Kein böses Kind

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Fabian Oppolzer

Kein bรถses Kind Roman

Luftschacht Verlag


© Luftschacht Verlag – Wien 2013 Alle Rechte vorbehalten www.luftschacht.com Umschlaggestaltung: Jürgen Lagger Foto: Shutterstock, Inc. Satz: Jürgen Lagger Druck und Herstellung: CPI Moravia ISBN: 978-3-902844-18-7


F端r Anna, Johanna, Reiner, Gieri und nat端rlich Immanuel


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Mit dreizehn träumt Maria jede Nacht vom Sterben und der Tod ist schön für sie, wie er für alle schön ist, die von ihm träumen, solange sie noch jung sind und der Tod noch unwirklich und zauberhaft ist, wie die bläuliche Stille der Ferne. Mit vierzehn beginnen Stimmen in ihrem Kopf zu flüstern und sie betet jede Nacht, nicht mehr aufzuwachen, um sie nicht mehr hören zu müssen. Mit fünfzehn geht sie an den See hinunter, sie schluckt eine Packung Schlaftabletten und schwimmt weit hinaus. Sie stellt sich vor, dass die Tabletten tiefe Müdigkeit hervorrufen und sie ertrinken lassen werden. Sie lässt sich auf dem Rücken treiben, den wolkenlosen Himmel über sich, und spürt ganz langsam, wie ihr Bewusstsein mit dem kühlen Wasser verschmilzt. Sie taucht ein in eine allumfassende Dunkelheit und versinkt darin. Langsam und schwebend. Je tiefer sie eintaucht, umso leiser und freundlicher wird das Flüstern der Stimmen, bis sie schließlich verstummen. Bis alles verstummt.

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Einundzwanzig Jahre später reißt das erstickte Klingeln des Telefons Maria aus dem Halbschlaf. Sie liegt auf der Couch im Wohnzimmer, durch die Fenster des Wintergartens fällt staubiges Sonnenlicht herein. Früher hätte mich das interessiert, denkt sie und weiß im nächsten Augenblick nicht mehr was. Sie schaltet den flackernden Fernseher aus. Wieder klingelt es. Sie reibt sich die Augen. Maria braucht eine ganze Weile, bis sie das Telefon schließlich unter einem Sofakissen hervorkramt. „Ja, hallo“, sagt sie in den Hörer. Noch bevor Nachtigall ein Wort sagt, erkennt sie ihn an seinem Atem. „Maria?“ „Ja?“ Nichts, Schweigen. Eine ganze Weile, aber sie unterbricht es nicht. „Maria, es ist etwas … passiert.“ Etwas ist passiert. Natürlich, sie hat es plötzlich im Vorhinein gewusst. „Was ist denn los?“, hört sie sich sagen, als wäre es die Stimme einer anderen, fremden Frau. „Es ist schlimm. Wirklich schlimm.“ „Geht es dir gut?“ Paul gibt ein Geräusch von sich. Sie hat überhaupt nicht gemerkt, dass er hereingekommen ist. Nun steht er da, mit offenem Mund, die kleinen Augen hinter diesen dicken Gläsern. Mittlerweile ist er sieben, redet aber, wenn überhaupt, immer noch wie ein Zweijähriger. Sie gibt ihm ein Zeichen still zu sein und Paul nickt verständnislos, widmet seine Auf-

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merksamkeit dann dem hellen Sonnenlicht auf dem schwarzen Plasmafernseher. Er streckt seine kleinen, knubbligen Finger aus und versucht nach den Lichtstrahlen zu greifen. „Ich bin wohlauf. Ich … es gab einen Unfall, gestern Nacht. Drei Schüler sind tot.“ Im gleichen Augenblick gluckst Paul und Maria hat das Bedürfnis, ihm eine runterzuhauen. So, wie sie es in letzter Zeit öfter hat, wenn sie mit ihm allein ist. Das Kind geht ihr auf die Nerven. Es ist ihre Idee. Sie will damals genau so ein Kind. Es bringt einiges an Erziehungsgeld. Aber das ist nicht der Grund. Maria hat einfach das Bedürfnis, engen Kontakt zu so einem besonderen Menschen wie Paul zu haben. Aber Paul ist ein siebenjähriger Behinderter, der genauso viel Pflege braucht wie ein Baby, in die Windeln macht, Tobsuchtsanfälle bekommt, ihr ständig an die Brüste oder den Hintern grabscht und ihr niemals in die Augen sieht. „Oh mein Gott. Das ist fürchterlich. Wie ist es passiert?“ Nachtigall holt tief Luft. Immer noch spürt sie, wie sehr er versucht sich zusammenzureißen. Sie hat sich die ganze Sache anders vorgestellt. Sie will dieses Kind, ja, aber sie hasst es im gleichen Atemzug. „Ich weiß es nicht genau … wir sind … es war ein Unfall ... auf der Fähre …“ „Das tut mir ja so schrecklich leid. Ich bin … geschockt.“ „Ich bin morgen daheim.“ Maria steht auf und geht zum Fenster, wirft einen Blick in den Garten. Er blüht in allen Farben, Schmetterlinge, Bienen, Käfer summen und krabbeln. „Es ist doch nicht … Lisa?“, fragt sie leise. Nachtigall schluckt. „Nein. Es sind … Simon, er war einmal bei uns zu Hause … Lukas und … Samuel.“ Seine Stimme bricht ab.

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„Oh mein Gott“, wiederholt Maria. „Es tut mir ja so schrecklich leid.“ Paul krabbelt auf sie zu und zieht sie am Rock. Sie scheucht ihn mit der Hand weg, wie einen lästigen Hund. Paul gluckst und sabbert. „Wie soll ich das denn nur erklären? Was sage ich den Eltern?“ Maria weiß es auch nicht. „Es tut mir so leid“, sagt sie noch einmal. Es ist das Einzige, was ihr einfällt. Paul grabscht wieder nach ihrem Rock, kriegt ihn aber nicht zu fassen. Stattdessen rutscht er ab und kratzt ihr über das Schienbein. „Au“, zischt sie, im nächsten Augenblick klatscht ihre Hand gegen seine dicke Backe. „Maria …?“ „Ich bin noch da … es tut mir leid … ich …“ Maria starrt fassungslos auf den kleinen Jungen. Es ist das erste Mal, dass sie wirklich die Beherrschung verloren hat. Pauls Gesicht ist zu einem Ausdruck verzogen, den sie mittlerweile zu deuten gelernt hat. Er bemüht sich nicht zu weinen, wird es aber trotzdem jeden Moment tun. Es beginnt mit Weinen, dann kommt das Schreien und Kratzen, Beißen und Spucken. „Ich muss Schluss machen“, sagt Nachtigall. „Ich …“ Sie bringt kein Wort mehr heraus. Paul braucht noch ein paar Sekunden, bis er loslegt. „Ich rufe dich heute Abend wieder an.“ Dann legt er auf. Ohne „Tschüss“ oder „Ich liebe dich, mein Schatz“. Ohne irgendetwas. Klack und die Leitung ist tot. Für ein paar Momente bleibt Maria noch stehen. Dann lässt sie den Hörer einfach zu Boden fallen und geht, ohne noch einen Blick auf Paul zu werfen, in die Küche. Der Schnaps

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steht unter der Spüle. Ein Glas, ein zweites. Ein drittes. Dann kann sie Pauls Wimmern hören. Sie atmet tief durch, geht zurück ins Wohnzimmer, setzt sich auf die Couch, nimmt Paul auf den Schoß und schlingt beide Arme um ihn. „Wein nicht, mein Kleiner“, sagt sie mit leeren Augen. „Ich hab’s nicht so gemeint. Ich wollte dich nicht schlagen. Es tut mir leid, ja.“ Paul versucht, sich aus ihrem Griff zu winden, aber sie schlingt ihre Arme nur fester um ihn. Er beginnt zu schreien, aber sie lässt ihn nicht los. „Sei ein braves Kind“, sagt sie. „Sei lieb.“ Plötzlich spürt sie einen stechenden Schmerz. Paul beißt mit aller Kraft zu und seine kleinen Milchzähne graben sich in ihren Oberarm. Sie schreit auf und stößt ihn heftig von sich. Mit einem dumpfen Schlag landet Paul unsanft auf dem Fußboden. Sie starrt zuerst auf das Kind, dann auf ihren blutigen Arm. Paul hat aufgehört zu weinen. Fast belustigt sieht er sie an. Maria steht langsam auf und beugt sich zu ihm hinunter, ganz ruhig. Er bewegt sich keinen Zentimeter. Ihr Mund ist nun ganz nah an seiner riesigen Ohrmuschel. „Hör mir zu“, flüstert sie. „Ich weiß, dass du nicht viel begreifst, aber ich weiß, dass du mehr verstehst, als du zugibst. Es ist aber auch ganz egal.“ Sie rückt noch ein bisschen näher. „Solltest du mich noch einmal beißen, dann zünde ich dein Bett an, wenn du schläfst. Hast du mich verstanden?“ Sie weiß, dass er es hat. Alle Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. Er kann spüren, wie ernst sie es meint. Sie steht auf und geht in das untere Badezimmer, um die Wunde zu desinfizieren. Es gibt nichts Gefährlicheres als Menschenbisse, hat sie einmal irgendwo gelesen.

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Sie sprüht die Bissstelle mit Äthylalkohol ein, das brennt wie die Hölle, bevor sie mit einer Mullbinde den Oberarm umwickelt. Dann geht sie zurück in die Küche. Sie erwartet das schlechte Gewissen, aber seltsamerweise bleibt es aus. Ganz im Gegenteil: Eigentlich fühlt sie sich merkwürdig befreit. Dann muss sie wieder an ihren Mann denken. An Nachtigall und seine drei toten Schüler und plötzlich hat sie überhaupt keine Ahnung mehr, was sie fühlt. Ein Stein zwischen Steinen, denkt sie, blickt in den Garten hinaus und schenkt sich nach. David, Nachtigalls schwarzer Kater, springt mit einem Satz über den Zaun zu den Nachbarn. Und plötzlich kann sie sich wieder an die flüsternden Stimmen erinnern.

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Nachtigall kann sich einfach nicht an den Anblick einer leeren Schule gewöhnen, obwohl er oft als Letzter nach Hause geht. Die Stille hat etwas Beklemmendes. Es kommt ihm so vor, als würde das ganze Gebäude nach Lärm und Leben verlangen, als wäre die plötzliche Ruhe etwas, das nicht sein darf. Nachtigall hat an diesem Nachmittag das Gefühl, einen kaum merklichen Druck auf den Ohren zu spüren, einen Druck bis zum Bersten gefüllt mit verhalltem Echo von Schreien, Rufen, Pfiffen und allen Arten von Lachen. Er blickt auf die Uhr – es ist genau fünf vor vier – und geht dann vom Lehrerzimmer aus hinunter in die Bibliothek. Normalerweise hält er sich gerne dort auf, aber heute muss er sich mit Samuel treffen. Wahrscheinlich gibt es auf der Welt keinen Menschen, den ich mehr hasse, denkt Nachtigall, als er die Tür der Bibliothek aufschließt. Er hat Samuel für genau vier Uhr in den kleinen Lesesaal bestellt. Er wird sich so oder so verspäten, trotzdem verzichtet Nachtigall darauf, sich noch einen Kaffee aus dem Automaten zu lassen, setzt sich stattdessen an den Tisch und umkringelt ein paar seiner Notizen, die er sich für das Gespräch gemacht hat. „Aufpassen vor Sackgassen“, steht da. Und: „Immer die Ruhe bewahren.“ Er kennt Samuel erst seit einem halben Jahr, aber war schon ein paar Mal davor, die Beherrschung zu verlieren. Er kann nicht einmal wirklich sagen warum, aber etwas an dem Jungen macht ihn aggressiv. Er ist schon über achtzehn,

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wiederholt zum zweiten Mal und auch dieses Jahr sieht es nicht gut für ihn aus. Trotz dieser schlechten Zensuren fühlt sich Nachtigall ihm intellektuell unterlegen. Er weiß, dass es nicht so ist, aber Samuel das glaubt. Und das scheint auszureichen. „Sprich mit ihm“, sagt Maria, als er sie um Rat fragt. Also spricht er mit ihm. „Ich möchte heute Nachmittag pünktlich um vier mit Ihnen sprechen“, sagt er ihm am Vormittag. „Punkt vier!“ „Warum?“ „Es geht so nicht weiter.“ „Was? Hab ich etwas getan?“ „Wir sehen uns Punkt vier in der Bibliothek.“ Nachtigall hat sich vorgenommen, ganz offen zu sein. Es ist nicht sein erster Konflikt mit einem Schüler. Meistens kann er fast alles bereinigen, wenn er unter vier Augen mit den Betreffenden spricht. Oft beruht das Meiste auf Missverständnissen. Mittlerweile ist es zehn nach vier, von Samuel keine Spur. Andererseits, denkt Nachtigall, hätte er einfach eine richtige Abreibung verdient. Schluss mit dieser ganzen Kuschelpädagogik. Er trommelt nervös mit den Fingern auf dem Tisch, dann steht er auf und lässt sich Kaffee aus dem Automaten. Eine Zigarette wäre jetzt das Beste, denkt er. Eine Zigarette und ein Bündel Weidenruten. Samuel trifft weitere zehn Minuten später ein. Bei ihm scheint alles zu hängen, denkt Nachtigall. Seine Kleider hängen, seine Haare hängen, irgendwie hängt sein ganzes Gesicht. Samuel trägt eine Nickelbrille, er hat einen hauchdünnen Oberlippenbart. Seine Schultasche, ein Lederranzen mit einer aufgestickten Jamaikafahne, hängt ihm seitwärts über die Schulter.

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Nachtigall mustert ihn stumm, blickt dann zur Uhr. „Wir haben halb fünf ausgemacht, oder nicht?“, sagt Samuel. Nachtigall schüttelt den Kopf. „Setzen Sie sich.“ Samuel nimmt Platz, fährt sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnurrbart „Was ist denn los?“, fragt er. Nachtigall nippt an seinem Kaffee. „Es geht um etwas Grundsätzliches“, sagt er dann. „Ich wollte mit Ihnen sprechen, weil ich das Gefühl habe, dass irgendetwas zwischen uns nicht stimmt. Irgendwie kommt es mir so vor, als würden Sie mich … ja, als würden Sie mich nicht respektieren.“ Nachtigall hebt die Augenbrauen. „Was meinen Sie damit?“ „Das, was ich gesagt habe.“ „Was verstehen Sie denn unter Respekt?“ Nachtigall seufzt. „Samuel, ich bitte Sie, ich weiß, dass Sie mich verstanden haben. Ich glaube, Sie nehmen mich nicht für voll. Sie widersprechen mir meistens vor der ganzen Klasse auf eine ziemlich unfaire Weise, Sie passen nicht auf, wenn ich mit Ihnen spreche, Sie machen keine Hausaufgaben und erscheinen ständig zu spät. Das ungefähr verstehe ich unter respektlos.“ Samuel lehnt sich zurück und denkt nach. „Ich darf Ihnen doch widersprechen“, fängt er an, „das ist mein Grundrecht. Ob ich im Unterricht aufpasse oder nicht, ist auch nur mein Problem. Es geht ja schließlich um mich und ich bin volljährig. Das Gleiche mit den Hausaufgaben. Ich lasse mich von niemandem zwingen, einfach alles zu tun, was er von mir will. Ich mache Hausaufgaben immer,

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wenn ich sie für sinnvoll halte. Das mit dem Zuspätkommen tut mir leid. Das liegt aber an meiner Verplantheit, die ist angeboren und nicht beseitigbar, da kann ich also eigentlich auch nicht wirklich etwas dafür.“ „So funktioniert das aber hier nicht“, sagt Nachtigall. „Hier müssen Sie sich an ein paar Regeln halten. Sie müssen pünktlich kommen und Hausaufgaben machen, sonst schmeißen wir Sie früher oder später einfach raus! Sie haben recht, Sie sind volljährig. Wenn Sie keine Lust mehr haben hier zu sein, niemand hält Sie. Aber wenn Sie hierbleiben wollen, müssen Sie einfach damit anfangen, sich an gewisse Absprachen zu halten.“ „Sehen Sie“, sagt Samuel. „Sie verlangen von mir etwas und sagen hinterher, es sei respektlos, wenn ich es nicht tue wie ein gehorsamer Rekrut. Ich finde das ziemlich respektlos mir gegenüber.“ Nachtigall verdreht die Augen. „Also, dann erklär ich es Ihnen einmal unmissverständlich. Es ist so: Diese Institution heißt Schule, diese funktioniert nach einem gewissen System, damit dieses System funktioniert, müssen sich alle an gewisse Regeln halten. Auch Sie. Wenn Sie das nicht können, haben Sie hier nichts verloren.“ „Sie wollen mich hinauswerfen, weil ich eine andere Vorstellung von Respekt habe als Sie?“ „Nein, ich will Sie hinauswerfen, weil Sie ein fauler Nichtstuer sind.“ Nachtigall blickt ihm direkt in die Augen. Samuel hält seinem Blick stand. „Wenn sich Ihre Zensuren bis in einem halben Jahr in mindestens vier Fächern nicht erheblich verbessert haben, ist es für Sie vorbei.“

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„Sie sollten auf den Tisch hauen.“ „Was?“ „Na ja. Es würde ihrer Drohung noch etwas mehr Gewicht verleihen.“ Jetzt, denkt Nachtigall, genau jetzt wäre der perfekte Augenblick, ihm quer eine überzuziehen. „Also dann“, sagt Nachtigall. Samuel steht auf, hängt sich die Tasche wieder über eine Schulter und blickt dann etwas ratlos umher, bis er den Ausgang direkt vor sich erkennt. „Ich behandle Sie genauso, wie Sie mich“, sagt er dann im Hinausgehen. „Sie glauben, Sie hätten aufgrund Ihrer Position das Recht, herablassend und zurechtweisend zu sein, aber das stimmt nicht.“ „Jetzt machen Sie, dass Sie rauskommen.“ „Sehr respektvoll.“ Nachtigall zerknüllt die erste Seite seines Notizblocks und Samuel schlendert hinaus. Dieser Gang, denkt Nachtigall, dieser elende, hängende Gang.

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