Brandhagen

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Hinrich von Haaren

Brandhagen Panorama einer kleinen Gesellschaft Roman

Luftschacht Verlag


© Luftschacht Verlag – Wien 2012 Alle Rechte vorbehalten www.luftschacht.com Umschlagsillustration: cédrickaub www.cedrickaub.com Satz: Florian Anrather Druck und Herstellung: CPI Moravia ISBN: 978-3-902373-94-6


F端r Robert


Die Kleine Straße

Abends im Bett hatte ich Hunger. Solange meine Mutter bei mir saß, eine Geschichte erzählte und dann hastig mit mir das Lieber Gott, mach mich fromm, damit ich in den Himmel komm betete, war alles gut, ich verspürte nicht den geringsten Appetit. Wenn sie aber das Licht ausschaltete und leise, obwohl ich noch gar nicht schlief, auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich, stellte sich unerbittlich der Hunger ein. Still lag ich im Bett und versuchte ihn zu unterdrücken, doch schon bald fühlte ich ein unerträgliches, vom Magen ausgehendes und sich in allen Gliedern ausbreitendes Hungerkitzeln. Ich zwang mich, noch ein bisschen länger liegen zu bleiben, konnte es aber schließlich nicht mehr aushalten, stand in meinem zu engen Frotteepyjama auf, lief barfuß über den kalten Linoleumfußboden zum Fenster und blickte auf die Kleine Straße hinaus. Um mich vom Hunger abzulenken, versuchte ich mir vorzustellen, was sich den Tag über dort unten zugetragen hatte. Je länger ich stand und je kälter meine Füße wurden, desto klarer sah ich die Tagesbilder. Ich sah meine Großmutter, wie sie in unnötiger Eile zum Bäcker Fink lief, ich sah meine Mutter, wie sie einen Topf Linsensuppe zu Tante Alma hinübertrug, meinen Vater nach Geschäftsschluss auf dem Weg zum Kegelclub. Ich sah, wer im Schreibwarengeschäft Tabel ein- und ausging, wer unseren Laden betrat, wer wen grüßte oder schnitt. Hinter mir lag das Haus in nächtlicher Stille. Allein der laute Fernseher meiner Großmutter dröhnte wie eine ferne Fabrik aus ihrem Wohntrakt. Ich versuchte, andere Nachtgeräusche zu erkennen, aber das war nun schwer, denn


meiner Vorstellung drängte sich der laute geschäftige Tag auf: die Klingel der Ladentür, die jeden Tag Dutzende Male anschlug, die Stimmen meiner Mutter, der Angestellten und der Kunden, das Klappern der Schreibmaschine aus dem Kontor, wo Frau Funke über einem Stapel Rechnungen saß, die, sobald abgearbeitet, in den vielen grauen Aktenordern der hohen Wandregale verschwanden, nur um von neuen Stapeln ersetzt zu werden, der Stock meiner Großmutter, der klick-klock überall durchs Haus ging, das Radio, das mein Vater bei der Arbeit in der Werkstatt laufen ließ, das Klappern der Teller um die Mittagszeit in der Hintenstube. So hatte jedes Zimmer im Haus sein eigenes Geräusch. Nur die gute Stube, die wir ausschließlich an Feiertagen benutzten, in der zu Weihnachten der Tannenbaum stand, zu Ostern ein Osterstrauß mit Kätzchen und Ginster und zu Pfingsten ein Maibusch, die aber den Rest des Jahres wie ein totes Herz im Zentrum des Hauses lag, gab keinen Ton von sich. Ich wartete so lang am Fenster, bis endlich ein Auto über das Kopfsteinpflaster der Kleinen Straße ratterte, die Scheinwerfer an der Fassade unseres Hauses hochkrochen, über die Fensterbank in mein Zimmer leckten, das dann einen Augenblick lang wie im Theater erleuchtet dalag, bis der Lichtkegel sich vom Fußende meines Bettes her wieder aus dem Zimmer verzog und gleich darauf mit einem Schlag verschwunden war. Dann sprang ich zurück ins Bett und starrte in die feste Dunkelheit, noch kurz den Glanz der Scheinwerfer in den Augen. Mein Hunger aber quälte mich nach wie vor, doch musste ich warten, bis meine Eltern das Licht in der Hintenstube ausgeschaltet hatten und zu Bett gegangen waren. Wenn sich ihre Schlafzimmertür schloss und ich bald darauf das Schnarchen meines Vaters und das pfeifende Traumatmen meiner Mutter hörte, war die Luft rein


und ich schlich nach unten in die Küche. Nichts brachte mich ab von der Idee, dass ich nur nach einem Nachtmahl würde einschlafen können. Überhaupt schien mir zu schlafen das Allerschrecklichste, und wenn ich mich bei meiner Mutter, bevor sie mein Zimmer verließ, beklagte, dass ich noch nicht müde sei und bestimmt lange nicht würde schlafen können, sagte sie nur „Du hast es ja noch gar nicht richtig versucht“, als fehle mir der rechte Wille zur Müdigkeit, als könne ich mich mit Selbstdisziplin zum Schlafen zwingen. Ich wusste jedoch, dass im Kühlschrank saure Gurken, kalte Kartoffeln, Käse, Ketchup und im Brotfach Toast nur darauf warteten, heimlich von mir verzehrt zu werden. Je länger ich wartete, desto heftiger beschuldigte ich meine Eltern dafür, dass sie mich hier mit leerem Magen einsperrten und mir verbaten, zu essen und trinken, wann ich wollte. Natürlich war ich weder eingesperrt noch mit leerem Magen zu Bett geschickt worden. Vielmehr hatte ich beim Abendbrot weder Käse noch Wurst noch Gurken oder Bratkartoffeln angerührt. Nun aber konnte ich vor Hunger nicht schlafen und musste es unbedingt bis in die Küche schaffen. Wenn es spät genug war und alle schliefen, bereiteten die nächtlichen Exkursionen keine Probleme. Ich wusste genau, welche Treppenstufen knarrten und wie die Küchentür zu öffnen war, damit sie nicht quietschte. Wenn meine Eltern aber bis spät in die Nacht, bis über meine Schmerzgrenze hinaus, in der Hintenstube aushielten, der schmale Lichtstreifen unter der Tür meine Warnung, mein Mienenfeld, gestaltete sich mein Ausflug schwieriger. Dann war die Gefahr, selbst auf bloßen Füßen (das war mir die Sache wert, trotz des eiskalten Fliesenbodens) ertappt zu werden, umso größer. Aus diesem Grund hatte ich mich vorbereitet, alle Möglichkeiten eingeplant, alle Situationen in meinem Kopf durchgespielt


und mir eine Tarnung zurechtgelegt. Aus dem Schirmständer im Flur hatte ich einen alten Krückstock entwendet, der hier schon ewig unbenutzt gesteckt hatte und den ich für solche Fälle unter dem Bett verbarg. Mein Plan war, mittels des Stocks die humpelnden Schritte meiner Großmutter artgetreu nachzuahmen. Obwohl diese um neun zu Bett ging und sich schon allein aus diesem Grund nicht zu später Stunde per Krückstock auf dem Flur zu schaffen machte, geschweige denn in der Küche, die sie aus Verachtung für die Kochkünste meiner Mutter ohnehin nur selten betrat, bildete ich mir ein, meine Eltern mit der kleinen Farce täuschen zu können. Tatsächlich wurde ich nie „erwischt“, jedoch nicht, weil Mutter und Vater ahnungslos blieben, sondern weil sie durch ihre Ignoranz den Aufwand und die Einbildungskraft, die in meine nächtlichen Vorstellungen flossen, still würdigten. Weniger Fantasie bewies ich dagegen bei der Zubereitung meiner späten Snacks. Die Nachtmahle bestanden aus Toast mit Ketchup, Mayonnaise oder was die gleiche Konsistenz wie Mayonnaise besaß und mit dem Finger aus dem Glas geschleckt werden konnte, sauren Gurken, kalten Nudeln und Kartoffeln (mit Ketchup und Mayonnaise), kaltem Blumenkohl, dicken Stücken Mettwurst, kurz allem, was der Kühlschrank und die Speisekammer hergaben. Es versteht sich von selbst, dass zu einem vollständigen Nachtmahl auch ein Nachtisch in Form von Süßigkeiten gehörte. Um diese zu erreichen, musste ich allerdings auf die Anrichte steigen, da meine Mutter das „Schöne“ – Tüten mit den Bonbons („Bonschen“, sagte meine Großmutter), Haselnussschokolade, Pralinen und auch das salzige Naschzeug wie Chips, Würmer und Salzstangen – in einer alten Sarotti-Dose auf dem obersten Regal aufbewahrte, damit ich gar nicht erst in Versuchung kam. Weder die Höhe der Schränke, noch

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die Verkleidung der Dose hielten mich jedoch davon ab, mein Ziel zu erreichen. Bei einem dieser Klettermanöver stürzte ich ab und schlug mit dem Kopf gegen die Spülmaschine, die daraufhin monatelang leckte. Einen Moment lang blieb ich auf dem Boden liegen, mir war schwarz vor Augen, und sobald ich mich aufrichtete, hämmerte mein Kopf vor Schmerzen. Trotz des heftigen Gepolters, das mein Sturz verursacht hatte, und obwohl meine Eltern nur wenige Schritte entfernt in ihren Sesseln hockten, kam niemand in die Küche gelaufen. Vielmehr schien das Haus noch stiller, als säßen sie mit angehaltenem Atem in der Hintenstube, gespannt, wie ich die Situation meistern würde. Mit meinem Stock, den ich vom Boden aufgesammelt hatte, etwas wankend, aber doch mit meinem allerbesten Großmutterschritt, kehrte ich ohne Süßigkeiten in mein Zimmer zurück, wo ich den Schmerztränen endlich freien Lauf lassen konnte. Meine Großmutter wusste natürlich nichts davon, dass sie Abend für Abend so schamlos nachgemacht wurde. Während ich im Kühlschrank wühlte, schlief sie längst in ihrer kleinen Wohnung, Haut und Knochen unter dem Federbett. Diese Wohnung war meine Zuflucht, alles hier hatte seinen festen Platz, sogar die Weckgläser in der schmalen Speisekammer. Die eingemachten Bohnen, Gurken, Birnen und der Kürbis standen jedes Jahr am gleichen Platz, peinlich genau sortiert und mit handgeschriebenen Etiketten versehen. Aßen wir nicht alles auf, rückten diese Gläser im folgenden Jahr ein Regal höher, so dass in den obersten Regionen uralte Produkte lagerten, die nach und nach ein etwas einsiedlerisches und vertrocknetes Aussehen annahmen, was mich aber nur noch mehr dazu verleitete, heimlich in die Kammer zu schleichen, die kleine Trittleiter hochzusteigen und den verjährten Inhalt der Weckgläser, als handle es sich

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um kleine in Formaldehyd eingelegte Jahrmarktmonster, aus nächster Nähe zu betrachten. Zwei Kriege, die „schlechten Jahre“ und ein von der Inflation zerfressenes Vermögen hatten meine Großmutter in ein Wesen der Sparsamkeit und Strenge verwandelt, eine Sparsamkeit, die sich vor allem gegen sie selbst richtete, als wolle sie auf diese Weise den Tücken des Lebens vorbeugen. Zwei Tage vor ihrem 21sten Geburtstag, zwei Monate vor ihrer anberaumten Hochzeit, im Jahr 1911, war ihr Vater vor ihren Augen auf der Treppe im Haus gestürzt (Stiefel, Stufe, glattes Leder, scharfer Schrei, Kopf, kopfüber) und hatte sich das Genick gebrochen – die gleiche Treppe, über die ich mich nun Nacht für Nacht in die Küche schlich. Er war meiner Großmutter zu Füßen gefallen, die unten neben dem plötzlich aschgrauen Toten gestanden hatte, in Schürze und Schnürschuhen, niemand wusste wie lange, denn sie hatte nicht gerufen, hatte kein Wort über die Lippen gebracht, bis einer der Ladenangestellten sie so fand. Ihre Mutter, meine Urgroßmutter, überzeugt, dass es kein Unfall gewesen sei, sondern Selbstmord, und unfähig diesen Verrat ihres Mannes zu überwinden, hatte daraufhin zur Flasche gegriffen und den Rest ihrer Tage besoffen im halbleeren Ehebett verbracht. Aus dem alten Kolonialwarenladen wurde nach und nach ein Geschäft für Porzellan und Nippes, das die Bürger von Brandhagen und die wohlhabenden Bauern der Umgebung belieferte. Doch in der Inflation von 1923 verlor die Familie ihr gesamtes Vermögen von über 150.000 angesparten Reichsmark. Allerdings war meine Urgroßmutter zu betrunken, um das Ausmaß dieses Verlustes wirklich zu begreifen. Sie hielt noch zehn Jahre länger im Bett durch und starb einen Tag nach der Machtergreifung an Leberzirrhose. Meine Großmutter hatte seit dem Tod ihres Vaters den Laden geführt, auch nach ihrer

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Hochzeit, da mein aus Koblenz stammender Großvater vom Geldmachen nicht das Geringste verstand, wofür sie sein „südländisches“ Erbgut verantwortlich machte. Ein neues Vermögen musste angesammelt werden, und Jahre der Sparsamkeit und des Ackerns sowie die Erinnerung an die Schrecken ihrer Jugend hatten sich in die Persönlichkeit meiner Großmutter tief eingebrannt. Beim Kochen etwa hielt sie eisern an ihren kostengünstigen Eintöpfen fest und rümpfte die Nase, wenn uns meine Mutter „mitten in der Woche“ ein Hähnchen servierte. Ich allein war von dieser Sparsamkeit ausgenommen, und sie hätte keine Sekunde gezögert, mir jeden Tag, von Montag bis Sonntag, einen Braten vorzusetzen, wenn ich danach verlangt hätte. Für sich selbst aber kochte sie sparsame Gerichte in winzigen Portionen auf ihrem kleinen Herd, die sie stets um Punkt 11 Uhr in ihrer Küche einnahm: Steckrüben, Buttermilchklüten, Birnen, Bohnen und Speck oder Schwarzsauer, ihre Spezialität. Mich gruselte vor dem schwarzen Zeug, von dem sie immer ein bisschen mehr für meinen Vater mitmachte. Den kleinen Pott in der einen, ihren Stock in der anderen Hand, lief sie von ihrer Küche, den Flur entlang, die Treppe hinunter zur Hintenstube, wo sie ihm die Blutsuppe auf den Teller goss. Ich beobachtete ihn beim Essen und ein wilder Ekel ergriff mich. Ich hätte einfach wegsehen oder vielleicht mit der Entschuldigung, ein Glas Saft (ich trank TriTop) aus der Küche holen zu wollen, vom Tisch aufstehen können, doch stattdessen sah ich ihm bis zum letzten Löffel zu und genoss mein Würgen, meine Selbstüberwindung, die sich steif bis in jeden Winkel meines Körpers drängte. Mein Vater beobachtete aus einem Augenwinkel mein Starren und aß die Schwarzsauer langsam, kratzte auch noch den letzten Rest vom Teller, er kratzte wie unter Zwang, im Tandem mit

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meinem angewiderten Blick, der sich von seinem Teller und dem zum Mund geführten Löffel, dem Kauen und Schlucken, nicht losreißen konnte. Ich glaube, er aß die Schwarzsauer nur aus Angst vor meiner Großmutter, die sich über diesen Appetit am Einfachen freute, denn im Gegensatz zu ihm hatte mein Großvater, mein aus dem Süden stammender, geldverschwenderischer Großvater, der Lebemann, der Gourmand, Schwarzsauer nie angerührt. Er hatte das feinere süddeutsche Essen und die sonnigen Weine geliebt. Wie mein Vater hatte auch mein Großvater in der Werkstatt hinter dem Kontor gearbeitet, wo er, fern vom Laden, beschädigtes Porzellan der Manufakturen KPM, Rosenthal oder Meissen einwandfrei wiederherstellte. In seinem Eremitendasein und einer immer etwas zur Schau gestellten geistigen Abwesenheit, hatte er jedoch sehr wohl gewusst, dass seine Frau, meine Großmutter, trotz ihres autoritären Auftretens ständiger Aufmerksamkeit und Liebesbekundungen bedurfte. Und so fütterte er sie tagtäglich, damit sie weiterleben konnte. Im Gegenzug hatten die beiden ein stilles Abkommen getroffen, und meine Großmutter ließ ihn seine brötlerische Existenz in der Werkstatt führen. Mein Vater und seine zwei Jahre jüngere Schwester Lise waren in dieser Werkstatt aufgewachsen. Meine Großmutter, zu sehr mit der Arbeit im Laden beschäftigt, hatte die Erziehung der Kinder ganz ihrem Mann überlassen. Außerdem war Lise kränklich und für Krankheiten hatte meine Großmutter nicht das geringste Verständnis. Die Kinder hatten also die meiste Zeit unter dem großen Werkstatttisch verbracht, wo sie tagtäglich zu Füßen meines Großvaters und seiner knöchelhohen Schnürstiefel hockten, die er sommers wie winters trug, da er unter „aufsteigender Kälte“ litt, und die in den weißen Porzellanstaub traten, so dass das schwarze

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Leder immer wie gepudert aussah. Über dem Tisch und für die Kinder unsichtbar, hatte sein oft schmerzverzerrtes Gesicht gehangen, wenn ihn, besonders nach dem Morgenkaffee, sein Magen plagte. Obwohl nie ein Zweifel daran bestand, dass mein Vater eines Tages den Laden erben und das Geschäft führen würde, hatte mein Großvater sich immer mehr zu seiner Tochter hingezogen gefühlt. Lise war als Kind sehr schüchtern gewesen. Während mein Vater, sobald er laufen konnte, seinen Weg unter dem Arbeitstisch und aus dem Porzellanstaub heraus gefunden hatte, gelang es Lise nicht, sich ohne weiteres von der Sicherheit der Werkstatt zu lösen. Sie hatte nur wenige Freunde, und mein Großvater, ohne sich dessen bewusst zu sein, tat nichts, um sie diesbezüglich zu ermutigen. Er hatte sie zu gern bei sich. Dennoch entwickelte Lise in ihrer Einsamkeit eine ungewöhnliche Entscheidungskraft, die zwar an Sturheit grenzte, während zahlloser Krankheiten, die sie als Kind heimsuchten, aber ihr Schutzengel wurde. „Deine Tante“, sagte mein Vater, wenn er Lise erwähnte, was nur selten vorkam und dann nur, wenn meine Mutter außer Hörweite war, „deine Tante war in allem eisern. Sie wusste immer besser als der Doktor, was zu tun war, wusste genau, wie lange sie liegen musste, und wie viel Medizin sie nehmen sollte. Eisern blieb sie liegen, bis der von ihr festgesetzte Tag der vollständigen Genesung gekommen war, und erst dann stand sie wieder auf. Nicht eine Minute früher.“ Lise überstand eine akute Blinddarmentzündung, nach einem Zeckenbiss eine Hirnhautentzündung, zwei gebrochene Rückenwirbel nach einem Sturz auf der Treppe (eine Etage höher als ihr Großvater) und sogar die Tuberkulose, bei der das feuchte Klima der norddeutschen Tiefebene dem Zustand der Patientin alles andere als zuträglich gewesen war. Diese Rekonvaleszenzen

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waren laut dem Hausarzt Doktor Tiedemann ein Wunder, umso mehr, als sich jede seiner Diagnosen als ganz und gar falsch erwiesen hatte. Normalerweise legte der Doktor mit seinen Patienten eine ruppige Art an den Tag, erklärte ihnen, wenn sie in seiner Praxis erschienen, sie „stellten sich an“, ja siebte die vermeintlichen Hypochonder gleich im Wartezimmer aus und interessierte sich ernsthaft eigentlich nur für solche Fälle, bei denen es etwas Eitriges auszudrücken oder herauszuschneiden gab. Furunkel, Karbunkel oder andere leichthin als „Geschwür“ oder „Gewächs“ diagnostizierte Gebilde waren seine Spezialität, und wenn Not am Mann war, gab er sich auch mit einem einfachen Pickel in der tertiären Entzündungsphase zufrieden. Dabei fügte er den Patienten allerdings unnötigen Schmerz zu, so dass die Erlösung vom pochenden Eiterherd meist in den Torturen des vorangegangenen Drückens, Pulens und Schneidens unterging. Bei Lise jedoch war es ganz anders. Wenn sie wieder einmal das Bett hütete, wenn sich wieder ein Katarrh hartnäckig auf die Lunge gesetzt hatte, das Husten kein Ende nehmen wollte und sie verschwitzt und abgekämpft, jetzt nur noch ein armseliges, hässliches Geschöpf im Nachthemd, zwischen den Kissen lag, dann hockte der alte Tiedemann bei ihr auf der Bettkante und behandelte seine Patientin mit einer Feinfühligkeit, die niemand ihm zugetraut hätte. Er hielt ihre Hand, strich ihr übers nassgeschwitzte Haar und befragte sie leise nach ihren Symptomen, die sie ihm bis in alle Einzelheiten samt einer Selbstdiagnose (die er schnell zu schätzen lernte) auch noch im verwirrtesten Fieberzustand nennen konnte. Meine Großmutter verließ auch an solch sorgenerfüllten Tagen und manchmal Wochen nur selten den Laden, um nach ihrer Tochter zu sehen. Vielmehr verhärtete sich ihre merkantile Fassade noch

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mehr, teils aus Ärger darüber, dass mein Großvater seine Arbeit vernachlässigte, um bei seiner Tochter zu sitzen, die „unter dieser übertriebenen Bewachung auch nicht schneller genesen konnte“, teils aus Gewissensbissen darüber, dass sie sich nicht so sorgte, wie es sich für eine Mutter wohl gehörte. Als Lise an der Tuberkulose erkrankte, schlug mein Großvater sogar ein Feldbett in ihrem Zimmer auf, nur um bei jedem Hüsteln voll schrecklicher Vorahnung hochzuschrecken. Meine Großmutter, obwohl natürlich ebenso um ihre Tochter besorgt wie ihr Mann, hatte für ein derart übertriebenes Verhalten kein Verständnis. Vielleicht aus heimlicher Eifersucht auf ihre Tochter, die so viel männliche Aufmerksamkeit auf sich zog, vielleicht – und noch schlimmer – weil sie eine Seite an ihrem Mann erkannte, die sie trotz aller Anstrengung nicht begriff: die vollkommene Hingabe. Das mangelnde Verständnis für diese Passion teilte sie jedoch ausgerechnet mit Lise. Beide betrachteten ihre Umwelt aus einer kühlen, manchmal fast hoheitlichen Distanz. In dieser Ferne fühlten sie sich sicherer, fühlten, dass sie gleichzeitig ihre Kontrolle ausüben und der Kontrolle der anderen entgehen konnten. Vater und Sohn neigten hingegen dazu, jeder Laune nachzugeben, alles stehen und liegen zu lassen, um sich (immer voller Hingabe) einer neuen Idee, einem frischen Gefühl, einer köstlichen Hoffnung in die Arme zu werfen, jedoch ohne jemals etwas zu Ende zu bringen. Beide lebten und kämpften ständig mit den sogenannten „großen Gefühlen“, die sie immer wieder vollkommen zu überwältigen schienen und die besonders meinen Großvater regelmäßig in schwere Depressionen warfen. Lise bemerkte davon nichts. Sie empfand mehr Mitleid mit den Helden ihrer geliebten Schmökerromane als mit dem Personal ihrer eigenen Familie. Griseldis’ gefährdetes Leben

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und die unheimliche Komtesse Beate oder das Geheimnis der alten Mamsell plagten sie schlimmer als die Seelentiefen und Magenkrämpfe ihres Vaters. Mein Großvater starb vierzehn Monate nach der Machtergreifung und dem Sauftod seiner Schwiegermutter. Böse Zungen in Brandhagen behaupteten, sein Tod sei infolge des Verzehrs eines Sauerbratens eingetreten, der unerlaubterweise im Wahl’schen Haus am Eintopftag auf den Tisch geschmuggelt worden war. Der Führer, so hieß es, lasse eben nichts ungestraft. In Wahrheit war die Todesursache ein Strick gewesen, mit dem mein Großvater sich auf dem Dachboden erhängt hatte, teils weil er die Schmerzen des Magenkrebses nicht mehr hatte ertragen können, teils weil die örtlichen Bonzen ihm zusetzten, in die Partei einzutreten. Offener Protest war nie sein Stil gewesen. Er hatte sich wohl auf so schreckliche Art in die Enge getrieben gefühlt, dass ihm schließlich kein anderer Ausweg mehr übrig schien, als seinem Leben, das noch ein Jahr zuvor ganz in gutbürgerlichen Bahnen verlaufen war, ein Ende zu setzten. Mir hatte meine Mutter erzählt, er sei von einem durch die Kleine Straße rasenden Auto überfahren worden (mein Vater sprach nie darüber). Jahrelang hatte ich nachts auf das Kopfsteinpflaster hinuntergesehen und mir vorgestellt, wie mein Großvater dort über den Haufen gefahren worden war, von einem VW-Käfer vielleicht, einem Lastwagen oder einem fremden Mercedes. Wer würde so etwas tun? Wohin war der rasende Fahrer verschwunden? Stand er ebenso wie ich irgendwo am Fenster und dachte an meinen Großvater? Natürlich dachte kein VW- oder Mercedes-Fahrer an ihn, weil doch ein Strick sein Ende gewesen war. Der Strick war die Wahrheit. Niemand hatte den Toten hängen sehen, außer meiner Großmutter, die ihn, zum ersten Mal das Ausmaß

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seiner Verzweiflung ganz begreifend, dort oben in aller Einsamkeit gefunden, abgeschnitten und nach unten getragen hatte, die Leiche so schwer, dass sie, in einer schrecklich absurden Wiederholung der Familiengeschichte, mit ihr um ein Haar die Treppe hinuntergestürzt wäre. Gleich zu Kriegsbeginn wurde mein Vater mit einem Notabitur in der Tasche eingezogen und nach Frankreich geschickt. Lise kam in den Arbeitsdienst auf einen abgelegenen Hof in Tergast, Gemeinde Moormerland, an der holländischen Grenze. Meine Großmutter stand besonders um ihren Sohn Angst aus. Sie wusste ja, sagte sie zu den Kunden im Laden, in dem jetzt rationierte Lebensmittel verkauft wurden (wer brauchte im Krieg Porzellan) und der ein Umschlagplatz für Neuigkeiten war, sie wusste ja, dass ihre Tochter sich immer durchschlagen würde, dass ihr Ältester aber noch so unreif, so weltfremd sei. Briefe aus Frankreich und Tergast kamen nur spärlich, und meine Großmutter wurde zunehmend leidend vor Sorge. Im April 1945 besetzten die Engländer Brandhagen. Das alte Nazi-Kontingent, allen voran Ortsgruppenleiter Stüwe (vormals Bäckergehilfe bei Finks), der noch kaltblütig eine Gruppe 15-jähriger Jungs im sogenannten Endkampf an der Kanalbrücke am Hohengrabener Wald verheizt hatte, selbst aber wie eine Überlebensnatter nur mit einem Streifschuss davongekommen war, begrub die belastende braune Uniform beim Einmarsch der Alliierten im Garten, bevor er sich im grauen Anzug unter die Schaulustigen auf der Kleinen Straße mischte. Lise kehrte noch stiller aus dem Arbeitsdienst zurück, noch distanzierter ihrer Mutter gegenüber. Mein Vater kam im November 1947 aus französischer Gefangenschaft verlaust nach Hause. Meine Großmutter und Lise rissen ihm noch

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im Garten alle Kleider vom Leib und kochten die verdreckte Uniform in einem Bottich aus. Auch damals hatte meine Großmutter ihm Schwarzsauer gemacht. „Das war das Erste, was dein Vater auf dem Teller hatte, als er wieder zu Hause war“, sagte sie zu mir, als könne sie mich damit überreden, ebenfalls von dem nachtfarbenen Gericht zu probieren. Die lumpige Uniform meines Vaters fand ich in einer der vielen Kisten auf dem Dachboden. Meine Großmutter hatte sie hier aufbewahrt. Der schwere graue Stoff roch nach Rauch und Winter. Auf der anderen Seite der Kleinen Straße, direkt gegenüber unserem Laden, wohnte mit ihrer Familie Tante Alma, die Schwester meiner Mutter. Meine Cousine Alexandra, die jüngste der vier Vink’schen Kinder und ein Jahr älter als ich, war meine erste Spielgefährtin. Von klein auf zeigte Alexandra eine besondere Vorliebe für alle Ladenspiele, in denen es um Verkaufen, Bedienen und Kassieren ging. Meine Großmutter hatte mir einen kleinen Kaufmannsladen geschenkt, für den ich mich aber nur wenig begeistern konnte. Der rote Plastiktresen, die Regale und die Spielpackungen blieben tot in der Ecke stehen. Wenn jedoch Alexandra herüberkam, musste jedes Mal der Laden in der Hintenstube aufgebaut werden. Ich hatte dann die Kunden zu verkörpern, die mit verschiedenen (von Alexandra vorgegebenen) schwierigen Wünschen an den Ladentisch traten. Keiner dieser Kundenakte durfte wiederholt werden, so dass wir ständig neue Szenarien dazuerfinden mussten, was bei dem beschränkten Angebot des Kaufmannsladens nicht ganz einfach war. Sobald ich den Kundenwunsch (in der Regel mehrmals von Alexandra korrigiert) ausgesprochen hatte, machte sie sich mit übertriebener und aufgeblähter Geschäftigkeit hinter

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dem Tresen zu schaffen, nahm die fingergroßen Packungen für Waschpulver, das Plastikobst und -gemüse und die kleinen Zucker- und Mehltüten aus den roten Regalen, stellte alles der Größe nach geordnet auf den Ladentisch und zählte, wenn die Einkaufsliste Eintrag für Eintrag abgehakt war (sie bestand auf das Abhaken), die Abrechnung zusammen, die sie voller natürlicher Rechenbegabung ohne weiteres auf dem kleinen, dazu vorgesehenen Block ausführte, dessen Seiten in Rot und anklagend mit „Rechnung“ überschrieben waren. Diese Zettel händigte sie mir voller Genugtuung aus, und ein Glücksschimmer lag auf ihrem Gesicht, wenn sie mir das vorher knauserig zugeteilte Spielgeld Mark für Mark wieder abnahm. Auf diese erste Runde folgte eine zweite und dritte, die sich nur durch die Auswahl der Waren unterschieden. War mein Geldvorrat erschöpft, gewährte Alexandra mir gnädig Kredit, den sie in die „Kladde“ eintrug, ein schwarzes Heft, das wir aus dem Kontor gestohlen hatten und in dem sich nach und nach die lange Liste meiner Verschwendungen wie eine billige Geschichte des teuren Geschmacks über die Seiten schlängelte. Alexandras Geschäftstüchtigkeit hatte für meine Großmutter nie in Frage gestanden. Das Mädchen war von ihr auserwählt worden, als einzige, die einmal den Laden würde führen können, und wenn sie über Alexandra sprach, redete meine Großmutter wie von einer begabten Schülerin. Alexandras Geschäftstüchtigkeit, so meine Großmutter, konnte wohl kaum vererbt sein, brachte Almas Mann Olaf es doch mit seiner Versicherungsvertretung auf keinen grünen Zweig und Alma selbst habe überhaupt keinen Sinn für Finanzen. Dennoch waren Alma und meine Großmutter sich ähnlicher, als beide gern zugegeben hätten. Sie betrachteten ihre unmittelbare, ihre private Welt, mit einer Subjektivität, die

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kein Urteil außer dem eigenen gelten ließ. An einer anderen als ihrer privaten Welt hatten sie kein Interesse. Beide verfochten auch unerschütterliche Ansichten darüber, was „richtig“ und was „falsch“ war. Die Zubereitung der täglichen Mahlzeiten etwa konnte stundenlange Diskussionen entfachen. Ob eine klare Hühnerbrühe mit oder ohne Eierstich zu servieren sei, ob eine Prise Senfkörner in die Meerrettichsauce gehörte oder ob man mit oder ohne Fischmesser am besten ein Stück Schellfisch zerlegte, waren keine Spitzfindigkeiten für Küchendespoten, sondern Ausdruck einer Lebensweise. „Ich muss mich brechen, wenn ich Senfkörner in der Meerrettichsauce schmecke“, rief Alma empört, „solche überkandidelten Ideen kommen wohl aus den Restaurants.“ Auf welche Restaurants sie dabei anspielte, blieb unklar, da Alma grundsätzlich keine Lokale besuchte, weil dort in der Küche angeblich „nur rumgeschweinigelt“ wurde. Meine Großmutter, zwar nicht weniger exzentrisch als Alma, statt zum barocken Ton aber zum Trocken-Verkniffenen neigend, fand solche „Vink’schen“ Macken nur lächerlich. Doch während sie ihre Meinung gewöhnlich offen und laut kundtat („Nun tüdel man nicht so rum!“), wagte sie Alma gegenüber kein Wort der Kritik. Dieser stumme Pakt wurde auch von Alma eingehalten, die sich zum Beispiel nie darüber geäußert hätte, wie meine Großmutter die Stangenbohnen anpflanzte (zu dicht) oder ihre Himbeermarmelade einkochte (zu steif). Zwischen den beiden herrschte ein lebenslanger heimlicher Kochwettkampf, bei dem sie so schwere Geschütze wie Frankfurter Kranz oder Almas Blitzkuchen auffuhren. Hart auf hart kam es besonders dann, wenn beide das gleiche Gericht auf verschiedene Weise zubereiteten, zum Beispiel die Siedländer Hochzeitssuppe, eine klare Hühnerboullion, die nicht nur bei Hochzeiten, sondern

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auch an höheren Feiertagen serviert wurde und die Tante Alma mit Markklößchen kochte, während meine Großmutter, einem älteren und wie sie behauptete echterem Rezept folgend, einfache Rindfleischklöße dazugab. Ich bewunderte Tante Alma, weil sie als Einzige vor meiner Großmutter keine Angst hatte. Jede Einzelheit an ihr schien mir bemerkenswert, selbst ihre Sprache. Für alles hatte sie ein spezielles Wort: „Blitzkuchen“ war ein schneller Butterkuchen, „Nasenfahrrad“ eine Brille, „Pukelun“ ein eitel aufgetakelter Mann, der vielleicht sein zu langes, schlecht gekämmtes Haar in einer Polkawolle trug. Ihre Helfershelfer, ihre „Kalfaktoren“, wurden sämtlich mit neuen Namen belegt. Herr Pape, der ihr an Wochenenden im Garten half, hieß aus unerfindlichem Grund Alfredo Perputa, eine kleine Dame, die auf der Post arbeitete und deren echten Namen alle vergessen hatten, Tüdelüt, und Asta von Merk war wegen ihrer Langsamkeit die Schildkröte. Wenn Alma eine Meinung nicht passte, dann tat sie dieselbe ohne Scheu als „Tüdelkram“ ab. Ganze Weltsichten wischte sie so beiseite. Sie tat das mit einer Überzeugung, die niemand in Frage zu stellen wagte. Dabei waren ihre Vorlieben oder Abneigungen nie vorauszusehen. Zwar hielt sie auf gute Sitten, Höflichkeit und Anstand, konnte aber plötzlich, ganz überraschenderweise, etwa für ein junges Paar, das in sogenannter wilder Ehe zusammenlebte, Partei ergreifen und fand auch nichts dabei, dass im Theater in C. die Schauspieler neuerdings nackt im Don Carlos auftraten. „Lass sie doch“, sagte sie, während ganz Brandhagen vor Empörung nach Luft schnappte. Kurz, Alma war ein Freigeist und konnte diese Art der erstickenden Bürgerlichkeit nicht leiden, eine Abneigung, die auch die bürgerliche Ordnungssucht in Brandhagen mit einschloss.

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