genau dasselbe, auch mir ist er ein Spiegel. Die einen sind halt begierig zu sagen, das ist das erste gelungene Beispiel von Migration, andere sagen natürlich ist er ein Opfer. Natürlich hat sein Weg zu uns mit einer Opferschaft und einer Täterschaft begonnen. Er ist verschleppt worden, daran gibt es nichts zu rütteln, freiwillig ist er nicht gekommen. Was er daraus gemacht hat, ist eine andere Sache. Wie kamen Sie auf die besondere stilistische Umsetzung der Handlung? Mich hat einfach interessiert, anhand diesem Fragment einer Biographie, die tatsächlich wissenschaftlich nicht greifbar ist, andere Themen zu diskutieren. Was ist Heimat? Was ist Integration? Was ist Biographie? Für mich ist die Geschichte eines Dieners immer auch die Geschichte seiner CELLULOID FILMMAGAZIN

Wie stieß Alba Rohrwacher, die im Film Angelo als Kindersklaven erwirbt, zum Projekt? Es war ein unglaubliches Geschenk, mit ihr zu arbeiten. Sie hat ziemlich gerungen mit der Figur, weil sie sie gar nicht leiden kann. Weil die Alba auch politisch ganz woanders steht und auch viel direkter ins Leben reinschaut als mit dieser Verhaltung, dieser Unbeweglichkeit … Diese Frauenfigur ist ja aufgesplittet zwischen ihr und Gerti Drassl als Kinderfrau. Gerti darf die Emotionalität haben, das Kind berühren und angreifen und lachen und weinen und fangen spielen. Und in dem Moment, wo das Kind die Alba umarmt, darf die Alba die Umarmung nicht einmal erwidern. Ich wollte diese Figur nicht alt besetzen, weil das den Aspekt von eigener möglicher Mutterschaft weggenommen hätte. Und eine alte Witwe ist so eine Stereotype wie „die Hexe“ oder „der Prinz“ oder „der Zwerg“. Und ich wollte auch niemanden, der als unsympathische Figur daherkommt. Sie begeht natürlich auch ein Verbrechen an diesem Kind. Aber es steht immer das eigene Leid mehr im Vordergrund, das ist etwas sehr katholisches. VIENNALE-TERMINE: 26.10., 18 Uhr, Gartenbau, 30.10., 23 Uhr, Stadtkino im Künstlerhaus

Foto: Greuling

Foto: Filmladen

Herrinnen und Herren. Das ist etwas, was ich verhandeln wollte. Es geht auch darum, wer sind wird: Wie viel Vergangenheit, wie viele Wurzeln brauchst du, um ein Individuum zu sein, eine eigene Persönlichkeit zu haben? Mich berührt das wahnsinnig, dass die Tochter, die einerseits das Stigma der Sichtbarkeit durch die Hautfarbe hat, andererseits natürlich geborene Wienerin ist und Wienerisch spricht, weiß nichts von Afrika. Und dann steht sie da vor diesem schlecht gemalten Wandprospekt mit Pyramiden und Palmen und fragt ihren Vater: Ist das so?

Markus Schleinzer


Susanne Wolff brilliert in „Styx“

WEN SOLL MAN RETTEN? I

n der griechischen Mythologie steht der Fluss Styx für die Grenze der Welten der Lebenden und jener der Toten. Zugleich ist Styx der Name einer Flussgöttin. Der Thema von „Styx“, dem Film, ist damit präzise umrissen. Man begleitet eine deutsche Ärztin, Rike (großartig: Susanne Wolff), die ganz allein und mit einer perfekt ausgerüsteten Yacht von Gibraltar zur weit entfernten Atlantik-Insel Ascension segelt. Ihr einsames Idyll endet, als sie eines Tages in der Ferne ein völlig überladenes und manövrierunfähiges Flüchtlings-Schiff erblickt. Der Instinkt sagt Rike, sofort auf das Boot zuzusteuern und die Flüchtlinge an Bord zu nehmen (zu Beginn des Films sieht man, wie sie als Notärztin mit sicheren Griffen ein Unfallopfer behandelt). Doch die Küstenwache, mit der die Frau per Funk Kontakt aufnimmt, rät ihr dringend von der Hilfeleistung ab: Eine Rettungsmission sei unterwegs. Die Übernahme der Schiffbrüchigen auf ihre kleine Yacht könnte auch sie in ernste Gefahr bringen. Was tun? Die Seglerin entscheidet sich erst einmal für einen Kompromiss. Sie fischt unter Aufbie-

tung all ihrer Kräfte einen Jungen aus dem Meer, der vom Kutter der Flüchtlinge fortgeschwommen ist. Sie verarztet den verletzten Knaben; sie päppelt ihn wieder auf. Doch zugleich muss sie erkennen, dass sie nicht alle Schiffbrüchigen retten kann. Wo bleibt nur die versprochene Hilfsmission? Der Wiener Regisseur Wolfgang Fischer drehte mit „Styx“ einen ungemein packenden Film über die Flüchtlingskrise, der ganz bewusst viele Fragen aufwirft, doch keine einfachen Antworten bereithält. „Styx“ segelt an einer scharf gezogenen Grenzlinie dahin: Die Opfer ihrem Schicksal zu überlassen, scheint denkunmöglich zu sein. Sie alle zu retten, aber auch. So entlässt diese Ozean-Odyssee das Publikum sehr nachdenklich aus dem Kino. Der Konflikt zwischen Humanismus und Egoismus, dem sich die Seglerin stellen muss, bewegt einen auch im weichen Kinosessel. Die Antworten, zu denen man selbst kommt, müssen nicht unbedingt schmeichelhaft sein. Ganz abgesehen vom starken Grundkonflikt ist „Styx“ auch noch filmisch eine ausgesprochen

CINEMA FOREVER!

Foto: Filmladen

„Styx“ von Wolfgang Fischer ist ein brillant inszeniertes Drama über die Flüchtlingskrise, das viele unangenehme Fragen stellt.

starke Produktion. So lange etwa die Ärztin Rike auf ihrem Boot allein ist, füllt Susanne Wolff mühelos die Leinwand – ihr Ansprechpartner ist die bewegte See. Die Schönheit, aber auch die Gefahr des Segelns rückt so eindrucksvoll ins Bild (Kamera: Benedict Neuenfels, Schnitt: Monika Willi), wie man es im Kino kaum jemals erlebt. So ist „Styx“ ein bewegender und bewegter Film über eines der großen Themen unserer Zeit geworden, der den Zuschauer lange nicht mehr los lässt. Großes Kompliment. GUNTHER BAUMANN VIENNALE-TERMINE: 31.10., 20.30 Uhr, Gartenbau, 1.11., 16.00 Uhr, Urania

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AKTUELLES WELTKINO

LEBEN IM ZEITALTER DER ANGST Natalie Portman brilliert in Brady Corbets Regiearbeit „Vox Lux“. Ein aufreibender Höhepunkt der Viennale.

EMMA STONE: SEX MIT DER QUEEN Emma Stone spielt in „The Favourite“ von Yorgos Lanthimos eine Frau im Vorhof der Macht.

Natalie Portman als fiktiver Popstar in dem famosen „Vox Lux“

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Foto: Katharina Sartena

s ist der vielleicht gewagteste Film dieses Festivals. Vor allem, weil er schrill-hysterisch und relativ unverstellt von etwas berichtet, das uns alle angeht, auch, wenn es vorderhand nicht so scheint: „Vox Lux“ von Brady Corbet, gerade einmal 30 Jahre alt, bisher hauptberuflich Schauspieler (unter anderem spielte er in Hanekes US-Remake von „Funny Games“), legt mit seiner zweiten Regiearbeit „Vox Lux“ (nach dem gefeierten „The Childhood of a Leader“) einen überraschend zeit- und systemkritischen Film vor, der die Beziehung der (amerikanischen) Öffentlichkeit mit dem weltweiten Phänomen des Terrorismus zu sezieren versucht. Das tut er anhand einer sehr privaten, später sehr öffentlichen Geschichte: Natalie Portman spielt einen US-Popstar, der als Schulkind ein High-School-Massaker überlebt hat und darauf aufbauend die eigene Sangeskarriere startet, durchaus im Maßstab einer Britney Spears, also richtig groß.

Stacy Martin, Natalie Portman, Raffey Cassidy und Regisseur Brady Corbet (v.l.) bei der Premiere des Films in Venedig

Die Karriere wird nach 9/11 und noch viel später immer wieder auf das Urereignis und auf neue Terroristenakte zurückgeworfen. Interessant ist dies deshalb, weil Corbet in recht ungestümer Weise auch untersucht, wie unsere Wahrnehmung des noch jungen 21. Jahrhunderts sehr konkret an Ängsten und Phobien festgemacht werden kann: Wer was ist und wer was zu sein scheint, ist in der kommerzialisierten Welt kaum mehr richtig einorden- oder zuordenbar, auch für die nicht, die 6

gelernt haben, so zu tun, als wäre man wirklich etwas. Etwas Wertvolles, zum Beispiel. Oder zumindest etwas Bekanntes. Celeste (over the top: Natalie Portman), so heißt dieser Popstar, liefert Hit um Hit (die Songs stammen von der Hitfabrikantin Sia, die auch ausführende Produzentin ist), verdrängt die eigene Vergangenheit, macht Fehler, trinkt, kokst, verstellt die Sicht auf sich selbst und ihre Tochter, es ist ein Graus. Aber in dieser Heldin findet Corbet die Summe von all dem, was unser Leben seit Columbine, 9/11 & Co. ausmacht: Die permanente Hysterie, mit der wir uns umgeben, will und will nicht abflauen, das illustriert dieser Film meisterlich. Es ist der Film, der am meisten über unseren gegenwärtigen Lebensumstand und unsere Befindlichkeiten aussagt, es ist einer der relevantesten Filme des Jahres. TERROR-FOLGEN „Der Film zeigt, wie wir im 21. Jahrhundert denken und fühlen“, sagt Brady Corbet. „Und da geht es vor allem um Terrorismus, das bestimmende Thema unserer Tage. Ich interessiere mich für die Fragen, was Gewalt mit Menschen macht. Weil ich auch aus einem Land komme, wo das immer und schon lange Alltag ist“. Natalie Portman fügt hinzu: „Der Terror und die Attentate an den Schulen fühlen sich fast an wie ein Bürgerkrieg. Diese Schul-Anschläge verbreiten psychologische Traumata in unserem Land“. Corbet, der „Vox Lux“ dem verstorbenen Jonathan Demme gewidmet hat („Er hat das Projekt bis zu seinem Tod liebevoll begleitet“), fällt es übrigens schwer, die Hintergründe seines außergewöhnlichen Films zu erläutern. „Ich kann nur schwer darüber reden“, sagt er. „ Denn alles, was ich darüber sagen will, sieht man im Film. ‚Vox Lux‘ ist wie eine Fabel über das, was wir alle in den letzten 20 Jahren durchmachten mussten. Wir leben in einem Zeitalter der Angst. Der Film wurde daraus geboren“. Und es ist ein Meisterstück. MATTHIAS GREULING VIENNALE-TERMINE: 2.11., 23.15 Uhr, 5.11., 15.30 Uhr, 6.11., 6.30 Uhr, jeweils Gartenbau CELLULOID FILMMAGAZIN

he Favourite“ des Griechen Yorgos Lanthimos ist der erste Kostümfilm in historischem Gewand für Lanthimos, der zuletzt im CannesWettbewerb mit „Lobster“ (2015) und „The Killing of a Sacred Deer“ (2017) vertreten war. Lanthimos schildert die Zustände am britischen Königshof des frühen 18. Jahrhunderts, wo Neid und Missgunst regierten. Die gebrechliche Königin Anne (Olivia Colman) hat das Regieren an ihre Vertraute und Geliebte Sarah Churchill abgegeben, und als deren jüngere Cousine, Herzogin Abigail (Emma Stone) am Hof ankommt, beginnt ein Führungskampf: Abigail schließt Freundschaft mit der Königin, denn Sarah hat des Krieges wegen nur mehr wenig Zeit für Anne. Das ganze artet bald in einen Streit aus. „Ich kann ihnen versichern, dass es solche Arten von Zickenkriegen in Hollywood nicht gibt“, lachte Emma Stone bei Premiere in Venedig. Nur um es mit einem süffisanten Grinser zu kommentieren. „Garantiert nicht, gibt es sowas“. Stone ist mit ihren 29 Jahren also schon sehr zynisch im Umgang mit Hollywood, und das, obwohl sie gar keinen Grund zu Zynismus hätte: Ist sie doch seit „La La Land“ nicht nur Oscarpreisträgerin, sondern auch in die erste Liga Hollywoods aufgestiegen. Aber ganz oben wird die Luft ja bekanntlich am schnellsten dünn. Weil sich Stone und Olivia Colman in ihren Rollen als Abigail und Queen Anne auch körperlich sehr nahe kommen, durfte natürlich auch die Nachfrage nach Sex mit der Queen nicht fehlen. „Ja der Sex war fantastisch“, sagten Stone und Colman unisono. Und Stone hat dabei sicher für niemanden sichtbar die Augen verdreht. VIENNALE-TERMINE: 31.10., 18.00, Gartenbau, 4.11., 18 Uhr, Gartenbau

Foto: Katharina Sartena

Foto: Viennale

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Gutes Gespann: Yorgos Lanthimos und Emma Stone in Venedig.


RAKETEN ROSTEN EBEN Ryan Gosling spielt Neil Armstrong, in Damien Chazelles „First Man“. Ein Film, der die Oscars anvisiert.

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Foto: Universal

n der Spitze einer schier endlosen langen Rakete eingesperrt zu sein auf wenigen Quadratmetern Liegefläche, zu Dritt, kaum eine Möglichkeit, im steifen Raumanzug irgendeine sinnliche Wahrnehmung zu haben außer die G-Kräfte, die einen in Form der Schubkraft förmlich ins All drücken und schütteln, kurz vor der Ohnmacht stehend, mit zugekniffenen Augen der Galaxis entgegen, das ist Raumfahrt, ja, und das ist Erlebniskino der anderen Art. Denn was, Damien Chazelle in seinem ersten Film nach „La La Land“ (für den er als jüngster Regisseur aller Zeiten einen Oscar erhielt) mit „First Man“ dem Publikum auftischt, ist eine Rüttel- und SchüttelErfahrung ersten Ranges, das muss man sagen: Selten hat man im Kino so hautnah miterlebt, wie es sich in einer Raumkapsel anfühlen muss, so lebensecht und laut und unfassbar wackelig ist das. Chazelle verabschiedet sich in seinem WeltraumDrama rund um Neil Armstrong und seinen Weg zur Mondlandung im Jahr 1969 von allen Kli-

Kino des US-Mainstream nur in ein wenig kunstvollere Bilder, sodass der Schwindel nicht sofort auffällt. Hinter Chazelles Optik mit Independent-Anstrich verbergen sich freilich die selben Mainstream-Mechanismen, die man sonst auch aus dem breitenwirksamen Kino kennt: Ein Held, der enorme Widerstände überwinden muss, ehe er sein Ziel erreicht, ist die Blaupause für so ziemlich jeden Actionfilm. Und auch für „First Man“. So begleitet Chazelle Armstrong bei dem jahrelangen, harten Training, beim Verarbeiten des Verlustes zahlreicher Raumfahrer-Kollegen, die Opfer der unausgereiften Raumfahrttechnik wurden, und bei einem Besuch im Weißen Haus, bei dem er die sauteure Raumfahrt in Zeiten des Vietnam-Krieges und der 1968er-Bewegung verteidigen muss; auf einen politischen Querschlag zur Trump-Regierung, zu deren Rüstungs- oder Weltraumambitionen gestattet sich Chazelle nicht, und auch sonst bleibt er nur in Ansätzen Kritiker dieser Nation, die so viel großes geboren hat, darunter eben auch die Mond-

„Leto“ des Russen Kirill Serebrennikov: Der Regisseur sitzt im Hausarrest.

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mission. Daran kann Hollywood nicht rütteln. Chazelles Talent liegt in einer ganz besonderen Feinfühligkeit, die Grenze zum Kitsch haarscharf zu unterschreiten; „First Man“ ist - auch, weil im Weltall Tränen vergossen werden, die der ganze damalige Medienrummel auf der Erde niemals mitkriegt - ein Paradebeispiel für die Konstruktion eines Heldenmythos, auf dem Amerika bis heute seinen Anspruch auf die Weltführerschaft aufbaut. Dafür braucht es Helden wie Neil Armstrong, und das Filmfest von Venedig, wo der Film Premiere hatte, als Startrampe für diese Rakete sollte „First Man“ auch gefahrlos bis zum Oscar katapultieren. Prämiert werden dann Mythen und Legenden, Werte und Gesinnungen, alles filmisch ansprechend und fesselnd gemacht. Aber kann ein Film wie dieser heute Werte feiern, die längst nicht mehr aktuell sind? Das ist ja das Schlimme: Sie sind es wieder, seit Trump. MATTHIAS GREULING

ch glaube nicht an eine politische Verschwörung“, sagt Ilya Stewart. Der Russe mit australischen Wurzeln ist Produzent des heurigen Cannes-Wettbewerbsbeitrags „Leto“ von Regie-Star Kirill Serebrennikov. Der Regisseur konnte im Mai nicht zur Premiere anreisen, weil er in seiner Heimat unter Arrest steht. „Was ihm angelastet wird, ist mehr als lächerlich“, meint Stewart. „Aber das können natürlich nur die Gerichte entscheiden, dem kann ich nicht vorgreifen“. Serebrennikov wurde drei Tage vor Ende der Dreharbeiten von „Leto“ quasi über Nacht inhaftiert, „am Abend saßen wir noch zusammen, und in der Früh war er weg“, so Stewart. „Man brachte ihn von St. Petersburg mit dem Auto nach Moskau, wo er befragt wurde“. Dem Star-Regisseur, der vor allem am Theater große Erfolge feierte und zuletzt mit einer umjubelten Ballett-Inszenierung zum Leben von Rudolf Nurejew Aufsehen erregte, wird vorgeworfen, Subventionsgelder veruntreut zu haben, was sein Produzent als „völligen Unsinn“ abtut. Fakt ist aber, dass Serebrennikov bis auf weiteres in Hausarrest sitzt - der Prozess gegen ihn, der im Juli 2018 begann, könnte am Ende dramatische Folgen haben: Serebrennikov drohen bis zu zehn Jahren Haft. Dass selbst Präsident Putin bedauerte, in der Angelegenheit nicht helfen zu können, weil er „der Justiz nicht vorgreifen“ könne, wird international als Zeichen gedeutet, Russland wolle Serebrennikov als unbequemen Künstler mundtot machen, doch das bezweifelt Produzent Ilya Stewart: „Ich kann mir das nicht vorstellen. Immerhin vertrat ‚Leto‘ Russland offiziell in Cannes, und wird auch von den staatlichen Stellen mit viel Stolz präsentiert“, so Stewart. Fördergelder erhielt das Projekt jedoch keine. „Es ist mit privaten Investoren entstanden“, sagt der Produzent. Dass der Inhalt des Films die Gemüter erhitzen könnte, gilt ebenso als unwahrscheinlich: Der Film erzählt von der Underground-Rockszene im Leningrad der frühen 80er Jahre, kurz bevor die Perestroika begann. Er zeigt, wie der junge Viktor Tsoi zu einem der berühmtesten und beliebtesten Musiker Russlands aufstieg, umgeben von Einflüssen aus dem Westen: Led Zeppelin oder David Bowie zu hören, das war damals für die Russen ein seltenes Privileg. Und bei den Rockkonzerten der damaligen Zeit war es außerdem verboten, zu klatschen oder zu jubeln. Musik für eine Stille Masse, sozusagen. „Leto“ (dt. „Sommer“) ist also ein Stimmungsbild des alten Russland, einer UdSSR kurz vor dem Beginn des Umdenkens, das schließlich zu seiner Auslöschung führte. Der 48-jährige Serebrennikov schnitt den Film in völliger Abgeschiedenheit, weil er seit seinem Arrest keinerlei Kontakt zur Außenwelt haben darf: Kein TV, kein Internet, keine Besucher, kein Telefon. „Irgendwann kommt der Tag, da wird Kirill wieder frei sein“, ist Ilya Stewart überzeugt. „Und das erste, was ich dann mache, ist: Mit ihm über weitere neue Filme zu sprechen“. MG

VIENNALE-TERMINE: 2.11., 20.15 Uhr, 3.11., 12.30 Uhr, jeweils Gartenbau

VIENNALE-TERMINE: 30.10., 15.30, Gartenbau, 7.11., 21 Uhr, Urania

Ryan Gosling fliegt als Neil Armstrong zum Mond

schees, die das Sci-Fi-Genre sonst so an steriler Weltraum-Optik zu bieten hat: Hier gibt es keine Hochglanz-Uniformen und futuristische Schiebetüren, kein Lichtdesign wie in einem Flipper und keine ruhigen Aufnahmen von im All stoisch dahinsegelnden Raumschiffen, sondern hier gibt es von Menschenhand gefertigte Metallteile, rostig und fehleranfällig, staubig und abgenutzt, wie es gern auch mancher Ridley-Scott-Film vorführt. Aber der Unterschied ist halt: Die Story hier ist wahr, keine Sci-Fi. Und Raketen rosten eben. Ryan Gosling spielt diesen Neil Armstrong, Chazelle reduziert die Motivation seines Helden, der ein Held im besten Sinne des US-amerikanischen Welt-Verständnisses ist, auf seinen Trauerschmerz, den er seit dem Verlust seiner kleinen Tochter an den Krebs mit sich herumschleppt und kein Ventil dafür zu finden scheint. Zusammenhänge, Kausalitäten herzustellen, das ist die Spezialität des Blockbuster-Kinos, das einfach erklärt, wie komplexe Zusammenhänge verlaufen. So ist es auch hier: „First Man“ hüllt das Klischee-

„KEIN KONTAKT ZUR AUSSENWELT“

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Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Viennale

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AKTUELLES WELTKINO

ZURÜCK IN DIE KINDHEIT Für seinen fulminanten Film „ROMA“ erhielt Alfonso Cuaron heuer den Goldenen Löwen von Venedig.

DIE BANDBREITE DES MENSCHLICHEN LEIDENS „Gangbyun Hotel“ von Hong Sang Soo. er koreanische Regisseur Hong Sang Soo, der bereits 2015 für seinen Film „Right Now, Wrong Then“ den Goldenen Leoparden in Locarno bekam, wiederholte heuer dieses Kunststück mit dem poetischen „Gangbyun Hotel“: Das in schlichtem, aber malerischen Schwarzweiß gehaltene Drama folgt zwei am Leben gescheiterten Figuren, einem alten Dichter, der vom Leben genug hat und sich noch einmal mit seinen beiden Söhnen treffen will, sowie von einer Frau, deren Beziehung zu einem verheirateten Mann in die Brüche gegangen ist und die nun hier ein wenig Trost sucht. Beide Erzählstränge lässt Hong Sang Soo nebeneinander herlaufen, in wunderbaren Bildern, die ganze Bandbreite des menschlichen Seins und Leidens reflektierend, und selbstredend nicht alles auserzählend, nicht alles beantwortend. Ein großer Film. MG

Szenen im Mexiko des Jahres 1970, in dem Regisseur Cuaron aufwuchs.

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enig Worte braucht Alfonso Cuaron in „ROMA“, seiner kritischen Betrachtung einer Mittelstandsfamilie im Mexiko des Jahres 1970, als dort das berüchtigte „Corpus-Christi“Massaker stattfand, bei dem Dutzende protestierende Studenten von einer paramilitärischen Gruppe getötet wurden. Mit „Gravity“ ist Cuaron Oscarpreisträger geworden, mit „ROMA“, finanziert von Netflix, kehrt er zu seinen Wurzeln zurück: Es ist sein erster mexikanischer Film seit seinem Durchbruch „Y tu Mama Tambien“ (2001). Der Film schildert weniger eine Erzählung als vielmehr Situationen aus der Kindheit des Regisseurs, der damit in seinen eleganten schwarzweißen Bildern von einem Aufwachsen vor einem sehr politisch angespannten Hintergrund berichtet, jedoch ganz beiläufig auch auf Erinnerungsstücke fokussiert, die scheinbar unwichtig, neben-

sächlich waren; diesen Hintergrund nach vorn zu holen, ist das Meisterstück Cuarons, der komplexe gesellschaftliche Strukturen der damaligen Zeit mit einer Leichtigkeit und Eleganz durchdringt, ohne dabei jemals unpräzise oder beliebig zu werden. „ROMA“ hält sich dabei wie selbstverständlich an kaum eine gängige filmdramaturgische Linie, sondern wirkt wie ein langsamer, steter Fluß, eine optische Seitwärtsbewegung, zurück in eine mexikanische Kindheit. Das Bild der Figuren bleibt aber unkonkret: Vieles geschieht hier in Gruppen, die einzelne Figur hat kaum Stellenwert im Film, es sind die Bilder von Außen auf die eigene Kindheit, die jeder in sich trägt, als könnte man aus der Vogelperspektive auf sich selbst schauen. MATTHIAS GREULING

VIENNALE-TERMINE: 26. 10., 18.00 Uhr, Stadtkino im Künstlerhaus, 8. 11., 13.00 Gartenbau

Foto: Viennale

Foto: Viennale

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VIENNALE-TERMINE: 28.10., 18.00 Uhr, 30.10., 06:30 Uhr, 5.11., 13.00 Uhr, jeweils Gartenbau

SUSPIRIA: WÜRDIGES REMAKE EINES HORROR-KLASSIKERS

Foto: Viennale

Luca Guadagnino hat sich Dario Argentos Kunstwerk angenommen und es neu interpretiert.

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as Original von „Suspiria“ hat einen legendären Ruf. Dario Argento schuf vor 41 Jahren ein Horror-Kunstwerk, das in vielen Ländern bis vor kurzem auf dem Index stand. Der Film erzählt von einer jungen amerikanischen Tänzerin, die nach Freiburg im Breisgau kommt und dort mit dem Treiben von uralten Hexen konfrontiert wird. Luca Guadagnino verlegt sein Remake - eine 10

gute Entscheidung - ins West-Berlin des Jahres 1977. Susie Bannion (Dakota Johnson) kommt aus Amerika an ein Tanz-Ensemble in der geteilten Stadt. Dort wird sie gleich bei der ersten Probe von der künstlerischen Leiterin Madame Blanc (Tilda Swinton) beobachtet, die ihr außergewöhnliches Talent bemerkt und fördert. Dass sich in diesem Hause sehr eigenartige Dinge zutragen – es gibt geheime Räume, es verschwinden Tänzerinnen - scheint die extrem engagierte Susie nicht zu stören. Doch als ein alter Psychotherapeut ein rätselhaftes Tagebuch von einer der verschwundenen Tänzerinnen in die Hand bekommt und zu ermitteln beginnt, wird der Krieg um die Vorherrschaft innerhalb der Hexen-Sippe zur Bedrohung für alle. Luca Guadagnino ist im Gegensatz zu Dario Argento ein Geschichtenerzähler. Während es bei Argento in all seinen Filmen immer um Stil und Effekt ging, bettet Guadagnino seine bewusst geCELLULOID FILMMAGAZIN

setzten Effekte in eine große Geschichte ein. Man fühlt sich ein wenig an die ausgezeichnete NetflixSerie „Dark“ erinnert: Alles hängt mit allem zusammen. Und - was die Horror-Fans begeistern dürfte - es gibt sogar eine Post-Credit-Scene. Die Schauspieler, allen voran Dakota Johnson und Tilda Swinton, leisten Großartiges als Tänzer. Sie brillieren besonders in drei Szenen, die von Sasha Waltz choreografiert wurden. Am Ende huldigt Guadagnino dem Schöpfer der Vorlage, in dem er eine Szene komplett in Rot einfärbt und damit den reichlichen Blutverlust noch drastischer erscheinen lässt. Das Einzige, was man dem Regisseur ankreiden könnte: Er lässt sich mit der Geschichte sehr viel Zeit. Aber beim Spannungsaufbau hilft die sehr gute Filmmusik von Radiohead-Sänger Thom Yorke. PETER BEDDIES VIENNALE-TERMINE: 1.11., 21.30 Uhr, Gartenbau, 5.11., 23.00 Uhr, Gartenbau


Ethan Hawke mit seinem Leoparden aus Locarno

EIN FEST FÜR ETHAN HAWKE celluloid: Gerade hat man Ihnen in Locarno den Preis fürs Lebenswerk überreicht. Kommt das nicht etwas früh? Ethan Hawke: Das Witzige ist ja: Ich liebe meine Arbeit so sehr, dass ich überhaupt gar nicht verstehen kann, einen Preis dafür zu erhalten. Sie ist integraler Bestandteil von mir. Das ist, als würde man mich auszeichnen, weil ich eine Nase im Gesicht habe. Mein Freund Richard Linklater sagt, solche Preise sind eine Art Bestätigung für deine bisherige Leistung, ein Check-up in der Mitte deiner Karriere. Danach beginnen dich alle zu hassen, und dann kommt es darauf an, dass du lange genug überlebst, bis du zum nächsten Punkt deiner Karriere gelangst: Jury-Präsident eines Festivals (lacht). Aber ich muss sagen: Es ist schon seltsam, 47 zu sein und bereits seit 30 Jahren Filme zu machen. Haben Sie Ihre Midlife-Crisis schon hinter sich? Alle haben irgendwann eine Midlife-Crisis. Manche fangen an, Drogen zu nehmen oder zu trinken. Ich habe meine Lebenskrisen immer in Filme verwandelt. Die Herausforderung im Leben muss man nicht krampfhaft suchen, sie wurde einem schon mit in die Wiege gelegt. Um das zu erkennen, musste ich erst einmal mich selbst akzeptieren, so wie ich bin. Seither meistere ich jede Krise.

Und davor? Früher dachte ich, jedes Problem ließe sich mit Arbeit lösen. Ich habe einfach noch mehr gearbeitet, bis die Probleme außer Sichtweite waren. Das war in der Zeit, als meine erste Ehe (mit Uma Thurman, Anm.) scheiterte. Das war eine der bittersten Erfahrungen meines Lebens. Wie haben sich die Maßstäbe verändert, die Sie an Ihre Arbeit anlegen. Wie war das früher? Als junger Schauspieler will man gar nicht gut gefunden werden, denn das macht es ja unmöglich, als Grenzgänger zu gelten, was man zweifellos sein will in jungen Jahren. Das hat viel mit Ego zu tun. Ich hatte Glück, dass meine Eltern ihren religiösen Glauben als einzigen Maßstab im Leben anlegen. Sie hätten mich nicht mehr oder weniger geliebt, wenn ich einen Preis als bester Schauspieler in Venedig oder Cannes gewonnen hätte. Das hätte sie überhaupt nicht interessiert. Mein Vater liebt mich genau so wie seine anderen Söhne. Als junger Mensch findest du diese Einstellung kitschig. Aber im Alter findest du heraus, dass das nichts Kitschiges hat. Sie haben mit vielen unterschiedlichen Regisseuren gearbeitet. Wie hat sich die Arbeit verändert? Es gibt keine richtige oder falsche Art, einen Film zu drehen. Es gibt verschiedene Wege, das

CINEMA FOREVER!

Foto: Festival Locarno

Die Viennale zeigt mit „First Reformed“ Ethan Hawkes stärkste Schauspielleistung und mit „Blaze“ seine neue Regiearbeit.

zu tun. Paul Schrader gab mir in „First Reformed“ (2017) einen der herausforderndsten Parts meiner Karriere. Und das war ein ganz anderes Gefühl, als in „Before Sunrise“ zu spielen. Obwohl beides Schauspielerei ist, kann man schwer sagen, dass es bei den beiden Filmen derselbe Job war. Sie haben mit Julie Delpy bereits zwei Sequels zu „Before Sunrise“ gedreht. Kommt ein vierter Teil? Ich denke, die Filme wirken als Trilogie sehr organisch. Aber eine Idee hätte ich: Da gab es doch diesen Film vor ein paar Jahren, mit den alten Menschen, die im Sterben sind... Wie hieß der gleich? „Amour“ von Michael Haneke. Ja, genau. Als Julie den Film gesehen hatte, schrieb sie mir: „So ein Mist, sie haben unseren vierten Teil schon gedreht“ (lacht). M. GREULING VIENNALE-TERMINE: Blaze: 31.10., 23 Uhr, Stadtkino, 7.11., 18 Uhr, Gartenbau. First Reformed: 26.10., 15.30 Uhr, 31.10., 23 Uhr, jeweils Gartenbau

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WEITERE VIENNALE-TIPPS

DOUBLES VIES Olivier Assayas

Bemerkenswertes Kino von Olivier Assayas Sein neuer Film „Doubles vies“, eine 107-minütige Auseinandersetzung der bourgeoisen Kunstund Medienschaffenden aus Paris, die aus Panik vor der Allmacht des Internet und der Algorithmen schon das Ende von Film, Buch, Musik & Co. kommen sehen, ist wortreich und überaus geglückt. Assayas stellt einen unsicheren Autor in den Mittelpunkt, dessen Verleger (Laurent Cantet) sein neues Buch nicht drucken will; rundherum entspinnt sich ein bunter Reigen (auch sexueller Art), bei dem so manche Persönlichkeit auf der Strecke bleibt; das Gefühl, vom Zeitgeist eingeholt und überholt zu werden, schwingt hier mit; irgendwann als „out“ zu gelten, irgendwann die „Jungen“ nicht mehr zu verstehen, und dann doch da weiterzumachen, wo man ist, was man kann. Juliette Binoche hat darin eine ganz wunderbare Rolle als Schauspielerin in einer Polizeiserie, Assayas stattet den Film mit jeder Menge launiger Referenzen an popkulturelle und hochkulturelle Phänomene aus. Eine Fellatio während einer Kinovorstellung von Michael Hanekes „Das weiße Band“ spielt hier eine zentrale Rolle, mit der Assayas sein Traktat über die Zukunft der Medien fast spielerisch anreichert und es überaus wort- und dialogreich gestaltet. VIENNALE-TERMINE: 31.10., 20.30 Uhr, Gartenbau, 1.11., 16.00 Uhr, Urania

tischen Ausnahmen gehörten, vor allem im Wilden Westen. Neben Joaquin Phoenix spielt John C. Reilly mit derartiger Sympathie, dass man fast von einer Oscar-Nominierung ausgehen kann. VIENNALE-TERMINE: 31.10., 20.30 Uhr, Gartenbau, 1.11., 16.00 Uhr, Urania

DAMSEL

David und Nathan Zellner „Damsel“ erzählt von Samuel Alabaster (Robert Pattinson), einem jungen Abenteurer in den USA zur Zeit des Wilden Westens, der einen Priester quer durchs Land schleppt, damit ihn dieser mit seiner Angebeteten vermählen kann. Die Reise läuft anders als geplant: Denn Penelope, die Herzensdame, gespielt von Mia Wasikowska, ist alles andere als einfach zu finden, zumal Samuel glaubt, sie sei entführt worden. Umso penibler ist seine Vorbereitung für den Moment ihres Auffindens - da wird auch schon geprobt, wie ihr sogleich der Ring an den Finger gesteckt werden soll, nachdem ihr Entführer mit Kopfschuss zur Strecke gebracht worden ist. „Damsel“ hat starke, komische Momente, doch die Regiebrüder Zellner schöpfen das Potenzial dieser absurden Story zu wenig radikal aus. Ein bisschen mehr Mut zum Unkonventionellen hätte dem Film gut getan, wenngleich die Besetzung den Erwartungen voll entspricht und auch Pattinson als überreagierendes Greenhorn und liebenswürdiger Tölpel eine gute Leistung bringt. VIENNALE-TERMINE: 31.10., 20.30 Uhr, Gartenbau, 1.11., 16.00 Uhr, Urania

John C. Reilly in „The Sisters Brothers“

TOUCH ME NOT Adina Pintilie

Foto: Viennale

Der Erstling der Rumänin Adina Pintilie basiert auf einem mehrjährigen Forschungsprojekt zum Thema Intimität. Menschen mit und ohne Behinderung stellten sich dabei nicht nur mit Worten, sondern sehr körperlich ihren Wünschen und Ängsten. Der Film begibt sich auf eine emotionale Expedition, um die verschiedenen Facetten von Sexualität jenseits aller Tabus auszuleuchten. Expliziten Sexszenen waren die Ursache für die Proteste bei der Berlinale, wo etliche Zuschauer das Kino verließen. Am Ende gewann der Film dort heuer den Goldenen Bären.

Der Western „The Sisters Brothers“ erzählt von den Brüdern Eli und Charlie Sisters, der Filmtitel ist ein schönes Wortspiel. Die Brüder sind Killer, die einem Goldgräber im Oregon der 1850er Jahre auf den Fersen sind. Der Franzose Jacques Audiard („Ein Prophet“) lässt den in Rumänien gedrehten Western so aussehen, als wäre er bloß eine schwarze Komödie, und doch ist er mehr: Audiard fängt die Patina jener Zeit ein, in der Toilettenspülungen und Zahnbürsten zu den exo12

Die hitverdächtige mexikanische KriminalGroteske „Museo“ behandelt einen reichlich absurden Coup, der sich 1985 in Mexiko tatsächlich zugetragen hat. Zwei Amateur-Einbrecher schafften es damals, ins weltberühmte Nationalmuseum für Anthropologie in Mexico City einzudringen und unermesslich wertvolle Kunstschätze – darunter die Totenmaske des Maya-Königs Pakal – zu stehlen. Anschließend versuchten sie, Käufer für ihre Beute zu finden, mussten aber feststellen, dass es für solche Unikate keinen Markt gibt. Also trugen sie die Preziosen schlussendlich wieder ins Museum zurück, wo sich einer der Diebe (gespielt von Gael Garcia Bernal) festnehmen ließ. VIENNALE-TERMINE: 4.11., 18.00 Uhr, Gartenbau, 7.11., 16.00 Uhr, Urania

MANBIKI KAZOGU Koreeda Hirokazu

Der Cannes-Siegerfilm 2018 passt sehr gut in unsere Zeit. „Shoplifters“ ist ein engagierter Film über die Frage, was uns heute Familie bedeutet und bei wem Kinder am besten aufgehoben sind. Regisseur Kore-Eda Hirokazu erzählt von einer auf den ersten Blick ganz normalen Familie der japanischen Unterschicht. Vater und Mutter plus drei Kinder leben bei der Oma in ihrem kleinen Häuschen, das sie eigentlich nur allein bewohnen darf. Den Unterhalt bestreitet die Familie mit Diebstahl, also „Shoplifting“. Aber dann wird eines der Kinder verletzt und es kommt heraus, dass die Erwachsenen sich Kinder, die es anderswo schlecht hatten, geshopliftet (also gestohlen) haben. Das Drama ist gemächlich bis behäbig erzählt. Die Jury für die Goldene Palme hat wieder mal einen Film herausgepickt, der extrem gut gemeint ist. VIENNALE-TERMINE: 3.11., 15.30 Uhr, Gartenbau, 6.11., 18.30 Uhr, Urania

THE MOUNTAIN Rick Alverson

Der Regisseur verortet sein dreistündiges Drama in seinem engsten Lebensumfeld: Frau, Kind, Setting auf einer Rinder-Farm, alles gehört (zu) Reygadas, und genau dort entspinnt er in breiten, oft ruhelosen Bildern das Dilemma einer Ehe, in der versucht wird, eine offene Beziehung zu leben, was aber nicht wirklich funktioniert; schnell ist hier der Ehemann im scheinbaren Nachteil, weil er die Affäre seiner Frau mit einem Pferdeflüsterer nicht ertragen kann. VIENNALE-TERMINE: 30.10., 21.00 Uhr, Urania, 2.11., 12.00 Uhr, Gartenbau

VIENNALE-TERMINE: 3.11., 20.30 Uhr, Stadtkino, 7.11., 13.00 Uhr, Gartenbau

NUESTRO TIEMPO Jacques Audiard

Alonso Ruizpalacios

In die Enge des 4:3-Bildformats steckt Regisseur Rick Alverson seinen Film „The Mountain“, eine Geschichte um einen Lobotomie-Arzt (Jeff Goldblum), der in den 50er Jahren davon überzeugt war, mit tiefen Schnitten ins Gehirn Patienten von Leiden wie Schizophrenie oder einfach nur Trotzigkeit zu heilen. Zwei Stahlnadeln mit scharfer Klinge werden oberhalb der Augäpfel ins Gehirn getrieben, dann werden sie bewegt und herausgezogen - die meisten dieser Patienten waren danach wirklich „geheilt“ - weil sie ob der schweren Gehirnzerstörungen gar nichts mehr tun konnten und Pflegefälle wurden. Ein 20-jähriger, verschlossener Mann wird hier zur rechten Hand des Lobotomie„Spezialisten“ (herrlich stoisch: Jeff Goldblum), dessen Stern aber bald im Sinkflug ist, als neue Psychopharmaka auf den Markt drängen. Ein dunkler Film über den Untergang, und auch als Kommentar zum gegenwärtigen Amerika zu lesen, das wieder in dunklen Zeiten angekommen scheint.

VIENNALE-TERMINE: 6.11., 18.30 Uhr, Metro

THE SISTERS BROTHERS

MUSEO

Carlos Reygadas

CELLULOID FILMMAGAZIN


„KÜNSTLER SIND EGOISTEN“ Jack (Matt Dillon) ist hochintelligent, hat aber auch das unbändige Verlangen, zu morden. Über 12 Jahre hinweg nimmt er in den USA der 1970er Jahre immer wieder anderen Menschen, in erster Linie Frauen, das Leben. Seine Morde bezeichnet er als Kunst. celluloid: Herr von Trier, warum haben Sie sich dafür entschieden, einen Film über einen Serienkiller zu drehen? Lars von Trier: Ich war mir sicher, dass mir viel Originelles zu einem Psychopathen einfallen würde. Ich war zum Beispiel immer schon sehr angetan von Patricia Highsmith und ihren Psychopathen. Es ist doch faszinierend, dass diese Leute fest davon überzeugt sind, mit ihren Plänen durchzukommen, ganz gleich wie lächerlich die bei Licht betrachtet sind. Schon diese Tatsache allein öffnet die Tür höchst amüsante Dialoge. Man könnte in „The House That Jack Built“ die Botschaft hineindeuten, dass jeder Künstler auf gewisse Weise ein Mörder ist... Würde ich so nicht unterschreiben. Aber was

mein Film sicherlich andeutet, ist dass Kunst verletzen kann. Künstler zu sein ist deswegen immer eine egoistische Sache. Bleiben wir noch bei Ihrem Serienkiller, der an einer Zwangsneurose leidet. Wie sehr haben Sie sich mit dem Thema beschäftigt? Meine Recherchen bei Zwangsneurosen reichen über 30 Jahre zurück, schließlich leide ich selbst an einer. Mir war einfach danach, die irgendwie lustige Seite daran zu zeigen. Aber glauben Sie mir, Zwangsneurosen bringen auch sehr viel heftigere Situationen mit sich, die ich im Film weggelassen habe. Andererseits schrecken Sie hier vor nichts zurück, was bei der Weltpremiere in Cannes dazu führte, dass viele Zuschauer empört den Saal verließen... Ich habe mir nicht bewusst vorgenommen zu schockieren. Aber ich wollte in jeder Hinsicht ans Limit gehen, und dazu gehört nun einmal bei einer solchen Geschichte auch explizite Gewalt. Hätte ich die nicht gezeigt, wäre das feige gewesen. Ich kann nicht behaupten, dass mir diese Brutalität dezidiert Spaß gemacht hätte. Doch ich bin der Überzeugung, dass man sich ihr im Falle dieser Geschichte

CINEMA FOREVER!

Foto: Katharina Sartena

„The House That Jack Built“ ist Lars von Triers Film über einen Serienkiller. Es geht darin auch um seine Angstattacken.

stellen muss. Oder eben das Kino verlassen. Sie sagten, dass die Arbeit an „The House That Jack Built“ für Sie psychisch wie physisch sehr schwierig war. Hatte das mit der Gewalt zu tun? Kein bisschen. Das hatte sowieso mit dem Film nichts zu tun, sondern lag nur an meinen Angstattacken. Ich werde Ihnen all die unschönen Details meiner Symptome ersparen. Aber kurz gesagt: mir ging es damals nicht gut, was die Arbeit sehr erschwert. Denn die größte Angst von allen ist die, bei einem Dreh nicht in der Lage zu sein, wirklich präsent zu sein. In jedem Sinne des Wortes. PATRICK HEIDMANN VIENNALE-TERMINE: 30.10., 23.00 Uhr, Gartenbau, 3.11., 21.00 Uhr, Urania

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DOKU-TIPPS

MONROVIA, INDIANA Der Mittlere Westen der USA: Monrovia ist eine eine kleine Gemeinde mit 1.400 Einwohnern. Das Leben ist von der Landwirtschaft geprägt, die schwindende Community ist eng vernetzt und teilt dieselben Werte und Rituale. Neun Wochen lang hielt sich Frederick Wiseman in Monrovia auf und dokumentierte mit großer Offenheit und Sensibilität den Alltag der Bewohner. Wiseman räumt mit so manchem Klischee auf, das es über die Provinz gibt und fühlt den sozial- und gesellschaftspolitischen Puls der Bevölkerung. VIENNALE-TERMINE: 30.10., 12.30 Uhr, Stadtkino, 6.11., 21.00 Uhr, Filmmuseum

LE LIVRE D‘IMAGE Jean-Luc Godard

„Le Livre d’Image“, von üblichen Erzählformen des Kinos weit entfernt, ist eine Collage von Zitaten aus Filmen, Nachrichten und anderen Bilderschnipseln, die in den letzten Jahrzehnten entstanden. Mit 87 ist Godard immer noch eine Klasse für sich, auf die man sich einlassen muss. Seine akribische Montageleistung verbindet zahllose Clips, zu denen (Stumm-)Filmfetzen genauso gehören wie ISIS-Hinrichtungs-Videos. Godard fordert seine Zuschauer heraus, wie schon lange nicht. VIENNALE-TERMINE: 1.11., 15.30 Uhr, Gartenbau

Foto: Viennale

Frederick Wiseman

„Le livre d‘image“ von Jean-Luc Godard

KINO WIEN FILM Paul Rosdy

Paul Rosdy nimmt seine Zuschauer mit auf eine Reise durch Wiens Kinos und Filmtheater von 1896 bis heute. Dabei geht der Regisseur auf Tuchfühlung mit Kinobetreibern, Projektionisten, Techniker, dem Publikum und Historikern. Das alles unter Zuhilfenahme unzähliger Filmausschnitte und historischer Dokumente, Fotos, Texte, Filme. Dabei spannt sich ein faszinierender Bogen vom ersten Lichtspieltheater auf der Kärtner Straße bis zu den modernen Multiplexen von heute. VIENNALE-TERMINE: 5.11., 18 Uhr, Stadtkino, 7.11., 11.00 Uhr, Metro

MEETING GORBACHEV Werner Herzog, André Singer

Es ist eine große Bühne für einen der einfluß-

reichsten Politiker des 20. Jahrhunderts: „Meeting Gorbachev“ besteht aus langen Gesprächen mit dem Politiker Michail Gorbatschow, in denen es um die Wiedervereinigung Deutschlands, um politische Fehler und auch um das derzeit angespannte Verhältnis Russlands zu den USA geht. VIENNALE-TERMINE: 30.10., 18 Uhr, Gartenbau, 3.11., 16.00 Uhr, Urania

UTE BOCK SUPERSTAR Houchang Allahyari

Ute Bock ist tot. Ihre gesellschaftliche Wirkung lebt weiter. Auch nach ihrem Ableben wird sie als Symbol der Menschlichkeit wie ein Popstar gefeiert. Davon konnte sich jeder am Lichtermeer ein Bild machen. Der Film zeigt neben vielen Statements bekannter Persönlichkeiten und von Jugendlichen auch die ganz privaten, persönlichen Seiten ihres Lebens auf. VIENNALE-TERMINE: 1.11., 17.30 Uhr, Stadtkino, 8.11., 18.00 Uhr, Metro

SONDERREIHEN & RETROSPEKTIVE MINERVINI / ACHA

RETROSPEKTIVE IM FILMMUSEUM:

Zwei spezielle Filmreihen sind den Regisseuren ROBERTO MINERVINI (Italien) und Jorge Acha (Argentinien) gewidmet. Minervini, Jahrgang 1970, gilt als Pionier und auch als Außenseiter der italienischen Filmszene, der seine Produktionen außerhalb des institutionellen FörderungsSystems finanziert und der häufig in den USA dreht (seine neue Doku „What You Gonna Do When The World’s On Fire“, die bei der Viennale gezeigt wird, tritt zuvor in Venedig im Wettbewerb um den Goldenen Löwen an). Der Maler, Autor und Filmemacher JORGE ACHA (1946 – 1996) drehte insgesamt nur drei Langfilme, die unter dem Eindruck der argentinischen Militärdiktatur entstanden. Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi verzeiht es allen Cineasten, wenn sie den Namen Jorge Acha noch nie gehört haben: „Selbst viele Kritiker aus Argentinien kennen seine Arbeiten nicht.“

Foto: Filmmuseum

THE B-FILM

Die Retrospektive The B-Film unternimmt eine Neueinschätzung der Geschichte und des Erbes jenes einzigartigen Low-Budget-Produktionsmodus, der in den 1930er Jahren im Studiosystem Hollywoods erfunden wurde und dessen Ergebnis als Inspirationsquelle für die unterschiedlichsten Regisseur/innen weiterwirkt – von Jean-Luc Godard und Seijun Suzuki zu Hartmut Bitomsky und Kathryn Bigelow. Wie die Schau verdeutlicht, war der B-Film eine historisch spezifische Form des Kinos, dessen eigentliche Blütezeit von der Mitte der 1930er bis zum Urteil im sogenannten Paramount-Prozess 1948 (und der Zerschlagung des Oligopols der großen Studios) reicht. Ermöglicht wurde sie durch die Etablierung der Vorführpraxis des double features (aus A- und B-Film) sowie der Arbeit talentierter Künstlerinnen und Künstler in den B-Abteilungen der Majors. INFOS: WWW.FILMMUSEUM.AT 14

CELLULOID FILMMAGAZIN

FILMARCHIV AUSTRIA

Das Filmarchiv Austria im Wiener Metro Kinokulturhaus stellt seine Viennale-Retrospektive dieses Jahr unter das Motto „Surviving Images“. In zwölf Stummfilm-Programmen, die mit Live-Musik begleitet werden, taucht man ein in jüdische Lebenswelten, die nur in den Filmbildern überlebt haben. INFOS: WWW.FILMARCHIV.AT


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