Programmheft «Schilten»

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L Schilten

«So redet nicht einer, der auf Antwort hofft» Fragmente aus einem Interview mit Hermann Burger im Jahre 1977

Box ← T SCHILTEN Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz nach dem Roman von Hermann Burger Premiere: 23. April 2021* Dauer: 1 Stunde 35 Minuten DANKE UNSEREM HAUPTSPONSOR BUCHERER AG

MIT Jara Bihler**, Philippe Graber, Wiebke Kayser, Julian-Nico Tzschentke sowie Dominik Blum (Live-Musik) INSZENIERUNG Christiane Pohle BÜHNE UND KOSTÜME Charlotte Pistorius LICHT Christiane Pohle, Charlotte Pistorius, David Clormann DRAMATURGIE Nikolai Ulbricht REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Gilda Laneve LICHT- UND TONTECHNISCHE EINRICHTUNG David Clormann, Ronnie Hermann, Jonathan Zumsteg

TEXTNACHWEISE

IMPRESSUM

Hermann Burger, Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. © 2009 Nagel & Kimche in der MG Medien Verlags GmbH, Haar. Fassung des Romans von Christiane Pohle, Nikolai Ulbricht und Ensemble

Herausgeber: Luzerner Theater Theaterstrasse 2 6003 Luzern www.luzernertheater.ch

«So redet nicht einer, der auf Antwort hofft» besteht aus Fragmenten aus einem Gespräch mit Hermann Burger: Schulhauswerkstatt, Todeswerkstatt. Aus: Werner Erne. Schauplatz als Motiv: Materialien zu Hermann Burgers Roman «Schilten». Zürich, München: Artemis Verlag 1977. «Phantastisch und erschütternd» ist die erste Email von Regisseurin an Musiker Dominik Blum. BILDNACHWEIS

Fotografiert von Charlotte Pistorius bei der Hauptprobe 1 am 16.  Januar 2021

Herzlichen Dank: Carla Schwöbel-Braun

Spielzeit 20/21 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Künstlerische Leitung Schauspiel: Sandra Küpper Redaktion: Nikolai Ulbricht Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG Diese Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und ClimatePartner. * Das Premierendatum war ursprünglich für den 22.  Januar 2021 geplant **In Anbetracht der Verschiebung der Premiere wurde eine zweite Variante von «Schilten» geprobt, bei der Jara Bihler – die im Frühsommer schon ihr Festengagement am Hamburger Schauspielhaus antritt –  durch das Ensemble vertreten wird. Beide Varianten wechseln sich je nach Verfügbarkeit von Jara Bihler ab.

Das Schulhaus Schiltwald kenne ich seit meiner Kindheit, ich bin im benachbarten Wynental aufgewachsen. In den sechziger Jahren wurde das «Schlösschen» von einem befreundeten Lehrer bewohnt, den ich ab und zu besuchte. Einmal sagte er beiläufig: «Heute nachmittag findet in unserer Turnhalle eine Abdankung statt, da muss ich aufpassen, dass die Schüler nicht im Gang herumlärmen.» Das war die Initialzündung. Nur hatte ich zwar einen Schauplatz entdeckt, ein Modell, aber mir fehlte der Stoff. Erst Jahre später, als ich selber als Stellvertreter an verschiedenen Stufen unterrichtete, merkte ich, weshalb mich die Konfrontation von Schule und Tod faszinierte. Ich erlebte an mir selbst und am Beispiel vieler Kollegen, wie gross die Gefahr der Verknöcherung ist, wenn der Lehrer den Mut zum Ausbrechen verliert, zur inneren Regeneration. — Natürlich gibt es unzählige Beispiele von guten Lehrern, die der Verknöcherung entgehen, die nicht immer nur «senden», sondern auch «empfangen». Dass sie in «Schilten» ausgespart werden, liegt an der gewählten Form des Zerrbildes. — Die Gesellschaft von morgen ist zum Teil ein Entwurf der Lehrer von heute. — Ich habe mich mit meiner ganzen Phantasietätigkeit nach Schilten verpflichtet, ich bin Tag und Nacht in Gedanken ein und aus gegangen in diesem Modell einer Gesamtschule für Todes- und Scheintodeserfahrung. Damit habe ich, bevor der erste Satz formuliert war, das reale Gebäude bereits hinter mir gelassen. Ich musste, um arbeiten zu können, einen inneren in einen äusseren Schauplatz übersetzen, hinaus- und ins Schilttal hinaufprojizieren, was mir in den vier Wänden meiner eigenen Existenz zu schaffen machte. — Schildknechts Friedhofkritik läuft darauf hinaus, zu zeigen, dass die Lebenden in Wirklichkeit Ruhe vor den Toten haben wollen. Lasset die Toten in Frieden, sagt man, meint aber: Die Toten sollen uns in Frieden lassen. De mortius nil nisi bene, damit sie uns an nichts Schlechts erinnern, an unsere Sterblichkeit.

Im letzten Quartheft sagt Schildknecht einmal, man müsste über einen Kompass verfügen, der Wahn und Wirklichkeit anzeigt, man müsste sich in letzter Minute noch auf eine Realität einigen können, gleichviel welche. Dem Leser wird dieser Kompass bewusst vorenthalten. — Die Technik der schleifenden Schnitte, nämliches Unmögliches als real und Faktisches als irreal zu behandeln und die beiden Darstellungsweisen unmerklich ineinander übergehen zu lassen, ist ein Mittel –  und ich hoffe: ein unterhaltsames –, den Leser in einen Zustand zu versetzen, in dem er sich fragen muss: Was ist nun eigentlich relevant für die Beurteilung von Schildknechts Fall, was sind Informationen und was redundante Mittelungen. — Als Autor hat man oft das Gefühl, die Wirklichkeit mache der Erfindung ihre Fiktionalität streitig. — Generell sind die Exkurse nicht ein Anhängsel, in ihnen vollzieht sich die Abwicklung des Romans. — Es ist vermutlich eine unmenschliche, totale Sprache, so redet nicht einer, der auf Antwort hofft. — Schildknechts Generalirrtum drückt sich in der Meinung aus: «Wer endlose Monologe zu halten versteht … keinen Widerspruch, kein Schweigen aufkommen lässt, hat alles gewonnen!» Natürlich hat er alles verloren. — Die Schildknechtsche Interpretation der Verschollenheit ist die Quintessenz meiner persönlichen Erfahrung von Mitmenschlichkeit im Zustand der Erkrankung. Man sollte sich frühzeitig daran ge­ wöhnen, dass die Welt nicht kopfsteht, wenn man ihr abhanden kommt. — Man kann die Dämonen an die Wand malen, das ist alles, und, wie Max Frisch sagt, als Schriftsteller lediglich hoffen, dass es Dämonen sind, die auch andere Zeitgenossen heimsuchen. — Am meisten freuten mich die Reaktionen von Lesern, die sagten, das Buch habe sie dazu gezwungen, sich auf ihre Lebensgeister zu besinnen.

«Phantastisch und erschütternd» Die erste Kontaktaufnahme der Regisseurin Christiane Pohle mit dem Musiker Dominik Blum.

München, Juni 2020

Lieber Dominik Blum! In diesen merkwürdigen Zeiten bereiten wir unverdrossen ein Projekt für die Spielstätte «Box» am Luzerner Theater vor: «Schilten – Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz», nach dem wunderbaren Roman des Schweizer Schriftstellers Hermann Burger. Geplant ist ein Theaterabend mit einer starken musikalischen Dimension. Vielleicht kann ich Sie für dieses Unternehmen gewinnen: Haben Sie Lust und Zeit dabei zu sein mit Ihrer Orgel? Ich erlaube mir, als Auftakt für ein mögliches Gespräch sozusagen, ein paar erste Gedanken zu «Schilten» aufzuschreiben. «Schilten» ist ein erstaunlicher Text, der mich mehr und mehr begeistert. Der Schulbericht an die Inspektorenkonferenz aus der Perspektive des Schullehrers Armin Schildknecht ist weit mehr als eine Beschreibung, als ein Bericht – er ist eine Überlebensmassnahme, eine Anklage, die hypnotischmanische Erfindung einer realen Daseins-Alternative gegenüber der vernichtenden Tatsache, dass Armin Schildknecht gar keine Schüler mehr hat, dass er seit Jahren allein in einem leeren Schulhaus sein Dasein fristet, vielleicht längst vergessen wurde. Armin Schildknechts fieberhafte Analysen und Beschreibungen, sind rhythmisch-musikalische Improvisationen, mit Refrains, Soli, sich endlos auf­ bauenden Crescendi, die Themen und Gedanken vor sich hertreiben, ausbauen, bis zur Groteske überdehnen. Diese Vorgänge interessieren mich sehr in Bezug auf eine theatrale Übersetzung. Das Sprechen ist wie ein existentieller Grundimpuls, an dem sich die Figur Armin Schildknecht bildet, es muss in Form von Diktaten in die Köpfe der Leserinnen hineingetrieben werden. Eine Art Morse-Attacke irgendwie. Gibt es die Inspektoren-Konferenz überhaupt? Das Schiltener Schulhaus mit dem benachbarten Friedhof ist Zumutung und Schutz-Ort zugleich, ein Bunker, eine pervertierte Heimat, eine magische Kiste, ein Modell, das durch Phantasien in Betrieb gehalten

wird. Die Hingabe des Lehrers Schildknecht an die Monstrosität seines Monologes ist beeindruckend. Ein Oktavheft nach dem anderen wird vollgeschrieben. Vollgesprochen. Das vielbeschworene Harmonium wird zum Cockpit auf dem Flug durchs Dasein, die immer präsente Schul-Turmglocke zum Totenglöckchen. Die Turnhalle verkommt zur Abdankungshalle, auf dem Friedhof wird Nebelkunde unterrichtet. In Tiraden über seine Postlosigkeit beschwert sich Schildknecht über das bürokratische Postwesen, und bereist mit fiktiven Briefen die Kantone, eine Modelleisenbahn-Phantasie über die Schweiz. Der unaufhörliche Drang zur Überschreibung, Neuschreibung, Aneignung ist ein unübersehbares Merkmal des Schildknecht’schen Denkens. Durch die vielen Details wirkt alles so dokumentarischrealistisch, dass man nicht umhin kommt zu denken, «alles sei genauso, und nicht anders, tatsächlich gewesen». Ein erstaunlicher Trick. Das Ende des Schildknecht’schen Berichtes und damit er selbst, landen buchstäblich mitten in Kafkas Parabel «Auf der Galerie». Das ist phantastisch und erschütternd … als würden sich der Ich-Erzähler, und mit ihm der Autor, in das Textuniversum Kafkas verabschieden, Sekunden bevor der adressierte Inspektor, oder ist es die adressierte Realität, ihr vernichtendes Urteil spricht. Es wird ein Ensemble von 4 Darsteller*innen und einem Musiker geben, die alle auf ihre Weise Armin Schildknecht verkörpern. In der Bühnenidee verbinden sich Turnhallen- Kirchen- und FriedhofsAssoziationen zu einem eigenen Universum. Die Orgel ist ein zentraler Ort. Die Produktion wird 26. November bis zur Premiere am 22.  Januar geprobt, es sind etwa 12 Vorstellungen geplant. Ich freue mich sehr, wenn wir vielleicht einmal telefonieren, und uns dann treffen, vorausgesetzt natürlich, die Idee, als Musiker dieses Projekt konzeptionell und ganz praktisch mit-zu-erfinden, gefällt Ihnen? Mit sehr herzlichen Grüssen! Christiane Pohle


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