Wer fürchtet sich vorm lila Lachs?

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Michael Roher, Elisabeth Steinkellner

Wer f체rchtet sich vorm lila Lachs? M채rchen

Luftschacht Verlag


© Luftschacht Verlag – Wien 2013 Alle Rechte vorbehalten www.luftschacht.com Umschlaggrafik: Michael Roher Satz: Jürgen Lagger Druck und Herstellung: Theiss ISBN: 978-3-902844-21-7




Es war einmal ein frecher Lump, der spielte üble Streiche, er verprügelte erst Max, tat mit Moritz dann das Gleiche, hänselte die Gretel und stieß sie in die Pfütze, ärgerte den siebten Zwerg, klaute ihm die Mütze, klatschte Prinzen an die Wand, bis sie grün war’n wie die Kröten, stach Dornröschen in die Hand, wollte gar Schneewittchen töten. Den Brüdern Grimm stahl er den Stift, dem Kaiser seine Kleider, und was die Tapferkeit betrifft, die nahm er einem Schneider.

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Rotkäppchen versperrte er im Wolfskostüm den Weg und sägte dann voll Tücke eine Lücke in den Steg. Als schließlich feine Damen kamen, brach der Steg und – Krach! – die beiden feinen Damen nahmen überrascht ein Bad im Bach. Doch schließlich nahm am Ende die Geschichte eine Wende, denn aus dem blauen, kalten Bach sprang der lila Lachs und sprach: Oh Lump, komm her und küsse mich ich steh’ auf Frechdachse wie dich! Der Lachs spitzte die Lippen und sah den Lump hintüberkippen. So lag er stumm die ganze Nacht und ist bisher nicht aufgewacht.


„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“, fragte die Königin und klimperte mit ihren Wimpern. „Meine liebe Frau Königin“, sagte der Spiegel, „das kommt wohl darauf an. Wenn es nach dem Bauern Hubert geht, dann gibt es niemand Schöneren als seine Charlotte von Lünneborg, der Froschkönig dagegen schmilzt beim Anblick der feinen Hasendame, weil sie die treuesten Augen der Welt hat, für den Mischa aus der Mottenkiste ist die Amsel die Allerschönste, der Koch mag den wunderbar dicken Busen der Kammerzofe, und der Vogelstrauß schwärmt Tag um Tag nur noch vom knackigen Hintern der Ozelotin. Andererseits stehen die Zwerge wahnsinnig auf Schneewittchens Oberlippenflaum, der Horst liebt das weiche Haar von Frau Holle und der Riese Zacharias fällt bei Dornröschens Hüftschwung beinahe in Ohnmacht vor Verzückung. So ist die Antwort auf Ihre Frage keine

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ganz leichte, gute Frau. Wenn Eure Hoheit allerdings meine persönliche Meinung hören wollen, muss ich gestehen: Für mich sind eindeutig und mit Abstand Sie, liebe Frau Königin, die absolut Wunderschönste im ganzen Königreich, um nicht zu sagen: eine Wucht!“ Zufrieden nickte die Königin dem Spiegel zu, spitzte die Lippen und stolzierte davon wie eine junge Göttin.


Es war einmal ein Riese. Ein richtig echter Riese, so wie es ihn sonst nur im Märchen gibt. Einen Kilometer hoch bestimmt und Hände so groß wie ein Fußballfeld. Eine breite Nase hatte er und hellbraune Haare. Auf dem Kopf eine Mütze, die er sich aus einem alten Zirkuszelt genäht hatte. Und dieser Riese hieß Polkenudel. An einem lauen Frühlingstag bekam Polkenudel Lust auf Schlendern und Wandern und er beschloss:


Und auf „Fertig-los!“ schlüpfte er in seine Riesenschlapfen und stiefelte davon. Mit Riesenschritten selbstverständlich. Einmal um die Welt und noch einmal und noch einmal. Die Sonne war bestimmt ein paar Millionen Mal auf und wieder untergegangen, als Polkenudel nach siebentausend Jahren seine dreiundachzigtausendste Runde um die Erde beendete. Bei Riesen, musst du wissen, ist nämlich einfach alles riesig. Sogar die Zeit. Was für unsereins siebentausend Jahre sind, dauert für einen Riesen gerade mal so lang wie ein Nachmittag. Und wenn du wissen willst, wie lang dann so ein ganzes Riesenleben ist, dann ist das eine so große Zahl, dass ich sie gar nicht aufschreiben kann. Ungefähr von den Dinosauriern bis heute und noch vier Mal so lang. Jedenfalls sagte sich Polkenudel nach siebentausend Jahren Herumspazieren schließlich: „Genug.“ Und blieb stehen. Genau da, wo er war. Irgendwo zwischen Russland und Australien mitten in einer großen Stadt. „Ich bin ein wenig müde“, brummte er und ließ sich auf den Boden plumpsen, dass die Häuser

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nur so wackelten. Und, weil Polkenudel wirklich ordentlich erschöpft war, dauerte es nicht lange, da war er auch schon eingeschlafen. Nun stell dir einmal vor, in deine Stadt würde eines Tages ein Riese kommen und sich einfach mitten hineinlegen, du kannst dir ausmalen, was das für eine Aufregung wäre. „Ein Riese!“, riefen die Leute und versammelten sich in Scharen auf den Straßen. „Der lümmelt da ganz breit und bequem zwischen den Häusern herum, das geht doch nicht!“, sagte Jo, der Straßenkehrer.„Wie soll ich denn jetzt zur Arbeit kommen? Mein Büro ist genau auf der anderen Seite, ich kann doch nicht jeden Tag zweimal über diesen Kerl drüberklettern. Ich bin doch kein Bergsteiger!“, beschwerte sich der dicke Louis. „Der liegt genau auf meinem Auto drauf. Soll ich jetzt etwa zu Fuß nach Hause gehen?“, raunzte


Mona, die gerade mit zwei Einkaufstüten und ihrer Tochter Silvi an der Hand vor dem Supermarkt stand. „Wir könnten versuchen, ihn mit einem großen Kran wegzuheben!“, meinte Bauarbeiter Ewald locker. „So einen großen Kran gibt es doch gar nicht“, entgegnete Ingenieur Miller genervt. „Und wenn wir ihn aufwecken?“ „Wir müssen uns beratschlagen.“ Und so versammelten sich die Bewohner der Stadt auf dem Platz vor dem Haus des Bürgermeisters. Sie grübelten und überlegten hin und her. Der Bürgermeister brummte nachdenklich. Er wusste auch nicht recht, was man in so einem Fall am besten macht. Schließlich hatte er es zum ersten Mal in seinem Leben mit einem echten Riesen zu tun. „Liebe Bürger und Bürgerinnen“, sagte er schließlich, „lasst uns erst einmal abwarten. Vielleicht wacht er ja morgen auf und macht sich davon.“


Natürlich kannst du dir denken, dass so ein Riese länger schläft als einen Tag. Mindestens vierzehntausend Jahre nämlich, wenn nicht mehr, jawohl. Und so lag Polkenudel am nächsten Morgen noch genauso da, wie am Tag zuvor. Und am übernächsten und am überübernächsten und am überüberübernächsten auch. Allerdings gewöhnten sich die Leute langsam an den Riesen. Jeden Tag wurde ihnen der Anblick ein bisschen vertrauter und der Umweg, den viele machen mussten, um zur Arbeit zu kommen, war dann doch gar nicht soooo schlimm. Außerdem musst du wissen, hatten die meisten zur Zeit andere Sorgen, größere. Viel größere. Größere als Polkenudel und alle Riesen zusammen. Die Preise für Nahrungsmittel waren hoch, die Wohnungen teuer, die Luft in der Stadt schmutzig von den vielen Abgasen. Jo, der Straßenkehrer, bekam zum Beispiel schlimmen Husten und musste ins Krankenhaus. Konnte nicht mehr zur Arbeit und verlor seine Anstellung. Der dicke Louis hatte vor lauter Arbeit im Büro kaum noch Gelegenheit, mit seiner Frau im Garten Federball zu spielen oder auf dem Sofa

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seine Pfeife zu rauchen und ein Buch zu lesen. Auch Mona musste viel arbeiten und ihre Tochter Silvi war meist alleine zu Hause. Silvi durchstöberte den Gefrierschrank und die Speisekammer und aß, worauf sie Lust hatte. Schokokuchen mit Zuckerguss, Pommes Frites, Pizza, Pudding, Gummibärchen. Dann machte sie die Hausaufgaben und sah zwischendurch fern. Vielleicht denkst du, das ist ja ein tolles Leben, aber Silvi wurde immer trauriger und einsamer und noch trauriger und keiner wusste Rat, wie man ihr helfen könnte. Der Bauarbeiter Ewald verdiente kaum genug, um seine Wurstsemmeln und seine Zitronenlimonade zu bezahlen und musste bei Ingenieur Miller einziehen, weil er sich keine eigene Wohnung mehr leisten konnte. Viele Leute waren schon lange nicht mehr glücklich in der Stadt und niemand wusste so recht, was tun. Auch der Bürgermeister nicht.


Doch da geschah es eines schÜnen Morgens, dass ein Vogel aus dem Kirschbaumgarten geflogen kam. Er erspähte Polkenudel unter sich, der zwischen den Häusern tief und fest schlummerte, und beschloss, auf dem Bauch des Riesen eine kleine Rast zu machen. Eins, zwei, drei. Schon war er gelandet. Stell dir vor, da stand der kecke Vogel dann eine Weile, zwitscherte und flatterte und stolzierte umher, und kurz bevor er wieder weiterflog, schmatzte er dem Riesen ganz frech ein bisschen Vogeldreck aufs Hemd.

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Dem Riesen machte das nichts. Er schlief ja. Aber weil der Vogel aus einem Kirschbaumgarten gekommen war und dort sehr viele Kirschen verschmaust hatte, war mit dem Vogeldreck auch ein Kirschkern auf Polkenudels Bauch gelandet. Und aus diesem Kirschkern wurde sehr bald ein kleines Bäumchen und aus dem kleinen Bäumchen nach nicht einmal zwei Monaten ein richtig großer Baum. Und weil bei Riesen einfach alles riesig ist, war der Baum nach einem Jahr zu einem fünfzig Meter hohen Kirschbaum gewachsen mit wunderbar weißen Blüten und Kirschen so groß wie Wassermelonen.




Es kamen noch andere Vögel und bauten Nester in den gewaltigen Ästen und schmatzten dem Riesen das Hemd voll. Es wuchsen riesige Himbeerbüsche und Hagebuttenstauden und noch mehr Kirschenbäume. Auch der Wind trug allerlei Samen herbei. Daraus wurden Birken und Gänseblümchen und Löwenzahnblumen, größer als du und ich. Föhren und Fichten und Holunderbüsche und Nussbäume, Ringelblumen und Glücksklee, Springkraut und gewaltige Weiden und Gräser und Blumen und Sträucher und Bäume und und und. So war auf dem Riesen Polkenudel vor den ungläubigen Augen der Stadtbewohner ein dichter, grüner Dschungel entstanden. Die ersten, die sich in den mächtigen Wald hineinwagten, waren Silvi und ein paar Kinder aus ihrer Klasse. An einem Freitag nach der Schule kletterten sie mit einer langen Leiter auf den Fuß des Riesen und von dort aus bergauf immer tiefer in das Dickicht hinein. Und was es da zu entdecken gab! Kleine Tümpel zum Herumspritzen und Zehenabkühlen und dicke Lianen zum Klettern und Schwingen, Himbeeren, die größer

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waren als zwei Kinder übereinander, weiche Moosbetten, dunkle Höhlen zum Verstecken, Vogelnester, geheime Wege ... Wahnsinn! „Das ist der beste Spielplatz der Welt!“, freuten sich die Kinder und beschlossen, am nächsten Tag wiederzukommen. Und das taten sie. Am nächsten Tag und auch am übernächsten und am überübernächsten. „Silvi, so glücklich habe ich dich ja schon lange nicht mehr gesehen“, sagte Mona, als ihre Tochter eines Abends nach Hause kam. „Mama, du musst mal mitkommen auf den Riesen!“, rief Silvi und drängte und quengelte so lange, bis Mona schließlich einwilligte und sie am Wochenende gemeinsam in den Riesenwald gingen. Auch andere Kinder nahmen ihre Eltern mit und so tummelten sich bald der Bürgermeister, der dicke Louis, der Herr Ingenieur, die Verkäuferin aus dem Supermarkt, der Apotheker, der Doktor, der Müllmann, die Bäckerin, der Kartenabreißer aus dem Theater, der Lastwagenfahrer, der Bauarbeiter Ewald und noch viele andere in den Ästen der riesigen Bäume. Auch der Straßenkehrer Jo war mit von der Partie, denn die gute Waldluft

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tat seiner Gesundheit sehr gut und der Husten wurde immer besser. Das Praktische war, dass es hier auch genug zu essen gab. Von einer einzigen Riesenkirsche konnte man gut und gerne einen Tag lang satt werden. Ja es geschah sogar, dass sich einige Leute sagten: „Uns gefällt es hier so gut, wir schlagen unser Zelt im Wald auf und bleiben hier. Zu essen haben wir genug und die Arbeit in der Stadt macht uns ohnehin längst keinen Spaß mehr.“ Andere sammelten die Kerne der Riesenkirschen und andere Samen und nahmen sie mit nach Hause, um sie auf ihren Hausdächern und Balkonen anzupflanzen. Es war ein toller Anblick. Die Stadt wurde grüner und grüner und zwischen den Zweigen und Blättern sah man vergnügte Gesichter. Der Bürgermeister saß auf der Spitze einer riesigen Birke und jauchzte: „Ich schlage vor, jede Stadt sollte einen Riesen haben!“ Und alle stimmten zu. Polkenudel merkte von all dem bunten Treiben nichts. Er schlief und träumte ein bisschen von der Südsee. Und wenn er seitdem nicht aufgewacht und weiterspaziert ist, dann liegt er wohl

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noch heute da und schlummert gem端tlich vor sich hin.



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