Programmheft «Tauben fliegen auf», Luzerner Theater

Page 1

TAUBEN FLIEGEN AUF Uraufführung nach dem gleichnamigen Roman von Melinda Nadj Abonji In einer Fassung von Sylvia Sobottka und Hannes Oppermann Premiere: 10. März 2017 Dauer: 2 Stunden, keine Pause Aufführungsrechte: Jung und Jung Verlag, Salzburg Herzlichen Dank an unsere Impulsgeberin Emina Kovacˇević, Koordinatorin für Integrationsprojekte beim SAH Zentralschweiz.

MIT Sofia Elena Borsani Michèle Breu Adrian Furrer Wiebke Kayser Mirza Šakić INSZENIERUNG Sylvia Sobottka BÜHNE UND KOSTÜME Manuel Gerst MUSIK Mark Schröppel DRAMATURGIE Hannes Oppermann LICHT, TON, TECHNI­ SCHE EINRICHTUNG David Clormann, Gregor von Wyl REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Oliver Lau, Josef Zschornack BÜHNENBILDASSISTENZ Susanna Lombardo

IMPRESSUM Herausgeber: Luzerner Theater Theaterstrasse 2, 6003 Luzern www.luzernertheater.ch Spielzeit 16/17 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Künstlerische Leitung Schauspiel: Regula Schröter Redaktion: Hannes Oppermann Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG Diese Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und Climate-Partner.

L

Tauben fliegen auf

Der Text «Fremderregung» stammt von Melinda Nadj Abonjis Website www.master­ planet.ch. Das Interview mit der Regisseurin ist ein Original­ betrag für dieses Programm­ heft.

KOSTÜMASSISTENZ Moana Lehmann REGIEHOSPITANZ Meret Feigenwinter

TECHNISCHER STAB Technischer Direktor: Peter Klemm, Produktionsassistent: Julius Hahn, Assistent der techn. Direktion: Michael Minder, Produktionsleiter: Roland Glück, Veranstaltungsmeister: David Clormann, Veran­ staltungstechniker: Gregor von Wyl, Chefrequisiteurin: Melanie Dahmer, Requisite: Nicole Küttel, Leiter Probenbühnen: Thomas Künzel, Transporte: Ido van Oostveen, Hamzi Gashi, Chefmasken­ bildnerin: Lena Mandler, Leiterin der Kostüm­abteilung: Angelika Laubmeier, Gewand­meisterin Damen: Ulrike Scheiderer, Gewandmeisterin Herren: Andrea Pillen, Kostümmalerin: Camilla Villforth, Leiterin Ankleidedienst: Monika Malagoli, Fundus­verwalterin: Rhea Willimann, Werkstättenleiter: Ingo Höhn, Leiterin Maler­saal: Brigitte Schlunegger, Schlosser: Nicola Mazza, Leiter Schreinerei: Tobias Pabst, Tapezierer: Alfred Thoma, Leiter Statisterie: Sergio Arfini

Box  ←

T


Fremderregung «Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist wesentlich für die Gegenwart» Warum soll man sich damit abmühen, mit Geschichte, mit unzähligen Geschichten, die irgendwo in Archiven lagern, als Kleinschriften – Flug­­blätter, Pamphlete – Zeitungsartikel und Tagebücher von Menschen, die auf unterschiedliche Art gedacht haben müssen, es sei wesentlich, dass man den Tagen eine schriftliche Existenz verleiht, kilometerlange Mikrofilme, die sich einspannen lassen, das schwindelerregende Surren, mit dem die Tage, Wochen an einem vorbeiziehen; warum sollte man sich um längst vergangene Tage kümmern, um Menschen, deren Hoffnungen und Sorgen (oder müsste ich jetzt von «Kümmernissen» sprechen?) vergessen, begraben sind? Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist wesentlich für die Gegenwart, so meine Antwort, das Wesen unserer Zeit ist erst mit dem Blick, mit dem Eintauchen in vergangene Welten möglich. Ein verschwommenes Sehen, vielleicht ist das die Quintessenz des Quellenstudiums, man sieht und sieht nicht; man versteht und versteht nicht. Die Worte werden in eine schier unerträgliche Zeitlichkeit entlassen und bereits hundert Jahre reichen aus, um zumindest eine gesicherte Erkenntnis zu bergen, dass die Worte und deren Syntax im Fluss sind, weil die Menschen sie brauchen, aufbrauchen, sie ver­biegen, anbeten und wegwerfen, vergessen, Worte, die unnütz werden, weil die dazugehörige Sache nicht mehr existiert oder sich verändert. Ob der Sinn der Literatur darin bestünde, die Vergangenheit zu bewahren, wurde der Schriftsteller W. G. Sebald in einem Interview gefragt. Ja, so Sebalds Antwort, zumal die Gesellschaft dazu tendiere, die Vergangenheit auszulöschen, sie hindere einen ja am Fortschritt.

Melinda Nadj Abonji Melinda Nadj Abonji, Trägerin des Schweizer und Deutschen Buchpreises, ist als Autorin und Spoken-Word-Künstlerin mit der Bearbeitung der Vergangenheit und deren Wirkung auf die Gegenwart vertraut. Ihr neuer Roman «Schildkrötensoldat» erscheint im Herbst im Suhrkamp-Verlag.

«Ich glaube nicht an Nationen, Grenzen und Pässe» Regisseurin Sylvia Sobottka im Interview mit Dramaturg Hannes Oppermann

Hannes Oppermann – Sylvia, für die Ungeduldigen unter unseren Zuschauern: Wovon handelt «Tauben fliegen auf»?

Sylvia Sobottka – Das Buch erzählt die Geschichte der Familie Kocsis in ihrer neuen Heimat Schweiz, die Emanzipation der Tochter Ildikó von ihren Eltern, und es geht darum, dass einem das Land, in dem man lebt, nicht per se vertraut ist. Ildikós Verhältnis zur Schweiz ist völlig anders, als das ihrer Eltern. Sie verlässt die Familie am Ende, um sich und ihre Position im Leben zu finden. Das erfordert grossen Mut.

Wie kamen das Buch und du zusam­ men?

Ich hatte den Roman vor einigen Jahren schon mal gelesen und dann hattet ihr die Idee der Uraufführung. Ich habe die Autorin Melinda Nadj Abonji getroffen. Wir sprachen über das Buch, unsere Erfahrungen mit Arbeitsmigration und am Ende des Gesprächs haben wir beschlossen, das Abenteuer zu wagen. Aber ich wusste

damals nicht, wie man die prosaischen Qualitäten des Buches und die kom­ plexe Sprache auf die Bühne bringen soll. Erst nach und nach kam die Idee, eine Art szenisches Live-Hörspiel daraus zu machen.

Der Roman hat im Original 300 Seiten, die Bühnenfassung knapp 40. Nach welchen Kriterien hast du Kapitel ausgewählt?

Es hat sehr geschmerzt, viele Ge­ schichten und Figuren nicht mit auf die Bühne nehmen zu können, aber dann würde der Abend sieben Stun­ den oder länger dauern. Deshalb habe ich in Absprache mit Melinda Passa­ gen ausgewählt, die die existen­tiellen Erfahrungen von Familie, Politik, Emanzipation und Heimat widerspie­ geln. In den Leseproben haben wir erlebt, wie jeder von uns die Ge­ schichten von Melinda mit eigenen Erinnerungen verbinden kann. Das macht dieses Buch so besonders.

Kannst du dich mit Ildikó und ihren Erfahrungen identifizieren? Meine Eltern sind Ende der 1970er Jahre von Polen nach Deutschland migriert. Ich kenne die im Buch erwähnten Mantren wie «Ihr sollt es

mal besser haben», «Schule ist das Wichtigste» sehr gut und kann den Druck nachvollziehen, der auf den Eltern und auf den Kindern liegt. Mir ist auch das Gefühl einer Herkunft im Hintergrund vertraut, die man immer aufsuchen kann und die trotzdem etwas Fremdes hat.

Was ist für dich Heimat?

Für mich steckt in dem Wort Ver­ trautheit mit Landschaften, Architek­ tur und Menschen, bei denen man sich aufgehoben fühlt. Für mich gibt es nicht nur «eine» Heimat. Ob ich in Deutschland oder Polen bin, etwas fehlt mir immer. Meine Heimat liegt eher im Da­zwischen.

Welche Rolle spielt dabei für dich Sprache?

Auch wenn ich nicht in Polen geboren bin, so rührt mich der Klang des Polnischen immer an und erinnert mich an meine Herkunft. Aber Nationalität besitzt für mich keine Relevanz.

Du glaubst also nicht an Nationen, Grenzen und Pässe?

Nein, da glaube ich nicht dran. Für mich hat Nationalität etwas mit Grenzen zu tun, abgeschlossenem Terrain. Ich fühle mich mehr mit einer Mentalität verbunden als mit einer Nation oder einem Land.

Warum?

Das sind Begriffe, die abschotten und ausgrenzen. Ich wundere mich,

warum man sich so eine Prägung geben will: Ich bin deutsch, polnisch, etc. Das hat für mich vor allem mit Klischees zu tun und nur vermeint­ lich mit Zugehörigkeiten. Ich könnte nicht definieren was jemanden zum Deutschen macht, weder für mich noch für andere. Ich kann mehr mit dem Begriff Mentalität anfangen, das heisst, sich mit Menschen über gemeinsame Arten des Denkens und Fühlens verbunden zu fühlen.

Im Roman führt das unterschiedliche Verhältnis zu Integration zum Bruch zwischen Eltern und Tochter. Erstere möchten am liebsten unsicht­ bar werden und nicht auffallen, Ildikó hingegen will sich gegen Anfeind­ungen wehren. Wie denkst du über Integration? Für mich bedeutet Integration, die Bereitschaft aufeinander zuzugehen. Es ist keine Einbahnstrasse, bei der sich eine Partei der anderen anpassen muss. Meine Eltern waren sehr gewillt, sich zu integrieren und rasch die Sprache zu lernen. Sie wollten mit den neuen Nachbarn in Kontakt kommen. Ihnen hat dabei geholfen, dass diese Nachbarn von sich aus offen waren. Sie waren dadurch motiviert, sich und ihre Erfahrungen einzu­ bringen in die Nachbarschaft. Wie kann ich ich bleiben und zugleich einen Platz finden in der neuen Um­gebung, das ist für mich Integration.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.