celluloid VIENNALE Sonderheft 2021

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NR. 5A/2021 SONDERAUSGABE ZUR VIENNALE 2021

CELLULOID VIENNALE

PENELOPE CRUZ IN „COMPETENCIA OFICIAL“



celluloid

FILMMAGAZIN AUSGABE 5A/2021 22. JAHRGANG OKTOBER 2021

VIENNALE 21. BIS 31.10.2021

INFOS UND TICKETS: WWW.VIENNALE.AT 01/526 594 769 VORVERKAUF AB 16.10.2021

celluloid Chefredakteur Matthias Greuling celluloid@gmx.at

impressum: celluloid

Liebe LeserInnen, wir legen Ihnen heuer ein ganz neues Viennale-Sonderheft vor, das die Highlights sehr kompakt und noch fokussierter für Sie zusammenfasst. Es handelt sich dabei um unsere filmischen Favoriten dieser Viennale ‑ der Anspruch auf Vollständigkeit ist bei dieser reichen Filmauswahl allerdings nicht gegeben. Wir wünschen eine gute und vor allem sichere Zeit in Ihren Viennale-Kinos!

FILMMAGAZIN Nr. 5a/2021. Oktober 2021. Sonderausgabe zur Viennale 2021. Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Werbeagentur Matthias Greuling für den Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films. Chefredakteur: Matthias Greuling. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Gunther Baumann, Paul Heger, Katharina Sartena. Layout / Repro: Werbeagentur Matthias Greuling. Printed in Austria. Fotos, sofern nicht anders angegeben: Viennale. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder. Anschrift: celluloid Filmmagazin, Carl Zwilling-Gasse 32/19, A-2340 Mödling, Tel: +43/664/462 54 44, Fax: +43/2236/23 240, e-mail: celluloid@ gmx.at, Internet: www.celluloid-filmmagazin.com Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2021 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.


OKTOBER 2021. V21. EVA SANGIORGI, VIENNALE-DIREKTORIN

D

as Jahr 2021 ist unter anderem ein ganz neues Jahr für die Filmkultur. In der 59. Ausgabe der Viennale, der es trotz aller Schwierigkeiten gelungen ist, die Kontinuität der Veranstaltung zu bewahren, feiern wir mit viel Enthusiasmus und Zuversicht die Begegnung im Kino. Die Programme und Sicherheitsprotokolle stehen, die Projektoren sind geölt, die Hände desinfiziert und unsere Kinosäle sind bereit, das Publikum und in diesem Jahr auch viele Gäste zu empfangen - darauf können Sie zählen! Unter den fünf prächtigen historischen Spielstätten öffnet auch das Gartenbaukino wieder seine Pforten, komplett renoviert und in Erwartung der vielen Wiener und internationalen Kinoliebhaber*innen, die dieser Initiative in den Monaten der Vorbereitung applaudiert haben. Im Jahr 2021 feiern wir den 100. Geburtstag von Amos Vogel, Wiens berühmtestem Cineasten, der die Liebe zum Kino auf die andere Seite des Atlantiks exportierte. In Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum und unter Mitwirkung von Kurator*innen aus verschiedenen Ländern haben wir eine Auswahl zusammengestellt, die Vogels kritischen Geist und seine subversiven Ideen in einem zeitgenössischen Programm widerspiegelt. Gut 240 Filme stehen auf dem Programm, wobei der Kurzfilm als Autor*innenfilmformat für aufstrebende, aber auch etablierte Regisseur*innen einen großen Schwerpunkt bildet. Zusätzlich

zu den Vorführungen, die sich über elf intensive Tage erstrecken, gibt es in allen Kinos ausnehmend viele Begegnungen mit den Filmemacher*innen, die das Programm extrem bereichern und beleben werden. Terence Davies, der kürzlich auf dem Festival von San Sebastián mit einem Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde, wird in einer speziellen Meisterklasse, die wir gemeinsam mit dem Drehbuchforum veranstalten, seinen Schreibprozess erläutern. Bei dieser Gelegenheit wird auch Textur#3 vorgestellt, ein Büchlein mit einem Interview, Essays und Gedichten, das wir ihm gewidmet haben. Es wird auch Live-Musik geben: im großartigen Programm, das vom Filmarchiv Austria kuratiert wird und Henrik Galeen gewidmet ist, und im Fokus auf einen Pionier des Kinos des Wunderbaren, Segundo de Chomón. Darüber hinaus haben wir runde Tische geplant für Fachleute oder für diejenigen, die mehr über die Welt der Festivals wissen wollen - in Anwesenheit von Direktoren großer Festivals wie der Berlinale und Locarno. Es wird also ein genussvoller Oktober für alle, die das Privileg haben, in Wien zu leben. Zu den vielen Vorzügen dieser Stadt gehört, dass sie das kulturelle Angebot lebendig hält und es den Menschen ermöglicht, die Stadt als gemeinsamen Raum zu erleben. Und hier, im Oktober, die Viennale. Um uns an den Film als subversive Kunst zu erinnern, weil wir ihn heute mehr denn je brauchen. Eva Sangiorgi


Foto: Katharina Sartena


VIENNALE-ERÖFFNUNGSFILM


L‘EVENEMENT AUDREY DIWAN

„L’evenement“ erzählt von einem gesellschaftspolitischen Thema, das vielen Frauen seit Jahrzehnten unter den Nägeln brennt. Regisseurin Diwan berichtet von einer Frau im Frankreich der 1960er Jahre, die ihr Kind abtreiben lassen will, zu einer Zeit, als dies dort noch illegal war. Die Verfilmung des autobiografischen Bestsellers „Das Ereignis“ von Annie Ernaux feierte seine Premiere kurz, nachdem am 1. September in Texas die derzeit wohl schärfsten Abtreibungsgesetze der USA in Kraft getreten sind. Eine weltweite Debatte um das Recht auf Abtreibung ist entbrannt, weil in vielen Ländern die Gesetze wieder verschärft werden. Gerade deshalb ist „L’evenement“ ein ziemlich schmerzhafter Film, der dem Leiden einer Studentin zusehen muss, die wie eigentlich alle jungen Frauen im Frankreich der 60er wissen: Wer schwanger wird, für den gibt es keine anderen Lebensmodelle mehr außer Hausfrau und Mutter. Audrey Diwan fängt dies - auch dank ihrer großartigen Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei - in schockierendbeklemmenden Bildern ein. Der Film wurde in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.


ANNETTE LEOS CARAX

Der französische Regisseur Leos Carax zählt seit 30 Jahren zur internationalen Elite der Filmkünstler. Mit der dramatischen Romanze „Die Liebenden von Pont-Neuf “ gelang ihm 1991 ein Meisterwerk. Seither hat der eigenwillige Filmemacher nur drei neue Spielfilme gedreht. Sein neues Werk „Annette“ wurde im Juli zur Eröffnung des Festivals Cannes ausgewählt und Carax erhielt den Preis für die beste Regie. „Annette“ ist Carax‘ erster englischsprachiger Film und obendrein ein Musical mit einem Soundtrack der Sparks. Adam Driver (als Comedian) und Marion Cotillard (als Opernsängerin) spielen ein Promi-Paar, das durch die Geburt einer Tochter aus der Lebensbahn gerissen wird. Denn das Mädchen entpuppt sich als höchst sonderbares Geschöpf.



BENEDETTA PAUL VERHOEVEN

Paul Verhoevens NonnenLesben-Sexfilm „Benedetta“ hatte in Cannes Premiere. Nun ja, es ist kein echter Sexfilm, aber es gibt darin jede Menge Sex, Blut, Schlangenbisse und Jesus auf einem Schimmel, der die Schlangen mit dem Schwert vom Luxuskörper der nackten Nonne Benedetta (Virginie Efira) schlägt. Die träumt das freilich, aber wenn erst einmal die Saat im Kopf gesät ist, folgen bald Taten. Und weil ein dahergelaufenes, missbrauchtes Teenager-Mädel gerade recht kommt, um sich in sie zu verlieben und sich nach ihr zu verzehren, geht die Geschichte eben diesen Weg. Im Orden ist die Hölle los. Bald ist auch eine kleine, dildoförmige Marienstatue genau das: Ein Dildo. Verhoeven hat auch mit 82 noch viel Lust an der Lust.


VORTEX GASPAR NOÉ

Es gibt Stimmen, die vergleichen Gaspar Noés neuen Film „Vortex“ mit Michael Hanekes Oscar-gekröntem Drama „Amour“. Hier wie dort geht es um ein alterndes Paar, dem nicht mehr viel Lebenszeit übrigbleibt, während der Tod langsam, aber unausweichlich näherkommt. Storys wie diese führen oft zu sehr sehenswerten Resultaten. Das gilt auch für „Vortex“ – das verblüffende Element liegt in diesem Fall in der Person des Regisseurs. Denn der mittlerweile 57-jährige Franko-Argentinier Gaspar Noé hat sich mit Filmen voller Sex, Drogen und Gewalt („Irréversible“, „Love“, „Climax“) einen Namen als rabiate Skandalnudel des Arthaus-Kinos gemacht. Angesichts des archaischen Themas von Alter, Demenz und Tod agiert Noé allerdings viel zurückhaltender als von ihm gewohnt und er begleitet die letzten Wege seiner Protagonisten mit melancholischer Sympathie.


BERGMAN ISLAND MIA HANSEN-LOVE

Mia Hansen-Love zeigt in „Bergman Island“ zwei liierte Filmemacher (Tim Roth als Regisseur, Vicky Krieps als Drehbuchautorin), die Inspiration in Ingmar Bergmans einstiger Lebensumgebung suchen - und finden. Das alles mit viel Dialog und wachsender Beziehungs-Skepsis, vor der Naturkulisse von Farö, und mit einem Film-im-Film noch ganz chic dramaturgisch aufpoliert. Der Film erweist seinem großen Vorbild Bergman alle Ehre.


ZU SEHEN AUF WWW.VODCLUB.ONLINE


BLUTSAUGER JULIAN RADLMAIER

Wer gern nach neuen Filmgenres Ausschau hält, sollte den Besuch von „Blutsauger“ in Erwägung ziehen. Das Polit-Lustspiel aus Deutschland firmiert nämlich als „marxistische Vampirkomödie“ und ist vielleicht die erste ihrer Art. Der Plot: Ein russischer Arbeiter wird 1928 in einem neuen Film von Sergei Eisenstein in der Rolle des Revolutionärs Leo Trotzki besetzt. Doch weil der echte Trotzki derweil die Gunst von Ober-Sowjet Stalin verliert, wird seine Figur aus dem Film wieder entfernt. Der verhinderte Filmstar hat aber quasi Blut geleckt, was eine Kinokarriere betrifft. Er macht sich auf in Richtung Hollywood, gerät unterwegs jedoch in die Fänge einer schönen Vampirin. „Blutsauger“ hatte bei der Berlinale 2021 Premiere, wo Autor/Regisseur Julian Radlmaier schon 2017 für seinen Erstling „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ gefeiert wurde.


IL BUCO

MICHELANGELO FRAMMARTINO „Il buco“ des Italieners Michelangelo Frammartino („Le quattro volte“) geht in eine Abgeschiedenheit hinein, hoch oben in Kalabrien, knapp an der Baumgrenze, in einem uralten Dorf, wo die Kühe noch mit den Schreilauten der alten Hirten hinauf und herab getrieben werden. Das Leben und die Sonne bildet sich ab im Gesicht des Hirten, das wie die Landkarte der hiesigen Umgebung die Furchen und Spalten der Berge wiedergibt. „Il buco“ ist lange Zeit ein sich still und wortlos entfaltender Atem wie aus einer anderen Zeit. Allein: Es gibt auch in der Abgeschiedenheit sensationelle Entwicklungen; nämlich, als ein großes Loch im Boden gefunden wird, hoch droben am Berg. Man entdeckt schrittweise ein gigantisches unterirdisches Höhlensystem, das die Geologen mit großem Interesse betrachten, aber die ganze Aufregung macht den Film trotzdem niemals schnell oder hektisch. Mit aller gebotenen Ruhe wird hier eine Welt erzählt, die keine Entschleunigung braucht.


CARD COUNTER PAUL SCHRADER

Altmeister Paul Schrader ist mit „The Card Counter“ ein faszinierend-spannender Thriller gelungen, in dem Oscar Isaac einen ehemaligen Soldaten spielt, der nunmehr als Spieler von Casino zu Casino zieht und dort zwischen Poker und Black Jack sein kalkuliertes Glück versucht. Zusammen mit einem jungen Compagnon will er die World Series of Poker in Las Vegas gewinnen. „The Card Counter“ ist ein Höhepunkt in der inzwischen 13 Filme umfassenden Filmografie Schraders, der 1976 mit dem Drehbuch zu „Taxi Driver“ bekannt wurde.


COMPETENCIA OFICIAL GASTON DUPRAT UND MARIANO COHN

Der Film erzählt in Form einer Satire, wie schnell die Welt an einem Filmset aus den Fugen geraten kann. Ein milliardenschwerer Unternehmer will sich verewigen und produziert einen Film. Er engagiert die exzentrische Regisseurin Lola Cuevas (Penelope Cruz), die wiederum ein Drama mit zwei Schauspielgrößen realisieren soll: Es spielen Félix Rivero (Antonio Banderas) und Iván Torres (Oscar Martinez). Der eine hält vom anderen nichts, und die ersten Leseproben werden zum Fiasko. Doch für die Filmkunst gilt es, sich zusammenzuraufen, und die Prüfungen, die Lola ihrem Cast auferlegt, sind zum Schreien komisch. Die Filmbranche seziert sich selbst, die Eitelkeiten der Beteiligten werden Stück für Stück zerpflückt, der Sarkasmus quillt aus jeder Ritze dieses Films, der schließlich nach einer quälenden Produktionshistorie - doch noch im offiziellen Wettbewerb eines A-Festivals landet. Es ist ein Spiegel für die Filmszene, der ganz schön unschön sein darf; er ist absurd, urkomisch, kokett, voller Ironie und rasend launiger Einfälle.


FRANCE

BRUNO DUMONT Der französische Film „France“ ist, obwohl der Titel anderes vermuten ließe, kein Film über Frankreich. Autor/Regisseur Bruno Dumont realisierte eine Tragikomödie über eine erfolgreiche Fernsehjournalistin und Kriegsreporterin namens France de Meurs (gespielt von „Bond“-Star Léa Seydoux). Ihr Stern beginnt zu sinken, als sie in einen Verkehrsunfall mit einem Motorradfahrer verwickelt wird und anschließend noch weitere Schicksalsschläge ertragen muss. Die Alpha-Frau schrumpft zur Depressions-Patientin – bis sie den Entschluss trifft, ihr Leben auf ein neues Fundament zu stellen. Der Regie-Provokateur Bruno Dumont, der sich mit vor Gewalt triefenden Dramen wie „L’Humanité“ nicht nur Freunde machte, versuchte sich diesmal an einer Farce, was ihm eine Einladung in den Wettbewerb von Cannes 2021 einbrachte. Bei der Preisverleihung ging „France“ aber leer aus.




GROSSE FREIHEIT SEBASTIAN MEISE

Es ist die Geschichte eines Paragrafen, der Homosexualität unter Strafe stellte. Wer nach §175 verurteilt wurde, der musste früher mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus rechnen, und Sebastian Meise hat mit „Große Freiheit“ darüber einen Film gedreht. Mit viel Feingefühl für die Betroffenen und mit zwei hervorragenden Hauptdarstellern: Georg Friedrich und Franz Rogowski. Wer öffentlich der gleichgeschlechtlichen Unzucht frönte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aber selbst bis in die 1970er Jahre hart bestraft. „Das Gesetz selbst ist erst 1994 de facto abgeschafft worden“, sagt Regisseur Meise, der mit seiner Produktionsfirma Freibeuterfilm den Stoff fürs Kino umgesetzt hat und in Cannes in die Reihe „Un certain regard“ eingeladen wurde. „Die Premiere war sehr beeindruckend“, erzählt Meise im Gespräch mit celluloid in Cannes. „Für mich ist es das allererste Festival dieser Größenordnung“, so der 1976 in Kitzbühel geborene Filmemacher, für den „Große Freiheit“ der zweite Langfilm nach dem Pädophiliedrama „Stillleben“ (2011) ist. In Cannes wurde der Film bei der Uraufführung vom Publikum umjubelt. Hans Hoffmann (Rogowski) landet gleich nach dem KZ der Nazis, wo er wegen Homosexualität inhaftiert war, direkt weiter im Gefängnis, seine Befreiung ist keine. Im Knast freundet er sich mit seinem Zellennachbarn Viktor (Friedrich) an, beide gehen durch emotionale Wirren und werden einander hier noch öfter treffen, weil Hoffmann wieder und wieder verhaftet wird. Meise filmt dieses stille, einfache Drama mit großer Eleganz und Schlichtheit, stilsicher und authentisch. Das hat vor allem mit dem Schauspielergespann Rogowski und Friedrich zu tun. „Wir sind zwei sehr unterschiedlich arbeitende Schauspieler, aber die Chemie hat wirklich gestimmt zwischen uns“, sagt Rogowski. „Ein solcher Film steht und fällt mit den Hauptdarstellern“, findet Sebastian Meise. „Ich bin wirklich glücklich über diese gelungene Konstellation“.


HYTTI NRO 6 JUHO KUOSMANEN

Ein Road Movie auf Schienen, das im Sommer 2021 beim Festival Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Der finnische Autor/Regisseur Juho Kuosmanen erzählt in der Verfilmung eines Romans von Rosa Liksom die Geschichte der Studentin Laura (Seidi Haarla), einer Finnin in Russland, die sich in Moskau von ihrer Lebensgefährtin verabschiedet: Sie setzt sich allein in einen Zug, der das nordrussische Murmansk ansteuert. Unterwegs muss sie ihr Abteil im Nachtexpress mit dem russischen Arbeiter Vadim (Yuri Borisov) teilen; einem rauen Burschen, der Knoblauch und Wodka als Reiseverpflegung liebt. Wie es in der Eisenbahn immer wieder mal passiert, kommen die beiden Fremden einander während der Fahrt näher. Und sie stellen sogar die eine oder andere Gemeinsamkeit fest.


MEMORIA

APICHATPONG WEERASETHAKUL Apichatpong Weerasethakul, geboren 1970 in Bangkok, ist einer jener Filmkünstler, die im Arthaus-Kino einen hohen Ruf genießen, beim großen Publikum jedoch weitgehend unbekannt sind. 2006 debütierte er mit „Syndrom Of A Century“ im Wettbewerb des Festivals Venedig. 2010 gewann er mit der Seelenwanderungs-Phantasie „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ die Goldene Palme von Cannes. Auch sein aktueller Film „Memoria“ wurde in Cannes ausgezeichnet (mit dem Preis der Jury). Weerasethakul drehte erstmals außerhalb von Thailand. Oscar-Preisträgerin Tilda Swinton spielt in dem mystisch angehauchten Drama eine Frau namens Jessica, die unter Schlafproblemen leidet. Auf einer Reise nach Kolumbien lernt sie zwei Menschen kennen, die sehr wichtig für sie werden: Eine Archäologin und einen Fischer. Jessica spürt, dass ihre Gedanken wieder klarer werden.


MONEYBOYSA C.B. YI

Fei ist ein Junge vom Land. Irgendwann hat es ihn in die Stadt gezogen, oder die finanzielle Not ihn dazu gedrängt. Das gute Geld, das er da am Strich verdient, nimmt seine Familie gern, doch sein Platz im Dorf und in der Familie ist ihm mit diesem Schritt abhanden gekommen. In seinem Spielfilmdebüt „Moneyboys“ erzählt der in China geborene und in Österreich lebende RegisseurC.B. Yi nicht nur von der Verlorenheit eines jungen Mannes, sondern einer ganzen Generation, die zwischen dem wirtschaftlichen und moralischen Druck der Gesellschaft nur in einer Sackgasse landen kann.


LES OLYMPIADES JACQUES AUDIARD

„Les Olympiades“ ist der Titel eines Films, der in der gleichnamigen Hochhaussiedlung in Paris spielt. Regisseur Jacques Audiard, bekannt für raue und mitreißende Kinodramen wie „Ein Prophet“ oder „Der Geschmack von Rost und Knochen“, wählte Geschichten des New Yorker Cartoonisten Adrian Tomine als Vorlage: Aus GraphicNovel-Figuren wurde ein Spielfilm mit realen Schauspielern; gedreht in Schwarz-Weiß. Audiard zeigt, dass es keine überlebensgroßen Konflikte braucht, um einen großen Film zu machen. „Les Olympiades“ erzählt von Dramen des Alltags – und von einer Romanze zwischen zwei Frauen (Noémie Merlant und Lucie Zhang). Kritiker Thomas Schultze zeigt sich in „Blickpunkt:Film“ beeindruckt von einem „Liebesfilm, als hätte die Nouvelle Vague nicht in den späten 1950ern, sondern 60 Jahre später begonnen“. Auf Deutsch erhielt der Film übrigens den Titel „Wo in Paris die Sonne aufgeht“.


PETITE MAMAN CÉLINE SCIAMMA

In „Petite Maman“ unternimmt Regisseurin Céline Sciamma eine leise, dadurch umso anziehendere Rückschau auf die (eigene) Kindheit. Die achtjährige Nelly gerät nach dem Tod ihrer Großmutter in deren verlassenem Haus im Wald in eine Zeitschleife, die sie 25 Jahre in die Vergangenheit versetzt. Dort trifft sie auf ihre damals gleichaltrige Mutter Marion, der eine Operation bevorsteht; kurze Zeit bleibt den Mädchen, sich zaghaft anzunähern und das Baumhaus zu vollenden, das Marion begonnen hat.


PETITE SOLANGE AXELLE ROPERT

Regisseurin Axelle Ropert folgt den Ereignissen rund um die Trennung eines Paares, dessen Tochter darunter massiv leidet. Solange kann und will sich nicht damit abfinden und wird völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ihre Vorstellungen von Liebe, Emotionen und Zweisamkeit verändert dieses Ereignis auf lange Sicht erheblich. Der Film hatte seine Premiere im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden in Locarno.


THE POWER OF THE DOG JANE CAMPION

In Jane Campions „The Power of the Dog“ gerät Kirsten Dunst zwischen zwei Brüder: Als alkoholkranke Witwe Rose ehelicht sie den Farmer George Burbank, dessen Bruder Phil (Benedict Cumberbatch) alles andere als einverstanden mit der Ehe ist. Phils Rebellion gegen die Ehefrau und seine Schikanen gegen deren Sohn bringen einen Bruderkrieg zu Wege. Campion („Das Piano“) siedelt ihr starkes Drama im ländlichen Montana des Jahres 1925 an. Für den Film erhielt Campion in Venedig den Silbernen Löwen für die beste Regie.


A B O AKTION celluloid für 1 Jahr (6 Ausgaben) um nur 19,90 (statt 30,00) Bestellen unter www.celluloid-filmmagazin.com oder 0664-462 54 44 Preis gültig innerhalb Österreichs


RED ROCKET SEAN BAKER

In Sean Bakers schrilles PornoMärchen „Red Rocket“, will sich ein Ex-Pornostar mithilfe einer 17-jährigen Donutverkäuferin namens Strawberry zurück ins Business bringen. Freches Kino, das in Pop und Porno wildert, und seine Geschichte vom nach Texas heimkehrenden Pornostar aus L.A. mit viel Leidenschaft und ausgesprochen scharf gezeichneten Charakteren vorträgt. Überdies ist „Red Rocket“ eines der treffendsten Amerika-Porträts seit vielen Jahren.


SPENCER PABLO LARRAIN

Lady Diana, oder besser: jene Version von Diana, die der Chilene Pablo Larrain in „Spencer“ zeichnet, ist Ausdruck einer „Fabel über eine wahre Geschichte“, wie Larrain im Vorspann anmerkt. Kein Biopic im klassischen Sinn, sondern ein Weihnachtsfest der Royals in den frühen 90er Jahren, bei dem Diana Spencer (Kristen Stewart) so gar nicht dem Protokoll entsprechen will, das man ihr aufgezwungen hat, im Gegenteil: Sie sucht jede Gelegenheit, aus der Enge des Palastlebens auszubrechen, dabei stellt man ihr sogar Personal zur Seite, das sie rund um die Uhr und sogar beim Toilettengang bewachen soll. Ein famoses Porträt einer gefangenen Frau.


TOUT S‘EST BIEN PASSÉ FRANÇOIS OZON

Regisseur Ozon betrachtet das ernste Thema Sterbehilfe mit einer Portion Humor, die er vor allem seinem Hauptdarsteller André Dussollier einimpft. Dessen Darstellung eines Familienvaters mit Hang zum Cholerischen ist viel Witz eingeschrieben, weil er nach einem schweren Schlaganfall mit zunehmender Hilflosigkeit sein Streben nach dem Sterben vorantreibt, da ihm, dem zeitlebens patriarchalisch agierenden Kunstsammler, nichts anderes mehr bleibt als der Galgenhumor. Eine Reise in die Schweiz soll’s richten, Tochter Sophie Marceau soll alles organisieren. Ob das gut geht?


Foto: Katharina Sartena


ZEROES AND ONES PAUL VERHOEVEN

Rom ist seit vielen Jahren der Wohnort des New Yorker Regisseurs Abel Ferrara („Bad Lieutenant“) – und in Rom hat er auch seinen neuen Film gedreht, „Zeros And Ones“ (Weltpremiere im August 2021 beim Festival Locarno). Ferrara schuf einen apokalyptischen Thriller, der in einer nahen Zukunft spielt. Zum Zeitpunkt der Story herrscht eine Pandemie; Rom wirkt weitgehend menschenleer. Militärstreifen sind unterwegs – und auch der US-Elitesoldat JJ (Ethan Hawke) zieht durch die Stadt, auf der Suche nach potenziellen Terroristen. Die Thriller-Handlung wird immer wieder überlagert durch das Thema der Pandemie. Diese wird im Film nicht mit Corona gleichgesetzt, doch Ferrara nutzte die Zeit des realen Lockdowns für seine Fiktion. Die eindrucksvollen Aufnahmen des scheinbar entvölkerten Rom entstanden mit Drohnen-Kameras während der Ausgangssperre.


COW

ANDREA ARNOLD In dem Dokumentarfilm „Cow“ betrachtet Arnold das Leben von Kühen in allen Facetten: Von der Geburt bis zur Trennung von der Mutter hin zum Nutztier der modernen Landwirtschaft. „Ich hatte immer schon ein sehr spezielles Verhältnis zur Natur, schon als kleines Kind“, sagt Andrea Arnold. „Ich habe die meiste Zeit im Freien verbracht, und neben unserem Haus war ein Feld, auf dem die Kühe grasten. Als Erwachsene hatte ich den Bezug dazu ein wenig verloren, weshalb ich über diesen Film dahin zurückfinden wollte“.


HALLELUJAH:

LEONARD COHEN, A JOURNEY, A SONG DAYNA GOLDFINE

Dayna Goldfine hat eine spezielle Vorliebe für Musik, und das kommt einem musik-affinen Filmfestival wie der Viennale durchaus zugute. Die US-Produzentin und Regisseurin hat sich für ihre Doku „Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song“ tief in die Materie eingearbeitet, um den legendären, 2016 verstorbenen Sänger und Songwriter zu porträtieren. Herausgekommen ist ein einerseits intimes, andererseits allumfassendes Porträt, das heuer in Venedig abseits des Wettbewerbs uraufgeführt wurde. „Leonard Cohen war Poet und Musiker zugleich, beides mit vollem Einsatz“, findet Goldfine im Gespräch mit celluloid in Venedig. „Ich hatte das Glück, ihn zweimal live auf der Bühne erleben zu dürfen, das war 2010 und 2013. Seine Konzerte haben mich tief berührt, und dabei vor allem seine jeweilige Performance von ‚Hallelujah‘“, so Goldfine. Für die Regisseurin ist Leonard Cohens vielleicht berühmtester Song auch zugleich eine Art Essenz seines künstlerischen Schaffens, weshalb sie von ihm ausgehend nun die Weltkarriere des Musikers in ihrem Film aufrollt. „‚Hallelujah‘ war der logische Ausgangspunkt für mich, einmal wegen meiner Liebe zu Cohens Musik und außerdem wegen

seiner unglaublichen Komplexität“, sagt Goldfine. Sieben Jahre lang hat die Filmemacherin an „Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song“ gearbeitet, auch, weil sich der Schnitt aufwändig gestaltete. Unzähliges Archivmaterial wurde gesichtet, und auch Cohens eigene Gedanken liegen als Voice Over über dem Film. „Wir entdeckten das Buch „The Holy or the Broken“ von Alan Light, in dem die Reise von ‚Hallelujah‘ vom abgelehnten Song bei den Plattenfirmen zur vielfach geliebten Hymne detailliert beschrieben wurde“, sagt Goldfine, die noch vor Cohens Tod mit dem Künstler Kontakt aufgenommen und ihm die Idee zur Doku unterbreitet hatte. „Er war von unserem Ansatz überzeugt und wollte mitmachen. Weil er persönlich so sehr hinter dem Projekt stand, war es uns möglich, den Film nach seinem Tod so zu vollenden, wie wir es uns vorgestellt hatten“. Am Ende durchforstete Goldfine gut 100 Stunden Archivmaterial und zusätzlich 70 Stunden an Audio-Aufnahmen, ehe es mit dem ganzen Konvolut in den Schneideraum ging. „Wir mussten schweren Herzens viele Szenen aus dem Film wieder entfernen, weil er sonst zu lange geworden wäre“, sagt Goldfine. „Aber das ist oft der beste Beweis, dass man auf dem richtigen Weg ist: Wenn man geliebte Szenen wegschmeißen muss und die Hommage am Ende dennoch haften bleibt“. Cohen-Fans werden die Doku jedenfalls lieben.



THE SPARKS BROTHERS EDGAR WRIGHT

„This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us“ oder „Amateur Hour“: Das sind zwei der großen Hits der kalifornischen Brüder Ron und Russell Mael, die ab 1972 unter dem Bandnamen Sparks (manchmal auch Sparx) die Art Pop- und Glam Rock-Szene aufmischten. Mittlerweile 76 bzw, 73 Jahre alt, sind die Brüder bis heute aktiv, was sich auf der Viennale zum Beispiel beim Musical „Annette“ von Leos Carax bemerkbar macht, das mit einem Sparks-Soundtrack glitzert. Der britische Regisseur Edgar Wright („Baby Driver“) widmete den Mael-Brüdern nun die Doku „The Sparks Brothers“, in der die Musiker und ihr außergewöhnliches Werk (die 25 Sparks-Alben reichen vom Pop bis zum Swing und zur Kammermusik) im Mittelpunkt stehen. Auch Förderer, Freunde und Kollegen wie Todd Rundgren, Duran Duran, Beck, Flea oder Giorgio Moroder kommen ausführlich zu Wort.


Die gemeinsame Retrospektive der Viennale und des Österreichischen Filmmuseums 2021 ist eine Hommage an Amos Vogel (1921–2012). Dem Sohn Wiener Juden – geboren als Amos Vogelbaum – gelang 1938 die Flucht vor den Nazis über Kuba in die USA. In seiner Wahlheimat New York City wurde er zu einem der einflussreichsten Filmkuratoren weltweit, zuerst mit dem von ihm gegründeten Filmklub Cinema 16 (1947–63), dann als Mitbegründer des New York Film Festival (1963–68). Mit seinem Buch „Film as a Subversive Art“ (1974), das Generationen von Cinephilen und Kuratoren beeinflusste, untermauerte er sein Verständnis von Kino als eine Form des ästhetischen, sozialen und politischen Aktivismus.

RETROSPEKTIVE IM ÖSTERREICHISCHEN FILMMUSEUM:

FILM AS A SUBVERSIVE ART 21 INFOS: WWW.FILMMUSEUM.AT



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