Philipp Röding
Die Stille am Ende des Flurs Erzählungen
Luftschacht Verlag
© Luftschacht Verlag – Wien 2013 Alle Rechte vorbehalten www.luftschacht.com Umschlaggestaltung und Satz: Jürgen Lagger Foto: www.citronenrot.at Druck und Herstellung: Finidr ISBN: 978-3-902844-26-2
Rost
Er hat mir immer Sachen geschenkt, Sachen, die mich schützen sollten. Ich verstehe sie nicht. Habe von Anfang an nicht verstanden, warum sie wollte, dass ich noch eine Weile bleibe, mich zu ihr hinsetze und höre, was sie zu sagen hat, während es draußen langsam hell wird, diese grauweiße, ungesunde Helligkeit eines tiefliegenden Himmels ganz früh am Morgen, die in den Augen wehtut, die Gedanken in alle Richtungen laufen lässt, und die irgendwann zu Kopfschmerzen führt, sieht man zu lange in sie hinein. Am Abend zuvor hatte sie ein paar Leute zu sich eingeladen, hatte in ihrer großen Wohnung, in die ein mächtiger Dachbalken ragte, eine Party gefeiert, ein kleines Fest ohne Anlass, so alt waren wir noch nicht, dass wir einen Anlass brauchten, um zusammenzukommen. Alte und neue Freunde, flüchtige Bekannte, Fremde. Sie war eine gute Gastgeberin, umsichtig, ließ jemanden, der keinen kannte, nicht alleine im Abseits stehen, unter dem schwankenden Licht vielfarbiger Lampions, sondern stellte sich zu ihm und wenn er nicht reden wollte, dann schwiegen sie eben beide, kauten auf ihren Strohhalmen herum und sahen schweigend dem Grüppchen zu, das hin und wieder ein lautes Lachen emittierte.
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Das war eine Fähigkeit, die mir auffiel an ihr: spontan und überall ein Außenseiter zu werden, ungeachtet der Situation. Sie schaute dann, als würde sie selbst niemanden kennen, als wüsste sie beim besten Willen nicht, wer diese Leute sind, die dort auf ihrer Couch beieinander sitzen, wessen Wohnung das überhaupt sei. Tief in der Nacht, als es schon ruhiger wurde und das Licht der heruntergebrannten Kerzen die Schatten lang und beweglich machte, fast alle waren gegangen, hatte Einer, der dafür bekannt war, morbide zu sein, vermutlich im Scherz gesagt, dass man sich an diesem Dachbalken gut aufhängen könnte. Man hat gelacht, den Dachbalken angesehen, und gesagt, ja, das stimmt, dafür eignet er sich. Länger als alle anderen hatte sie dann auf diesen Balken geschaut, vielleicht band sie im Kopf eine Schnur daran, eine Schlinge, an der sie zog, um die Behauptung zu überprüfen. Ich war betrunken irgendwann, wollte einschlafen und habe sie gefragt, ob ich hier übernachten könnte, keine Hintergedanken, ich war nur müde. Sie hat mir das Bett ihrer Mitbewohnerin angeboten, die nicht zu Hause war: Ein schönes kleines Zimmer, liebevoll eingerichtet, milchweiß, auf einem über der Tür festgeschraubten Regalbrett: verschiedene Souvenirs, ein Eiffelturm in Miniatur, ein kleiner roter Doppeldeckerbus, ein gerahmtes Foto, zwei lachende Gesichter, unscharf, weil die Kamera zu nah dran war.
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Ein Ort, dachte ich mir, als ich mich ausgezogen hatte und unter der Bettdecke lag, an dem man aufwachen möchte, wenn draußen der Schnee fällt und das Fenster beschlagen ist. Nur kurz die Erregung im Bett eines fremden Mädchens zu liegen: Ein emotionaler Reflex, der Pawlowsche Hund hört sein Glöckchen, hebt den Kopf. Hinter der geschlossenen Tür die Geräusche der Übriggebliebenen, ein monotones Gemurmel, um diese Uhrzeit lacht kaum noch jemand, und wenn doch, dann ist es ein Lachen, dem nichts mehr zugrunde liegt und das die Umsitzenden irritiert. Irgendwann die ins Dunkel geflüsterten Verabschiedungen, die Geräusche von Leuten, die ihre Schuhe suchen, die ins Schloss fallende Haustür, dann Stille. Nacht. Jemand klopft, aber ich rühre mich nicht. Ich habe nicht mitbekommen, ob sie sich schlafen gelegt hat, im Zimmer nebenan, oder ob sie einfach wach geblieben ist, ob sie sich, als alle schon gegangen waren, in ihre Küche gestellt hat, um mit dem Abwasch anzufangen. Dort fand ich sie dann nämlich, als ich mit einem hämmernden Kopf aufgestanden war, noch immer betrunken: Ein zweiter Körper schaukelte in mir hin und her, warf sich gegen die Wände aus Haut, brachte mich aus dem Gleichgewicht. Sie saß an dem weißen Klapptisch, der in der Küche stand, trug noch immer das Kleid aus der Nacht zuvor,
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die Haare hatte sie hochgebunden, umgeben von leeren Flaschen und Dosen, irgendwo abgerissenen und zu Kugeln geformten Papierfetzchen, zerdrückten Zigarettenschachteln und Streichholzpackungen, liegen gebliebenen Feuerzeugen, die nicht mehr richtig funktionierten, während in halb ausgetrunkenen Gläsern die Kippen umhertrieben, kleine Schwimmer, wie von Kindern ins Wasser gesetzt. Sie hatte das schmale Küchenfenster geöffnet, einen alten Blumentopf dazwischen gestellt, damit es nicht gleich wieder zufällt. Von draußen der herbstkalte Wind. Ein Wind, der gut tat und kühlte und der den aus dem Aschenbecher aufsteigenden Rauchfaden kräuselte und verwehte, sobald dieser eine gewisse Höhe erreicht hatte. Von irgendwo meinte ich, das Geräusch ratternder Fahnen zu hören, aber das konnte genauso gut Einbildung sein. Sachen zum Schutz, verstehst du, damit mir nichts passieren kann. Ich wusste nicht, was sie meinte, was meinst du, Schutzkleidung, Schoner, solche Sachen? Nein, überhaupt nicht, sowas nicht, andere Sachen, einen Schirm, um im Regen nicht nass zu werden, oder dicke Wollsocken für den Winter, einen schönen breiten Strohhut im Sommer, damit ich mir nicht die Haut verbrenne, er wollte vor allem anderen, dass ich Acht gebe auf mich. Ich hatte mir mit Mühe eine Hose angezogen und zuerst mein T-Shirt nicht gefunden, weil ich es in der Nacht als Kopfkissen benutzt hatte, wusste auch gar nicht mehr,
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wo ich war, konnte anfangs das Zimmer nicht einordnen, nur ganz langsam und Stück für Stück setzte sich die Erinnerung wieder zusammen, ließ dabei große schwarze Flächen aus, über die ich nur mutmaßen kann, andere Stellen verschwommen, unsicher in ihrer Aussage wie eine verwaschene Zeichnung: Hatte sie mich an der Hand genommen, als sie mich ins Zimmer ihrer Mitbewohnerin geführt hatte, ist irgendwas gewesen zwischen uns, irgendwas, eine Annäherung unsrer Hände, ein betrunkenes Ineinanderhineinfallen (?) Ich erinnere mich nicht mehr daran, als ich mich in die Küche bewege und sie dort sitzen sehe, den Kopf in die Handfläche gelegt, mit der anderen Hand in einer Kaffeetasse herumrührend, ein perfektes Bild großstädtischer Melancholie, das lächerlich wirken könnte, ironisch, zitiert aus irgendeinem Buch oder Film, eine müde gewordene Holly Golightly, das schwarze Kleid abgetragen und fleckig, die lustig wippende Zigarettenspitze ist am Morgen ein albernes Requisit. Als ich im Türrahmen erscheine, schaut sie hoch, lächelt abwesend, müde, schnaubt aus der Nase ein Lachen, so als sei ich ein Liebhaber, den man im Schrank vergessen hat, eine lange geplante Überraschung, die erst zündet, wenn das Geburtstagskind schon längst gegangen ist. Sie fragt mich, ob ich was will, einen Kaffee, in der Kanne wäre noch welcher, Milch ist im Kühlschrank, ich hab noch ein paar Zigaretten, wenn du magst, bedien dich. Ich hatte mich eigentlich nur verabschieden wollen, ihr vom Türrahmen aus, im Vorbeigehen, mit der Hand einen Gruß zuwerfen, man sieht sich dann, morgen, oder
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die Tage, irgendwann, danke, dass ich hier schlafen durfte. Hier mit ihr sitzen zu bleiben, zwischen den Trümmern und dem Gerümpel, darauf hatte ich keine Lust, ich wollte heim, so schnell wie möglich den Weg zur Bushaltestelle zurücklegen, fröstelnd den Schal um den Hals fester binden, im Bus vielleicht schon schlafen, spätestens dann zu Hause. Ich habe mich dann trotzdem hingesetzt, einfach so, aus einem vagen Bedürfnis nach Zärtlichkeit vielleicht, zusammensitzen mit diesem Mädchen, ein bisschen konnte ich noch warten, auf den Schlaf. Ihre Hände: Vom Kater etwas zittrig, mit den Fingerspitzen streicht sie über die scharfe Kante eines Bruchs im Rand der Tasse, als gälte es, eine krustige Wunde zu befühlen. Und dann hat sie unvermittelt, und ohne, dass ich sie danach gefragt hätte, angefangen zu erzählen, von diesem, diesem Typ, mit dem sie einmal zusammen gewesen war, und der ihr oft Sachen geschenkt hatte, zum Schutz. Auch feste, teure Schuhe, in denen man sich keine Blasen läuft, Handschuhe aus weichem Kalbsleder, es war nie billiges Zeug, immer besonders erlesene Dinge, eine Fellmütze mit Ohren zum Herunterklappen und einem Band, mit dem man diese Ohren zusammenbinden konnte. Mit beiden Händen malt sie sich eine Kappe auf den Kopf, bindet mit spitzen Fingern eine Schleife unter dem Kinn: So. So konnte man sie zusammenbinden, ich nicke. Eines Tages, als ich ihm erzählt habe, dass ich irgendwo von einem anderen Typen sozusagen belästigt wurde, kam er mit einer Dose Pfefferspray wieder. Zur Verteidigung,
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hatte er gesagt, zur Verteidigung, und mich ernst angesehen, bevor er anfing mir zu erklären, wie man das kleine Döschen bedient, den Sicherungshebel und so weiter, dass ich vorsichtig sein soll. Später hat er es mir wieder weggenommen, er hätte es sich anders überlegt, es sei zu gefährlich, ich könnte mir wehtun. Sie sieht mir in die Augen, als erwartete sie einen Kommentar, eine Einschätzung. Ich schlage die Augen nieder und nippe an meinem Kaffee, der heiß schmeckt und bitter. Sie schaut mir dabei zu, beißt sich auf die Lippe, als müsste sie den Impuls unterdrücken, mich anzuschreien. Sie seufzt. Irgendwann, beim Zwiebelschneiden, habe ich mir böse in den Finger geschnitten, so, dass es blutete. Es hat sehr wehgetan, vermutlich auch weil der Saft der Zwiebel gleich in die Wunde lief. Er ist ganz blass geworden, aus der Küche gestürmt und mit Verbandszeug wieder zurückgekommen, das er wer weiß wo hergenommen hatte. Er nahm meine Hand mit einem harten Griff, unsanft, und hat die Wunde unter dem kalten Strahl des Wasserhahns ausgespült, solange, bis es nicht mehr ganz so heftig blutete, es tat wirklich fürchterlich weh. Dann hat er die Mullbinde ausgerollt, ein Stück von ihr abgerissen und mit zwei Fingern auf den Schnitt gepresst, mit der anderen Hand den Verband darumgewickelt und mit einem Pflaster fixiert. Gerade, dass er nicht gleich genäht hat, sagt sie und lacht dabei auf.
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Schau, da sieht man noch die Narbe. Sie hebt mahnend den Zeigefinger, grinst. Auf dem Zeigefinger ihrer rechten Hand ist weißes, festes Gewebe zu sehen, eine kleine, harte Wölbung, die sich über zwei Glieder hinzieht, die Haut daneben ist etwas gerötet. Ich frage mich für einen Moment, wie es sich wohl anfühlt, sacht über diese Wölbung zu streichen, und ob sie noch Gefühl darin hat, ein leises Kitzeln zum Beispiel, ich frage nicht nach, nehme mir stattdessen eine Zigarette aus der Schachtel, die aufgeklappt auf dem Tisch liegt, und zünde sie an. Dass ich rauche, das hat ihn übrigens nie gestört, er hat gemeint, das sei meine Sache, seltsam, nicht wahr? Sie nimmt sich auch eine Zigarette und fragt mich nach Feuer. Ich zünde ein Streichholz an und halte es ihr hin. Als sie sich nach vorne beugt, wird ihre Brust von der Tischkante etwas eingedellt, anscheinend trägt sie keinen BH unter dem Kleid. Naja, fährt sie fort, nachdem sie einen tiefen Zug genommen hat, konzentriert die kleine Wolke beobachtend, die der Rauch in der Luft bildet. So ging das eine Weile und irgendwann, kurz vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag, haben wir uns getrennt. Warum, frage ich, obwohl es mich nicht sonderlich interessiert. Keine Ahnung, sagt sie und kratzt sich am Kopf, jedenfalls habe ich ihm auch ein Geschenk machen wollen, zu seinem Geburtstag, weißt du, was es war, was ich ihm schenken wollte? Ich zucke mit den Achseln und ziehe die Mundwinkel nach unten, keine Ahnung.
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Sie sieht mir noch einmal lange in die Augen und ich sehe, wie diese Augen, sie sind grau oder blau, langsam feucht werden, gleich wird sie weinen, denke ich, jeden Moment. Sie trommelt mit den Fingerspitzen nervös auf der Tischplatte herum, greift nach der Tasse und dreht sie ein paar Mal hin und her, sieht sich selbst dabei zu, abwesend, unkonzentriert. Ein Fahrrad. Dieses Wort flüstert sie, dann sagt sie noch einmal, jetzt laut und deutlich: Ein Fahrrad, ein Rennrad, ein weißes französisches mit so ganz schmalen Reifen, es war wahnsinnig teuer, ich dachte, ich mache ihm eine Freude, ein kleiner Witz, verstehst du, dann nimmt sie das Gesicht in beide Hände und reibt sich die Augen, sagt noch einmal, mit brüchiger Stimme, zwischen ihren Fingern hindurch: Ein Fahrrad, mein Gott, wie kann man nur so blöd sein. Als sie mir ihr Gesicht wieder zuwendet, ist es ein bisschen verschmiert, Reste von Wimperntusche haben unter den Augen eine breite schwarze Bahn gezogen. Eine Weile noch sitzen wir so da, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Irgendwann schaut sie auf die Uhr und bemerkt, wie spät es doch inzwischen sei, oder wie früh, lacht kurz auf und sagt dann, ich könne jetzt gehen, wenn ich will, es tue ihr überhaupt leid, dass sie mich so lang aufgehalten hat.
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Draußen drehe ich mich noch einmal um und sehe dort, angelehnt an die Hauswand, verschlossen mit einer schweren Kette, teilweise schon die ersten rostigen Spuren tragend, ein weißes Rennrad, mit ganz schmalen Reifen. In genau diesem Moment erlöschen, wie von einem Windhauch ausgeblasen, die Lichter der Straßenlaternen ringsum.
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