Programmheft «Faust-Szenen», Luzerner Theater

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FAUST-SZENEN Ein installatives Oratorium zwischen Bühne und Kirche Von Robert Schumann nach Johann Wolfgang von Goethe In deutscher Sprache Premiere: 24. März 2018 Dauer: ca. 2 Stunden, keine Pause KOPRODUKTION MIT LUCERNE FESTIVAL MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG DER: — IDA UND ALBERT FLERSHEIMSTIFTUNG — STREBI STIFTUNG

MUSIKALISCHE LEITUNG Clemens Heil INSZENIERUNG Benedikt von Peter BÜHNE Natascha von Steiger KOSTÜME Lene Schwind

INSPIZIENZ Lothar Ratzmer, Anke Daver BÜHNENBILDASSISTENZ Vanessa Gerotto

VIDEO Bert Zander

KOSTÜMASSISTENZ Medea Karnowski, Coline Jud

DRAMATURGIE Sylvia Roth

REGIEHOSPITANZ Adeline Rahms

SOUNDDESIGN Moritz Wetter

ÜBERTITELINSPIZIENZ Sania Helbig, Christoph Roos

LICHT Clemens Gorzella CHOREINSTUDIERUNG Mark Daver CHOREINSTUDIERUNG 21ST CENTURY CHORUS Ludwig Wicki EINSTUDIERUNG KINDERCHÖRE Eberhard Rex REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Lennart Hantke, Caterina Cianfarini

Herzlichen Dank an die Journalistin Gabriela Kaegi, die mit dem «KaegiTicker zu FaustSzenen» die Produktion begleitet und auf unserer Website dokumentiert hat.

KORREPETITION Markus Eichenberger

MUSIKALISCHE ASSISTENZ William Kelley STUDIENLEITUNG Rolando Garza Rodríguez

BESETZUNG FAUST / DR. MARIANUS Sebastian Geyer GRETCHEN / SORGE / UNA POENITENTIUM Rebecca Krynski Cox MEPHISTO / BÖSER GEIST / PATER PROFUNDUS Vuyani Mlinde ARIEL / PATER ECSTATICUS / ENGEL Robert Maszl PATER SERAPHICUS / GEIST / ENGEL Jason Cox

SCHULD / ELFE / ENGEL Sarah Alexandra Hudarew SORGE / ELFE / ENGEL Magdalena Risberg MANGEL / ELFE / ENGEL Gianna Lunardi NOT Jeanett Neumeister CHOR DES LT Marco Bappert Kyungbin Duay-Joo Agnes Fillenz Wieslaw Grajkowski Efstathios Karagiorgos Ivo Kazarow Kihun Koh Robert Hyunghoon Lee Judith Machinek Maria Montero Jeanett Neumeister Sofîa Pollak Eeva Saarenpää (Gast) Chiharu Sato Miriam Timme Peter Wigger Koichi Yoshitomi EXTRACHOR DES LT MITGLIEDER DES 21ST CENTURY CHORUS LUZERNER MÄDCHENCHOR UND LUZERNER SÄNGERKNABEN STATISTERIE / KINDERSTATISTERIE DES LT LUZERNER SINFONIEORCHESTER


L

Faust -Szenen

Bühne / Jesuitenkirche ← T


Vorweg: Faust, unbehaust

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Faust ist ein Getriebener, Ewig-Suchender, ein «Unmensch ohne Zweck und Ruh». Der Pakt, den er mit Mephisto schliesst, negiert den Augenblick des Verharrens. Stillstand darf nicht sein – einem manischen Perpetuum Mobile gleich, sorgt Faust für pausenlose Bewegung, strebt unentwegt zu neuen Erfahrungen. Versucht er in Goethes «Faust I» die Liebe zu finden und durch sie höchste Erfüllung zu erhalten, mutiert er in «Faust II» zu Gott, der die Welt neu erschafft: Er entwickelt Kapitalismus und Kolonialismus, legt Meere trocken, um Land zu gewinnen, siedelt Menschen um. Doch egal, was Faust auch tut: Er hinterlässt eine Spur der Destruktion. Kaum hat er eine Welt erschaffen, wird sie auch schon wieder ausgelöscht. Seine Gier verschlingt jede Realität, sein Schuld-Register wird länger und länger. Unendlicher Fortschritt, unendliches Wachstum – Faust, der Prototyp des modernen Menschen, propagiert Werte, die angesichts einer auf vielen Ebenen kollabierenden Welt längst fragwürdig geworden sind. Nur wenige Momente der Selbstreflexion und Erkenntnis erlaubt Faust sich in seinem Bewegungsfuror: «Ich bin nur durch die Welt gerannt», bekennt er an einer Stelle des Goethe’schen Texts. Indem er sich selbst aus der Geborgenheit der Studierstube verstösst, macht der rasende Faust sich zugleich zum Unbehausten – und genau an diesem Punkt der emotionalen und ideellen Obdachlosigkeit setzt die Luzerner Inszenierung an. Regisseur Benedikt von Peter zeigt einen Faust, der nach Erlösung sucht und vollzieht dafür die Faust’sche Befreiungs-Sehnsucht auch räumlich nach: In einem Stationendrama zwischen Bühne, Theaterplatz und Kirche flieht Faust vor seiner eigenen Schuld, schwankt von Ich-Flucht zu Grössenwahn, von Depression zu Manie, von Liebes-Verrat zu Liebes-Hoffnung.



Szenenfolge TEIL I: FAUST UND GRETCHEN → Bühne

Szene 1: Im Garten (Faust I)

Faust verspricht Gretchen die Liebe.

6 erblinden und mahnt ihn, nach innen zu schauen. Faust aber zieht es vor, neue, grössenwahnsinnige Projekte zu planen.

Szene 6: Fausts Tod (Faust II)

Szene 2: Gretchen vor dem Bild der Mater Dolorosa (Faust I)

Mephisto befiehlt den Lemuren, Fausts Grab auszuheben. Faust hält eine Rede an die Menschheit – und stirbt.

Szene 3: Im Dom (Faust I)

TEIL III: FAUSTS HIMMELFAHRT → Jesuitenkirche

Das schwangere Gretchen ist verzweifelt, weil Faust sie verlassen hat. Der Böse Geist (Mephisto) verschärft Gretchens Schuldgefühle: Ihre Mutter ist an einem von Faust verabreichten Schlaftrunk gestorben, ihr Bruder im Duell mit Faust. Gretchen wird wahnsinnig. TEIL II: FAUSTS WEG DURCH DIE WELT → Bühne, Foyer, Theaterplatz

Szene 4: Sonnenaufgang in anmutiger Gegend (Faust II)

Luftgeist Ariel hilft Faust, seine Schuld an Gretchen zu vergessen. Faust erwacht zu neuem Leben und geniesst seine Schöpferkraft.

Szene 5: Mitternacht.Vier graue Weiber treten auf (Faust II)

Sorge, Not, Mangel und Schuld suchen Faust heim. Die Sorge lässt Faust

Szene 7: Bergschluchten. Heilige Anachoreten (Faust II)

Drei Einsiedler spiegeln Fausts inneren Zustand: Pater Ecstaticus erzählt vom Opfer der allumfassenden Liebe. Pater Profundus (Mephisto) entwirft ein Seelengemälde des unerlösten Faust. Pater Seraphicus spricht zu einer Schar gestorbener Kinder. Die Kinder-Engel tragen Fausts Seele in den Himmel. Doctor Marianus (Faust) bereut seine Sünden. Ein Engel (Gretchen) verzeiht Faust – Faust scheint durch das Ewig-Weibliche erlöst.


FAUSTS SCHULD-REGISTER — Pakt mit dem Teufel / Seelenverkauf — Verrat an Gretchen — Mord an Gretchens Mutter — Mord an Gretchens Bruder — Mitschuld an der Tötung von Gretchens Kind — Mitverantwortung für Gretchens Hinrichtung — Ausbeutung der Natur durch Landgewinnung — Ausbeutung und Vertreibung von Menschen — Kolonialisierung — Gier nach Eigentum / Falscher Handel — Beteiligung an Kriegen und an Massenmorden — Bereicherung durch Kriegsgewinne — Hybris und Gewissenlosigkeit — Weigerung, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen




Zustand der Unerlöstheit Regisseur Benedikt von Peter im Gespräch mit Dramaturgin Sylvia Roth Sylvia Roth — Keine Oper, sondern ein Oratorium – noch dazu eines, das

bereits im Titel auf einen fragmentarischen Charakter hindeutet: Robert Schumanns «Szenen aus Goethes Faust ». Was für ein Werk ist das?

Benedikt von Peter — Ein Werk, das sich mit der «weltlichen Bibel» der Deutschen auseinandersetzt, Goethes Faust. Ein Stoff, der von der Anmassung des Menschen, sich schöpfend an Gottes Stelle zu setzen, erzählt, vom rastlosen, veloziferischen Trieb nach einem «Mehr!» Ein Stoff, der die Gewalt des schöpferischen Menschen bei gleichzeitigem Desinteresse an den Kollateralschäden offenlegt. In seinem Oratorium wählte Schumann sieben Szenen aus Goethes Vorlage, Schlüsselmomente aus «Faust I» und «Faust II», der kleinen und der grossen Welt. Dabei kondensierte er das Sujet auf eine psychische Be- und Umarbeitung der Gretchentragödie: Indem er Fausts Verrat an Gretchen als Ausgangspunkt nimmt, berichtet er zugleich von Fausts Liebes- und Lebensunfähigkeit, vom Trauma einer nicht gelebten Liebe, eines nicht gelebten Lebens. Der

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Schumannsche Faust bewegt sich in einer literarischen Welt von Schuld, Projektion und Erlösung. Das Stück beschreibt also einen Zustand: das künstlerische Ausagieren einer unermesslichen menschlichen Unerlöstheit. SR — Unerlöstheit ...  inwiefern? BvP — Faust steht stellvertretend für die westliche Menschheits- und Schuldgeschichte. Fausts Schuldenregister entspricht dem Schuldenregister des aufgeklärten Menschen: Verrat an Liebe und Humanität, Propagierung von Kapitalismus, Kolonialismus, Krieg,Vertreibung und Tötung von Menschen, Ausbeutung der Natur – die Liste von Fausts Vergehen ist lang. Diese Hypothek schreit nach Erlösung – und so ist der Aspekt der Erlösung ein zentrales Thema in diesem Werk. Die Suche nach Ganzheit, nach Totalität war ja typisch für Schumanns Zeit, war das grosse Thema der Romantik, später dann ja auch von zentralem Interesse für Wagner. Die Geschichte von Faust ist auch eine über die Suche nach demParadies, Faust will gesunden, will ganz werden. Wir haben es psychologisch gesehen also mit einer regressiven Figur zu tun: Faust ist gefangen in einem inneren Exil und


11 versucht vergeblich, Ganzheit durch ein Aussen oder die Kunst zu erlangen. SR — Die Sehnsucht nach Erlösung ist ja auch ein zentraler Topos in Robert Schumanns Biografie ... BvP — Schumann hat zehn Jahre lang am «Faust» gearbeitet – seine Ehrfurcht vor Goethe war gross, von 1844 bis 1853 hat er sich immer wieder an den Stoff herangetastet. Vor allem in der letzten Arbeitsphase war er dem Wahnsinn schon sehr nahe, er hörte Stimmen, Geistermusik, musste erleben, wie das Dämonische immer mehr in seine Psyche einbrach. Wenn man so will, schrieb er mit den «Faust-Szenen» ein Requiem seiner Unerlöstheit; Schumanns Identifikation mit der Figur Faust ist spürbar stark. Aus Schumanns Tagebüchern wissen wir viel über sein bisweilen fast faustisch wirkendes Leben, über seine innere Zerrissenheit: seine IchSchwäche, das Bedürfnis, von seiner Frau, Clara, kuriert zu werden, die Fixierung auf die Arbeit, weil er in der Religion keinen Halt finden konnte. Schumann schloss sich in Kunst und Musik ein, die Suche nach dem Paradies findet sich als zentrales künstlerisches Thema in vielen seiner Werke.

Doch bei allen Parallelen zu Schumann: Faust ist auch Wir, die wir systemisch unbehaust sind und wie Obdachlose durch die Welt irren. SR — Faust bleibt auch deshalb

unerlöst, weil er sich weigert, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen – alles, was geschieht, schiebt er Mephisto in die Schuhe. Wer ist Mephisto? BvP — Mephisto ist die Negation, das Destruktive, «der Geist, der stets verneint». Er ist der Mechanismus, der unsere innere Leere mit dem permanenten Gefühl eines «Es reicht nicht» zuspitzt. Sein Mittel ist das Veloziferische, wie Goethe es in einer Wortschöpfung genannt hat: also die verheerende Mischung aus Velocitas (Tempo, Eile) und dem Luziferischen, dem Teuflischen. Mephistos Stimme hält uns unerlöst, seine immer neuen Versprechungen fachen die Sehnsucht nach «Mehr!» stetig neu an, geben dem Gefühl des Mangels in uns immer neue Nahrung. Mephisto hat verschiedene Bilder im Angebot, die Faust scheinbare Erlösung versprechen – so etwa Gretchen als Reinheits- und Erlösungsprojektion, aber auch Gretchen als Dämon der Schuld. In unserer Inszenierung ist Mephisto also keine Figur, sondern


12 ein Prinzip, ein Modus des Da-Seins, ein Hilfs-Tool für die Flucht vor sich selbst, für den irrtümlichen Gedanken, dass Erlösung im Aussen zu finden sei. Erst, wenn Mephisto abgeschafft ist, ist Erlösung im Inneren möglich. SR — Auch Gretchen ist in deiner

Inszenierung keine Figur, sondern ein Prinzip. Welche Rolle spielt sie im Kontext eines männlichen Grössenund Erlösungswahns? BvP — Faust verschuldet sich an Gretchen in mehrfacher Hinsicht: Er verrät sie, indem er sie verlässt, er trägt Mitschuld am Tod ihrer Mutter, ihres Bruders und daran, dass Gretchen ihr eigenes Kind ertränkt und dafür hingerichtet wird. Gretchen wird von Mephisto als Motor für Fausts Schuld und Unerlöstheit eingespannt – sie steht für «die getötete Liebe», sie gerät zur Projektionsfigur einer «Erlösung von Aussen». Das erinnert an Kundry in Wagners grossem Erlösungsdrama «Parsifal», Kundry, die sowohl die Urschuld als auch die Erlösung durch das Weibliche repräsentiert. Die Figur Gretchen tritt am Ende, bei Fausts Himmelfahrt, in Gestalt eines Engels auf (Una Poenitentium), sie wird zum Ersatz für Fausts

fehlende Religion, zur Para-Religion. Sie vertritt das «Ewig-Weibliche», eine Entität, die nicht Gott ist, aber «hinan», also nach oben, ziehen soll. Goethe stellt also das gnädige, hilfreiche, erlösende Weibliche gegen das irrend strebende, gewaltsame männliche Prinzip. In unserer Inszenierung tritt Gretchen als mahnender Geist auf, der aus der Vergangenheit spricht, Faust zur Umkehr bewegen will und signalisiert, dass es immer noch eine zweite Chance gibt: auf ein echtes Leben im Jetzt. SR — Wie macht man die Themen die-

ses Stücks erfahrbar? Und wie gehst du mit der Form des Oratoriums um, das ja per se kein dramatisches, theatrales Potenzial besitzt? BvP — Wir schaffen eine Installation, in der man mit Faust durch verschiedene Welten jagt und an einem Ort landet, der Erlösung verspricht, der Kirche. Genau wie Faust wird der Zuschauer bei uns zum unerlösten Wanderer zwischen den Welten. Da gibt es zum einen die Bühne im Theater, ein tiefschwarzer Raum, vielleicht Schumanns Raum der Depression, der ewigen Nacht, Mephistos Ort. Ausserdem die Kirche als ein Ort der Reinheit, der erhofften Erlösung Fausts.


13 Gretchen und Mephisto begegnen Faust als Stimmen in seinem Ich. Der Chor und die vier Solisten sind Mephisto zugeordnet, sind seine Gesellen, seine Lemuren. Ausserdem gibt es noch die Kinder, die an Gretchens ertränktes Kind erinnern – sie stehen für ein ungelebtes Leben ohne Schuld, sind aber zugleich auch unsere Weggefährten durch den Abend. Am Ende stirbt nicht Faust, sondern die Projektion von Gretchen –  die Projektion der Maria entpuppt sich als Machwerk Mephistos: Sie stürzt in sich zusammen und hinterlässt nichts, Fausts Erlösung findet nicht statt. SR — So, wie auch Schumann nach Vollendung der Faust-Partitur weiterhin unerlöst war? BvP — Das Schreiben dieses monumentalen Oratoriums, alle religiösen Appelle, die darin stecken, haben Schumann nicht vor dem Wahnsinn gerettet. Aber wir haben einen kleinen Choral gefunden, den Schumann in der Endenicher Anstalt geschrieben hat, wenige Wochen vor seinem Tod – der unfassbar berührende «Endenicher Choral», den der Kinderchor singt. Ein sehr einfacher, homophoner, an Bach erinnernder Choral, bei dem man spürt, dass – im Gegensatz zu dem

monströsen Oratorium – endlich Ruhe einkehrt. Man merkt, dass Schumann da etwas gelingt, was er bei der Arbeit am Oratorium noch nicht geschafft hat: Loszulassen und zu sagen: «Jetzt ist es gut».


« Bin ich der Flüchtling nicht? der Unbehaus’te? Der Unmensch ohne Zweck und Ruh? Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen braus’te Begierig wütend nach dem Abgrund zu? Und ich, der Gottverhasste, Hatte nicht genug, Dass ich die Felsen fasste Und sie zu Trümmern schlug ! » FAUST





Oper, Oratorium, Requiem? Zu Schumanns Faust-Szenen Ob der Romantiker Robert Schumann sich bisweilen seine eigene Beerdigung imaginiert hat? Durchaus möglich. Zumindest kommentierte er schon die Komposition seines Requiems 1852 mit den Worten: «Das schreibt man für sich selbst». So sarkastisch dieser lapidare Satz auch klingen mag, so wahrhaftig war er vermutlich gemeint: Denn die Nähe zum Tod begleitete den psychisch labilen, schwer depressiven Komponisten sein Leben lang. Auch wenn Schumanns Werkverzeichnis nur ein einziges Requiem ausweist, tragen zahlreiche andere seiner Stücke einen requiemhaften Charakter – allen voran die «Szenen aus Goethes Faust». 1844 hatte Schumann begonnen, sich kompositorisch an einen der grössten Stoffe der deutschen Literatur heranzutasten – und von Anfang an wurde der Arbeitsprozess von starken Zweifeln unterminiert. Schumann, der selbst gerne Schriftsteller geworden wäre, verehrte Goethe als geistigen Mentor, kannte die Werke des deutschen Klassikers von Jugend auf. Zugleich war Goethe aber auch ein unerreichbares Ideal, das einschüchterte: «Die Szene aus «Faust» ruht im Pult; ich

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scheue mich ordentlich, sie wieder anzusehen», berichtete Schumann im September 1845 seinem Freund Felix Mendelssohn. «Das Ergiffensein von der sublimen Poesie (...) liess mich die Arbeit wagen; ich weiss nicht, ob ich sie jemals veröffentlichen werde.» Ganz anders als Berlioz, der sich zur selben Zeit wie Schumann für Goethes Drama interessierte und 1845 / 46 seine «Damnation de Faust» publizierte, schickte Schumann seinen Protagonisten nicht in die Hölle – ganz im Gegenteil: Er tat alles, um den schuldigen Faust zu erlösen. Das Finale seines Werks feiert Fausts Himmelfahrt in mehreren grossen Soli und Chören: «Gerettet ist das edle Glied / Der Geisterwelt vom Bösen: / Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen!», so die zentrale Aussage der Apotheose, die auch Goethe selbst in Gesprächen mit Eckermann als essenziell für das gesamte Drama hervorgehoben hatte. Hatte Schumann anfangs noch erwogen, den «Faust»-Stoff in die Form einer Oper zu bannen, näherte er sich schon bald immer mehr der Gattung des Oratoriums an.


19 Wie wichtig Schumann das Thema der Erlösung war, zeigt schon der Entstehungsprozess: Gänzlich unchronologisch vertonte er den Schluss des Werks, die Verklärungs-Apotheose, zuerst. Und fast scheint es, als schrieb er sie zu seiner eigenen Rettung, attackierten ihn Depression und Wahnsinn doch immer aggressiver und zwangen ihn mehrfach, die Arbeit zu unterbrechen. Fünf Jahre dauerte es, bis dieser 3. Teil mit seinem imposanten «Chorus Mysticus» vollendet war und uraufgeführt wurde. Erst danach vertonte Schumann auch noch weitere Passagen aus der «Faust»-Geschichte: Auszüge aus der Gretchen-Tragödie «Faust I», aus der Ariel- und der Lemuren-Szene «Faust II». Den insgesamt sieben Szenen stellte er im September 1853 noch eine Ouvertüre voran – nur wenige Monate später versuchte er, seinem Leben durch einen Sprung in den Rhein ein Ende zu setzen. Damit war Schumanns kompositorische Tätigkeit vorbei, die folgenden beiden Jahre bis zu seinem Tod durchdämmerte er in einer Heil-Anstalt bei Bonn-Endenich – die «Faust-Szenen» blieben in einem eigentümlichen Zwitterzustand zwischen Oper und Oratorium zurück. Tatsächlich steht das Werk zwischen allen Stühlen: zwischen Theater und Kirche,

zwischen organischem Ganzen und Fragment. Mal wirken die Szenen narrativ, mal metaphysisch-reflexiv, mal dramatisch, mal zutiefst sakral. Trotz ihres fundamentalen philosophischen und religiösen Überbaus erzählen sie letztlich Stationen einer menschlichen Tragödie: Die Verstrickung in Schuld im 1. Teil, das Verdrängen dieser Schuld im 2. Teil, der Versuch, Erlösung zu erlangen im 3. Teil. Dabei wird der alles überschreibende Erlösungsgedanke nicht nur in der Szenenauswahl, sondern auch in Schumanns musikalischer Umsetzung spürbar. Schon die Ouvertüre zeichnet einen Erlösungsweg nach, von düsterem d-Moll zu strahlendem D-Dur, vom Dunkel ins Licht, dem Vorbild von Beethovens 5. Sinfonie folgend. Auch die Chorpassagen durchleben eine Erlösung-Metamorphose: Verkörpern sie im 1. Teil in donnernden Dies-Irae-Zitaten Momente der Apokalypse, zeigen sie sich im 3. Teil ganz anders. Selige Knaben tragen Fausts Seele in den Himmel, in einer grandiosen ChorFuge wird seine Rettung besungen, die schliesslich in den sphärisch-feierlichen «Chorus Mysticus» mündet.


20 So literarisch die Faustsche Welt der Elfen und Geister, der Engel und Teufel auch daherkommt – für Schumann war sie höchst real. Über weite Strecken seines Lebens wurde er von Geisterstimmen gequält, von Wahnvorstellungen, die sich Anfang der 1850er Jahre zuspitzten. Nur wenige Wochen nach der endgültigen Fertigstellung der «Faust-Szenen» notierte Clara Schumann in ihrem Tagebuch: «... als wir noch nicht lange zu Bett waren, stand Robert wieder auf und schrieb ein Thema auf, welches, wie er sagte, ihm die Engel vorsangen; nachdem er es beendet, legte er sich nieder und phantasierte nun die ganze Nacht, immer mit offenen, zum Himmel aufgeschlagenen Blicken; er war festen Glaubens, Engel umschweben ihn und machen ihm die herrlichsten Offenbarungen, alles das in wundervoller Musik: ... Der Morgen kam und mit ihm eine furchtbare Änderung! Die Engelstimmen verwandelten sich in Dämonenstimmen mit grässlicher Musik; sie sagten ihm, er sei ein Sünder, und sie wollen ihn in die Hölle werfen.» Fast könnte diese Beschreibung von Schumanns innerem Zustand dem Goetheschen Faust-Kosmos entsprungen sein: die Imagination eines Elysiums, das durch höhnische

mephistophelische Stimmen wieder zerstört wird. Wie sehr der Protestant Schumann gedanklich in religiösen Schuld-Systemen gefangen war, zeigen auch die Einträge in der Endenicher Krankenakte: Immer wieder erzählte Schumann den Pflegern, er habe zu viel Böses getan und werde dafür nun von Dämonen bestraft. Da die Ärzte verordnet hatten, dass er seine Frau Clara nicht sehen dürfe, quälte ihn zugleich die Wahnvorstellung, sie lebe nicht mehr. Nach mehr als zwei Jahren kam es im Juli 1856 erstmals zu einer Wiederbegegnung zwischen den Eheleuten: «Er lächelte mich an und schlang mit grosser Anstrengung, denn er konnte seine Glieder nicht mehr regieren, seinen Arm um mich», berichtete Clara Schumann. «Nie werde ich das vergessen. Um alle Schätze gäbe ich diese Umarmung nicht wieder hin.» Zwei Tage später starb Robert Schumann, so, als habe die Begegnung mit Clara, dem Gretchen seines Lebens, ihn erlöst. Zuvor aber hatte er noch ein weiteres, kleines Requiem für sich selbst geschrieben: Einen kurzen Choral, der auf berührende Weise zeigt, dass Schumann – dieser lebenslang zerrissene, dem Abgrund mit all seinen Dämonen ausgesetzte Künstler – bereit war, sich der Ruhe des Todes anzuvertrauen.


« Wenn mein Stündlein vorhanden ist Aus dieser Welt zu scheiden, So hilf’ Du mir, Herr Jesu Christ, In meinem letzten Leiden. Herr, mein’ Seel’ an meinem End’ Befehl ich Dir in Deine Händ’, Du wirst sie wohl bewahren. » ENDENICHER CHORAL




Biografien SEBASTIAN GEYER war nach Abschluss seines Gesangsstudiums zunächst am Stadttheater Gießen und am Theater Heidelberg engagiert. Seit 2010 / 11 ist er Ensemblemitglied der Oper Frankfurt, wo er zahlreiche Rollen interpretierte. Darüber hinaus gastiert er an den Staatstheatern in Stuttgart und Wiesbaden, am Nationaltheater Mannheim, an den Wuppertaler Bühnen, bei den Schwetzinger Festspielen sowie beim Edinburgh International Festival. REBECCA KRYNSKI COX studierte Gesang an der University of South Carolina sowie der Manhattan School of Music. Sie gewann mehrere Preise und Stipendien. Engagements führten sie u.a. an die Santa Fe Opera, Kentucky Opera, New York City Opera und die Des Moins Metro Opera in Indianola/ Iowa. Seit der Spielzeit 17 / 18 ist sie am LT festes Ensemblemitglied und tritt diese Spielzeit u.a. als Meg Page / A lice Ford in «Falstaff» auf. VUYANI MLINDE absolvierte sein Gesangsstudium an der Free State Musicon in Südafrika und am Royal College of Music in London. Von 2010 bis 2016 war er festes Mitglied des Opernensembles der Oper Frankfurt. Ausserdem trat er u.a. beim Edinburgh International Festival, am Opernhaus von

Oviedo, an der Cincinnati Opera, der Houston Grand Opera und in der Carnegie Hall New York auf. Zur Spielzeit 16 / 17 wechselte er ans LT. In dieser Spielzeit war er u.a. in «Manon» und in «Falstaff» zu sehen. ROBERT MASZL stammt aus Wien und erhielt seine Ausbildung am Konservatorium seiner Heimatstadt. Seit 2009 gehört er fest zum Ensemble des LT und war hier in zahlreichen Inszenierungen zu erleben. Zudem gastierte er in zwei Uraufführungsproduktionen der Bregenzer Festspiele 2014, «Geschichten aus dem Wienerwald» und «Trans Maghreb». In der Spielzeit 17 / 18 war er u.a. in «Le Grand Macabre» zu sehen und tritt ausserdem in «Falstaff» auf. JASON COX wurde an der Manhattan School of Music als Bariton ausgebildet. Er war Mitglied des Opernstudios «OperAvenir» am Theater Basel und gastierte am Theater Magdeburg, Theater Bremen und Salzburger Landestheater. Seit der Spielzeit 16 / 17 ist er festes Ensemblemitglied des LT. In der Spielzeit 17 / 18 ist er ausserdem als Giorgio Germont in «La traviata» und in «Flow my tears – Das letzte Fest» zu erleben.

24 SARAH ALEXANDRA HUDAREW studierte Gesang in Karlsruhe. Als Solistin war sie mehrere Jahre im Opernensemble des Badischen Staatstheaters Karlsruhe tätig. Es folgten Engagements am Landestheater Detmold und bei den Thüringer Schlossfestspielen. Sie ist seit der Spielzeit 16 / 17 festes Mitglied des Opernensembles des LT. In der Spielzeit 17 / 18 sang sie Mescalina («Le Grand Macabre») und ist wird u.a. in «Falstaff» als Mrs. Quickly zu hören. MAGDALENA RISBERG absolvierte ihre Studien an der Königlichen Musikhochschule und der Opernhochschule in Stockholm. Weitere Engagements führten sie u.a. an die Genfer Oper, Königliche Schwedische Nationaloper, Malmö Oper, Nordlands Opera sowie ans Theater St. Gallen. Sie ist seit der Spielzeit 16 / 17 Mitglied des Opernensembles des LT. In dieser Spielzeit singt sie u.a. die Titelpartie in «Manon» und Nannetta in «Falstaff». GIANNA LUNARDI studierte an der Zürcher Hochschule der Künste und bildete sich zusätzlich in Meisterkursen u.a. bei Christa Ludwig weiter. Seit Abschluss ihres Studiums trat sie an verschiedenen Bühnen in England und der Schweiz auf. Sie ist sowohl im barocken als auch im zeitgenössischen Reper-


25 toire zu Hause und war zuletzt in der Tonhalle Zürich in Beat Furrers FAMA zu erleben. CLEMENS HEIL ist seit 16 / 17 Musikdirektor am LT. Er studierte Klavier und Dirigieren an den Hochschulen Stuttgart und Freiburg. Am Theater Bremen war er seit 2012 Erster Kapellmeister und leitete zahlreiche Neuproduktionen. Engagements führten ihn an das Staatstheater Mainz, die Staatsopern Stuttgart und Hannover sowie zu zahlreichen Orchestern in Europa. Mit dem Ensemble Modern verbindet ihn eine regelmässige Zusammenarbeit. BENEDIKT VON PETER studierte Musikwissenschaft, Germanistik, Jura und Gesang. Anschliessend war er an verschiedenen Häusern Regieassistent und gründete ein freies Theaterkollektiv. Er inszenierte an Theatern und Opern in Deutschland und der Schweiz (u.a. Theater Basel, Oper Frankfurt, Staatstheater Hannover, Komische und Deutsche Oper Berlin) und leitete von 2012 bis 2016 die Musiktheatersparte des Theater Bremen. Seit der Spielzeit 16 / 17 ist er Intendant des LT. In dieser Spielzeit führt er ausserdem Regie bei «Falstaff».

NATASCHA VON STEIGER wurde in Bern geboren und studierte Bühnengestaltung an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Seit 1996 arbeitet sie als freischaffende Bühnenbildnerin für Schauspiel, Tanz und Oper mit Regisseuren wie Benedikt von Peter, Armin Petras, Sebastian Baumgarten, Hanna Müller, Cornelia Crombholz, Hans Neuenfels, Bruno Cathomas, Wouter van Looy, u.a. Von 2008 – 2013 war sie Ausstattungsleiterin am Maxim-Gorki-Theater in Berlin, 2013 – 2016 hatte sie die selbe Funktion am Schauspiel Stuttgart inne. 2011 wurde sie mit dem Bühnenbild «Das Erdbeben in Chili» (Regie: Armin Petras) für den Theaterpreis «DER FAUST» nominiert. LENE SCHWIND studierte Modegestaltung in München und arbeitete bereits während ihres Studiums u.a. bei Hugo Boss und Vivienne Westwood. Zum Theater fand sie über Assistenzen am Schauspielhaus Zürich, dem Theater Basel und dem Schauspiel Frankfurt in Inszenierungen von Michael Thalheimer, Andreas Kriegenburg und Barrie Kosky. In Frankfurt lernte Schwind auch den Regisseur Christopher Rüping kennen, mit dem sie regelmässig an den Münchner Kammerspielen, dem Hamburger Thalia Theater, dem Deutschen Theater Berlin

und dem Schauspiel Stuttgart tätig ist. Mit Benedikt von Peter erarbeitete sie bereits «Aida» an der Deutschen Oper Berlin. MORITZ WETTER ist Gründer und Betreiber der Hardstudios. Neben den Studiorecordings ist er für das tpc tätig und führt im Auftrag vom SRF Konzertmitschnitte durch. Was 1979 mit einer VierSpur-Maschine und einem kleinen Mischpult begann, ist heute zu einem Studiokomplex mit vier Studios und einem mobilen Studiobus herangewachsen. In dieser Spielzeit ist er am LT als Sounddesigner bei «FaustSzenen» tätig. BERT ZANDER geboren in Weimar, absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Kaufmann und schloss 2003 sein Studium der Gestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar ab. Seit 2001 arbeitet er als freier Videogestalter mit Regisseuren an verschiedenen Häusern wie dem Thalia Theater Hamburg, dem Deutschen Theater und der Volksbühne Berlin, an den Münchner Kammerspielen, bei den Salzburger Festspielen, am Burgtheater Wien und dem Schauspiel Hannover. In der Spielzeit 16 / 17 war er am LT als Videogestalter für «Prometeo» und «Rigoletto» zuständig.


K I N D H E I T SOMMER-FESTIVAL 17. August – 16. September 2018

Info: lucernefestival.ch

ZT J E T E TS K TIC HERN! S IC

Hauptsponsoren


Impressum TEXTNACHWEISE

IMPRESSUM

Das Interview mit Benedikt von Peter ist ein Originalbeitrag für dieses Heft. Alle weiteren Texte stammen von Sylvia Roth und wurden ebenfalls für dieses Heft verfasst.

Herausgeber: Luzerner Theater Theaterstrasse 2, 6003 Luzern www.luzernertheater.ch

BILDNACHWEISE S. 5: Rebecca Krynski Cox S. 8 / 9: Sebastian Geyer, Rebecca Krynski Cox S. 15 und 16 / 17: Sebastian Geyer S. 22 / 23: Sebastian Geyer und Chor Umschlag aussen: Vuyani Mlinde Fotografiert von Ingo Höhn.

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Spielzeit 17 / 18 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Redaktion: Sylvia Roth, Mitarbeit: Savina Kationi Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG Diese Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und Climate-Partner.

DANKE AN DIE FIRMA BILD UND TON FÜR DIE UNTERSTÜTZUNG

TECHNISCHER STAB Technischer Direktor: Peter Klemm, Technischer Leiter: Julius Hahn, Produktionsassistentin: Marielle Studer, Produktionsleiter: Roland Glück, Bühnenmeister: Riki Jerjen, Dominic Pfäffli, Chefrequisiteurin: Melanie Dahmer, Requisite: Noemi Hunkeler, Nicole Küttel, Oliver Villforth, Leiter der Beleuchtungsabteilung und Beleuchtungsmeister: David Hedinger-Wohnlich, Leiterin Ton- und Videoabteilung: Rebecca Stofer, Tontechnik: Gérard Gisler, Thomas Lötscher, Probenbühnen: Thomas Künzel, Transporte: Ido van Oostveen, Hamzi Gashi, Chefmaskenbildnerin: Lena Mandler, Leiterin der Kostümabteilung: Angelika Laubmeier, Gewandmeisterin Damen: Ulrike Scheiderer, Gewandmeisterin Herren: Andrea Pillen, Kostümmalerin Camilla Villforth, Leiterin Ankleidedienst: Monika Malagoli, Fundusverwalterin: Rhea Willimann, Werkstättenleiter: Marco Brehme, Leiterin Malersaal: Brigitte Schlunegger, Schlosser: Nicola Mazza, Leiter Schreinerei: Tobias Pabst, Tapezierer: Alfred Thoma, Leiter Statisterie: Sergio Arfini



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