Klar 45: Respekt und auf Augenhöhe

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Nr. 45 ✶ Sommer 2019 ✶ www.linksfraktion.de Zeitung der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Wie fair, wie gleichwertig, wie respekt­ voll gehen Deutschland Ost und West miteinander um? Im Jahr 30 des Mauer­falls schauen wir auf Renten. Auf Lebensverhältnisse. Auf Kinder, die in Ost und West in Armut leben. Und auf die Treuhand! Unser Schwerpunkt in ­dieser Klar

Wer kündigt, riskiert den Frieden Lange hatte er gehalten: Der Vertrag zwischen den USA und Russland. Keiner sollte mehr den anderen mit atomaren Mittelstreckenwaffen bedrohen. Sie weder produzieren noch testen. Besiegelt wurde das vor mehr als 30 Jahren. Damals zwischen Gorbatschow und Reagan. Das war ein Geschenk für den Frieden. Für alle in Europa, auch für Deutschland.

Jetzt ist dieser Frieden in Gefahr. US-Präsident Trump kündigte den INF-Vertrag – mit ausdrücklicher Unterstützung der NATO-Staaten. Russlands Präsident Putin zog nach. Europa droht wieder zu einem potenziellen atomaren Schlachtfeld zu werden. Was sollte die Bundesregierung tun? Klar befragt dazu Harald Kujat, den ExVorsitzenden des NATOMilitärausschusses.

Mehr auf Seite 12

Kulturtipp

Ostfrauen – waren sie nun emanzipiert oder nicht? Über kaum ein Thema wurde so heftig gestritten wie darüber. Ein Eulenspiegel-Buch klärt auf. Tolle Fotos, tolle Fakten, tolle ­Geschichten. Mehr auf Seite 10

Uneigennützig und zuverlässig, nach Treu und Gewissen … … soll ein Treuhänder arbeiten. Er hat die Pflicht, eine Gefährdung oder Veruntreuung zu vermeiden. Dazu nach bestem Gewissen, Wissen und transparent zu arbeiten. Was aber hat die Treuhand  1990   daraus gemacht? Wie hat die Bundesregierung sie kontrolliert? Die erste Treuhand – von der Modrow-

Regierung und dem Runden Tisch im März 1990 ins Leben gerufen – sollte durch den Erhalt des Volkseigentums und die Zulassung anderer Eigentumsformen absichern, dass die Leute im Osten weiterarbeiten können. Dieser Auftrag spielte schon wenige Tage danach unter der De-Maizière-Regierung

keine Rolle mehr. Es wurde im Eiltempo privatisiert, verkauft, verschleudert, und Menschen wurden in die Arbeitslosigkeit geschickt. Jetzt, fast 30 Jahre später, sind alle Treuhand-Akten zugänglich. Wir wollen Einsicht und bestehen auf einen Untersuchungsausschuss. Mehr auf Seite 8 und 9


Seite 2 ✶ Klar ✶ Sommer 2019 ✶ www.linksfraktion.de

Editorial Gegen Kriegsgefahr, für soziale Gerechtigkeit Liebe Leserin, lieber Leser,

auch noch Gefolgschaft mit verheerenden Folgen auch die Ungleichheit in unserem für Europa. Bundeskanzlerin Land wächst, die Reichen Angela Merkel und Außenmiwerden immer reicher und nister Heiko Maas haben sich die Armen immer zahlreicher. willig hinter den KonfrontatiMittlerweile leben 4,4 Millionskurs der USA gegen Russonen Kinder in Deutschland land gestellt. Gleichzeitig lasin Armut. 30 Jahre nach sen sie diejenigen im Stich, dem Mauerfall ist auch der die sich – wie der Journalist wirtschaftliche und soziale Julian Assange – mutig USAbstand zwischen Ost und amerikanischer Kriegspolitik West bis heute groß, nicht entgegenstellen. zuletzt als Folge der LiquidieSetzen wir uns gemeinsam rung und Privatisierung des ein für einen politischen DDR-Volkseigentums durch Kurswechsel, für soziale die Treuhandanstalt. Die Gerechtigkeit und Frieden: Bundesregierung hält denAbrüstung statt Aufrüstung noch daran fest, viele weilautet das Gebot der Stunde. tere Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr Wir wollen Kooperation mit Russland statt immer neue zu verpulvern. Die geplante Konfrontation. Whistle­blower Steigerung des deutschen brauchen Schutz. Nicht diejeMilitäretats auf 85 Milliarnigen, die Kriegsverbrechen den Euro soll Deutschland aufdecken, gehören vor Gezur größten Militärmacht in richt, sondern dijenigen, die ­Europa hochrüsten. sie begehen und befehlen. Zugleich wächst die Kriegsgefahr. US-Präsident Donald Trump droht Ländern wie Venezuela und dem Iran mit immer härteren Sanktionen Sevim Dağdelen ist stell­ und Militärintervention. vertretende Vorsitzende und Die Bunderegierung leistet ­abrüstungspolitische Spre­ dieser gefährlichen Politik cherin der Fraktion DIE LINKE

Kommentar Reicher Mann, armer Mann Von Petra Pau Die Würde des Menschen ist unantastbar, so beginnt das Grundgesetz. Es geht um die Würde aller Menschen, nicht nur um die der Schönen und Reichen, der Deutschen und Weißen. Doch was erleben wir? Hass grassiert, Gewalt ebenso. Das belegen Zahlen und zeigt der Alltag. Rassisten, Nationalisten und Rechtsextremisten machen mobil. Sie wähnen sich im Aufwind. Aber nicht nur sie gefährden die Würde des Menschen, denn die braucht eine soziale Basis. Hartz IV, Leiharbeit, Ein-Euro-Jobs und Armutsrenten gehören nicht dazu. Jeder vierte Mensch bei uns in Deutschland lebt in Armut. In Europa insgesamt sieht es noch schlimmer aus. Gleichzeitig wächst der Reichtum von Multimillionären und Milliardären. Wie hatte Bertolt Brecht einst geschrieben? »Reicher Mann und armer

Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Noch etwas: Die Rüstungsausgaben steigen und steigen. Derzeit sind sie so hoch wie seit 30 Jahren nicht. Allen voran die der USA, aber auch in Deutschland wird aufgestockt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will noch mehr Geld verpulvern. Ja, es ist etwas faul. Aber es gibt auch die andere Seite. Eine viertel Million Bürgerinnen und Bürger demonstrierten im Herbst 2018 in Berlin für Solidarität und Gerechtigkeit, für Demokratie und Würde. Da waren sie, die vielen. Diejenigen, die jede Demokratie braucht – damit die Würde des Menschen unantastbar bleibt. Petra Pau ist für die Fraktion DIE ­LINKE Bundestags­vizepräsidentin

Auf Augenhöhe

Bessere Zeiten in der volkseigenen Schuh­ fabrik Goldpunkt in Ostberlin. Frauen im März 1983 bei der Arbeit.

Landnahme und Gegenbewegung in Ostdeutschland Deutschland debattiert kritischer denn je den Stand der Deutschen Einheit. Es geht 30 Jahre nach der friedlichen Revolution längst nicht nur darum, wie groß der Abstand bei Renten, Löhnen oder Wirtschaftskraft ist. Der Abstand an sich ist das Problem. Die Zurücksetzung der Ostdeutschen, die sich verfestigt, muss schwinden. Bei jedem Besuch, bei jedem Familientreffen in Ostdeutschland ist es Thema. Alle, die alt genug sind, wissen, wer die Leitungs- und Topfunktionen hier besetzt. Politik und Medien haben das Thema lange weggedrückt. Aber was im Jahr 1990   noch erklärbar war, ist es heute nicht mehr. Warum setzt man den Ostdeutschen meist westdeutsche Vorgesetzte vor die Nase? In nicht wenigen ostdeutschen Städten kommen alle gehobenen Amtsinhaberinnen und -inhaber aus dem Westen: der Bürgermeister, der Sparkassendirektor, der Präsident des Landgerichts, die Rektorin oder der Rektor der Universität. Die Fähigkeiten des Einzelnen spielen keine Rolle. Ostdeutsche haben fast keine Chance, in der eigenen Region in Spitzenfunktionen zu kommen. Und: Ostdeutschland scheint ein Erbhof westdeutscher Netzwerke zu sein. Die Leute haben nicht vergessen, wie viele

Glücksritter in den 1990er Jahren kamen und sich die Filetstücke des Ostens schnappten.

Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag beantragen (siehe Seite 9).

Solche Erfahrungen sind auch mit der Treuhand verkettet. Die Ostdeutschen wählten die Demokratie, bekamen aber auch die Treuhand. Da war nichts mehr mit mehr Mitbestimmung, um die es doch eben noch gegangen war. Im Osten blieb kein Stein auf dem anderen. Die Privatisierung der Wirtschaft war einerseits eine bittere Wahrheitsstunde, was die Produktivität und Effizienz der DDR-Wirtschaft betraf, aber die Ostwirtschaft wurde auch bereinigt, um Platz zu schaffen für bestehende Konzerne in den alten Bundesländern.

Die Bundesregierung sollte abrücken von der Heldengeschichte Aufbau Ost, die allzu oft eine von Aufbau West war. Was damals zerschlagen wurde, konnte bis heute nicht neu entstehen. Die Betriebe der DDR wurden deklassiert und die dazugehörigen Menschen gleich mit ihnen.

»Die Bundesregierung muss Farbe bekennen, sie muss abrücken von ihrer ungetrübten Helden­geschichte vom Aufbau Ost.« Matthias Höhn

Jede Region hatte ihren Skandal, ihren Betrieb, der trotz schwarzer Zahlen und entgegen aller Vernunft zerschlagen wurde: die Werft in Rostock, das Kombinat Schiffsbau, das Kalibergwerk in Bischofferode, der Industriestandort im ehemaligen Bezirk Halle, den die Greiner-Spekulationsgruppe zerschlug. Diese und andere Fälle gehören aufgeklärt und in die Öffentlichkeit. Die Linksfraktion wird dafür einen

Diese Deklassierung muss beendet werden. Ostdeutsche brauchen mehr Chancen auf allen Ebenen. Von einer gesetzlichen Quote ist die Rede, gleichzeitig wird jedoch die Umsetzbarkeit angezweifelt. Ich habe beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags angefragt. Dessen Aussagen nach hat eine Ostquote im Sinne einer Länderquote bereits verfassungsrechtlichen Rang. »Bei den obersten Bundesbehörden sind Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden«, heißt es in Artikel 36 des Grundgesetzes. Damit ist die nun schon 70-jährige Verfassung der aktuellen Politik weit voraus.

Matthias Höhn ist Sprecher für Ostdeutsch­ land der F­ raktion DIE ­LINKE


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Kein Kind sollte arm sein In der Hansestadt Rostock trafen sich Netzwerker gegen Kinderarmut.

Der Rostocker Stadtteil Schmarl ist kein typisches Platten­b au­g ebiet. Runde Fassaden und bunte Klinkerflächen lockern das Bild auf, ein grüner Stadtteil, direkt am Wasser. Trotzdem kämpft Schmarl mit ähnlichen Problemen wie andere DDR-Neubaugebiete: Die Hälfte der Bevölkerung zog seit dem Jahr 1990   weg, fast immer gingen Menschen mit höherem Einkommen. In keiner anderen deutschen Stadt leben Arm und Reich so getrennt wie hier. Steffen Bockhahn, Rostocks Sozialsenator, erklärt es unter anderem mit dem Wachstum der Stadt. Die Hansestadt besteht aus großen Plattenbaugebieten und einem kleinen historischen Kern. Wer genug Geld hat, lebt dort. Das Netzwerk gegen Kinderarmut trifft sich am erstgenannten Ort. Dort, wo hinter den schönen bunten Häuserfassaden jeder Cent dreimal umgedreht werden muss, bevor er einmal ausgegeben wird: im Stadtteil Schmarl. Eingeladen sind Engagierte aus der Praxis und von Verbänden sowie Politiker. Auch Steffen Bockhahn – er steht dem Rostocker Mammutressort Jugend und Soziales, Gesundheit, Schule und Sport vor. Und als Gast der Initiator des bundesweiten Netzwerks gegen Kinderarmut, Dietmar Bartsch. Der Fraktionsvorsitzende der ­LINKEN im Bundestag fühlt sich in Rostock zu Hause, hier ist sein Wahlkreis, er kennt die Probleme, die Steffen Bockhahn benennt: In Rostock lebt jedes vierte Kind in einer »Bedarfsgemeinschaft«, also von Harz IV oder anderen Formen der Grundsicherung. Armut von Kindern ist Armut von Eltern. In Haushalten mit geringem Einkommen bleibt für Kinder wenig übrig. Besonders betroffen: ■ Alleinerziehende ■ Familien mit drei oder mehr Kindern ■ Kinder von ­Eltern mit ­niedrigem Bildungs­ abschluss

2  0 Prozent

der Kinder leben in ­Deutsch­land mit ­einem elter­lichen Einkommen auf Grundsicherungsniveau.

3   0 Prozent sind es in Ostdeutschland und ­sozial schwachen Regionen im Westen.

Im Mai 2018 demonstrierten in Berlin erstmals alleinerziehende Mütter und Väter mit ihren Kindern unter dem Motto »Es reicht für alle«. Dieses Jahr unmittelbar vor dem Muttertag gingen sie erneut auf die Straße für eine »Grund­ sicherung für jedes Kind«.

»Mit den anderen, die knapp über dieser Schwelle auskommen müssen, sind wir bei einem Drittel Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen oder davon bedroht sind.« Doch Bockhahn hat in der Bürgerschaft eine wichtige Entscheidung erkämpft. Ab dem kommenden Schuljahr können alle Schüler kostenfrei den öffentlichen Nahverkehr in der Stadt nutzen. Dass Jugendliche sich unabhängig vom Einkommen der Eltern bewegen können, sei wichtig für eine gute Entwicklung – gerade in einer Stadt wie Rostock, in der unterschiedliche soziale Gruppen stark »unter sich« leben. »Die Stadt verteilt die Tickets unbü-

2  .800.000 Kinder sind laut Kinderschutzbund betroffen.

Folgen für betroffene ­Kinder und Jugendliche: ■ Enge Wohnverhältnisse, kein eigenes Zimmer ■ Oft fehlen Geräte wie ­Computer, Wasch­ maschine, Kühlschrank. ■ Kurse außerhalb der Schule wie Schwimmen, Sport und Musikunterricht sind zu teuer. ■ Klassenfahrten, Kino-, Tier­­­park- oder Theaterbesuche sind selten. Dossier Kinderarmut der Linksfraktion: www.linksfraktion.de/ themen/dossiers/ netzwerk-gegenkinderarmut/

rokratisch über die Schulen, sie müssen nicht extra beantragt werden«, erläutert Bockhahn. Schon jetzt führe die Bürokratie zu »ganz viel Zurückhaltung« bei den betroffenen Familien. Die Familienförderung splittet sich in 160 verschiedene Leistungen, kritisiert er. Die Verfahren müssen »massiv vereinfacht« werden. Verbände wie der Kinderschutzbund und das Netzwerk gegen Kinderarmut fordern eine einheitliche »Kindergrundsicherung«. Sie soll sämtliche Leistungen zusammenfassen, eine Antragstelle haben und den Kommunen somit auch Verwaltungsaufwand sparen.

Vor Ort kann es viele Ideen und Konzepte geben, darin sind sich alle einig, »die zentralen Probleme« jedoch muss die Bundesregierung lösen. Dietmar Bartsch schildert, dass sich auf Bundesebene nur langsam ein Bewusstsein für das Thema arme Kinder entwickelt hat. Noch in der letzten Legislaturperiode kamnicht einmal das Wort im Koalitionsvertrag vor. Der Kinderschutzbund und Sozialverbände schlugen Alarm, weil die

Seit 2014 ist ­Steffen ­Bockhahn Senator für ­Jugend, ­Soziales, Gesundheit, ­Schule und Sport in ­Rostock.

Zahlen dramatisch anstiegen und die Vier-Millionen-Grenze erreicht hatten. Die Fraktion DIE ­LINKE legte im Parlament einen eigenen Aktionsplan vor. »Wenn es öffentlich Druck gibt, bewegt sich auch die Bundespolitik«, sagt Bartsch. Jetzt wird das Netzwerk einen Leitfaden mit positiven Beispielen zusammenstellen. Dazu gehört das Modell Dormagen. Der ehemalige Oberbürgermeister und heutige Kinderschutzpräsident Heinz Hilgers nutzte »mit sehr langem Atem« alle Möglichkeiten, um Kinder gar nicht erst in Armut fallen zu lassen, erinnert sich Bartsch. Das Konzept von Hilgers setzt auf frühen Kontakt zu den Familien, auf Prävention und Vernetzung. Rostocks Sozialsenator Bockhahn will diesen Ansatz auch verfolgen. Es ergibt Sinn, früh mit Hilfe anzusetzen: »Damit die Probleme nicht erst so groß werden.« Malte Daniljuk

Prävention ist nicht alles, aber viel … Als Oberbürgermeister von Dormagen (NordrheinWestfalen) führte Heinz Hilgers 2006 das »Modell Dormagen« ein. Schon vor der Geburt arbeiten Hebammen eng mit den zukünftigen Eltern zusammen. Nach der Geburt eines Kindes besucht ein Sozialarbeiter die Familie. Der Kontakt zu den Familien findet auf Augenhöhe statt. Die kommunale Verwaltung änderte sich dafür: Die Ämter kommunizieren unterein­

ander, die Arbeit zielt auf Unterstützung. Eltern können Beratung und Angebote auch ablehnen. Die reichen von persönlichen Gesprächen bis zum garantierten Betreuungsplatz oder auch der Kostenübernahme für Nachhilfe, Lernmittel oder Mittagessen. Hilfestellungen werden von der Geburt bis zum Beginn der Ausbildung gewährt. Zitat auf der Homepage: »Wir analysieren gemeinsam den Bedarf und

stimmen die Angebote aufeinander ab.« In Dormagen nahmen nahezu alle Eltern an dem Projekt teil. Inzwischen trägt es den Titel »Netzwerk für Familien« (NEFF) und gilt bundesweit als Vorbild. Denn Vorsorge ist besser als Nachsorge. Mehr unter https://­dormagen.de/ leben-in-dormagen/ kinder-familienfoerderung/ netzwerk-fuer-familien/


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Vater, Mutter, Kind und noch mehr Familie

Wie geht Familie heute? Was ist Familie? Und was braucht sie? Fragen, auf die die Familienkonferenz der Fraktion DIE ­LINKE nach Antworten suchte Familie braucht Zeit, kostet Geld und ist »nichts mehr, was einfach so da ist«, so das Statement von Alexander Nöhring auf der Familienkonferenz. Nöhring ist jung, selbst Vater und Geschäftsführer des Zukunftsforums Familie e. V. Familie sei überall dort, sagt er, »wo Menschen dauerhaft füreinander Verantwortung übernehmen, Sorge tragen und Zuwendung schenken«. Also auch bei Paaren ohne Trauschein, bei getrennt lebenden und trotzdem gemeinsam erziehenden Eltern, bei Alleinerziehenden, in Patchwork- und Regenbogenfamilien und immer auch dort, wo gepflegt wird.

Dieser bunte Mix von Familie ist längst Alltag. Nachweislich weniger gelebt wird mittlerweile die »traditionelle« Familienform. Wohnten 1997 Kinder unter 18 Jahren noch zu 81 Prozent in verheirateten Familien, waren es 20 Jahre später (2017) nur noch 70 Prozent. Rasant angestiegen sind dagegen Einelternfamilien. Derzeit gibt es 1,5 Millionen Alleinerziehende, 88 Prozent davon sind Mütter, 12 Prozent Väter. Etwa die Hälfte von ihnen muss mit einem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen von unter 1.700 Euro auskommen. Für alles: Miete, Kleidung, Schule, Kita und fürs tägliche Brot. Dabei arbeiten

Stellt euch vor, kein Kind wäre arm! Was brauchen Familien heute? Wie können Familien vor Armut geschützt werden? Zu tun gibt es viel. Noch zu oft sind politische Maßnahmen auf eine bestimmte Familienform ausgerichtet. Egal, ob im Steuer-, Familien-, Sozialoder Abstammungsrecht. Viele Familien kommen kaum bis gar nicht in den Genuss familienpolitischer Leistungen. Zu hoch der bürokratische Aufwand, zu viele verschiedene Anträge, zu viele Verrechnungen der Transferleistungen untereinander. Generell müssen wir es schaffen, Kinder aus der Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern herauszulösen. Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen. De facto erhalten gerade sie kein Kindergeld. Das

Jobcenter verrechnet es als Einkommen mit der Transferleistung. Die Fraktion DIE ­L INKE streitet darum für eine Kindergrundsicherung und für eine Vision: Stellt euch vor, kein Kind wäre arm! Wie wäre unser Land, wenn eine ganze Kindergeneration ohne Armut aufwüchse? Es könnte sich lohnen, das zu versuchen.

Katrin Werner ist familien­ politische Sprecherin der Fraktion DIE ­LINKE

alleinerziehende Mütter viel häufiger in Vollzeit als Mütter in Paarfamilien. Obendrein benachteiligt sie das Steuerrecht. Alleinerziehende besteuert die Regierung fast so hoch wie Singles. Bei vielen familienpolitischen Leistungen fallen sie mehrheitlich durch das Raster. Entweder, weil diese fast immer auf Paarfamilien zugeschnitten sind, oder weil sie mit anderen Transferleistungen verrechnet werden. Lisa Yashodhara Haller von der Universität Hildesheim untersuchte den Einfluss staatlicher Faktoren auf die Arbeitsteilung junger Eltern. Immerhin hätten 60 Prozent gern mehr »Partnerschaftlichkeit« in Job und Familie. Dieser Wunsch scheitert allerdings am Verdienst. Noch immer sind Männer die »Hauptverdiener«, Frauen verdienen dazu, häufig in Teilzeit. Vätermonate, so die Wissenschaftlerin, würden darum auch gar nicht oder nur kaum genommen, weil viele Familien sich das »finanziell schlichtweg nicht leisten können«. Politikwissenschaftler Alexander Nöhring nennt diese alte neue Abhängigkeit »modernisiertes Ernährermodell«. Das Fazit: Familienpolitik heute muss die besonderen Lebenslagen und Lebenskonstellationen im Auge haben. Neben Vater, Mutter, Kind eben auch Frau-Frau- oder Mann-Mann-Familien, Einelternfamilien, solche, die in Trennung leben, und die, in denen gepflegt wird. Sie alle brauchen mehr Zeit für Sorgeund Familienarbeit. Und ja, es geht dabei auch um Geld. Familien verdienen es – in welcher Lebensphase auch immer –, unterstützt und vor Armut geschützt zu werden. Gisela Zimmer

Stichwort Familie Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist meist noch »traditionell«: Frauen arbeiten Teilzeit, Männer bringen das Geld nach Hause. Junge Eltern wünschen sich mehr Partnerschaftlichkeit. ­Alexander Nöhring, Geschäftsführer des Zu­ kunftsforums Familie e.V.

Die neue Familienpolitik ist geschlechterpolitisch fortschrittlich und zugleich sozial ungerecht. Mütter – nicht die Väter – nehmen die Leistungen (z. B. Elternzeit) zur Kindes­ fürsorge in Anspruch. Lisa Yashodhara Haller, Institut für Sozial- und Orga­ nisationspädagogik der Stif­ tung Universität Hildesheim

Alleinerziehende Frauen gehören im Vergleich zu E­ ltern in Paarbeziehungen an ­Werktagen mit durchschnittlich elf Stunden zu den zeitlich am stärksten belasteten Familien­personen. ­Miriam ­Hoheisel, Bundes­ geschäftsführerin des Ver­ bandes alleinerziehender Mütter und Väter e. V.

Wir Alleinerziehende brauchen Zeit für unsere Kinder und für uns. Genügend Geld, um zu leben. Ein Zuhause – und zwar ein bezahlbares, mit gutem sozialen Umfeld. Wir brauchen Anerkennung. Und wir verdienen sie auch! Christine Finke, drei Kinder, Buchautorin, Stadträtin, Bloggerin

Selbst bei der Ehe für alle sind die Ehepartner*innen nicht automatisch Eltern ihres Kindes. Ebenso fehlt die Mutterschafts-/Eltern­ schaftsanerkennung außer­ halb der Ehe analog der Vater­schaftsanerkennung. Constanze Körner, Vor­ständin Lesben Leben Familie e. V.

Das Bündnis KINDERGRUNDSICHERUNG schlägt eine monatliche Kindergrund­sicherung in Höhe von 628 Euro vor. Vorteil: Viele einzelne Förderleistungen fallen weg, werden durch diese eine ersetzt. Folgen: Arme Kinder werden besser unterstützt; auch mittel- bis gutverdienende Familien werden stärker entlastet; die Beantragung wird einfacher; die Ausgaben sind besser ­kalkulierbar. Katrin Frank, Paritätischer Gesamtverband, Referentin für Familienhilfe/-politik, ­Frauen und Frühe Hilfen


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Nichts auf die lange Bank schieben Der Grund- und Förderschullehrer Sören Pellmann gewann 2017 im Wahlkreis Leipzig-Süd ein Direktmandat für DIE ­LINKE. Das hatte zuvor noch niemand aus seiner Partei bei einer Bundestagswahl in Sachsen geschafft. 39 090 Wählerinnen und Wähler haben sich gesagt: Den Mann schicken wir nach Berlin, dem vertrauen wir, der macht da was für uns. Vielleicht hängt dieser Zuspruch auch damit zusammen, dass sich Sören Pellmann schon in der Lokalpolitik einen guten Namen gemacht hatte. Seit 2009 ist er Mitglied der Linksfraktion im Stadtrat Leipzig, seit 2012 deren Vorsitzender. Er ist in Leipzig-Grünau groß geworden, kennt dort jeden Pflasterstein. In den 1980er Jahren mit Fernheizung, Warmwasser aus der Wand, Müllschlucker und Fahrstuhl für viele eine begehrte Adresse, gilt die Plattensiedlung heute als sozialer Brennpunkt. Die Mieten sind dort noch vergleichsweise niedrig, die Arbeitslosenzahlen hoch, jeder Dritte – darunter viele Migranten – ist Empfänger von Sozialleistungen. Die Gegend um die Stuttgarter Allee wird von den Behörden als »gefährlicher Ort« eingestuft. Genau dort hat Sören Pellmann sein Wahlkreisbüro. Die Fassade wurde gerade erst wieder mit Hassparolen gegen Antifaschisten beschmiert, sein Auto komplett abgefackelt. Und trotzdem oder gerade deshalb ist Sören Pellmann präsent, bemüht sich um Verständigung und sucht nach Lösungen. Gemeinsam mit

der städtischen Wohnungsbaugenossenschaft hat die Linksfraktion im Stadtrat zum Beispiel den Einsatz von »sozialen Hausmeistern« ins Leben gerufen. Die sind nicht nur da, wenn der Wasserhahn tropft, sondern helfen auch mal beim Ausfüllen von Formularen oder schlichten Streitigkeiten. Eine Idee, die sich als so gut erwiesen hat, dass sie inzwischen auch von anderen Großvermietern aufgegriffen wird. Sören Pellmann hat seine Stadt auch als Bundestagsabgeordneter nicht aus dem Blick verloren. Als Mitglied im Sport­ ausschuss macht er seinen Einfluss auf Entscheidungen zur Sportförderung geltend, die für Leipzig ein großes Thema ist. Im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ist er mitverantwortlich dafür, dass seine Heimatstadt 25 Millionen Euro aus dem Digitalpakt bekommt. Als Sprecher für Inklusion und Teilhabe in der Bundestagsfraktion hat er sich gerade erfolgreich für ein ganz großes Ziel stark gemacht, das nicht nur den Menschen in seinem Wahlkreis, sondern insgesamt weit über 80 000 Menschen zugutekommt: die Abschaffung einer Klausel, die Behinderte von ihrem Recht ausschließt, sich an Wahlen zu beteiligen. Obwohl sich die Große Koali-

Sören ­Pellmann beim 5. Parlamentarier­tag der Fraktionsvorsitzendenkonferenz der ­Linken in Leipzig

tion im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet hatte, wurde eine Entscheidung zum inklusiven Wahlrecht immer wieder verzögert. Nach ihren Vorstellungen sollte erst am 1. Juli 2019, also gut einen Monat nach der Europawahl, ein entsprechendes Gesetz in Kraft treten. Was ganz skurrile Folgen gehabt hätte: In Brandenburg zum Beispiel ist die Ausschlussklausel aufgehoben, da dürfen die Betroffenen bei der Kommunalwahl ihre Stimmen

abgeben, bei der gleichzeitig stattfindenden Europawahl jedoch nicht. Etwas auf die lange Bank schieben ist nicht Sören Pellmanns Ding. Am 15. März 2019 appellierte er im Bundestag noch einmal an die Regierungsparteien, das Wahlrecht für alle zu ermöglichen. Vergeblich. Deshalb zog er mit einem Eilantrag vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Grüne und FDP schlossen sich an. Am 15. April entschied das Gericht im Sinne der Betroffe-

Leipzig-Grünau im Wandel der Zeit …

Hohes Alter, niedrige Einkommen ■ Der Stadtteil Grünau liegt

westlich von ­Leipzig, wurde 1976 erbaut. Damals die größte ­Neubausiedlung im deutschsprachigen Raum. ■ Mit 36 000 Wohnungen für maximal 100 000 Menschen war Leipzig-Grünau als eigene Stadt geplant. ■ Zur Wendezeit lebten 85 000 Einwohner dort. Es gab eine gute Infrastruktur: Schulen, Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten, viele Grünflächen. ■ Seit 1990 halbierte

sich die Einwohnerzahl, teilweise ­standen bis zu 80 ­Prozent der Wohnungen leer – die Stadt begann mit »Rückbaumaßnahmen«. ■ Der Altersdurchschnitt heute ist hoch, die Ein­ kommen sind niedrig. Zugezogen sind viele ­Migranten mit ihren Familien. ■ Beziehen in Leipzig durchschnittlich 14,2 Prozent der ­Einwohner unter 65 Jahren Hartz- IV-Leistungen, sind es in ­Leipzig-Grünau 38 Prozent.

nen, und am 17. Mai beschloss der Bundestag endlich auch das Gesetz. In Leipzig-Grünau hat auch die AfD bei der Bundestagswahl sehr viele Stimmen bekommen. Sören Pellmann kämpft für eine bunte, solidarische Gesellschaft. Immer wieder sucht er das Gespräch. Zum Beispiel bei seinen Bürgerforen im Grünauer offenen Freizeittreff, dessen Name für ihn Programm ist: Völkerfreundschaft. Tatjana Behrend


Seite 6 ✶ Klar ✶ Sommer 2019 ✶ www.linksfraktion.de

Es ist ein schäbiges deutsch-deutsches Rentenkapitel. Geschiedene ostdeutsche Frauen werden bis heute vom westdeutschen Versorgungsausgleich ausgeschlossen.

Scheidung im Osten Rentenkatastrophe nach der Einheit Jeden letzten Dienstag im Monat treffen sich die Magdeburger Frauen des Vereins der in der DDR geschiedenen Frauen. Vor genau 20 Jahren gründeten sie ihre Gemeinschaft. Der Grund: Die ersten von ihnen hatten ihren Rentenbescheid bekommen, und der ergab Unglaubliches. Obwohl die meisten von ihnen 35, 40 und manchmal mehr Jahre gearbeitet hatten, lag die monatliche Rente weit unter der Grundsicherung.

»Wenn Unrecht zu Recht wird, wird ­Widerstand zur Pflicht.« Bertolt Brecht

Zum Beispiel Anita Eschgerber. Sie muss mit monatlich 639 Euro netto auskommen. Da ist die sogenannte Mütterente für ihre Zwillinge schon dabei. Gelernt hatte sie einst Uhrmacherin, jung geheiratet, die Kinder bekommen, diese bis zum dritten Lebensjahr betreut, gleichzeitig jedoch auch stundenweise in der Werkstatt ihres Mannes die Büroarbeit erledigt. Damals gab es auch im Osten noch keine flächendeckende Kita-Betreuung. Allerdings konnten sich die damaligen Mütter ihren gesetzlichen Rentenanspruch durch eine freiwillige Versicherung erhalten. Und später, für die eigene Rentenberechnung, zählten ohnehin die letzten 20 Arbeitsjahre. Da waren die Kinder längst aus dem Haus und die Frauen wieder in Vollzeit. Anita Eschgerber arbeitete zuletzt als Empfangssekretärin in einem Hotel. Mit dem eigenen Gehalt hätten sie und alle anderen Mütter auf eine eigene, gute und vom Ehemann unabhängige Rente bauen können. Selbst nach einer Scheidung. Anita Eschgerbers offizielle Ehetrennung war im April 1989, nur wenige Monate vor dem Mauerfall. Ein Anrecht auf den im Westen seit 1977 üblichen Versorgungsausgleich hat sie dennoch nicht. Die DDR sah ihn nicht vor und somit wurden den geschiedenen DDRFrauen diese aus Ehezeiten gemeinsamen Versorgungsansprüche nicht zugebilligt. Die juristische und politische Begründung lautet: Für die DDR-Ehemänner muss der Bestandsschutz gelten.

Verein der in der DDR geschiedenen Frauen e. V. ■ Der Zusammenschluss

Anita Eschberger,   70 Jahre alt, lebt   von einer miesen   Geschiedenenrente

­erfolgte 1999. ■ Gruppen vor Ort existieren in allen neuen Bundesländern. ■ Nach einer Übergangszeit mit einem Rentenüberleitungsgesetz beseitigte der Gesetzgeber mit Anwendung des Sozialgesetzbuches VI (Westrenten­recht) ab 1. Januar 1997 den Eigentums-, Bestandsund Vertrauens­schutz für Alterssicherungs­ ansprüche der Frauen aus der DDR. Die Folge: verminderte Versicherungsrenten und eine frauen­spezifische Diskriminierung.

»Für mich ist das der Lakmus­test der Bundes­ regierung. Menschenrechte fangen nicht erst an, wenn Leib und Leben bedroht sind. Es ist eine massive Würdeverletzung, wenn man 30 ­Jahre lang ein Drittel ­seiner Rente nicht ­bekommt, wofür man ein ­Leben lang viel g­ earbeitet hat und ver­ sichert war.« Marion Böker Die Ex-Ehefrauen haben damit kein Problem. Recht soll Recht bleiben. Doch warum bekommen sie keinen Bestandsschutz zugebilligt? Warum wurde für sie – mit der Scheidungssituation – dann nicht die Rentenberechnungsformel aus DDR-Zeiten angewendet? Inzwischen sind die Frauen 70, 80 und noch mehr Jahre alt, und

■ Worin besteht die Unge-

rechtigkeit? Das geltende Bundesrecht berücksichtigt für die geschiedenen Ostfrauen weder die besonderen Regelungen, die es für sie zu DDR-Zeiten gab, noch die Regelungen der BRD für Geschiedene (Versorgungsausgleich oder GeschiedenenWitwen­rente). ■ Geschiedene Frauen in der DDR waren beim Erwerb von Rentenanwartschaften nicht auf einen Versorgungsausgleich angewiesen. Mehr unter www.verein-ddr­geschiedener-frauen.de Seit 2010 berät Marion Böker die in der DDR geschiede­ nen Frauen. Sie brachte die Renten­benachteiligung bis zum CEDAW – dem UN-Aus­ schuss zur Beseitigung jeder Form von Frauendiskriminie­ rung. Deutschland gehört zu den Vertrags­staaten, damit sind die Empfehlungen der Kommission verbindliches internationales Recht.

sie beziehen erbärmlich geringe Renten: knapp 400 Euro, 580 Euro, 650 Euro, 800 Euro. Mal ein paar Euro mehr, mal ein paar weniger – aber immer weit unter der Grundsicherung. Und das trotz Arbeit. Die Grundsicherung zu beantragen, das wird den Frauen immer und immer wieder nahegelegt.

Sie lehnen das ab. Sie seien keine Sozialhilfeempfängerinnen, sie wollen keine Almosen, sie wollen ihre gerechte Rente. Sie wollen Entschädigung für die bisher verloren gegangenen Rentenjahre, und sie wollen zukünftig monatliche Ausgleichszahlungen. Das alles hat der Vorstand des Vereins der in der DDR geschiedenen Frauen

Vor 20 Jahren gegründet: die in der DDR geschiedenen Frauen in Magdeburg. Sie kämpfen um die Anerkennung ihrer Rentenansprüche

Anfang April 2019 erneut im zuständigen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgebracht. Zusammen mit Marion Böker. Sie ist Menschenrechtsanwältin und begleitet die in der DDR geschiedenen Frauen seit neun Jahren. Sie brachte diese Rentenungleichbehandlung vor die UN-Frauenrechtskonvention. Mit Erfolg. Der Bundesregierung wurde mitgeteilt, die Benachteiligung der DDR-Frauen sei eine Menschenrechtsverletzung. Sie sollte bis März 2019 staatliche Modelle entwickeln, die die Rentnerinnen für den bisherigen Verlust entschädigen und zukünftig für einen Ausgleich sorgen. Im Übrigen sah auch schon der Einigungsvertrag mögliche Sonderregelungen für die betroffenen Frauen vor. Man hätte sie suchen und finden können, spätestens als die ersten geschiedenen Frauen in die Rente gingen. Keine einzige Bundesregierung hat es gekümmert. Die Frauen wurden abgewimmelt, hingehalten, vertröstet. Und waren es zum Gründungsbeginn noch 800 000 Frauen, die sich beim Verein meldeten, leben inzwischen zwischen Rostock und Suhl, Sassnitz und Chemnitz nur noch 300 000 betroffene Frauen. Mit einer schäbigen Rente, die mit ihrer tatsächlichen Lebensleistung nichts zu tun hat. Gisela Zimmer


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Reparieren für ein Stück Gerechtigkeit Die Streichliste von Zusatzrenten­ ansprüchen aus DDR-Zeiten ist lang. Sie trifft Ingenieure, Krankenschwestern, Ballett­tänzer und -tänzerinnen, Ärzte und Ärztinnen im öffentlichen Dienst sowie Handwerker gleichermaßen. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow warb im Bundestag für die Anerkennung dieser erarbeiteten Altersansprüche. Das war eine Premiere. Noch nie hatte Bodo Ramelow – seitdem er der erste Mann im Thüringer Land ist – sein Rederecht im Bundestag wahrgenommen. An diesem 10. Mai 2019 wollte er es unbedingt. Weil es »schön wäre«, wie es in seiner Rede heißt, »wenn wir im 30. Jahr des Mauerfalls den Menschen im Osten sagen können: Wir reden nicht nur über Gerechtigkeit, sondern

»In den 1990er ­Jahren hat man in einer ­Geschwindigkeit ­Entscheidungen ­getroffen, die man mit mehr Zeit so nicht ­getroffen hätte.« Bodo Ramelow

wir arbeiten gemeinsam daran, sie herzustellen.« Gemeinsam – das ist Ramelow wichtig. Er erläutert den Antrag der Fraktion DIE ­LINKE, die Rentenanteile, die sich Frauen und Männer zu DDR-Zeiten zusätzlich zu ihrer Rente erarbeitet und angespart haben, nach drei Jahrzehnten auch endlich anzuerkennen. Insgesamt sind 17   Berufsgruppen betroffen. Künstler sind dabei, mithelfende Familienmitglieder, medizinisches Personal, Leute von der Bahn, Beschäftigte von Hochschulen, Handwerker, Selbstständige. Und ja, auch die geschiedenen Frauen (siehe Beitrag Seite 6). Die Altersansprüche der Genannten fielen nach einer kurzen Übergangsfrist ganz weg oder sie wurden gekürzt oder schlicht vergessen. Das könne »passieren«, sagt Bodo Ramelow. In den 1990er Jahren habe man »in einer Geschwindigkeit Entscheidungen getroffen, die man mit mehr Zeit so nicht getroffen hätte«. Zurückdrehen lässt sich nichts, aber fast 30 Jahre später gingen Erkennen und Anerkennen. Dazu gehört halt, dass sehr viele

verschiedene, ganz normale Berufstätige mit ihrer Rente in der Bundesrepublik durch den Rost gefallen sind. Mehr als eine Stunde lang wird debattiert. Die CDU zieht sich auf die »statistische Ostdurchschnittsrente« zurück. Die aber ist ein Papiertiger, eine Summe, die über die tatsächlichen Monatsrenten gar nichts aussagt. Die Grünen plädieren für einen Ausgleichs- und Entschädigungsfonds in Sachen der in der DDR geschiedene Frauen. Die FDP balanciert so dazwischen, sagt ja, mal schauen, Hauptsache die Kassen werden nicht belastet. Und die SPD wünscht sich eine »gesellschaftliche Befriedung«, möchte gleichzeitig weg von den Maximalforderungen. Sie glaubt an die Regelung für Härtefälle in der Grundsicherung. Dazu soll es im Dezember dieses Jahres einen Vorschlag geben.

»Für Härtefälle in der Grundsicherung im Rentenüberleitungsprozess wollen wir ­einen Ausgleich durch eine Fonds­ lösung schaffen.« Aus: Koalitionsvertrag 2018

Gut, sagt Bodo Ramelow, aber das stünde seit über einem Jahr bereits im Koalitionsvertrag. Zitat: »Für Härtefälle in der Grundsicherung im Rentenüberleitungsprozess wollen wir einen Ausgleich durch eine Fondslösung schaffen.« Unterschrieben wurde der Vertrag am 12. März 2018. Passiert ist seitdem nichts. Und die Zeit läuft. Gegen alle Menschen, deren Lebensbiografien bis heute rentenrechtlich nicht anerkannt wurden, und das nur, weil sie dem westdeutschen Versorgungssystem fremd waren. Gisela Zimmer

Bodo Ramelow, seit Dezember 2014 Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, macht erstmals von seinem Rederecht im Bundestag Gebrauch.   Er setzt sich für die Anerkennung der Zusatzrenten aus DDR-Zeiten ein.


Seite 8 ✶ Klar ✶ Sommer 2019 ✶ www.linksfraktion.de

T­ reuhandTrauma Der Runde Tisch erteilte im März 1990 der Treuhand den Auftrag: »Das Volkseigentum wahren und im Interesse der Allgemeinheit verwalten.«

Aufarbeitung

Die Folgen

Die Treuhand kontrollierte etwa 14 000 Betriebe mit mehr als 4 Millionen Beschäftigten. 2,4 Millionen Hektar Wald und 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien. Viele Betriebe wurden abgewickelt oder aufgespalten.

Bis 1993 verschwanden gut 4,361 Millionen Arbeitsplätze.

Klagen und Verfahren wegen Insiderhandels, Preisabsprachen und Subventionsbetrugs.

Die Kosten

Bis 1994 wurden 3 Millionen Ostdeutsche arbeitslos oder in »arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen« geparkt.

Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder schätzte den Wert des DDR-Volksvermögens auf etwa 300 Milliarden Euro.

Prominente Fälle: Kombinat Schiffbau in Rostock, VEB dkk Scharfenstein, Aufbau Verlag, VEB Wärmeanlagenbau in Berlin.

Noch 1998 waren fast 2,5 ­Millionen Menschen in Ostdeutschland auf ­Arbeitssuche.

Nach der Auflösung hinterließ die Treuhand einen Schuldenberg von mehr als 125 Milliarden Euro.

Untersuchungsausschüsse von 1993 bis 1998 ohne Einsicht in die vollständigen Akten.

Besetzt. Gestreikt. Gehungert. Bischofferode in Thüringen war das Zentrum des Kalibergbaus in der DDR. Im April 1993 besetzten 500 Bergleute das Kaliwerk »Thomas Müntzer«. Mit einem Hungerstreik protestierten sie gegen die Abwicklung durch die Treuhand.

Gerhard Jüttemann arbeitete als Dreher im Kaliwerk und war stellvertretender Betriebsratsvorsitzender. Sie haben damals die Protest­bewegung gegen die Treuhand mitinitiiert.

Gerhard Jüttemann im Mai 2000   im stillgelegten Kalischacht  »Thomas Müntzer« in Bischofferode.

Was haben Sie erreicht? Wir haben den Arbeitskampf verloren. Der zielte darauf ab, die Arbeitsplätze in Bischofferode zu erhalten. Trotzdem haben wir den Verantwortlichen sehr viel abgerungen. Mit Hilfe von Bodo Ramelow. Er war damals Gewerkschaftsvorsitzender und kannte sich mit Verhandlungen aus. Wir erreichten einen Sozialplan, ein Schmerzensgeld, und zwei Jahre wurde niemand entlassen. Außerdem haben wir vielen Menschen im Osten ein bisschen Mut gemacht, sich zu wehren. Warum hat die Treuhand den Kalibergbau in Bischoffe­rode abgewickelt? Die Treuhand hat auf Drängen von BASF und Kali und Salz den Fusionsgedanken aufgegriffen. Bischofferode hat der BASF einfach nicht ins Konzept gepasst. Wir haben unsere Produkte vor allem nach Nord- und Westeuropa geliefert, waren also die größten Konkurrenten für BASF. Indem sie unsere Produktion abschnitten, zwangen sie die Abnehmer, das Kali aus Hessen zu kaufen.

Kumpel des thüringischen Kaliwerkes in Bischofferode.   Im Juli 1993 traten sie in den Hungerstreik.

Das Ziel der Treuhand war es eigentlich, Arbeits­ plätze zu erhalten! (lacht) Das haben sie auch geschafft, aber fast ausschließlich in Westbetrieben. Die Ostbetriebe hat man abgewickelt. Von den 30 000 Arbeitsplätzen in der Kaliindustrie sind gerade mal 10 Prozent übrig geblieben.

Im Weltmaßstab stand Kali-Ost damals vor dem Westunternehmen Kali und Salz. Letztlich hat die Treuhand Gelder zweckentfremdet, um einen großen Konzern im Westen zu sanieren und zu retten. Das Interview führte Malte Daniljuk


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Eine Frage des Respekts »Unfug«, sagt Ex-Finanzminister Theo Waigel. Thilo Sarrazin, damals für die Treuhandaufsicht im Finanzministerium zuständig, findet es »albern«, einen Untersuchungsausschuss zur Treuhand einzurichten. Der Zuspruch, der mich dagegen vor allem aus Ostdeutschland erreicht, spricht eine andere Sprache. Es gibt ein großes Bedürfnis nach Aufarbeitung. Und die heftigen Gegenreaktionen zeigen, dass dieses Thema denjenigen, die bis heute die Nachwendepolitik verteidigen, ziemlich unangenehm ist. Die Treuhandpolitik ist der Kardinalfehler der Nachwendezeit. Natürlich war der Zustand der DDR-Wirtschaft vielerorts schlecht, aber dieses Argument trägt nicht, denn dann hätte die Treuhand den Zustand verbessern müssen. Aber ihre Bilanz ist verheerend. Die Treuhandpolitik war – besonders in der Art und Weise, wie Dinge durchgesetzt wurden – die Fortsetzung des Kalten Kriegs mit anderen Mitteln. So hätte »West« mit »Ost« niemals umgehen dürfen. Viele Wunden sind nicht geheilt. Wer auch die emotionale Einheit nach 30 Jahren vollenden will, muss noch einmal zurückschauen. Dafür brauchen wir eine parlamentarische Untersuchung, ohne

die eine notwendige wissenschaftliche Aufarbeitung unzureichend bleibt. Nur ein solcher Ausschuss kann entscheidende Akten, die jetzt nach 30 Jahren zugänglich werden, in kurzer Zeit anfordern und die politisch Verantwortlichen von damals vorladen. Die Treuhand war kein Staat im Staate. Wer die Berichte des Bundesrechnungshofs aus den 1990er   Jahren liest, hätte einige Fragen an die ehemalige Leitung des Finanzministeriums. Die Rechnungsprüfer beschreiben ein Komplettversagen in Sachen Treuhandaufsicht. Das Ministerium werde seiner »politischen und finanziellen Verantwortung nicht gerecht«. Einerseits wurde die Führungsebene der Treuhand von der Haftung selbst bei grob fahrlässigem Handeln befreit, andererseits überließ das Ministerium die Treuhand sich selbst. War es Überforderung in politisch bewegten Zeiten oder wollte man in Bonn nicht genau wissen, was bei der Treuhand vor sich geht? Wir brauchen einen Untersuchungsaus schuss, in dem Waigel, Sarrazin und andere erklären, warum sie der Treuhand nicht auf die Finger geschaut haben. Sarrazin sagte 2010 über seine damalige Aufgabe im Finanz-

ministerium: »Jetzt wickeln wir das ganze Zeug möglichst schnell ab.« Falls dies die politische Vorgabe des Ministeriums war, hätten wir noch eine ganz andere Dimension. Denn das Plattmachen der ostdeutschen Industrie war mitnichten der gesetzliche Auftrag der Treuhand. Ja, sie sollte privatisieren, aber die »Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herstellen und somit Arbeitsplätze sichern und neue schaffen«. Diesen Auftrag hat sie nicht erfüllt. Aber wurde dies geduldet oder befördert? Die Aufsichtsverweigerung hat Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven im Osten zerstört. Es ist eine Frage des Respekts gegenüber den Millionen Menschen, die damals ihren Job verloren, diese Zeit im Parlament aufzuarbeiten.

Dietmar Bartsch ist Vorsitzen­der der Fraktion DIE ­LINKE

Antrag: Einsetzung eines Unter­ suchungs­ ausschusses zur Treuhandanstalt

»Das TreuhandTrauma ist nicht überwunden.« Dietmar Bartsch:

Ganze Regionen plattgemacht Abwicklung, Ausverkauf, Betrug – das verbinden viele Ostdeutsche mit der Treuhand. Aus gutem Grund: Die Art und Weise, wie gewaltige Vermögensbestände privatisiert wurden, hat zur anhaltenden Strukturschwäche ostdeutscher Bundesländer wesentlich beigetragen. Die Treuhand und die damalige schwarz-gelbe Regierung haben dafür gesorgt, dass selbst lukrative Filetstücke zu Spottpreisen an westdeutsche und ausländische Investoren verhökert wurden. Die Käufer selbst hatten selten Interesse an einer Aufrechterhaltung der Produktion. Deindustrialisierung, Vernichtung von Arbeitsplätzen, Enteignung der Bevölkerung mit teilweise korrupten Methoden – das ist die traurige Bilanz einer Behörde, die das Gegenteil treuhänderischer Politik betrieben hat. Wenn die eigene Leistung und Qualifikation plötzlich nichts mehr zählt, wenn man seine Arbeit verliert, weil selbst gewinnträchti-

ge Betriebe als »marode« abqualifiziert und plattgemacht werden, dann reißt das tiefe Wunden. Zumal das zweifelhafte Agieren der Treuhandanstalt bis heute nachwirkt: Noch immer sind Ostdeutsche kaum in Führungspositionen vertreten, sie arbeiten häufiger zu Niedriglöhnen und besitzen im Durchschnitt gerade mal ein Drittel so viel Vermögen wie westdeutsche Haushalte. Sicher: Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Aber man sollte mindestens Fehler und Verantwortliche benennen und Letztere dazu zwingen, Rechenschaft abzulegen.

Sahra Wagenknecht ist Vorsitzende der Fraktion DIE ­LINKE

Hände weg von unseren Seen Sich wehren hat Erfolg. Privatisierungsstopp von volkseigenen Seen Mit mehr als 110 000 Unterschriften war sie eine der erfolgreichsten Initiativen im Bundestag: die Petition gegen die Privatisierung ehemals volks­e igener Seen in Ostdeutschland. Carsten Preuß, heute Abgeordneter der Linksfraktion in Brandenburg, hatte sie im Jahr 2009 initiiert. Rund 15 000   Hektar Wasserfläche waren bereits privatisiert, allein in Brandenburg knapp 10 000   Hektar. Weitere 15 000 Hektar wollte der Bund meistbietend verkaufen. Dazu stellte Jan Korte, 1. Parlamentarischer Geschäftsführer, im Namen der Bundestagsfrak-

tion DIE ­LINKE im September 2018 eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung. Unter massivem politischem Druck musste der Bund die Privatisierung stoppen und die Seen an die Bundesländer übergeben. Ein grandioser Erfolg! Leider hat der Bund die Seen, die er selbst nach der Wende kostenlos übernommen hatte, nicht wie gefordert auch kostenlos herausgegeben. Aber Vorzugspreise konnten die Bundesländer raushandeln. Brandenburgs linker Finanzminister Christian Görke kaufte für 6,9 Millionen Euro 194 Seen. Davon wurden bereits 143 kos-

tenlos an die Kommunen gegeben, und weitere Gespräche laufen. Damit bleiben die Seen öffentliches Eigentum. Fazit: Man kann Dinge ändern. Und: Es ist nicht egal, wer regiert!

Kirsten Tackmann ist Abgeordnete der Fraktion DIE ­LINKE aus Brandenburg


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Selbstbewusst. Selbstbestimmt.Stark. Frauen aus dem Osten werden ­­wieder­ entdeckt: in Filmen, Dokumentationen und in Büchern. Auch die Eulenspiegel­ Verlagsgruppe legte mit »Emanzipiert und stark. Frauen aus der DDR« ein wunderbares Foto-FaktenGeschichten-Lesebuch vor. Es ist ein tolles Buch, das muss ich gleich vorweg sagen. Warum? Es ist so wunderbar frei von ideologischem Müll. Auch frei von Schmerz-HerzBauchgefühlen. Die beiden Autorinnen – übrigens ein WestOst-Gespann – machten etwas Vernünftiges. Sie recherchierten aufwendig, gingen ganz tief in die Anfänge der beiden geteilten Deutschländer. Sie legen das Grundgesetz der Bundesrepublik neben die DDR-Verfassung. Sie knöpfen sich erlassene Gesetze vor, immer unter dem Aspekt: Was wurde den Frauen auf beiden Seiten wann und in welchem Umfang gesetzlich ermöglicht und – wie wirkte sich das aus auf den Alltag, auf die Paarbeziehungen, auf die berufliche Karriere? Was trocken klingt, liest sich hochspannend. Eine ermutigende Erinnerung: Wie war das damals? Welche Rahmenbedingungen gab es für DDRFrauen? Scheidungsrecht, das Recht auf Kinderbetreuung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die kostenlose Pille, kein kriminalisierender Paragraf 218, selbstverdientes Geld, finanzielle Unabhängigkeit vom Partner. Nichts wird schöngeredet. Denn Arbeit, Kinder, berufliche Weiterbildung, Ehe, Freunde – das alles zusammenzubekommen, war nie leicht. Und ja, es stimmt, die Familienarbeit blieb auch in der DDR vorrangig bei den Frauen hängen. Davon erzählen die Interviews im Buch. Simone Barrientos zum Beispiel, schwanger in der Lehrlingsausbildung, dazu noch

in einer Männerdomäne: Elektrikerin lernte sie damals. Heute ist sie Abgeordnete der Linksfraktion. Oder Dagmar Enkelmann. Studentin mit Kind. Gesine Lötzsch, einst Dozentin an der Humboldt-Universität, stieg 1991 in die Politik ein, findet zwar, dass die Quote eine »Krücke«, aber unbedingt notwendig sei. »Emanzipiert und stark. Frauen aus der DDR« erscheint in einer günstigen Zeit. 30 Jahre Mauerfall, da lässt der Abstand inzwischen einen anderen Blick zu. Die Geschichten sind Geschichten von Frauen aus einem untergegangenen Land. Aber was diese Frauen konnten, sich selbstverständlich nahmen und was sie stark machte, das ist nicht vergessen. Es ist an der Zeit, sich zurückzuholen, was Frauen emanzipiert leben lässt. Gisela Zimmer

Emanzipiert und stark. Frauen aus der DDR. Verlag Neues Leben, Dagmar Enkelmann, Dirk Külow (Hrsg.), 256 Seiten, 19,99 Euro

Quatro Dido Weiss König

Dehms Musik-Kritik Der Liedermacher und Bundestagsabgeordnete Diether Dehm ( DIE LINKE) bewertet Neuerscheinungen.

Schon Geschichte! Frauen aus der DDR in fast allen Jobs: ­Bäckerin, Kriminal­technikerin, Landwirtin.

Suzi Quatro: No Control Mit fast 70 Jahren immer noch pure Power. Und dies in Zusammenarbeit mit dem eigenen Sohn. Alles in allem: voller Sex und Rock ’n’ Roll = Vorboten eines geilen dritten Lebensabschnitts. Den wir in Zukunft erkämpfen sollten. Nieder mit dem Jugendwahn!

Dido: Still On My Mind Allein eine einzigartige Stimme bringt’s halt nicht. Wenn die Werke derart lahm runtergedudelt werden. Tauschwert: sexfrei und political correct. Gebrauchswert: vorzugsweise in Fahrstühlen.

Wincent Weiss: Irgendwie Anders Viele Köche verderben den Sprachbrei. Gleich 22 Co­ Autoren versuchten sich an 13 Werken. In so kapitalfreundlicher wie tiefgründi-

ger Oberflächlichkeit. Die CD als zusammengepresstes ­Anpassungsgranulat! Nur der Titel ist irreführend.

Hartmut König: Sag mir, wo du stehst Hartmut König hatte einst das, was Bild gern als »SEDPrivilegien« verbellt. So hat er auch gar nicht erst versucht, seine gerade veröffentlichte Biografie auf »heimlichen Bürgerrechtler« umzufrisieren. Er zupft die Gitarre zwar weniger extra-

vagant als Biermann. Aber, er singt heute noch gegen NATO-Bomben! Nicht mehr als stellvertretender Minister. So klingt sein Mitsinglied auch glaubwürdiger denn je: »Sag mir, wo du stehst«. Er ist stehen geblieben. Trotz Genickschlägen. Nicht bei der DDR von damals, sondern bei heutigen Widerständlern gegen das Finanzkapital. Deren kleine Geschichten aus der großen Geschichte neu zu singen.


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Am Ende gewinnen die Guten

Jedes Jahr am 10. Mai gibt es in Berlins Mitte eine öffentliche Lesung mit Prominenten aus Literatur, Schauspiel, Musik und Politik. Sie erinnern an die Bücherverbrennung von 1933. Als ersten Gast begrüßt Gesine Lötzsch, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag und Initiatorin der Veranstaltung, den israelischen Künstler Micha Ullman zum traditionellen »Lesen gegen das Vergessen« auf dem Berliner Bebelplatz. Der 79-Jährige hat mit seiner »versunkenen Bibliothek« den vielen Autoren und Autorinnen ein Denkmal gesetzt, deren Bücher am 10. Mai 1933 von grölenden Nationalsozialisten genau an diesem Ort verbrannt worden sind. Das Mahnmal zeigt einen unter Glas befindlichen, in den Platz

eingelassenen Raum, an dessen Wänden sich leere Regale befinden. Symbolisch bieten sie Platz für über 20 000 verbrannte Bücher. Leere und Stille, erzählt Micha Ullman, seien sein einziges Material gewesen. Eine leere unterirdische Bibliothek mit leeren Regalen auf einem großen leeren Platz. Es gebe Zwischenräume zwischen den Seiten, zwischen den Zeilen, zwischen den Worten, zwischen den Buchstaben und auch zwischen den Men-

schen. Die Zuschauer, die oberhalb rund um das Glas der Bibliothek stehen, seien auch ein Teil des Denkmals. Die Räume zwischen den Dingen unten und den Menschen oben sollen Garantie für das »Nie wieder!« sein. Über 400 Gäste, geladene und zufällig vorbeikommende, füllten den Platz und lauschten denjenigen, die ihre Stimme gegen das Vergessen erhoben. Christian Grashof, der seit 40 Jahren am Deutschen Theater spielt, Intendantin Gabriele Streichhahn und Schauspieler Carl Martin Spengler vom Theater im Palais, Bundestagsvizepräsiden-

tin Petra Pau und der Berliner Kultursenator Klaus Lederer, Schriftsteller Ingo Schulze, Oliver Ruhnert, Sportchef beim 1. FC Union Berlin, Buchautor Hermann Simon, Sänger und Dichter Hans-Eckardt Wenzel, der chilenische Sänger Nicolás Rodrigo Miquea und die erst 28-jährige Anika Taschke, Vorstandsmitglied im Deutschen Mauthausen Komitee Ost e. V. Auch Beate Klarsfeld war wieder dabei. Angereist aus

Der Bebelplatz am 10. Mai 2019.  DIE LINKE hatte zum alljährlichen  »Lesen gegen das Vergessen« geladen.

BÜCHERKISTE Was treibt Greta Thunberg an? Die 17-jährige   Schwedin mobilisiert seit Monaten vor allem junge Menschen in ganz Europa. Unter dem Motto »­Fridays for ­Future« fordern sie von der Politik endlich wirkungsvolle Maßnahmen für den Klimaschutz. Gretas Familie schildert in einer gemeinsamen Biografie, wie sie schwere persönliche Heraus­forderungen meisterte, viele Gewohnheiten änderte und anfing, sich mit der Klimakrise zu beschäftigen. Die berührenden privaten ­Szenen ergänzen wichtige Argumente für die Diskussion über den Klimawandel. Greta & Svante Thunberg, Beata & Malena Ernman: Szenen aus dem Herzen. S. Fischer, 256 Seiten, 18 Euro

Paris, erzählt sie von überregionalen Anzeigen, die sie und viele ehemals deportierte und verfolgte Jüdinnen und Juden geschaltet haben. Ihr Appell: Keine Stimme für eine rechte Partei! Gebraucht wird ein Europa des Friedens und kein Europa der Angst und Gewalt. Micha Ullman war beeindruckt von dem, was er sah und hörte. Er verabschiedete sich mit den Worten: »Am Ende gewinnen wir, die Guten.« Tatjana Behrend

Wie tickt ein »alter weißer Mann«? Zum Klischee dieser Spezies gehört auch, dass sie über Macht verfügt und fürchtet, sie zu verlieren. Die Feministin Sophie Passmann wollte herausfinden, was an diesem Bild stimmt. Sie interviewte einflussreiche Politiker, Künstler und Journalisten, darunter Kevin Kühnert, Claus von Wagner und Sascha Lobo.Ihre kurzweiligen Erinnerungen an diese Gespräche sind ein echtes Lesevergnügen, sie räumen mit vielen Vorurteilen über Männerherrschaft und Feminismus auf und beleben die Debatte darüber. Sophie Passmann: Alte weiße Männer. Ein Schlichtungsversuch. Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 12 Euro

Woher nahm Meşale Tolu die Kraft, dem Erdoğan-Regime über Monate hinweg die Stirn zu bieten? Die Journalistin wurde im April 2017 verhaftet, weil die türkischen Behörden ihr vorwarfen, Terror zu unterstützen. Minutiös schildert sie, wie brutal die Polizisten sie und ihren zweijährigen Sohn bedrohten, erinnert den angespannten Alltag als politische Gefangene, die Auseinandersetzungen mit der Justiz. Vor allem mahnt ihr Buch, dass der Kampf für die Freiheit von Tausenden eingesperrten Oppositionellen, für die Presse- und Meinungsfreiheit weitergehen muss. Meşale Tolu: »Mein Sohn bleibt bei mir!« Rowohlt Polaris, 192 Seiten, 12,99 Euro

Welche Konzepte helfen gegen unbezahlbare Mieten und überteuerte Baupreise? Utta Seidenspinner geht den explodierenden Kosten für ein Dach über dem Kopf auf den Grund. Sie nennt den überhitzten Immobilienmarkt, inzwischen eine Spielwiese vieler Rendite­jäger, eine Folge der Finanzkrise ab 2008 und fasst zusammen: »Unsere Regierung ist ursächlich für die Wohnungsmisere verantwortlich und tut zu wenig zu spät, um sie zu lindern.« Utta Seidenspinner liefert viel Hintergrundwissen, um die Wohnungsmisere zu verstehen und die Probleme damit lösen zu können. Utta Seidenspinner: Wohnwahnsinn. Berlin Verlag, 208 Seiten, 18 Euro


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Riskant und bedrohlich Vor mehr als 30 Jahren verpflichteten sich die USA und die damalige Sowjetunion zum Verzicht auf landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit mittlerer Reichweite. Ende Juli läuft dieser INF-Vertrag aus. Klar befragte dazu den Ex-General­ inspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat. März 2015: Ein US-Soldat inspiziert eine PatriotRaketenbatterie im polnischen ­Sochaczew in der Nähe von Warschau.

Wie wichtig wäre die Bei­ behaltung des Vertrags? Der amerikanische Präsident und die Bundeskanzlerin haben im Juli 2018 gemeinsam mit allen Staats- und Regierungschefs der NATO erklärt, dass der Vertrag von »entscheidender Bedeutung« für die euro-atlantische Sicherheit ist und sie der Erhaltung dieses Abrüstungsvertrags »voll und ganz verpflichtet« sind. Kurze Zeit später hat Donald Trump den Vertrag gekündigt. Die USA haben sich damit gegen die Sicherheit ihrer europäischen NATO-Verbündeten entschieden und eindeutig über den Grundsatz der gemeinsamen und gleichen Sicherheit hinweggesetzt. In der NATO gibt es nun zwei Zonen unterschiedlicher Sicherheit. Angela Merkel bezeichnete die Kündigung als »unab­ wendbar«. Sie haben für die Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl ge­ arbeitet. Sie wissen, wie die Regierungen in Washington und Moskau ticken. Konnte die Bundesregierung wirk­ lich nichts zur INF-Rettung unternehmen? Die Bundeskanzlerin sollte wissen, dass die Vertragskündi-

gung eine nukleare Aufrüstung Russlands gegenüber Europa legitimiert. Denn stimmt der amerikanische Vorwurf einer russischen Vertragsverletzung, kann Russland sein eurostrategisches Programm ohne vertragliche Beschränkungen fortsetzen. Stimmt er nicht, ist Russland jetzt frei, ein derartiges Programm zu beginnen. Die Bundesregierung hat das amerikanische Vorgehen unterstützt. Sie hat jedenfalls mehr als vier Jahre – so lange gibt es die amerikanischen Vorwürfe gegenüber Russland – nichts

getan, um diese existenzielle Gefahr für Deutschland und Europa abzuwenden. Was müsste sie unter­ nehmen, um eine atomare ­Aufrüstung zu stoppen? Wir befinden uns in einer Übergangsphase von sechs Monaten, bis der INF-Vertrag endgültig endet. Man muss die wechselseitigen Vorwürfe der USA und Russlands ernst nehmen und sie überprüfen. Dazu müsste das Inspektionsregime des INF-Vertrags reaktiviert werden, das schon im Mai 2001 ausgelaufen ist. In VorOrt-Inspektionen könnten die gegenseitigen Vorwürfe überprüft werden. Wer den Vertrag verletzt hat, müsste alle Maßnahmen rückgängig machen, die gegen den Vertrag verstoßen. Dazu ist jeder Vertragspartner verpflichtet, solange der Vertrag noch besteht. Die Bundeskanzlerin hielt auf der Münchner Sicherheitskonferenz ein Plädoyer für den Multilateralismus und meinte, dass es besser sei, über den eigenen Tellerrand zu schauen und zu versuchen, gemeinsam Winwin-Lösungen zu erreichen. Sie sollte ihren Worten Taten folgen lassen, solange es noch möglich ist. Das Interview führte Rüdiger Göbel General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 General­inspekteur der Bundes­wehr und von 2002 bis 2005 ­Vorsitzender des NATO-Militär­ausschusses.

Harald Kujat als Gesprächspartner im Juni 2018 bei der Veranstaltung »Nein zur NATO«. Eingeladen hatte die ­Fraktion DIE LINKE.

» «

Frieden wäre wichtig Es steht nicht gut um die deutsch-russische Partnerschaft. Was aber bringen Boykott und Ausgrenzung? Von Alexander Rahr Die deutsch-russischen Beziehungen sind gestört, seitdem die Bundesregierung im Jahr 2012 die Modernisierungspartnerschaft mit Russland einseitig aufgekündigt hat. Die deutsche Kritik: Moskau bewege sich nicht Richtung liberaler Demokratie, verletze Menschenrechte und das Völkerrecht. Der Blick in den eigenen Spiegel hilft. Westliche RegimeChange-Politik und die NATOOsterweiterung sind die eigentlichen Ursachen des Konflikts. Deutschland hätte, nachdem Russland alles getan hatte, um die deutsche Wiedervereinigung zu unterstützen, die NATO-Osterweiterung abfedern müssen. Der NATO-Russland-Rat hätte, auf deutsches Betreiben hin, Russland in die Sicherheitsarchitektur Europas gleichberechtigt einbinden sollen. Dadurch wäre Moskaus Wunsch nach Mitsprache in europäischen Sicherheitsfragen stärker berücksichtigt worden, dann wäre die europäische Ordnung nicht in diese Schieflage gekommen. So aber kam es im Jahr 2014 in der Ukraine-Krise fast zu einem Krieg zwischen Russland und dem Westen. Dabei hätte Deutschlands Diplomatie in der Ukraine-Krise mehr Weitsicht zeigen müssen. Sie hätte dieses Land zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion nicht vor die Qual der Wahl »entweder Brüssel oder Moskau« stellen dürfen. Seitdem erhebt die Bundesregierung in Europa immer als erste die Stimme, wenn es um Sanktionen gegen Russland geht. Der Riss zwischen Berlin und Moskau ist groß. Die historische Zusammenarbeit dieser

beiden Staaten war stets Garant für Aussöhnung und Stabilität auf dem europäischen Kontinent. Im Westen herrschen zwei Konzepte für Europa vor. Die USA, unterstützt von etlichen mittelosteuropäischen NATO -Staaten, wollen ein transatlantisches Europa von Vancouver bis Donezk, also ohne Russland. Deutschland setzt dagegen auf ein künftiges Europa von Lissabon bis Wladiwostok. Jede Bundesregierung muss sich mit dieser Frage auseinandersetzen und verstehen: Die kommende Welt birgt unendliche Herausforderungen: Massenmigration, Überbevölkerung, Mangel an Ressourcen, Klimaveränderung, um nur einige zu nennen. Wenn Deutschland über seinen Tellerrand hinausblickt und versteht, dass Russland keine schwächelnde Regionalmacht, sondern ein selbstverständlicher Teil Europas ist und strategischer Partner für die Herausforderungen von morgen sein kann, werden sich nicht nur die bilateralen Beziehungen verbessern, sondern Europa wird auch Frieden gewinnen. Im umgekehrten Fall droht Europa wieder in NATOAufrüstung und geopolitischer Konfrontation zu versinken.

Alexander Rahr ist Ost­europa-Historiker, Politologe und Publizist.

Die nächste Klar erscheint im Herbst 2019 Impressum Herausgeberin: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, Telefon: 030/22751170, Fax: 030/22756128, www.linksfraktion.de  V.i.S.d.P.: Sevim Dağdelen, Caren Lay, Jan Korte (Anschrift wie Heraus­geberin). Leitung: Tatjana Behrend. Redaktion: Gisela Zimmer, Malte Daniljuk. Redaktionsschluss: 20. Mai 2019.  Layout und Satz: DiG/Plus GmbH, Berlin. Druck: MediaService GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin. Dieses Material darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden!


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