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REINHARD SCHUCH

DAS GROSSE FRESSEN arf’s ein Tatar vom Fohlen sein? Oder vielleicht ein Huhn aus der Bresse? Oder wie wär’s mit einem Beluga-Kaviar aus iranischer Zucht? Ein bisschen Dekadenz wird man sich wohl noch leisten dürfen. Darf man? In Zeiten der weltweiten Krise, der Jugendarbeitslosigkeit, der Armutszunahme und der Bürgerkriege vor den Toren Europas? Wann beginnt eigentlich Dekadenz? In einer demokratischen und globalisierten Gesellschaft kann sich doch jeder leisten, was er will. Oder nicht? Sich ein Fohlenbeiried aus Italien kommen zu lassen oder einen Kaviar aus dem Iran, das sollte zumindest als ökologisches Vergehen geahndet werden (wegen des Transports und der Luftverschmutzung). Das gilt natürlich für alle Lebensmittel, die viel zu lange Wege bis zu uns benötigen. Alle diese Lebensmittel sind in gewisser Weise „dekadent“ (spanische Erdbeeren im Winter).

DUMMHEIT FRISST

NEUESTE SCHAUMSCHLÄGEREIEN Die Hamburger „Zeit“ widmete einem Koch aus Spanien eine mehrseitige Reportage. Der gute Mann macht alles in quasi wissenschaftlichen Versuchsanordnungen zu Schaum. Entenbrustschaum an Kartoffelschaum mit zu Schaum verarbeitetem Chicoréesalat gilt als hip, der Schaummeister als gegenwärtig bester Koch der Welt. Warum nicht gleich alles zu Gasen verarbeiten, die man in kleinen Fläschchen auf den Esstisch stellt? Ein Fest für Zahnlose. Dann schon lieber richtig schlemmen wie im Film „Das große Fressen“ aus den Siebzigern. Einige Freunde treffen sich, um sich bei einem Fress- und Sexgelage bewusst ins Jenseits zu befördern. Eine schöne Veranschaulichung von echter Dekadenz. Laut Duden bedeutet diese ja Verfall/Niedergang.

DAS ALTE ROM LÄSST GRÜSSEN Immerhin hat sich in der Krise ein Hauch von Bescheidenheit und Besinnung auf Einfaches eingestellt. Ein Koch erklärt dazu, dass im Haubenlokal gegenwärtig Trüffel und Austern weniger gefragt sind. Der Konsument ist vielleicht doch lernfähig. Es muss nicht immer das Teuerste aus der am weitesten entfernten Region sein. Steaks aus Argentinien, pfui, Wachteleier aus der Normandie, pfui, Hummer aus Australien, doppelpfui. Noch lieber verzichten wir auf die hundertste Variation des Seesaiblings oder die zweihundertste Lammkeule im TV. Wenn eine Gesellschaft nur mehr frisst, nun ja ... wie war das gleich mit dem alten Rom?

Foto: Ulrike Rauch

Nun ist es so, wie es im Sprichwort heißt, dass Dummheit frisst und Intelligenz säuft. Dummheit und Dekadenz dürften miteinander verwandt sein. Dessen bedienen sich die Massenmedien: kein Fernsehsender, der nicht mindestens eine Kochshow ausstrahlt, kaum eine Zeitung, die nicht regelmäßig Restaurantkritiken auftischt oder mit Rezepten beglückt. Köche mit Ziegenbärten, Glatzköpfen und dem Charme eines Kochtopfs sind Stars wie Fußballer, Popsänger, Schauspieler. Sie werden als Künstler, Designer und kreative Köpfe gehandelt. Wenn dann Food-Journalisten schreiben, dass ein klassisches Gericht „modern und mit Witz interpretiert“ wurde, dreht sich bei mir endgültig der Magen um. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich koche selber gern, und ein Essen mit Freunden ist eine schöne Sache. Aber die

permanente Präsenz von Degustationen in den Medien und der Hype um die Nahrungsaufnahme wirkt lähmend auf Geschmacksund sonstige Nerven. Das „Zuviel“ macht die Sache dekadent.

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MARIA MAGDALENA MÜLLER

TERROR À LA CARTE DER GENUSS KANN EINEM VERGEHEN, WENN MAN IN DEN MEDIEN TAGTÄGLICH MIT GENUSS-ANGEBOTEN BOMBARDIERT WIRD. WENN SICH ALLES NUR MEHR UM WOHLBEFINDEN, WELLNESS UND SCHMANKERLN DREHT. VERWEIGERN WIR UNS DEM GENUSS-TERROR.

FEINKOST-MILITARISMUS Beruflich habe ich bei vielen Genuss-Diktatur-Events bis dato mitgemacht. Eine fadere und leerere Gesellschaft fand ich nirgendwo. Schön angezogen und schön langweilig, aber mit soldatischer Disziplin sitzen die Damen und Herren, verkosten die Weine und Speisen und sagen ab und zu: „köstlich“, „süffig“, „feinherb“ oder „fruchtig“. Diese Wörter fallen an immer schön gedeckten, immer sehr langen Tafeln wie Schwerter. Zack! Danach passiert nichts. Kein anderes Wort, nur noch ein neuer Schluck oder Biss. Wieder mal köstlich, süffig oder feinherb. Die alten Römer haben auch Speis und Trank geliebt. Aber sie machten eine Performance daraus: Sie lagen nackt auf dem Triclinium, tranken und fraßen sich zu Tode, schauten schönen Tänzerinnen zu, hatten enorm viel Sex und starben am Ende an den Folgen des eigenen Hedonismus. Die Römer haben ohne schlechtes Gewissen genossen, ist mein Eindruck. Anders als unsere Damen und Herren an den langen Tafeln. Nach zu viel Genuss schlucken sie mit schlechtem Gewissen Iberogast-Tropfen. Wenn zu viel Speck auf den Hüften landet, fliegen sie nach Indien – mit neuem Friaul oder Steiermark Gastro Guide in der Hand – zur Ayurveda-Kur. Sie nehmen ab und fangen bei der Rückkehr wieder von vorne an. Süffig oder feinherb.

BUSCHENSCHANK ANONYMUS Mehr Lebensfreude und Genuss finde ich in anonymen Buschenschänken, die noch nicht die Worte Werbung und Marketing kennen. Sie liegen irgendwo zwischen den Genussregionen und haben keine EU-Förderung für Omas Schlutzkrapfen bekommen. Leider gibt’s solche anonymen Genussstätten immer weniger, weil die fleißigen Anzeigenverkäuferinnen fast jede ausfindig gemacht haben. Eine gute Genuss-Story ist keine gute Genuss-Story, wenn man nicht mindestens sechs Inserate daneben platziert hat. Die Headlines dieser Inserate oder PR-Einschaltungen fangen alle gleich an: „Genießen Sie ...“ Wenn in der Headline noch das Mega-Syntagma „Steirische Schmankerln“ vorkommt, dann kann ich nicht mehr. Blättere schnell die Seite um, und schon wartet auf mich die nächste Thermenland-Genussfalle: „Wohlbefinden in Bad ...“ oder noch besser: „Spaß im Nass“.

GRANTIGER GENUSS Hier ist definitiv für mich der Spaß aus und ich träume vom Gasthaus Pijero auf der Insel Murter in Kroatien, wo der immer grantige Wirt sagt: „Bestellen Sie bitte nicht zu viel Fisch. Sie haben ohnedies schon zu viel gegessen.“ Sein Gasthaus ist immer halb leer, obwohl sein Scampirisotto und sein Oktopussalat, seine Seehundsteaks oder Scampi auf Buzara-Art traumhaft schmecken. Die paar Gäste, die bei Pijero sitzen, genießen alleine, ohne lange Tafel, ohne Werbeplakate, Sujets und Slogans wie „krönender Genuss“. Für die Wörter süffig, halbherb oder fruchtig ist hier kein Platz. Hier gibt es nur einen Wein und einen Fisch pro Person und jede Menge Meer. Wie bei Jesus und später beim vernünftigen Voltaire: „Es gibt keine wahren Genüsse ohne wahre Bedürfnisse.“

Foto: Ulrike Rauch

eden Herbst höre ich auf, die steirischen Zeitungen und Magazine zu lesen. Weil außer über Winzerköniginnen, Apfelsaftfestivitäten und Aufsteirern nicht viel zu lesen ist. Die Welt hat mit Toten in Syrien und Ägypten zu kämpfen, mit der Finanzkrise, mit immer höcherer Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen oder mit ADHS bei Kindern; wir in der Steiermark kämpfen mit der Feinkost. Nicht nur krass, sondern auch assi, würde Bushido sagen. Cicero hat schon vor zweitausend Jahren seinen Senf dazugegeben: „Die am meisten nach Genuss jagen, erlangen ihn am wenigsten.“

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REINHARD SCHUCH

DRITTE TÜRKENBELAGERUNG

as hätte sich Prinz Eugen („der edle Ritter“, lernten wir in der Schule) nicht gedacht, dass neben dem türkischen Kaffee weitere türkische Leckerbissen unser Land erobern. Der Savoyer (italienisches Adelsgeschlecht) bemühte sich um 1700 redlich, die Osmanen mit kriegerischer Gewalt aus Wien und Südosteuropa zu vertreiben. Den Einzug türkischer Kulinarik konnte er (zum Glück) nicht verhindern.

beleidigen, weil sie vor dem Mittagessen einen Döner verzehrt haben. Kulturell interessant ist, dass der Döner mit Wurzeln in Südosteuropa bzw. Vorderasien sich mit dem schnellen Tempo (fast) der westlichen Kultur anpasste und McDonald‘s und anderen Burgerfabriken die Stirn bieten kann. Schnell bei der Arbeit, schnell beim Essen – das „Fast“ ist längst ein Fetisch unserer Zeit. Die ursprüngliche orientalische Gelassenheit des Döners hat im Westen kapitalistisches Tempo aufgenommen.

SALUT AUF MEHMET Es muss in den 70er-Jahren gewesen sein, als in Berlin-Kreuzberg zum ersten Mal in einen Döner gebissen wurde. Sein vermutlicher Erfinder, Mehmet Aygün, hatte die Idee, das, was bis dahin auf dem Teller serviert wurde, in ein Fladenbrot zu stecken. Das türkische Fastfood war geboren. Schon mit 16 hatte der dynamische Aygün begonnen, Döner in einem Imbiss zu verkaufen. Gleichzeitig schloss er eine Ausbildung als Fleischer ab; er wollte genau wissen, was in einen Döner reinmuss. Vor ein paar Jahren ist er im Alter von 87 Jahren in einem Berliner Altenheim verschieden. Wir verspeisen ihm zu Ehren einen Döner extra scharf. Und freuen uns über eine gelungene Integration auch im Schweinsbraten- und Backhendlland, ohne die unser Speisezettel ärmer wäre.

HAIDER OHNE CHANCE Weil nach Österreich bekanntlich alles später kommt, mussten wir bis in die späten Achtziger auf den Döner warten (historische 10-Jahres-Verspätung). Bald startete aber der Boom, die Dönerbuden schossen aus dem Boden wie die Pilze. Nicht einmal die Freiheitlichen um Jörg Haider konnten die Verbreitung von Herrn Aygüns Idee verhindern. Aygün ist nach wie vor verantwortlich, wenn Jugendliche wieder einmal Mutters Kochkünste

DÖNER, DÜRÜM, KÖFTE, BAKLAVA UND ANDERE TÜRKISCHE GERICHTE HINTERLASSEN SPUREN AUF UNSEREM SPEISEZETTEL. SO GANZ UND GAR UNBLUTIGE. POLITISCHES STATEMENT Wie man es dreht und wendet: Der Döner ist Teil unserer Kultur geworden. Die Youngsters – und nicht nur sie – kaufen ihn mit der „10 + 1 gratis”-Karte. Manche lassen sich die Döner zur Party zustellen, zusammen mit viel Cola, versteht sich (interessante Kombination). Döner schmeckt nach Fastfood und das ist er auch. Aber wenigstens mit ein paar Scheiben Tomaten, Kraut und Zwiebeln in der Joghurtsoße. Damit ist er immer noch „gesünder“ als so manches Schulbuffet. Mit dem Döner geben wir – wie auch mit dem Einkauf beim türkischen Gemüsehändler – ein kleines politisches Statement ab: Länder mit Gaumenfreuden können keine schlechten Länder sein. Nicht nur wir sind die Guten. Jedenfalls hat der Döner die Europäische Union längst erreicht, die Türkei wartet noch. Irgendwie schade.

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besten, sagen die Trüffel-Experten, gleich hineinbeißen. Frisch schmecken sie am besten.

9.000 Euro pro kg. Falls Sie in Piemont oder Istrien zufällig auf weiße Trüffel stoßen – am

Quellen: www.n-joy.de (Norddeutscher Rundfunk); www.luxuslebensmittel.info

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Das teuerste Wasser der Welt heißt Kona Nigari und wird vor der Küste Hawaiis aus 600 Meter Meerestiefe gepumpt. Flasche mit 0,75L kostet wohlfeile Euro.

Das teuerste Gewürz der Welt ist bekanntlich Safran und schlägt mit rund Euro pro kg zu Buche. Für ein Kilogramm benötigt man bis zu 200.000 Krokusblüten.

Weiße Trüffel kosten rund

6.000

Der Blauflossenthunfisch, eine große kulinarische Liebe der Japaner, erzielte auf einer Fisch-Auktion in Tokio Euro pro kg.

210.000

Eine Flasche „Château Lafite-Rothschild 1787“ wurde 1985 im Auktionshaus Christie’s für Euro versteigert. Prost Mahlzeit!

Der weiße Kaviar, auch „weißes Gold“ genannt, kostet rund Euro pro kg. Zu bekommen ist er nur vom Albino-Stör (ein Stör mit genetischem Defekt). Walter Grüll aus Grödig bei Salzburg hat 15 Jahre gebraucht, um diese besonderen Tiere in großem Stil zu züchten. Im Vergleich dazu sind der Almas-Kaviar (30.000 Euro pro kg) und Beluga-Kaviar (4.500–6.000 Euro pro kg) nahezu Schnäppchen.

65.000

250.000

Der „Stammzellen-Burger“ verschlang stolze Euro an Entwicklungskosten. Derzeit das wahrscheinlich teuerste Stück Essen rund um den Globus. Die Idee dahinter: weniger Tierhaltung.

DIE TEUERSTEN UND PERVERSESTEN LEBENSMITTEL DER WELT

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DIE BANKROTTERKLÄRUNG UNSERER ZUVIEL ISATION.

. ger un nH h 2011 ha sterreic nsc r ht hat Ö fü ic r s n Me ECD-Be komme tionalein ein Laut dem O gang ruttona m Rück rbt % des B was eine sti nur 0,27 egeben, jahr g r s u o en a V ngshilfe nd er dem lu d ku gegenüb Entwick chenlan Se Prozent nur Grie von 14,3 t haben e r gekürz ,7 %). All ht. Meh W Fo nien (32 entspric e und Spa l g l t e (39,3 %) we vo it n Für rund s M i Bab n ys jährlich ist der Tag ihrer an dl Geburt ge au zugleich der l letz K te t e Tag ihr es Leb r ens . nä ind UN er hr IC den u ng unt EF er an un er Kind Hunger. 5 t g. n a e n e r hrun en Jahr Mensch ns lernä tw en deste ange Jede . s Ja a hr c i st n er c n min er und M be n etwa ke in g sterbe a erbe lt. Jeden T ch st Hung Menschen an Tägli n von Hunger. Folge iden rganisation le ternährungso rung. hr rund Ja s e Laut der Wel Mangelernäh rben jed und Menschen an folge ste Mangelionen zu lgen von ten Nat n den Fo r Verein glich. Jahren a f n ngen de inder tä unter fü Schätzu 6.650 K Kinder d etwa . Das sin nährung Unterer Menschen, Weltweit hungern rund ngsländern. 852 Millionen von ihnen leben in Entwicklu In Afrika ist die Anzahl der Hungernden seit 1990 um rund 64 Millionen gestieg en und lieg t nun lau t FAO bei Menschen. Kindersterblichkeit bis 2015 um zwei Das große Ziel der Weltgemeinschaft, die 4), wird deutlich verfehlt. Beim jetzigen Drittel zu senken (UN-Millenniumsziel Nr. cht – 13 Jahre zu spät. In dieser Zeit Tempo wird das Ziel erst im Jahr 2028 errei Buben unnötig sterben, wenn die werden 35 Millionen weitere Mädchen und ern Anstrengungen für das Überleben von Kind nicht drastisch verstärkt werden.

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Alle

Quellen: www.unifec.org, www.welthungerhilfe.de, www.entwicklung.at

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LAUT GESETZ IST DER MÜLL HERRENLOS. WIE SONNE, REGEN ODER WIND. DER MÜLL BEKOMMT ABER IMMER MEHR BESITZER. MÜLLTAUCHEN, DUMPSTERN, CONTAINERN ODER WASTE DIVING WIRD SALONFÄHIG. AUCH IN ÖSTERREICH. grund des Ablaufdatums, vor allem viele Milchprodukte. Gerade Joghurt ist noch weitaus länger genießbar. Auch eingeschweißte ganze Chips-Packungen waren dabei. Stephan: Diese vielen Milchprodukte haben mir vorübergehend eine Laktoseunverträglichkeit beschert. Wir nehmen ja auch nicht alles. Wir können da schon wählerischer sein. Ich kenne jemanden, der beim Dumpstern ein ganzes Hühnchen gefunden hat, das noch ganz heiß war. Er hat dann einfach gleich reingebissen. Es gibt ja auch die Freeganer. Verena: Die würden kein Fleisch mitnehmen und auch nicht die Milchprodukte. Ich bin bei Eiern vorsichtig. Gibt’s eine Containern-Community in Graz?

Foto: Ulrike Rauch

Stephan: Ich hab schon davon gehört, dass es Dumpstern organisiert gibt. Wir sind allerdings privat dazu gekommen. Verena: Allerdings gehen wir nicht mehr so oft dumpstern. Immer mehr Tonnen werden abgesperrt. Gerade in der Innenstadt gibt es kaum noch unversperrte Tonnen bei den Geschäften. Am ehesten noch beim Billa. Auf unseren nächtlichen Spaziergängen haben wir auch Leute gesehen, von denen wir glauben, dass sie diese Lebensmittel wirklich gebraucht haben. Also verzichteten wir. Das Problem war nur, dass diese Leute zum Teil Spuren hinterließen. Das ist sicher auch ein Grund dafür, dass immer mehr Container zugesperrt werden. Wir hatten zum Teil mit Gummihandschuhen gesucht und auch darauf geachtet, den Ort wieder ordentlich zu hinterlassen.

Foodsharing in Graz. Schon ein Thema? Stephan: Das gibt es in Graz erst seit einigen Monaten. Es sind aber noch zu wenige dabei. Es gibt hier in der Nähe zum Beispiel Apfelbäume, von denen man ernten darf. Verena: Im Spektral wird gemeinsames Essen und Kochen in der Volxküche* organisiert. Lebensmittel, die aus Abfalltonnen vom Supermarkt kommen oder beim Bauernmarkt erfragt werden, werden mit gekauften Waren aufgestockt und verkocht. Das Essen ist vegan und jeder trägt bei, was er kann. Es funktioniert ganz gut, aber es könnte noch mehr im Bewusstsein der Menschen passieren. Statt Dumpstern werden solche Aktionen zunehmend interessant. Zum Dumpstern muss man wegen der vielen versperrten Tonnen ja schon weiter rausfahren aus der Innenstadt und dann auch gleich einen ordentlichen Rucksack vollpacken, damit es sich auszahlt. Fällt euch spontan ein Ort ein, an dem das Essen schlechter ist als das, das man sich durch Mülltauchen erbeuten kann? Verena: Bei den Geschäften selber. Ich hatte schon mal Müsli gekauft, in dem Würmer waren. Danke für das Gespräch. *Volxküche ist ein Gemeinschaftsprojekt, das Menschen mit warmem Essen erfreuen und soziale Treffpunkte schaffen will. Eine Form des kulinarischen Protests gegen die heutige Wegwerfgesellschaft, die in sozialen Zentren oder auf der Straße stattfindet.

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ELISA-MARLENE HÖRTNAGL

AUS DER TONNE AUF DEN TELLER aste Diving war eines von 17 Projekten des Kulturprojektes „Wienwoche“, das vom 12. bis 29. September stattgefunden hat. Gedumpsterte Lebensmittel aus Müllcontainern wurden vier Tage lang in einem Supermarkt zur freien Entnahme für jeden angeboten. Außerdem wurden Lebensmittel auch in einer Kochshow verkocht und ein Waste-Brunch zum Thema Supermarktfasten veranstaltet. Der Kunde bezahlt nicht nur die konsumierte Ware, sondern kommt auch für die Überproduktion auf. Die UNO schätzt: Mindestens ein Drittel der Lebensmittel wird weltweit vernichtet.

EINE SUBKULTUR WIRD SALONFÄHIG Laut jubeln die Initiatoren von wastecooking.com und sagen klar: „Wir setzen bei Bewusstseinsbildung an. Wir operieren mit einem Mix aus Information, Aktion und Provokation. Wir kombinieren das Kochformat mit dem Mülltaucher-Ansatz“. So weit, so gut. „Mülltauchen“, auch noch „Waste Diving“, „Containern“ oder „Dumpstern“ genannt, stammt aus den USA. In den Achtzigerjahren formierte sich diese Bewegung, ursprünglich auch als Protest gegen Waffenexporte, es ist eine Form der politisch motivierten Konsum-Verweigerung. „Food not bombs“ waren die ersten Aktivisten, die aus dem Zubereiten von Abfall eine öffentliche Aktion machten. Auch in Europa verstehen sich „Waste Diver“ in erster Linie als Aktivisten, die gegen Lebensmittelverschwendung protestieren und sich dabei ganz schön Geld sparen.

MÜLLTAUCHER IN GRAZ Einen Einblick in die Grazer Szene bekommt man unter containerngraz.blogspot.co.at. Nachzulesen sind dort Erfahrungsberichte von Beutezügen in Graz. Eine große Menge an Fotos mit der Ausbeute von nächtlichen Containertouren, die zum Teil

Kochbuchillustrationen um nichts nachstehen, überzeugen vom einwandfreien Zustand der Waren. Zwei Grazer Mülltaucher im Gespräch. Sie sind ein junges Paar, Anfang 30. Verena ist Künstlerin und Bühnengestalterin, Stephan studiert Sprachwissenschaft. Sie leben sehr umweltbewusst und kämpfen gegen den globalen Wegwerfwahnsinn. Auch mittels Mülltauchen. Ist das Containern bei euch eine Notlösung oder ein politisches Statement, wie etwa: Kritik an der Wegwerfgesellschaft? Verena: Man könnte es politisch betrachten. Einwandfreie Produkte, in deren Herstellung so viel Energie steckt, kosten im Geschäft so viel und sind dabei nicht einmal hochwertig. Dieser Aufwand an ökologischen und menschlichen Ressourcen soll nicht umsonst gewesen sein. Wenn man erst einmal Erfahrungen hat, wie man kostenlos Nahrungsmittel aus dem Supermarkt bekommen kann, scheint der Kauf von Supermarktware immer seltsamer. Stephan: Wir haben nicht aus der Not heraus gedumpstert. Aber wir haben uns auch viel Geld erspart, mit dem wir im Bioladen Lebensmittel de luxe kaufen konnten, die wir uns so nicht leisten hätten können. Wir haben also einfach besser gelebt. Was findet ihr alles in den Containern? Angeblich nur weil ein „Spargel abgebrochen ist, landete das ganze Gebinde im Abfall“. Stimmt das? Verena: Das mit dem Spargel stimmt schon so. Wir haben auch schon eine große Schachtel mit einwandfreiem Studentenfutter gefunden. Säckeweise findet man Brot und, wahrscheinlich auf-

Foto: Nina Friedl

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REDAKTION

SUPPE DER ARMEN CHRISTLICHE NÄCHSTENLIEBE IST IM MARIENSTÜBERL KEINE PHRASE, SONDERN WIRD TAGTÄGLICH PRAKTIZIERT. DAMIT UNTERSCHEIDET ES SICH VON DEN ÄUSSERUNGEN SO MANCHER BLAUER POLITIKER.

ir kommen zum Mittagessen in das Marienstüberl. Es wird gebetet, wer nicht betet, sitzt ruhig auf seinem Sessel. Schwester Elisabeth Gruber bittet nach dem Gebet die Gekommenen, morgen eine Marienstüberlkarte mitzubringen, damit sie wenigstens die Namen von allen kennt. „Wir leben vom Überfluss“, sagte sie uns. „Drei Bäckereien – Sorger, Strohmaier und Gaar – spenden uns täglich Brot. Einige Supermärkte geben Lebensmittel, die von ehrenamtlichen Mitarbeitern eingesammelt werden. Ohne die 100 ehrenamtlichen Mitarbeiter und Zivildiener gäbe es kein Marienstüberl“, betont Schwester Elisabeth, die hier im Marienstüberl sehr beliebt ist. Zu Recht: Sie kümmert sich um jeden Einzelnen ihrer Gäste, ganz selbstverständlich, als wären alle ihre Familie. Auf die Frage, wie sie es schafft, so viele Menschen täglich zu betreuen, hat sie eine schnelle Antwort: „Ich sage immer: Ich habe 100 Brüder und 1000 Kinder. Das ist mein Karma. Die Menschen brauchen nicht nur Essen, sondern auch Wärme. Es ist nicht nur der Hunger, der diese Menschen plagt.“

Foto: Ulrike Rauch

NOT HAT VIELE GESICHTER Die Nachfrage ist groß. Das Marienstüberl erlebte in den vergangenen Jahren kaum einen Tag, an dem es nicht bis auf den letzten Platz gefüllt war. 255 Essen wurden im Schnitt pro Tag ausgegeben, Bereits zur Vormittagsjause um 10 Uhr fanden sich meist 60 Menschen ein, in den Wintermonaten waren es bis zu 90 Personen. Die Mittagessen um 12 Uhr und um 13 Uhr wurden durchschnittlich von 170 Personen in Anspruch genommen. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr rund 1.800 Personen im Marienstüberl betreut, 25 % der Gäste waren Frauen und 75 % Männer. Finanzielle Not treibt die Menschen in das Marienstüberl, dahinter stecken familiäre Probleme, Wohnungslosigkeit oder psychische Erkrankungen. Diese Probleme können vom Marienstüberl nicht gelöst werden, aber man versorgt die Menschen mit Nahrung sowie ein wenig Wärme und Geborgenheit. Für die Zukunft würde man gern das Angebot vergrößern, um den Menschen Orientierungshilfen im Alltag und Unterstützung im Umgang mit Behörden bieten zu können. Damit die Stammklientel sich nicht laufend vergrößert.

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Foto: Ulrike Rauch

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IMPRESSUM: Das Diversity-Magazin „ZEITUNG“ erscheint monatlich als Beilage im Magazin XRockZ., Herausgeberin: Tatjana Petrovic, „Cuntra la Kunsthure“, Jakoministraße 8, 8010 Graz, Chefredakteurin: Mag.a Lilli Schuch, Redaktion: Dr.in Alona Bakirova, Elise-Marlene Hörtnagl, Isabella Tösch, lolita de la luna, Philipp Strohmeier, Grafische Gestaltung & Illustrationen: Mag. Jörg Vogeltanz, Tomislav Bobinec, Fotos: Ulrike Rauch, Shutterstock, Nina Friedl. Alle Angaben ohne Gewähr.


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