Alice Braga: Im Film gerne das Monster

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interview

„Im Blockbuster bin ich gern

das monster“

ALICE BRAGA. Die brasilianische Schauspielerin wird ihr Land beim kom-

menden Filmfestival in Locarno vertreten - als Mitglied der Jury. Das Festival widmet Brasilien außerdem eine Carte Blanche für Filme in Postproduktion. Celluloid sprach mit Braga über Jury-Entscheidungen, Zuschauerbindung und die Probleme des brasilianischen Filmschaffens.

A

lice Braga, ist der Job als JuryMitglied bei einem Filmfestival eine reizende Angelegenheit? ALICE BRAGA: Es ist eigentlich logisch, dass eine Schauspielerin gerne Filme ansieht, und deshalb ist es für mich eine große Freude, Teil der Jury des Filmfestivals Locarno zu sein. Ich mag diese Idee, über gesehene Filme zu debattieren, das finde ich inspirierend. Ich war noch nie in Locarno, habe aber immer so viel Gutes darüber gehört und bin mir auch der Bedeutung des Festivals im Festivalzirkus bewusst. Da Brasilien in diesem Jahr ein Schwerpunkt in Locarno gewidmet ist, freut es mich besonders, mein Land dort zu repräsentieren. Natürlich ist es schwierig, Filme zu beurteilen, vor allem innerhalb einer Jury, in der jeder seine eigene Meinung hat. Finden Sie denn, dass man Filme überhaupt einem Wettbewerb aussetzen sollte? Dass man sie vergleichen sollte? Das ist schwierig. Ich bin schon zum zweiten Mal in einer Jury, und in meiner Heimat Brasilien versteht man natürlich die Wichtigkeit von Filmfestivals, weil wir eine große Arthaus-Szene haben, aber keine Big-Budget-Filme. Für die Filmemacher sind die Festivals daher die wichtigste Ausstellungsmöglichkeit. Beim Beurteilen von Filmen folge ich immer meinem Herzen und meinem Bauchgefühl. Denn anders lassen sich Filme auch nicht vergleichen, weil es keinen Standard gibt, dem man der Beurteilung zugrunde legen könnte. Es geht darum, der Reise des Filmemachers zu folgen. Wie ist die Situation in Brasilien? Ich selbst habe gerade einen kleinen

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Independent-Film fertig gestellt, an dem ich seit vier Jahren mitgearbeitet habe. Der Regisseur arbeitete sechs Jahre daran. Das kann schon sehr anstrengend sein, wenn man ein Projekt so gerne umsetzen würde, aber immer wieder an der Finanzierung scheitert. Ist das der Regelfall für Independent-Produktionen? Nein, denn ich glaube, in Brasilien sind wir momentan sehr gut unterwegs. Es gab Zeiten, da dauerte es noch länger, seine Projekte umzusetzen. Immerhin schaffen wir es heute, unabhängig produzierte Filme zu realisieren. Für künstlerische Projekte ist es aber immer noch schwierig, weil sie zu wenig kommerziell sind. In Brasilien gibt es derzeit den Trend zu mainstreamtauglichen Filmen, etwa zu Komödien. Ich glaube, diese Komödien haben dabei durchaus ihre Berechtigung, weil sie unseren Zuschauern zeigen, dass es auch einheimische Filme gibt, die Spaß machen, und nicht nur Blockbuster aus den USA. Das selbe Problem gibt es auch in Österreich. Regisseure wie Haneke sind weltbekannt, haben in den österreichischen Kinos aber nur minimalen Zulauf, verglichen mit dem US-Angebot. Ja, das kennen wir. Es gibt Filme, die machen drei Millionen Zuschauer, andere kommen nicht mal auf 100.000. Aber wichtig ist, dass wir die Filme drehen können, die wir wollen. Der Verleih ist aber das größte Problem für den brasilianischen Film. Ein Festival wie Locarno, dass Filme nicht nur feiert, sondern auch hilft, die Filme entstehen zu lassen, ist Gold wert. Mit 18 tauchten Sie in einem

Film namens „City of God“ auf, der schnell zur Initialzündung für eine ganze Filmemacher-Generation aus Südamerika wurde. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit? Ich hatte damals keine Ahnung vom Filmgeschäft. Und keiner von uns hatte nur den leisesten Funken einer Ahnung, wie sehr dieser Film international abheben würde. Wir waren sehr überrascht. „City of God“ brachte Aufmerksamkeit für das brasilianische Kino und seine kreativen Möglichkeiten. Da als Schauspielerin mit dabei zu sein, war nicht nur eine große Ehre, sondern half uns, Türen zu öffnen für Investoren, die sich später bei uns engagierten. Das war ein großer Durchbruch für das brasilianische Kino. Wie hat sich die Situation seither verändert? Wir machen heute definitiv mehr Kinofilm-Produktionen. Das Fernsehen ist noch immer sehr stark, denn Brasilien ist das Land der Seifenopern. Immer noch. Das ist Teil unserer Kultur, und ich finde es toll! Es gab eine Zeit, in der auch in Europa die Nachmittagsprogramme voll von Telenovelas war. Ja, das ist wahr. Ich selbst finde es toll, habe aber nie in einer Soap mitgespielt. Die drehen dort 20 Sende-Minuten pro Tag, das ist unglaublich. Das gibt Tausenden Kreativen Arbeit. Für Spielfilme ist es schwieriger, aber die Situation hat sich seit „City of God“ stark verbessert. Sie haben auch in den USA gedreht. „City of God“ hat mir die Tür dorthin geöffnet, weil mir der Film einen Agenten in Los Angeles bescherte. So wurde ich


Eine entspannte Alice Braga beim celluloid-Interview in Cannes

immerhin schon zu den Castings eingeladen. Das ging alles Schritt für Schritt. Da waren einige große Filme darunter, zuletzt zum Beispiel „Elysium“. Fühlt es sich anders an, plötzlich solche Blockbuster zu drehen, um dann wieder zu kleinen Arthaus-Filmen zurückzukehren? Ja, sicher, denn man hat zum Beispiel ein Raumschiff (lacht). Nein, im Ernst: Filmemachen ist immer der gleiche Prozess, weil man sowohl bei großen als auch bei kleinen Produktionen immer dieselbe Grundkonstellation hat: Schauspieler vor einer Kamera, Regisseure, Requisiteure, Beleuchter - all das spielt zusammen, egal wie groß ein Projekt ist. Was sich ändert, ist das Budget. In den USA ist das ein knallhartes Business, in Brasilien ist es ein Bruchteil davon. Wer mehr Geld hat, hat auch mehr Zeit. Ich habe in Brasilien gerade einen Film abgedreht, den wir in nur drei Wochen fertig stellen mussten, und das bei einem Drehbuch von 105 Seiten. Das ist eine ganz schöne Leistung.

Noch ein Wort zum World Cup: Nutzen oder Schaden für Ihre Heimat? Das ist sehr kontroversiell in unserem Land. Wir haben in Brasilien so viele Probleme, mit Gewalt, Armut, Arbeit. Der World Cup sorgt für Diskussionen, weil er einen Monat bleibt, und viel Geld kostet, und dann wieder verschwindet. Ist es das wert? Das wird heftig diskutiert. Zugleich ist es toll für ein Land, dass den Fußball so sehr liebt wie Brasilien. Das Dilemma ist: Die WM nicht auszurichten wäre eigentlich gar keine Option gewesen.  Interview: Matthias Greuling INFOS: www.pardo.ch

Foto: Matthias Greuling

Welches Selbstverständnis haben Sie von ihrem Job? Ich mag es, auf Geschichten und Figuren einen unterschiedlichen Blick zu haben. Ich mag es, in kleinen Kunstfilmen zu sein, und zugleich das Monster in einem Blockbuster zu spielen (lacht). Es ist immer eine Herausforderung, eine Figur zum Leben zu erwecken.

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