Luk Perceval Auszug aus: „Theaterlexikon 2: Personen“, herausgegeben von Manfred Brauneck und Wolfgang Beck, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt Verlag, rororo 55 650 2), (wird voraussichtlich 2005 erscheinen) Perceval, Luk, * 30.05.1957 Lommel (Belgien). Flämischer Regisseur, Intendant, Schauspieler, Dozent und Lichtdesigner. P. studierte am Koninklijk Conservatorium Antwerpen und begann im Antwerpener Stadttheater Koninklijke Nederlandse Schouwburg seine Theaterlaufbahn als Schauspieler. Seine Unzufriedenheit mit dessen festgefügten Strukturen ließ ihn 1984 eine eigene freie Gruppe gründen, die „Blauwe Maandag Compagnie“, für die er bald auch inszenierte. In den achtziger und neunziger Jahren zahlreiche Regiearbeiten vor allem in Antwerpen, Brüssel und Gent. Der Zusammenschluß der kleinen, erfolgreichen „Blauwe Maandag Companie“ mit der Koninklijke Nederlandse Schouwburg ermöglichte P. 1998 neue künstlerische Entwicklungen als Regisseur und Intendant. P. leitet bis heute das nun „Het Toneelhuis“ genannte Theater. Aufmerksamkeit über Belgien hinaus erlangte P. mit Ten oorlog nach Shakespeare (Gent 1997, Bearbeitung von P. und dem flämischen Autor Tom Lanoye), einer explosiven Verdichtung von Shakespeares Historiendramen zu einer furiosen Geschichte von besessenem Machtstreben und unausweichlichem Machtverlust, vom Niedergang der Formen, vom Kulturverfall als Sprachverfall. Die neunstündige deutsche Fassung Schlachten! wurde als Koproduktion mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg bei den Salzburger Festspielen 1999 gezeigt. Mit wenigen exzellenten Schauspielern (u. a. Roland Renner als Richard Deuxième, Thomas Thieme als Dirty Rich Modderfocker) in einer Vielzahl von Rollen, mit einer irritierenden Sprachmischung aus Deutsch, Flämisch, Englisch und Französisch und einer klaren Bearbeitungslinie der Konzentration auf den Großen Mechanismus der Macht erzählen P. und Lanoye Shakespeares Rosenkriege als „eine Reise durch den sogenannten Humanisierungsprozess der Menschheit ... Man könnte sagen, die Konflikte handeln von Todesangst, Sexualität und Todessehnsucht. Das sind die drei Pfeiler des menschlichen Handelns, die drei Voraussetzungen des Überlebens.“ (P. über Schlachten!). In den folgenden Jahren polarisierte P. Publikum und Kritik mit einer Reihe herausragender Inszenierungen an deutschen Theatern: Anton Tschechows Der Kirschgarten in Hannover, Jon Fosses Traum im Herbst an den Münchner Kammerspielen (beide 2001) und Das kalte Kind von Marius von Mayenburg an der Berliner Schaubühne (2002). Besonders L. King of Pain nach Shakespeare mit Thomas Thieme in der Rolle des Lear, eine Koproduktion von Het Toneelhuis mit dem Schauspielhaus Zürich und dem schauspielhannover (Brügge 2002), erlangte große Aufmerksamkeit durch die eindringliche Auseinandersetzung mit Alter und Vergessen, mit Sprachverlust und Fremdheit der Generationen. „Das Stück handelt davon, wie der Mensch von nichts zu nichts wird. Und gleichzeitig verrückt wird vor Sehnsucht“, beschrieb P. seine Inszenierungslinie. Besonders P.s Inszenierung des Othello (Wiedereröffnung der Münchner Kammerspiele 2003) in einer neuen Textfassung von Günter Senkel und dem deutsch-türkischen Autor Feridun Zaimoglu spaltete das Publikum durch seine drastische, brutale Sprache und die ungewöhnliche Darstellung des Othello als weißen (!), älteren,
des Kämpfens müden Mann (Thomas Thieme). Die darstellerische Zurückhaltung der Schauspieler in der schwarz-weißen Inszenierung (Bühnenbild wie meistens bei P.: Katrin Brack) kommuniziert in einer so noch nie gesehenen Weise mit der emotionalen musikalischen Begleitung durch den auf der Bühne spielenden Pianisten Jens Thomas. P.s Regiearbeiten stehen für ein zeitgemäßes, differenziertes Theater zwischen der sensiblen, eindringlichen, gänzlich auf Sprache konzentrierten Produktion Traum im Herbst und den scheinbar wüsten Shakespeare-Bearbeitungen, von denen P. und Lanoye behaupteten, sie seien „mit dem Abbruchhammer und der Kettensäge“ entstanden. Die wiederholte Auseinandersetzung mit Shakespeare stellt selbstredend keinen Zufall dar, hat P. in Shakespeare doch einen Autor gefunden, der einen ganzen Kosmos menschlicher Schicksale und Empfindungen in sensibler Beobachtung entfaltet ohne zu moralisieren. P. ist ausgesprochen an Individualität interessiert ohne psychologisch zu sein, seine Menschen sind nicht ohne „Schuld“, aber ihre Entscheidungen werden jenseits moralischer Kategorien verhandelt. Sein Theater ist politisch in seiner unverbesserlichen Hoffnung auf die Katharsis des Zuschauers und kommt doch gänzlich ohne Belehrung aus. „Ich bin nicht mehr an Geschichten interessiert die oft nicht viel mehr bieten als Anfang und Ende sowie einen Verlauf, der künstlich oder eng moralisierend ist. Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich in erster Linie auf eine Geschichte, die ich nicht wahrnehmen, nicht begreifen kann. Die Geschichte, die mich interessiert, spielt sich hinter und zwischen den Worten, in der Stille, in der Leere ab“, sagt ein Regisseur, dessen Textbegriff von mehr Respekt vor den Autoren vergangener Jahrhunderte zeugt als manche „werktreue“ Regiearbeit. Die Inszenierungen P.s erhielten verschiedene Auszeichnungen und mehrfache Einladungen zum jährlichen Theaterfestival der Niederlande und Belgiens. Einladung zum Berliner Theatertreffen 2000 mit Schlachten!, 2002 mit Traum im Herbst. Lit.: L. P., Alles ist möglich: das Theater des Verlangens, in: Theater der Zeit 5/2000, S. 24-27; „Im Schatten von Dutroux. Der belgische Regisseur L. P. im Gespräch mit Thomas Irmer“, in: Theater der Zeit 3/2000, S. 30-33. Susanne Eigenmann