Bjarte Breiteig
Phantomschmerzen Erz채hlungen
aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel
Luftschacht Verlag
© 1998 H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, Olso, Norway This translation has been published with the financial support of NORLA. Titel der norwegischen Originalausgabe: Fantomsmerter © Luftschacht Verlag – Wien 2013 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten www.luftschacht.com Umschlaggrafik: Jürgen Lagger Foto: Corbis Satz: Florian Anrather Druck und Herstellung: CPI Moravia ISBN: 978-3-902844-17-0
Der Wind in den Wänden
Die Kuh liegt seitlich auf dem kalten Stallboden und stöhnt lang und rau. Rauch sickert aus ihrem Maul, als würde etwas darin verbrennen. Er setzt sich in Form kleiner Tropfen in den Maulhaaren fest. Der Junge geht um das Tier herum. Hinten steht die große Klaue eines Kalbes heraus. Dann verschwindet sie. Die Kuh hält den Atem an, presst, und die Klaue kommt wieder zum Vorschein. Der Junge fühlt sich nicht gut, womöglich hat er Fieber. Still steht er und starrt auf die glänzende Klaue, wie sie herauskommt, sich hineinzieht und wieder heraus. Es könnte eine schwere Geburt werden, hatte der Vater gesagt, bevor er fuhr. Bestimmt ist das Kalb groß. Wahrscheinlich wirst du es empfangen müssen, mein Junge, während ich im Krankenhaus bin. Mutter geht es nicht so gut, haben sie gesagt. Ich fürchte, ich werde nicht vor morgen Früh zurück sein. Der Junge schauert, obwohl seine Haut glühend heiß ist. Abends, findet er, ist der Stall so unheimlich. Die Schatten sind groß, still und bedrohlich. Die Kühe schauen ihn stumm an, als ob sie ihm etwas sagen wollten, es aber nicht könnten. Was wollt ihr?, ruft er plötzlich halblaut, bereut es aber sofort, als er seine eigene Stimme hört, sie klingt seltsam und hohl. Die Wörter bleiben irgendwie noch lange hängen, was wollt ihr, was wollt ihr ... Die Kühe glotzen nur zurück, stummer noch als zuvor. Irgendetwas an ihnen ist merkwürdig heute Abend, sie sind
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nicht dieselben wie tagsüber. Diese Kühe fressen nicht. Sie trinken nicht. Sie bewegen sich nicht. Auch die mit dem Kalb ist nicht dieselbe. Jetzt krümmt sie den Rücken und muht. Die Klaue kommt bis zum Fußgelenk heraus. Der Junge zieht daran, aber es wird noch eine Weile dauern, bis das Kalb zur Gänze herauskommt. Der Wind pfeift und heult in den Wänden. Woher die Geräusche kommen, weiß er nicht. Er hört sie um sich herum – überall. Steht nur da und hört auf die Geräusche. Die Kuh atmet jetzt schneller. Die Tauperlen in den Maulhaaren verwandeln sich in Schaum, der zäh in den Trog hinunterhängt. Sie hat Schmerzen, aber sie tut ihm nicht leid. Stattdessen hat er nur Angst. Er findet, dass die Kuh einem wahnsinnig gewordenen Menschen gleicht. Wieder krümmt sie den Rücken, jammert heiser und verdreht die Augen so weit in den Schädel, dass sie weiß werden. Nun kommt auch die andere Klaue zum Vorschein. Der Junge zieht mit voller Kraft, das Kalb gleitet bis zu den Oberschenkeln heraus und zieht sich diesmal nicht wieder hinein. Die Öffnung in der Kuh ist so groß, dass er fürchtet, sie könnte reißen. Das Kalb hängt fest und kommt weder heraus noch hinein. Er bringt es nicht über sich hinzusehen. Er schließt die Augen und stellt sich vor, es wäre Tag. Die Sonne fällt schräg durch die schmutzigen Fenster, und zwischen zwei Verschlägen steht der Vater und hakt die Melkmaschine an die Stange. Dann hängt er den Schlauch an, hockt sich hin, und die Becher saugen sich an die Zitzen, einer nach dem anderen. Es tickt regelmäßig und beruhigend, die Milch wird in die Röhren gepumpt, wo sie in kleinen, weißen Wellen entlangfließt. Jetzt sind die Röhren schwarz und leer.
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Vater, sagt der Junge, aber nur mit den Lippen. Er traut sich nicht mehr, seine schaurige Stimme zu gebrauchen. Doch in den Wänden heult und schreit es. Er schaut auf die Klauen, die waagrecht aus der Kuh herausstehen, sie sind blauweiß und faserig. Da bemerkt er, dass es die Hinterbeine sind. Das hat er noch nie zuvor gesehen – dass ein Kalb mit den Hinterbeinen zuerst kommt. Irgendwas ist hier falsch, denkt er, ist es tot? Alles in ihm sträubt sich gegen den Gedanken, und auf einmal scheint es ihm, dass auch die anderen Kühe tot aussehen. Er versucht sich vorzustellen, er wäre irgendwo anders, versucht erneut, den Vater vor sich zu sehen, aber es klappt nicht. Er ist hier, im Stall, spätabends, ganz allein. Und der Vater kommt womöglich nicht vor morgen nach Hause. Die Kühe stehen still, als ob sie aus Stein wären, und glotzen, glotzen. Ihre Augen sitzen wie festgefroren in den Köpfen, und trotzdem folgen sie ihm mit dem Blick. Sie wachen über ihn wie alte Porträtgemälde, passen auf, dass er nichts Falsches tut. Aber kein Muhen ist zu hören, nur das leidende Stöhnen Der Junge fühlt seine Stirn und seine Wangen in der kalten Luft brennen. Wenn er blinzelt, fühlen sich sogar seine Augen heiß an, sie liegen hinter den Lidern wie glühende Kugeln. Trotzdem friert er. Wieso ist es so kalt hier?, fragt er sich. Da sieht er, dass die Tür offen steht, sperrangelweit offen, und von draußen weht es eiskalt herein. Er starrt sie an, kann sich nicht bewegen. Er ist sich sicher, dass sie vor kurzem noch fest verschlossen war, und er weiß, dass sie nicht von selbst aufgehen kann. Jemand muss hier gewesen sein, denkt er. Die Öffnung gafft ihn an. Vorsichtig schleicht er hin, um sie zu schließen, aber kaum hat er die Türklinke gedrückt, fällt sie mit einem lauten Knall zu.
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In dem Moment beginnt die Kuh zu schreien und zu jammern, dass es in den Stallwänden schallt. Er läuft hinüber, greift nach den Klauen und fängt an zu ziehen. Jetzt gleitet das Kalb heraus bis zum Bauch, der Schwanz liegt zusammengerollt an der Seite. Der Junge zieht, so fest er kann. Die Kuh gibt ein langes, raues Heulen von sich, wie von einem Wolf, nur viel heiserer. Sie windet sich, presst stark, dann kommt das Kalb ganz heraus, fällt mit einem Klatschen zu Boden. Dort bleibt es regungslos liegen, verklebt von der Schleimblase. Es lebt nicht. Und dann sieht er es: Es hat zwei Köpfe. Völlig still steht er da. Der Wind hat sich gelegt. Die Schatten sieht er nicht. Die Kuh schreit nicht mehr. Er fühlt sich mitgenommen und schwer, wie am Morgen nach einer durchwachten Nacht. Schlaff starrt er die Köpfe an. Sie sind seitlich zusammengewachsen. Beide haben zwei Augen, die schwarz hinter der dünnen, weißen Schleimschicht hervorstarren. Der Teufel, denkt der Junge, und erschrickt vor dem Gedanken, diese Kuh hat den leibhaftigen Teufel geboren. Die Kuh ist stumm und starr. Zusammen mit den anderen steht sie in einer Reihe in den Ständen. Sie kauen nicht. Sie blinzeln nicht. Sie stehen nur da und glotzen. Dann klatscht er einer der Kühe plötzlich aufs Maul, in der Erwartung, dass sie zusammenzuckt. Aber sie bleibt ruhig stehen. Nicht einmal die Kette rasselt. Diese entsetzliche Stille, denkt er. Zum Schluss greift er vorsichtig nach dem Kalb und schleppt es an den Hinterbeinen fort. Es ist schwer. Auf dem Boden bleibt eine Schleimspur zurück, wie von einer gigantischen Schnecke. Er zieht es hinter den Stall. Dort gräbt er ein Loch. Die Erde ist nass und schwer, aber er wird nicht müde. Seine
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Hände werden weiß an der Stelle, wo sie den Schaft des Spatens umfassen, doch das beachtet er nicht. Er gräbt tief. Dann stößt er es ins Loch. Er muss den Körper des Kalbes zurechtbiegen, kann es aber vermeiden, die Köpfe zu berühren. In dem dunklen Licht, das durch die Stallfenster herausfällt, sieht er, dass Erde und Kot sich in der nassen Haut festgesetzt haben. Die Köpfe bleiben verwinkelt liegen, blicken blind in je eine Richtung; der eine auf den Boden, der andere in die Luft. Der untere hat Erde ins Auge bekommen. Er schaufelt, bis nur noch eine kleine Erhebung zurückbleibt. Niemals wird er vergessen, was darunter liegt. Es ist späte Nacht geworden. Der Junge sitzt in der Stube und wartet. Es hat zu regnen begonnen; am Fenster rinnen kleine gewundene Bäche herunter. Dann hört er den Vater an der Tür. Still tritt er ein, ohne die Jacke auszuziehen. Er hält den nassen Hut in der Hand, es tropft von seinem Bart und der Jacke. Er ist ein alter Mann. Sein Haar ist grau und der Rücken rund. Der Junge wünschte, er würde etwas sagen, ganz egal was, aber er sagt nichts. Jetzt ist es der Vater, der stumm ist und starr. Jetzt ist es der Vater, der ihn wie versteinert aus schwarzen Glasaugen anglotzt. Der Junge streicht sich mit der Hand über Kinn und Mund. Der Vater steht nur da, mit dem Hut in der Hand. Der Teppich wird nass um ihn herum. In der Ecke steht ein Beutel mit Mutters Strickzeug. Es ist lange her, seit der Vater es eingepackt hat, um es ins Krankenhaus mitzunehmen, aber es war immer liegen geblieben. Jetzt nimmt der Junge es aus dem Beutel und legt es auf den Tisch, wo es früher immer gelegen ist. Es ist ein halbfertiger, rot und weiß aufgewickelter Pulloverärmel. Langsam
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fädelt er seinen Arm ein. Er ist klein und eng und bleibt oberhalb des Ellbogens stecken. Vorsichtig zieht er an dem Garn, fängt an, es wieder aufzuwickeln. Der Alte steht da und sieht zu. Hat die Kuh gekalbt, fragt der Vater schließlich schwach. Ja, antwortet der Junge, erleichtert, endlich seine Stimme zu hören, die Kuh hat gekalbt. Und wieder sieht er die Kuh vor sich, die starre Statue mit dem leeren, dunklen Blick. Er klopft dem Vater auf den erschöpften Rücken, bringt es nicht fertig, mehr zu sagen. Der Vater sinkt in einen Stuhl. Danke, mein Junge, sagt er, danke, dass du dich darum gekümmert hast. Gemeinsam starren sie auf den Regen, der an der Fensterscheibe herunterrinnt. Dann hören sie in den Wänden den Wind weinen.
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