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Pianistin
mit ❺ n r e d n ki
Text: Lisa Terle
Aurélie Tremblay (41) ist fünffache Mutter und unterrichtet an der Kunstuniversität in Graz Klavier für Dirigenten und Komponisten. Sie war keinen Tag in Karenz und macht den besten Apfel-Vanillesoße-Kuchen der Welt. Aus Paris stammend, lebt sie seit 1991 in Graz – und meint: „Ich habe eigentlich so wenig gemacht.“ Fotos: Robert W. Sackl-Kahr Sagostin
Außergewöhnlich war Aurélie schon als kleines Kind: Sie war keinen einzigen Tag in der Volksschule, weil ihre Mutter von der Volksschule nichts hielt. Aurélie machte lediglich Kontrollprüfungen und kam schon mit achteinhalb ins Gymnasium statt wie in Frankreich üblich mit elf Jahren. Die Matura schaffte sie mit 15. Mit 16 begann sie Russisch zu lernen, weil sie unbedingt nach Moskau wollte, um dort bei dem bekannten Professor Alexander Satz Klavier zu studieren. Der Professor bekam aber eine Universitätsstelle in Graz und mit 17 folgte ihm Aurélie nach Graz, einer Stadt, von der sie vorher nie etwas gehört hatte. Eigentlich wollte sie sich voll auf das Klavierstudium konzentrieren, und dass sie schon 1995, mitten im Studium, Tochter Éléonore bekam, war für sie selbst eine Überraschung. „Es war nicht geplant, keine von meinen vier Töchtern war geplant.“ Ihr Mann ist auch aus Paris und ebenfalls Pianist. Mit ihm bekommt Aurélie neben dem Studium und beginnender Arbeit in nur sechs Jahren
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xxx ihre Mädchen. „Vier oder fünf Kinder, das macht keinen großen Unterschied“, sagt Aurélie bei unserem Interview in ihrer wunderschönen großen Wohnung in der Grazer Innenstadt. Drei Klaviere stehen in der Wohnung, und drei Kinder leben noch bei Aurélie.
und ich haben nicht so viel nachgedacht, wie wir es schaffen werden, wir haben einfach losgelegt. Anouk war als Kleinkind viel krank, immer am Wochenende, am Freitag waren wir oft schon an der Kinderklink. Aber irgendwie ging es. Ich hatte keinen einzigen Tag Karenz, wollte das auch nicht, wozu?“ erklärt Aurélie ruhig.
„Ich hatte keinen Tag Karenz“
Vier Kinder bekommt sie in sechs Jahren. Dazu Studium und erste Arbeit an der Kunstuniversität Graz.
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Die älteste Tochter Éléonore, 20 Konzerte und weitere GeJahre, studiert heute in Wien burten Im Frühjahr 1998 wurde sie Anglistik, Amerikanistik und mit ihrem Studium fertig, Geschichte und arbeitet, feierte groß und freute wie ihre Maman, bereits Femme forte: sich auf ihren ersten fixen an der Uni. Aurélie beVier oder fünf Kinder, 6-Stunden-Unterricht. kam Éléonore im Mai das macht keinen Sie gab Solo-Konzerte 1995, die erste Dipgroßen Unterschied. – wie zB. im Minoritenlomprüfung war schon saal „Puisque tout Pashinter ihr, im Oktober se“ mit Stücken von Satie, begann sie bereits an der Ravel, Debussy, Poulenc und Uni einige Stunden zu arbeiFauré und unterrichtete privat. ten. Drei Tage nach der Geburt Sie nahm teil an verschiedenen Musikwar sie ohnehin wieder an der Uni, als projekten und begleitete unter anderem im Studentin mit dem Baby im Maxi Cosi. Das Sommerseminar die Wiener Sängerknaben Baby wurde an der Uni gestillt, gewickelt am Klavier. Es wurde Haydn, Mozart und und schlief dort seinen ruhigen Babyschlaf. Schubert gesungen. Währenddessen machte sich die Mama an den zweiten Studienabschnitt. 15 Monate Im Dezember 1998 bekam sie die dritte später, im September 1996, kam die zweitTochter Manon. Alle Aurélies Geburten wagrößte Tochter zur Welt, Anouk, die heuer ren spontan und verliefen problemlos. Manach Berlin gezogen ist, um dort Medizin zu non kam als Frühchen in der 34. Woche zur studieren. „Ich weiß auch nicht wie ich das Welt, aber die Kleine holte rasch auf. Heute alles gemacht habe. Ich war einfach jung, ist sie Schülerin der siebenten Klasse in der wir wohnten in einer Wohngemeinschaft, Modellschule. Als die dritte Tochter zur Welt eine Mitbewohnerin hat ab und zu auf die kam, zogen Aurélie und ihr Mann aus der WG Kinder aufgepasst oder ist mit ihnen zum aus und engagierten eine AuPair-Mädchen. Spielplatz gegangen, während ich übte. Dadurch bekam Aurélie mehr Unterstützung Ich musste immer mindestens zwei bis drei im Alltag und arbeitete bis zu 60 Stunden pro Stunden pro Tag üben, neben dem Studium Woche. Natürlich ist der Großteil ihrer Arbeit und dem Unterrichten. Es hat funktioniert, – damals wie heute – Klavier üben. die Kinder waren überall mit, mein Mann
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Das fünfte Kind erschien im Traum Mit der dritten Tochter fing es in der Ehe zu kriseln an. Auf unsere Frage, ob vielleicht so viele Kinder zu wenig Raum und Zeit für eine Beziehung lassen, antwortet Aurélie entschlossen: „Nein, ohne Kinder, wäre die Ehe noch früher auseinender gegangen.“ Sie und ihr Mann versuchten, der Ehe durch ein weiteres Kind einen neuen Schwung zu geben. 2001 kam Salomé zur Welt, die heute die fünfte Klasse der Grazer International Bilingual School besucht. Trotzdem funktionierte es nicht mehr in der Ehe und man trennte sich. Der Kontakt ist dennoch geblieben, und die Kinder sehen ihren Papa regelmäßig und fahren gerne mit ihm auf Urlaub. Man ist heute eine große, gut funktionierende Patchwork-Familie. Der neue Mann an Aurélies Seite ist seit 2005 der Fotograf und Grafiker Robert Sackl-Kahr Sagostin. Von Anfang an wollen beide ein gemeinsames Kind, und eines Tages hat Aurélie einen Traum, in dem ihr Vater einen Buben an der Hand hält. Da wusste sie ganz genau, dass ihr fünftes Kind ein Bub werden wird. Und so kommt es auch: 2006 wird Samuel geboren. Inzwischen besucht er die vierte Klasse der Projektschule und ist ein zarter Prinz mit wunderschönen roten Locken, hübsch wie seine Schwestern.
Kinder früh selbstständig Wie organisiert man einen Alltag mit fünf Kindern, die Tanzen, Schwimmen, Leichtathletik, Judo trainieren und Querflöte lernen? Statt des erwarteten Klagelieds über „Mama als Taxi“ bemerkt Aurélie trocken: „Sicher spielte ich manchmal auch Taxi, aber eher selten. Die Kinder waren sehr früh
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selbstständig, sie fuhren mit dem Bus, mit sechs sind sie alleine überall hin gegangen. Das wäre in Paris nicht möglich gewesen, und ich habe das genossen. Meine Schwester in Frankreich hat ihren Sohn bis zwölf von der Schule abgeholt. In Frankreich hätte ich nie fünf Kinder bekommen“. Mitten im Interview kommt leise Éléonore, eine kluge Feministin und brennende Kämpferin für Frauenrechte, ins Zimmer. Sie meint, für die Kinder sei alles harmonisch verlaufen. Mama und Papa gaben ihnen die Möglichkeit, alles auszuprobieren, es gab keine Verbote in der Familie, keine Hausareste, wie bei ihren Freundinnen. „Wir sind immer selbstständig gewesen, die Eltern waren keine Kontrollfreaks und hatten Vertrauen in uns. Ich hatte schon mit 16 meine erste Studentenwohnung“, erzählt Éléonore.
Multikulturelle Familie – ein bunter Stammbaum Ganz und gar nicht alltäglich ist auch die Familie von Aurélie. Sie bildet ein multikulturelles Ensemble mit Familienmitgliedern aus Frankreich, Deutschland, Ungarn, Belgien und Russland. Die Urgroßeltern lebten lange im Exil, in einer jüdischen Kolonie in Shanghai. Deren Sohn, Aurélies Großvater, Vater ihrer Mutter, wurde Cellist, seine Frau, Aurélies Grosßmutter, Pianistin. Beide waren nicht verheiratet, lebten aber in einer harmonischer Partnerschaft. Vielleicht sprang von den beiden der musikalische Funke auf die Enkelin über, sicher ist sich Aurélie da aber nicht. Die Eltern Aurélies wurden in Frankreich geboren. Der Vater, studierter Philosoph, lebte eine zeitlang in Indien und arbeitete in einem Pariser Verlagshaus als
Aurélie ist keine typisch französische Mutter. Dafür ist sie zu liberal. Was sie ihren Kindern früh beigebracht hat, ist die Selbstständigkeit.
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„Ich finde es besser, wenn Frauen jung Kinder bekommen. Sie sind unbeschwerter, und entspannter.“
Autor, die Mutter war Schauspielerin. Schon vor längerer Zeit sind beide zum Buddhismus übergetreten. Die Vielfalt einer solchen Familiengeschichte prädestiniert nahezu für einen ungewöhnlichen Lebensweg. Die Schwester von Aurélie hat ebenfalls das künstlerische Metier gewählt und ist Geigerin geworden. Wer im Schnittpunkt verschiedener kultureller Einflüsse aufgewachsen ist, kann leicht und treffend Vergleiche ziehen. Vor allem eine Frage liegt nahe: „Warum bekommen die Französinnen mehr Kinder als die Österreicherinnen und Deutsche?“
Verschiedene Frauenbilder „Für mich war es anfangs ein Schock, dass die Schule in Österreich zu Mittag endet. Frauen müssen, um arbeiten zu können, teure Kinderkrippen oder Tagesmütter zahlen“, sagt Aurélie. Es stört sie, dass Frauen
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sich vor allem auf die Kinder konzentrieren und rund um die Uhr für sie da sein sollen. Ein altes Rollenmuster, das noch aus nationalsozialistischen Zeiten stammt. Wer dem nicht entspricht, wird schnell als „Rabenmutter“ verschrien. Aurélie: „Hier reden die Frauen nur über Kinder, bringen um elf die gesunde Jause in die Schule und haben Stress damit. Wann arbeiten diese Frauen? Es wird hier viel über Gendern gesprochen, aber für die Frau wird konkret wenig getan.“ Trotzdem lebt Aurélie lieber in Graz als in Paris. „Die Erziehung ist in Frankreich autoritärer als hier“, sagt sie, „die Kinder haben großen Druck und beginnen im Kindergarten schon mit drei Jahren mit dem Schreiben. Die Eltern machen sich schon bei kleinen Kindern Sorgen um ihre Zukunft. Die Kindheit in Österreich ist unbeschwerter“. Sie möchte mit ihrer Familie nicht in Frankreich leben. Trotz der steuerlichen Erleichterungen, durch die Familien ab dem dritten Kind
praktisch keine Steuern mehr zahlen. Und trotz der Ganztagsschulen, die das Leben der Familien um vieles erleichtern. Für Franzosen ist sie keine typisch französische Mutter. Für sie ist sie zu liberal. Damit hat sie ihren schon sehr reichhaltigen multikulturellen „Topf“ mit neuen „Zutaten“ gewürzt – mit ein wenig österreichischer Gemütlichkeit. Nur den deutschen Perfektionismus lehnt sie strikt ab.
Sieben Individualisten, aber jeder spielt mit Für Aurélie ist sehr zufrieden mit ihrem Leben und sie würde alles wieder gleich machen. „Ich habe Glück gehabt, schnell eine Stelle zu finden, die mir auch Zeit für die Kinder ließ.“ Angst hatte sie nie, erst in den letzten Jahren stellt sie sich öfter die Frage nach der Zukunft ihrer Kinder. Die gesellschaftliche und politische Entwicklung ist besorgniserregend. Nach dem Terroranschlag in Paris
ist spätestens allen klar, dass wir in Westen ein gewaltiges Problem haben. Gleichzeitig stellt sie sich die Fragen, ob ihre Kinder in einer schwieriger gewordenen Berufswelt das machen können, was ihnen Freude macht. Eine Sorge, die uns unbegründet scheint, denn die Kinder sind alle ausgezeichnete SchülerInnen. Eines würde Aurélie ihren Kindern nicht empfehlen: Musiker zu werden. Musik als Hobby ja, aber nicht als Beruf. Für sie selbst hat sich dieses Thema nie gestellt, sie liebt die Musik, und ihr Repertoire ist breit gefächert – von Kammermusik über Partitur und solistisches Spielen bis zu den vielen Komponisten, die sie mit ihren Studenten erarbeitet. Eine beeindruckende Vielfalt, die fast noch überstrahlt wird vom siebenköpfigen Ensemble ihrer Familie. Sieben Individualisten, aber jeder spielt mit. Keiner wirkt überfordert, auch nicht die Mama. Im Gegenteil, sie spielt für ihr Leben gerne mit.
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