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Alles ist möglich (Il faut faire ce qu'il faut faire). Es ist sicher alles andere als einfach, eine tiefgründige Rede über die Zukunft zu halten. In Flandern stellen Journalisten den Theaterleuten viel eher Fragen über brandaktuelle Probleme. Um die Seiten der Zeitungen zu füllen, werden wir nicht nur zu den politische Entwicklung in unserem Land, sondern auch über die Ausweitung des Vaterschaftsurlaubs, über die Gefahren der Atomenergie und über die wichtigsten Transfers im nationalen Fußball befragt. Außer zu diesem letzten Thema muss ich mich oft geschlagen geben: Ich bin kein Universalist, der die Geheimnisse der Gesellschaft durchschauen kann. Wenn die Gegenwart schon undurchdringlich ist, dann ist es für einen Theatermacher noch schwieriger, eine Rede über die Zukunft zu halten. Als ich vom Schauspielhaus eingeladen wurde, eine Rede zum Thema "Zukunft, was ist das?" (cfr. Thomas Bernard) zu halten, habe ich lange gezweifelt. Meine Mitredner sind allesamt Fachleute in ihrem Bereich, die sich ausgehend von ihren aktuellen Kenntnissen auf die Zukunft beziehen können. Ich konnte zuerst nicht erkennen, wie ich als Regisseur eine sinnvolle Rede über die Zukunft & das Theater halten sollte. Die Zukunft der Kunst und ganz besonders des Theaters ist allerdings ein Thema, das in Flandern unter Theaterleuten heftig diskutiert wird. Ich selbst habe dieses Themas mit aufgegriffen. Meine Karriere begann als Schauspieler in dem nach flämischen Normen großen Stadttheater der Koninklijke Nederlandse Schouwburg in Antwerpen. Da ich mit der Beamtenmentalität nichts anfangen konnte, habe ich vor 16 Jahren das Stadtheater verlassen, worauf hin ich am Rande der etablierten Theaterwelt eine freie Gruppe gegründet habe: die Blauwe Maandag Compagnie – wo ich mein eigener Herr sein konnte. Ich habe zu meiner großen Verwunderung und Freude feststellen können, dass wir nach einer gewissen Zeit unser eigenes Publikum haben aufbauen können, das sich immer mehr von den großen Häusern abwandte und den freien Gruppen zuwandte. Ich sah, wie unser Beispiel und das einiger Kollegen im gleichen Alter als Vorbild diente für eine nachfolgende Generation von Theatermacher. Die Presse und das Publikum waren auf der Seite der freien Gruppen und die grossen Häuser blieben leer. Aber ich musste auch feststellen, dass die Blauwe Maandag Compagnie vor einigen Jahren die Grenzen ihres Wachstums erreicht hatte. Ein Projekt wie TEN OORLOG - die niederländische Version von SCHLACHTEN - hat dann auch das Ende von Blauwe Maandag eingeläutet. Wollte ich auf diesem Weg weitermachen, bräuchte ich schon einen größeren Rahmen. Und da Blauwe Maandag nicht aus eigener Kraft größer werden konnte, haben wir uns für die Fusion mit… dem gleichen großen, leblosen Stadttheater entschieden, die ich im Jahre 1984 verlassen hatte: die KNS Antwerpen. Der Kreis war geschlossen. Wir haben einen neuen Namen gesucht HET TONEELHUIS -, wir haben beide Häuser zusammengefügt und wir gingen guten Mutes in der Saison 1998-1999 an den Start. Diese Pendelbewegung - weg von den großen Häusern, um im Nachhinein dorthin zurückzukehren – ist für Flandern symptomatisch. In Deutschland spielt der Kern des Theatergeschehens sich in den großen Häusern ab. In Flandern standen bis for Kurzem die freien Gruppen im Zentrum, während es den Willen, den großen Häusern wieder Leben einzuhauchen, seit HET TONEELHUIS gibt.
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Sie werden mich fragen, was das mit dem Thema dieser Lesung zu tun hat. Sehr viel. Das neue Interesse für die großen Häuser und der Wille, mit dem Repertoiretheater Geselschaftlich eine bedeutende rolle zu spielen, hat uns konfrontiert mit viehl wiederstand der uns am Anfang erstaunt hat, ein Phänomen das wir als freie Gruppe nicht kannten. Sofort war es deutlich, das zentrum des Theaters gehört der Bourgoisie und die hat ihre Privilegien die unantastbar sind. Ich spreche hier nicht nur von den lebhaften Diskussionen des Publikums, sondern auch von Leserbriefen in Zeitschriften und von regelmäßigen Reden der politischen Parteien über die Fragen, ob unser Theater eigentlich noch subventioniert werden muss. Es ist Ihnen wohl bekannt, dass wir in Flandern mit einer starken rechtsnationalistischen Partei - dem Vlaams Blok - zu tun haben, die Hand in Hand geht mit der FPÖ in Österreich und der Front National in Frankreich. Seitdem wir das neue Haus führen werden wir regelmässig von dieser Seite angegriffen. Es geht dabei nicht um inhaltliche Diskussionen, sondern um die Frage ob Schauspieler auf der Bühne nackt auftreten dürfen. Ich musste zum Beispiel erleben, dass ich bei der allerersten Vorstellung vom TONEELHUIS prompt wegen öffentlichen Verstoßes gegen die guten Sitten vor Gericht geladen wurde (die Klage ist später eingestellt worden) und in den Zeitungen konnte man lesen, dass die fragliche Vorstellung von "totaler Dekadenz und geistiger Armut" zeugte. Solche Bemerkungen habe ich auch bei der Vorstellungen von SCHLACHTEN im Österreichischen Hallein zu hören bekommen. Das ist nicht schlimm, das ist nicht gut, es ist einfach wiederstand der die Frage nach dem Sinn des Theaters wachhält. Aber die Zukunft des Theaters ist in ihrer Essenz weder abhängig von Politischer Wichtigmacherei noch von Subventionsbeschlüssen. Theater hängt einfach von seiner konkreten Realisation ab. Als der Krieg in Bosnien-Herzegowina ausbrach, hat mein guter Freund Harris Passovic doch mit dem Theater weitergemacht. Es war kein Geld mehr vorhanden und ein Theaterbesuch war in einer Stadt, in der es von Scharfschützen nur so wimmelte, ein wirklich heikles Unterfangen, aber die Zuschauer kamen trotzdem. Ich denke auch nicht, dass die Zukunft des Theaters mit der Frage zusammen hängt, welche künstlerische Richtung eingeschlagen wird. Wir haben es oft mit einer Pendelbewegung zu tun, und immer wieder behauptet irgendjemand, dass eine neue Kunstbewegung das Ende der Kunst in ihrer Gesamtheit einläuten wird. Auch ich habe während meiner Laufbahn ganz unterschiedliche Formen ausprobiert, angefangen vom strengen Texttheater über ein überschwengliches Wasserballett bis hin zum ausschweifenden Musiktheater, wobei die begeistertsten Fans der einen Richtung oft die strengsten Kritiker der anderen waren. All dies bereitet mir keine schlaflosen Nächte. Was mich jedoch beschäftigt ist die Frage, welchen Platz das Theater in der Gesellschaft einnimmt. Diese Frage führt meiner Meinung nach zu einer ebenso unvermeidlichen wie auch notwendigen moralischen Selbstbefragung. Und gerade in dieser Selbstbefragung werden wir unsere individuellen moralischen Entscheidungen für die Gegenwart und für die Zukunft treffen. Das ist der Ausgangspunkt für meine Rede. Seien Sie beruhigt: ich will hier keine Moralpredigt halten und ich will mich auch nicht über die jahrhundertealten menschlichen Werte, die uns vom Tier unterscheiden, äußern. Was den Unterschied zwischen Mensch und Tier angeht, da habe ich
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übrigens so meine Bedenken. Obwohl ich kein Darwinist bin, denke ich, dass das Leben auf Erden vor allem auf biologische Weise organisiert wird. Jede Art versucht, sich in einer feindlichen Umgebung zu behaupten, jedes Exemplar einer Art sorgt an erster Stelle für sich selbst, eine Zusammenarbeit zwischen den Individuen wie das Jagen in einer Gruppe verfolgt lediglich das Ziel, jedem Mitglied der Gruppe das zu geben, was es benötigt: die kollektive Zusammenarbeit dient nur dem individuellen Interesse. Die dabei auftretenten Interessenkonflikte manifestieren sich in der Nahrungskette mit dem Credo: survival of the fittest. Aber der Biologische Geist ist nicht am Fortbestehen der Individuen und nicht am Fortbestehen der Art interessiert, sondern nur am Erhalt von biologischem Grundmaterial, um das Leben als solches in egal welcher Form fortsetzen zu können. Er hat übrigens einen ganz guten Geschmack, der Biologische Geist. Man braucht sich nur eine Reportage von National Geographics anzusehen, um zu verstehen, auf welche grandiose Weise er die Natur oft perfekt geschaffen hat. Nochmals: dies ist keine wissenschaftliche Analyse, sondern der Ausgangspunkt meiner ganz persönlichen Geschichte. Obwohl der Mensch unmissverständlich den gleichen biologischen Grundsätzen wie der Rest seiner Umgebung unterworfen ist, klappt die blinde Ausführung der Anweisungen des Biologischen Geistes nicht. Der Mensch ist eigentlich ein Sandkorn im perfekten Getriebe des Lebens. Eine Fehlbildung, die immer alles besser wissen will und sich andauernd irrt. Der Mensch ist ein Kleinkind, das in einem vollständig computergesteuerten Labor auf allerlei Knöpfe drückt und hierdurch die komplette Organisation durcheinander bringt. Und niemand kann ihm dabei helfen: das Kleinkind ist auf sich selbst angewiesen und muss selbst sehen, wie es in einer feindlichen Umgebung überleben kann. Es muss gesagt werden: das Kleinkind hat sich mittlerweile zum hoch intelligenten Jugendlichen entwickelt, der sich so manche Lösung für die jeweiligen Abweichungen ausgedacht hat. Diese Lösungen weisen dieselbe Makellosigkeit auf, welche die biologische Welt kennzeichnet: was kurzfristig vielleicht unglaublich genial erscheint, ist langfristig eine perfekte Formel, um das Ganze zusammenklappen zu lassen. Ob es sich hierbei um die Aufrüstung, um die Umweltverschmutzung oder das enorme Problem der weltweiten Trinkwasserversorgung handelt: es entstehen riesige Probleme. Und niemand scheint in der Lage zu sein eine umfassende Lösung zu finden. In den 80er Jahren habe ich im Radio oft ein Lied gehört mit dem Titel: the future’s so bright we’ve got to wear shades. Das ist mein Ausgangspunkt: obwohl der Mensch unmissverständlich biologisch gesteuert wird, ist der blinde Gehorsam gegenüber den biologischen Impulsen gebrechlich und unvollständig. Das hat zur Folge, dass der Mensch als Individuum und Art zumindest teilweise auf sich selbst angewiesen ist. Elefanten kommen an eine Kreuzung und wählen schon seit Jahrhunderten ohne Zögern immer den gleichen Weg. Der Mensch kommt an die gleiche Kreuzung und denkt: ich probiere einfach mal den anderen Weg. Er kann überlegen, er kann zweifeln, er kann wählen. Aber Entscheidungen fällen kann oft lästig sein. Meistens fehlt es dem Menschen an Informationen, um eine durchdachte Entscheidung zu treffen. Die Folgen einer ganz bestimmten Entscheidung sind oft nur schwer einschätzbar. Darum sucht der Mensch nach Hilfsmitteln, die ihm bei seiner Entscheidung helfen können. Die Geschichte der menschlichen Zivilisation kann ohne Zweifel als ein einziger Versuch,
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die fehlender Information zu finden, beschrieben werden. Während der Biologische Geist mit einem Grinsen zuschaut, versucht der Mensch verzweifelt, mit seiner Autonomie fertig zu werden und gleichzeitig sein Nicht-Wissen zu überwinden. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Es gibt Zeiten in der Geschichte in der die Menschen ein mehr oder weniger kollektives richtunggebendes Modell befolgen, das nicht immer nur rational sein muss. Es gibt Zeiten, in denen man von einem kollektiven Glauben spricht, der aktiv erlebt wird, dem aktiv durch Riten Form gegeben wird, an denen die ganze Gemeinschaft teilnimmt, der dem unvollkommenen, menschlichen Dasein eine Richtung und Deutung gibt. Notwendig für die Organisation einer Gemeinschaft, weil ein biologisch inspiriertes Handeln zwischen den Menschen uns oft als bewusste und unverständliche Bösartigkeit erscheint, die nicht sinnvoll gedeutet werden kann. Diese unbegreiflichen Zwischenfälle, diese Absurditäten gibt es immer wieder; sie stellen langfristig eine Bedrohung für das sinngebende System dar, können aber zeitweise integriert werden, zum Beispiel durch die Einführung der notwendigen Prüfung oder durch die Feststellung, dass Gott denjenigen straft, den er liebt, so wie es dem armen Hiob geschah. Aber wie auch immer, es führt zur Erregung, zum Zweifel, zur Angst. Kein einziges sinngebendes System ist abschließend, kein einziges sinngebendes System hält ewig stand; und erst damit beginnen die wirklichen Probleme. Durch die zunehmende Rationalisierung in unserer Gesellschaft spricht man schon seit langem nicht mehr von einem Glauben, der kollektiv anhand von Riten erlebt wird. Unsere Welt ist voll von Riten, aber sie sind nicht mehr als die Erinnerung an die Vergangenheit oder äußerst schwache Versuche, sie neu zu erfinden. Als deutliches Beispiel für die Erinnerte Form will ich die katholische Eucharistiefeier nennen, mit der für uns unverständlich gewordenen Aneinanderreihung von Worten und Handlungen. Als Beispiel für die Neuerfundene Form kann ich die Rockkonzerte nennen, bei denen die Kombination von lauter Musik, harten Rhythmen, Licht und Finsternis, Tanz und der eventuelle Gebrauch von Rauschgiften perfekt als kollektiver Versuch gedeutet werden kann, den Fluch des Bewustseins aufzuheben. Wer nüchtern anwesend ist und sich nicht beteiligt, fühlt sich wie ein Außenseiter und kann nur erstaunt so viel vollkommen sinnlose Hektik beobachten. Die Menschen werden anscheinend von einem unwiderstehlichen Zwang dazu gebracht, Gemeinschaften zu bilden, in denen rituelle Umgangsformen aktiv erlebt werden, was ihnen in diesem Augenblick, in der rasenden modernen Zeit jedoch nicht gelingt. Dies erklärt meiner Ansicht nach ein Phänomen, das ich als “das Fehlen” beschreiben würde. “Das Fehlen” ist für mich nicht der Mangel an fürs Überleben notwendigen Elementen wie Schutz, Wasser, Nahrung, Wärme, kurzum allen Elementen, die man in einem Überlebenstraining suchen und anwenden lernt. “Das Fehlen” hat mit dem Mangel an kollektiver Deutung und Sinngebung zu tun. Bei Abwesenheit einer kollektiven Lösung und im Geist unserer immer stärker vereinzelten Gesellschaft machen die Menschen sich auf die Suche nach individuellen Lösungen. Aber die Abwesenheit einer kollektieven Lösung kann auch den Nährboden für die schönste Poesie darstellen, in der das Bedürfnis des Dichters, aus sich selbst heraustreten und Teil eines größeren, umfassenderen Ganzen zu bilden, beinahe die Form einer religiösen Extase annimmt. Oder man bekennt sich zu diesem anderen Gottesdienst, der Verehrung der Ratio, die vorgibt, alle Probleme
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früher oder später analysieren und erforschen zu können und den Weg für eine bessere Welt vorzubereiten, die immer vollkommener sein wird, auch wenn diese Entwicklung mit Rückschlägen verbunden ist. Nichts von alledem ist uns fremd, und das Ganze stellt ein Kaleidoskop der Betrachtungsweisen dar, die zum Teil tröstend und zum Teil verwirrend sind. Und im Hintergrund grinst immer noch der Biologische Geist. Nur wenig zeitgenössische Schriftsteller haben unsere erschreckende Realität besser dargestellt als der französische Philosoph und Vollblut-Humanist Albert Camus. Sein Roman LA PESTE ist eine herrliche Parabel über “das Fehlen”, so scheint es jedenfalls auf den ersten Blick. Der Ausgangspunkt seines Romans ist: in der nordafrikanischen Stadt Oran wird ein Massensterben der Ratten festgestellt. Es scheint der Vorbote einer tödlichen Krankheit zu sein, die mit der Zeit auch die Stadtbewohner trifft und die erst nach langem Zweifeln und viel Unglaube als Pest diagnostiziert wird. Sofort werden die Tore der Stadt geschlossen und die Bewohner werden von der Außenwelt abgeschnitten. In diesem Mikrokosmos, in dem nur die Realität des umhergehenden Todes eine Sicherheit darstellt, versucht jeder Einwohner, eine Antwort auf die neue Realität zu finden und seine Haltung dazu ein zu nehmen. Eine Therapie gibt es nicht, man kann nur auf die mittelalterlichen Feststellungen zurückgreifen, dass die Pest auf ebenso unerklärliche Weise wieder verschwindet, wie sie aufgetaucht ist. Wann sie wieder verschwinden wird, weiss niemand. Wir folgen einigen Protagonisten bei ihren Versuchen, diese Wirklichkeit zu deuten und eine Antwort zu finden. Es sind Menschen aus Fleisch und Blut die, so wie das bei einer Parabel üblich ist, für eine übergreifende Realität stehen. Der Beamte und Schriftsteller Grand zum Beispiel, der versucht, in seiner Freizeit einen Roman zu schreiben und nicht hinauskommt über eine endlose Bearbeitung mit Hunderten von Varianten des gleichen banalen Eröffnungssatzes. Der Priester Paneloux, der zuerst verkündet, dass die Pest eine Strafe Gottes ist, doch dann zu milderen Einsichten gelangt. Der Journalist Rambert, der durch die Quarantäne von seiner Geliebten getrennt wird und von dem Gedanken besessen ist, durch einen betrügerischen Menschenschmuggel zu entkommen. Der Wissenschaftler Castel, der unermüdlich ohne Pause an einem Impfstoff gegen die Pest arbeitet, ohne ein Ergebnis zu erreichen. Der Arzt Rieux, der auch von seiner Frau getrennt ist und Tag ein Tag aus die Kranken versorgt, obwohl er weiß, dass er ihnen nicht wirklich helfen kann. Sie alle sehen auf ihre Art und Weise ihr eigenes Unvermögen, aber sie lernen alle, dieses Unvermögen zu akzeptieren und sie versuchen, die Pest zu überwinden allerdings ohne sich Illusionen zu machen. Einige von ihnen überleben die Pest, die anderen werden nicht verschont. Das scheint Ihnen vielleicht eine sehr düstere Geschichte zu sein, aber das ist es nicht. LA PESTE ist ein Roman, der auf sehr nachhaltige Weise versucht, die Welt so zu erfassen, wie sie ist. Kein Schnickschnack, kein falsches Gefühl, keine unrealistischen Erwartungen, kein schlecht angebrachter Trübsinn, kein moralischer Zeigefinger. Der Mensch ist auf sich selbst angewiesen, und jeder arbeitet auf seine Art und Weise für das Wohl des Menschen, wie der Priester Paneloux dem Doktor Rieux am Ende des Romans anvertraut. Das Fazit lautet sehr klar und eindeutig: il faut faire ce qu’il faut faire („wat mutt, dat mutt“).
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Ein anderer bemerkenswerter Roman über “das Fehlen”, so erscheint es einem dunkel-katholisch-erzogenen Belgier, ist die Lebensgeschichte von Christus, wie sie uns über die Evangelien erreicht hat. Jesus von Nazareth wurde auf wunderbare Weise unbefleckt empfangen, er zeigte im frühen Lebensalter bereits eine außergewöhnliche Kenntnis der Heiligen Schrift, er wurde vom Teufel auf die Probe gestellt und bestand mit Auszeichnung seine Prüfungen, er predigte eine ganz neue Heilslehre, er tat unzählige Wunder und er führte am Gründonnerstag ein neues Ritual ein, das der universellen Bruderschaft zwischen den Menschen Form gab. Es war für jeden klar: dieser Mann war wahrlich der Sohn Gottes. Aber in der Nacht nach dem letzten Abendmahl wurde er durch einen seiner Apostel verraten, von den Römern festgenommen, verhört, gefoltert und zum Schluß ans Kreuz genagelt. Und während die Umstehenden mit ihm ihren Spott trieben, richtete er sich an seinen Vater und fragte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“, um mit den Worten zu sterben „Nicht mein Wille, sondern Dein Wille geschehe.“ Nach der katholischen Lehre erlöste er auf diese Weise die Menschheit von der Sünde. Wie sollten wir Menschen von der Absurdität der Existenz erlöst werden können, wenn sogar der Sohn Gottes dieser nicht entgeht? Wie sollten wir Menschen uns an Gott wenden, wenn er selbst seinem eigenen Sohn nicht hilft? Die Antwort der katholischen Kirche ist eindeutig: Gott existiert, Er ist allgegenwärtig, Er durchdringt die gesamte Schöpfung mit seiner Liebe, aber Er kann den Menschen auf der Erde nicht vom Übel erlösen. Die Erlösung besteht in der letzten Gewissheit, dass der Mensch auf Erden nicht erlöst werden kann. Diese beiden Mythen haben jahrelang mein Schaffen als Theatermacher stark beeinflusst. Ich sah die Gesellschaft als eine Versammlung von Individuen, die von einer gefühllosen Vernunft beherrscht werden, als eine regellose Masse, die hoffnungslos auf der Suche nach neuen Ritualen ist, Ritualen, welche die Menschen wieder miteinander verbinden und die eine Antwort bieten auf unsere Unvollkommenheit in einer vollkommenen biologischen Umgebung. Ich machte mir wenige Illusionen über meine Erfolgschancen, aber ich fand, dass ich als Theatermacher einen bescheidenen Beitrag zur gemeinsamen Anstrengung liefern könnte und müsste, um “das Fehlen” erträglicher zu machen. Durch das Zeigen der menschlichen Unzulänglichkeit auf der Bühne, dadurch, sie in der Gemeinschaft wieder zu erleben, durch die Schaffung einer Art künstlichen Rituals, sollte eine Art von Katharsis oder Reinigung entstehen, die zu mehr Verständnis und Einvernehmen zwischen den Menschen führt. Ich behaupte nicht, dass diese Katharsis nicht möglich ist. Aber ich bin immer weniger mit dem Standpunkt zufrieden, von dem aus ich sie zu schaffen versuchte. Ich neige jetzt zu der Überzeugung, dass die Zukunft des Theaters nicht darin besteht, uns selbst mit unserem eigenen Mangel zu konfrontieren, mit unseren eigenen, unerfüllten Wünschen. Es ist ein ziemlich trübsinniger, düsterer Ausgangspunkt, der sich ein bißchen wie der sprichwörtliche Hund verhält, der seinem eigenen Schwanz nachjagt. Ich halte nicht viel davon, mein ganzes Leben lang grübelnd da zu sitzen über etwas, von dem ich eigentlich schon im Augenblick meiner Geburt wissen konnte und intuitiv auch wusste. Nein, vermutlich kann dieses nicht die Zukunft des Theaters sein.
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Sie merken es schon, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich befinde mich in einem sicheren Zweifel. Aber da es ziemlich lächerlich sein würde, diese Rede mit der Feststellung zu beschließen, dass ich in diesem Augenblick nichts genau weiß, möchte ich Sie gerne an den ganz frischen Gedanken teilhaben lassen, die ich dieser Tage zu entwickeln versuche, und die auch für mich selbst noch nicht ganz klar sind. Diese Gedanken sind aus der Definition von “dem Fehlen” als unerfülltem Verlangen entstanden. Ist das Wort Verlangen nicht mehr als eine Sammelbezeichnung für alles, was wir vermissen? Ist es nicht viel mehr der Ausdruk eines mitreissenden Prinzips: der Wunsch nach Katharsis? Ich habe in dieser Hinsicht erneut begonnen, über DIE PEST von Camus nachzudenken. Natürlich leben alle diese Personen in einer unvollkommenen Welt, das ist das mindeste, was man über sie sagen kann. Aber man kann ihre Haltung im Leben anders lesen als einen mühsamen Versuch, mit ihrem “Fehlen”, ihrem Mangel umzugehen. Nehmen Sie nur eine Figur wie Grand, den Beamten und Schriftsteller, der endlos mit einem Roman ringt, den er niemals vollenden kann, da ihm dieser verflixte Eröffnungssatz einfach nicht gelingen will. Ist dieser Mann nur ein Bild des Unvermögens der Literatur, oder ist er ein Mann aus Fleisch und Blut mit einem großen Verlangen, einen hervorragenden Roman zu schreiben, ungeachtet der äußeren Umstände? Es wird Sie nicht erstaunen, dass ich immer mehr zur letzteren Interpretation neige. Natürlich ist Grand ein bißchen grotesk, er hat im Roman selbst einen hohen Unterhaltungswert, aber er ist gleichzeitig ein Mann, der rührend ist, da er so starrsinnig versucht, sein immenses Verlangen zu realisieren. Nehmen Sie eine Figur wie Doktor Rieux, nicht gerade der lustigste dieser Gesellschaft. Ist er nur ein Arzt, der versucht, die Leiden seiner Patienten zu lindern, obwohl er weiß, dass es keine Therapie gibt? Ist er nicht auch ein Mann, der von seinem Verlangen getrieben wird, Menschen zu heilen, ungeachtet der Erfolgschancen? Seine Ausdauer scheint erneut auf das letztere hinzuweisen. Wenn man DIE PEST auf diese Weise liest, erhält man einen Roman, der weniger allegorisch ist, der reicher ist und anrührt, da die Menschen darin als eigensinnige Kämpfernaturen in einer rauhen Umgebung beschrieben werden. Eine ähnliche Überlegung kann man über die Lebensgeschichte Jesu anstellen. Das Magazin TIME bat anläßlich der Feiern zur Jahrtausendwende den Autoren Reynolds Price, eine Anzahl von Episoden aus dem Leben von Christus neu zu beschreiben und sich dabei auf die verfügbaren historischen Daten und seine eigene Lesart der Bibel zu stützen. Diese neue Version des Evangeliums wurde in der Ausgabe vom 6. Dezember veröffentlicht und ist reichlich ernüchternd. Jesus von Nazareth wird darin als ein Bastardkind vorgestellt, gehasst und verstoßen vom Zimmermann Josef, als ein leidenschaftlicher Prediger, Heiler und Exorzist, aber gleichfalls als ein vollkommen eigenartiger Mann mit einer vollkommen eigenartigen Mission, geliebt, aber völlig unverstanden von seinen Aposteln, verraten von Judas, nachdem Jezus grosse Unruhe geschaffen hatte und damit seine Apostel in den letzten Tagen vor seiner Verhaftung in grosse Swierigkeiten brachte, er hatte die Situation auf den Höhenpunkt getrieben. Kein vorprogrammierter Sohn Gottes also, der kam, um eine vorprogrammierte Botschaft zu verkündigen, sondern ein einfacher Jude, der in diesem Augenblick durch eine ebenso unerklärliche wie unbegreifliche Unruhe getrieben wurde. Kein Prophet, der mal eben kam, um die menschliche Fehlerhaftigkeit darzustellen, sondern ein Mann mit einem immensen Verlangen, seine Lebenswelt zu verändern.
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Die Definition der Welt als ein unvollkommener Ort, in dem “das Fehlen” siegt, lässt nicht viel mehr zu als eine melancholische Art von Beruhigung, die nicht von sich aus zur Untätigkeit zu führen braucht, aber die auch wenig Aussichten auf Veränderung bietet. Die Definition der Welt als ein unvollkommener Ort, in dem die Menschen versuchen, ihre Wünsche zu realisieren, bietet eine ganz andere Perspektive. Im Kern sprechen wir natürlich über genau dieselbe Welt, nur der Blickwinkel ist anders, die Verantwortung ist größer, die Begrenzung ist weniger umrissen. Es ist eine Welt mit reicheren Gefühlen, mit mehr Dramen und Tragödien, aber auch mehr Freude und Vergnügen. Ein Theater von Leidenschaft und Mut. Das Theater hat keine Existenzberechtigung, wenn es nicht bewegt und Aufregung verursacht. Diese Aufregung wird den Mächtigen vielleicht nicht gefallen, aber Theater wird nicht für Mächtigen gemacht, Theater wird für die Öffentlichkeit gemacht, für normale Menschen aus Fleisch und Blut, die mit ihren eigenen Wünschen im Leben stehen und ihnen Form geben wollen. Theater kann das natürlich nicht an ihrer Stelle tun, kann aber wohl die Botschaft hinaus tragen, dass die Freiheit und die individuelle Verantwortung bestehen bleiben, selbst im Vereinigten Europa. Und dadurch, dass wir das zeigen, durch die Aufführung dieser Dramen und Komödien, entsteht wahrscheinlich, aus dem Bewusstsein einer geteilten Verantwortung, die heilsame Katharsis, die uns kurz miteinander verbindet, uns kurz ein Gefühl von Trost, von Hoffnung, von gemeinsamer Sinngebung gibt. Im merkwürdigen Spannungsfeld zwischen “dem Fehlen” und dem Verlangen offenbart sich für mich eine prinzipielle Entscheidung. Das eine ist keineswegs die Negation des anderen und doch eröffnen sie jedes gesondert Aussichten auf eine ganz andere Welt. In diesem Zusammenhang ist und bleibt die Frage: Was bedeutet Theater inmitten so vieler Fragen und Unvollkommenheiten? Können wir heute, an diesem Tag, aus allem Vorangehenden eine Schlußfolgerung ziehen und uns über das Theater der Zukunft ein Bild machen? Gibt es ein Dogma für das Theater von Leidenschaft und Mut, das Theater des Verlangens? Ist es ein Theater, das unglaublich vital ist, das auf die Suche nach den tiefsten Emotionen geht, das die Extreme nicht scheut? Oder ist es ein Theater von Ruhe und Reife, von Schlichtheit und Bescheidenheit? Können wir das Theater des Verlangens umreißen, in ein Dogma fassen? Die ganze Welt hat den Film FESTEN gesehen. Thomas Vinterberg schafft einen Film nach den strengen Regeln von DOGMA 95, eine Anleitung für den modernen Filmemacher, der von einer Handvoll dänischer Filmregisseure entwickelt wurde. Ein einfaches Sampling oder Übertragen dieser Prinzipien auf das Theater von Heute könnte zu den folgenden Schlußfolgerungen führen: DOGMA 00.. is a collective of theatre directors founded in Antwerp in spring 2000. DOGMA 00 has the expressed goal of countering "certain tendencies" in the theatre today. DOGMA 00 is a rescue action!
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In 1960 enough was enough! Theatre was dead and called for resurrection. The goal was correct but the means were not! The new wave proved to be a ripple that washed ashore and turned to muck. an die Küste gespült wurde und - zu Mist wurde Slogans of individualism and freedom created works for a while, but no changes. The wave was up for grabs (Die Bewegung stand für den Zugriff offen), like the directors themselves. The wave was never stronger than the men behind it. The anti-bourgeois theatre itself became bourgeois, because the foundations upon which its theories were based was the bourgeois perception of art. The auteur concept was bourgeois romanticism from the very start and thereby ... false! To DOGMA 00 theatre is not individual! It is no accident that the phrase "avant-garde" has military connotations. Discipline is the answer ... we must put our plays into uniform, because the individual production will be decadent by definition! DOGMA 00 counters the individual theatre by the principle of presenting an indisputable set of rules known as THE VOW OF CHASTITY. (das Keuschheitsgelübde) In 1960 enough was enough! Theatre had been cosmeticised to death, they said; yet since then the use of cosmetics has exploded. The "supreme" task of the decadent theatre-makers is to fool the audience. Is that what we are so proud of? Is that what the "2500 years" have brought us? Illusions via which emotions can be communicated? ... By the individual artist's free choice of trickery? Dramaturgy has become the golden calf around which we dance. Having the characters' inner lives justify the plot is too complicated, and not "high art". As never before, the superficial action and the superficial theatre are receiving all the praise. The result is barren. An illusion of pathos and an illusion of love. To DOGMA 00 theatre is not illusion! Diese Argumentation geht so noch eine Weile weiter, verkrampft sich dann aber und läuft fest trotz der Schönheit von FESTEN, so wie es jede Definition tut. Trotz eines Quäntchens Wahrheit, die in diesem Zitat steckt, bleibt das Theater dennoch ein Ort der Illusion, ein Ort von Trost in der Enttäuschung mit einem Verlangen nach einer anderen Täuschung. Ein illusorisches Erfragen einer illusorischen Wirklichkeit. Mit dem Nichtwissen als einzigem Ergebnis. Darum scheint mir das Theater schon 2500 Jahre lang ein auserwählter Ort, ritueller Ort, um das Nichtwissen zu akzeptieren. Unsere Gesellschaft bietet leider wenig Alternativen. Aber wie sieht dieses Theater des „Nichtwissens“ aus? Ich bin kein Prophet, ich bin kein Theaterwissenschaftlicher, ich bin Theatermacher. Ich kann nicht weiter voraussehen als bis zur nächsten Vorstellung, die ich mache, weiter zurücksehen als zur Probe, die ich gestern hatte. Derzeit arbeite ich an der Bearbeitung der alteste Theatertext: Der Orestie.. Mich interessiert die Frage, warum
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wir im wesentlichen schon 2500 Jahre lang dieselbe Geschichte über den Menschen erzählen, der seine eigene Art, seine eigene Familie, verschlingt. Und immer wieder kommen wir zu demselben Wort: Liebe. Die Liebe, die schützt, aber genauso gut tötet. Solange dieses Mysterium besteht, solange wird auch das Theater bestehen bleiben. Es wird die unvorhersehbarsten Formen annehmen, es wird von der Bourgeoisie zurückerobert werden, die von harter Sprache nichts hält, es wird von den Revolutionären von heute gebraucht und mißbraucht werden, welche die Korrumpierten von morgen sind. Das einzige, was man als Theatermacher tun kann, besteht darin, dieselbe Frage auf seine eigene, höchst individuelle Art immer wieder zu stellen. Es reicht nicht aus, gute Aufführungen zu machen. Ich bin auf der Suche nach besonderen, einzigartigen Aufführungen: Einzigartige Konfrontationen in Zeit und Raum eines höchstpersönlichen Standpunktes mit den individuellen Wünschen der Zuschauer, in der Hoffnung, dass ein Moment von Katharsis, Erkennung, Trost, Verlangen zu realisieren ist. Ich bin von den alten Texten fasziniert, da sie Hieroglyphen sind, gemeißelte Tafeln von einem anderen Planeten, die über genau die gleiche individuelle Ziellosigkeit sprechen. Keine Antworten, kein Ergebnis, nur Fragen und sehr viel „I don’t know“. Ich arbeite gerne mit Schauspielern, da sie es auch nicht wissen. Eine Gruppe von Schauspielern ist nur eine zufällige Zusammenstellung von Menschen. Jede Probe ist eine Übung in Toleranz. Mit ganz viel Hoffnung und ganz vielen Enttäuschungen. Wie mühsam manche Proben auch sein können, und wie enttäuschend manchmal das Endergebnis ist - es bleibt dennoch jedesmal wieder die Hoffnung auf Besserung, zu mindest die Überzeugung, dass es beim nächsten Mal besser wird. Jede gute Aufführung schafft bei Theaterbesuchern und Schauspielern auch Appetit: Verlangen. Oft Anlaß zu dionysischen Exzessen, oder intensiven Selbstbefragungen, eine Unruhe, die noch tagelang unter der Haut brennt. Ich bin nicht mehr an Geschichten interessiert die oft nicht viel mehr bieten als Anfang und Ende sowie einen Verlauf, der künstlich oder eng moralisierend ist. Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich in erster Linie auf eine Geschichte, die ich nicht wahrnehmen, nicht begreifen kann. Die Geschichte, die mich interessiert, spielt sich hinter und zwischen den Worten, in der Stille, in der Leere ab. Ich bin kein Regisseur, der von Konzepten ausgeht. Ich organisiere ein Zusammentreffen, schaue, warte ab, zweifele und wähle einen Weg, in dem das immense Verlangen nach Einvernehmen, nach Katharsis, nach Stille, Form erhält und dadurch einen Mehrwert schafft. Es ist meine Überzeugung, dass wir durch Klänge und Geräusche die Stille erfahren. Das Zuhören lässt uns nachdenken und fühlen, und es schärft unsere Aufmerksamkeit. Das Auge sieht voraus, leitet unsere Aufmerksamkeit ab und stellt alles auf Abstand. In dieser Zeit der rasend schnellen Bildkultur habe ich im Theater ein Bedürfnis nach Zuhören, nach Stillstand von dem, was nicht benannt und sicher nicht gezeigt werden kann. Bei den Proben für die Orestie ist es präzise das nicht Gezeigte, was mich fasziniert, was mein inneres Auge, “my inner eye” sieht. Das ist für mich die Wahrheit, das Ritual, welches das Theater inmitten der verlogenen und erstickenden Bildkultur von heute bietet. Darum ist meine Bühne leer, und der Mensch, der Schauspieler, steht im Mittelpunkt.
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Ich skizzierte es bereits zu Beginn dieses Referates: Der Mensch ist ein gehandikaptes Produkt der Natur. Dieses Handicap ist gleichzeitig sein Schicksal und seine Freiheit. Es ist sein Schicksal, da es ihn unsicher macht, ängstlich, unvollständig gesteuert, unwissend. Aber es ist auch seine Freiheit, die es ihm ermöglicht, andere Wege zu beschreiten als die Natur vorgibt. In dieser Spaltung des Bewußtseins ist alles möglich, von purer Bösartigkeit bis zu reiner Selbstaufopferung. Beim Fehlen eines globalen Bezugsrahmens muss jeder seine eigenen höchst individuellen Entscheidungen treffen. Über diese Entscheidungen kann man alleine oder gemeinsam nachdenken. Es ist meine feste Überzeugung, dass das Theater auch in Zukunft dem gemeinsamen Nachdenken Ausdruck verleihen, Form geben wird, und es erfolgt auch auf Initiative eines Theatermachers, der es selbst auch nicht weiss und vielleicht gerade deshalb Theatermacher geworden ist. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Orestie heisst in unserer Fassung: AARSCH, eine anatomische Studie der Orestie‘. Die Premiere findet am 11. Juni in Amsterdam statt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Luk Perceval & Stefaan De Ruyck. Hamburg, den 9. April 2000.