Programmheft «Tanz 30: Orfeo ed Euridice», Luzerner Theater

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TANZ 30: ORFEO ED EURIDICE

MUSIKALISCHE LEITUNG Alexander Sinan Binder

Christoph Willibald Glucks Oper als Ballett

INSZENIERUNG Marcos Morau

Libretto von Raniero de’ Calzabigi

CHOREOGRAPHIE Marcos Morau mit Marina Rodríguez

Premiere: 23. Februar 2019 In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Dauer: ca. 1 Stunde 40 Minuten mit Pause Aufführungsrechte: Wiener Fassung 1762 Bärenreiter Kassel Basel London New York Praha

BÜHNE Blanca Añón KOSTÜME Silvia Delagneau LICHT David Hedinger-Wohnlich CHOREINSTUDIERUNG Mark Daver DRAMATURGIE Selina Beghetto, Rebekka Meyer CHOREOGRAPHISCHE ASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Emmanuel Gázquez

GEFÖRDERT DURCH DIE FREUNDE LUZERNER THEATER, LIVKO AG, STREBI STIFTUNG, TGS ARCHITEKTEN AG TLT WIRD UNTERSTÜTZT VON DEN TANZFREUNDEN LUZERNER THEATER, DARIA NYZANKIWSKA DANCE FOUNDATION, BLÜTENBLATT UND UNSEREM MEDICAL PARTNER SPORTMEDIZIN ST. ANNA IM BAHNHOF IN KOOPERATION MIT TELE 1 UND SRF KULTURCLUB

Herzlichen Dank der Journalistin Nina Scheu für ihren Journalbeitrag zu «Tanz 30: Orfeo ed Euridice»

TRAININGSLEITUNG Emmanuel Gázquez, Kathleen McNurney KÜNSTLERISCHE LEITUNG «TANZ LUZERNER THEATER» Kathleen McNurney TANZ Janne Boere *, Zach Enquist, Giovanni Insaudo, Carlos Kerr Jr., Valeria Marangelli, Francesco Morriello *, Aurélie Robichon / Marina Rodríguez (Gast)**, Sandra Salietti Aguilera, Hayleigh Smillie *, Emelie Söderström *, Louis Steinmetz, Andrea Thompson, Tom van de Ven ORFEO Abigail Levis EURIDICE Diana Schnürpel AMORE Kathrin Hottiger

HOSPITANZ Margret Müller

CHOR DES LT Marco Bappert Agnes Fillenz Wieslaw Grajkowski Kyung-Bin Joo Hanna Jung Efstathios Karagiorgos Ivo Kazarow Kihun Koh Robert Hyunghoon Lee Judith Machinek Sofía Pollak Xenia Romanoff Chiharu Sato Livio Schmid (Gast) Miriam Timme Peter Wigger Koichi Yoshitomi

INSPIZIENZ Lothar Ratzmer

LUZERNER SINFONIEORCHESTER

KORREPETITION TANZ Miguel Sesma

* Hospitanz ** Bitte beachten Sie die jeweilige Abendbesetzung

STUDIENLEITUNG Valeria Polunina MUSIKALISCHE ASSISTENZ, KORREPETITION UND CEMBALO William Kelley BÜHNENBILDASSISTENZ Vanessa Gerotto KOSTÜMASSISTENZ Rose-Liliane Gut


L Tanz  30 Orfeo ed Euridice

Bühne  ←

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Handlung

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Im Originaldruck der Partitur von «Orfeo ed Euridice» von 1764 wird die Handlung der Oper in die antike Mythologie eingebettet und erklärt, wie sie den damaligen Opernkonventionen angepasst wurde. Die Zusätze in Klammern ergänzen die Handlung in Bezug auf die Fassung am LT und zeigen, wie der Stoff auch heute noch lebt und sich weiterentwickelt: «Bekannt ist Orpheus und berühmt sein tiefer Schmerz über den vorzeitigen Tod seiner Gattin Eurydike. Sie starb in Thrakien (vielleicht auch in Osteuropa); um der Einheit des Ortes willen versetze ich ihren Tod in den heiteren Landstrich um den Averner See, in dessen Nähe die Dichter eine Höhle (oder einen unterirdischen Gang) verlegen, die den Zugang zur Unterwelt (die Hölle des 21. Jahrhunderts ist ein Supermarkt) bildete. Der unglückliche Liebende erregte das Mitleid der Götter, die ihm gewährten (vermittelt durch Amor), ins Elysium (wo Eurydike zum Stapelpersonal gehört) zu dringen, um seine Geliebte wieder zu sich zu holen, jedoch unter der Bedingung, vor ihrer Rückkehr auf die Erde den Blick nicht auf sie zu wenden. Der zärtliche Gemahl war nicht imstande, seine Leidenschaft in solchem Masse zu zügeln, und nachdem er dem Verbot zuwidergehandelt hatte, verlor er Eurydike für immer. Um die Fabel unseren Theaterbräuchen anzupassen, musste ich die Katastrophe wandeln. (Und um die Fabel unseren Theaterbräuchen anzupassen, mussten wir die gewandelte Katastrophe wiederum zurückwandeln. Also Katastrophe). Man lese nach bei Virgil im 4. Buche der Georgica, im 6. der Äneis. (Ausserdem bei Rainer Maria Rilke, Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek usw.)»


Von Hamsterrädern und dem Traum der ewigen Liebe Orpheus und Eurydike, das Traumpaar der griechischen Antike: Er, erfolgreicher Singer-Songwriter, sie, die schöne Nymphe. Verliebt, verheiratet, verloren. Ihre Liebesgeschichte nimmt mit dem Tod Eurydikes ein tragisches Ende. Orpheus trauert und will sie aus der Unterwelt zurück ins Reich der Lebendigen holen. Zum Glück gibt es da noch Amor, der ihm unter zwei Bedingungen seine Eurydike zurück verspricht. Orpheus willigt ein, bricht jedoch mit den Regeln und verliert Eurydike erneut. Unzählige Male wurde dieser Mythos der griechischen Antike adaptiert, übersetzt und (neu) inszeniert – eine zeitlose Geschichte mit einem zeitlosen Kern: Der Liebe. Es handelt sich dabei um ein Gefühl, das menschlicher nicht sein könnte. Das macht Orpheus und Eurydikes Leidensweg zu einem Publikumserfolg – bis heute. Der Mensch ist und bleibt eben ein Mensch. Der spanische Choreograph Marcos Morau findet darin den Bezug zur Gegenwart. Der Luzerner Orpheus befindet sich im ersten Teil der Erzählung auf einer farbenfrohen Zeremonie, die in Blüten gebettet an ein östliches Europa erinnert. Orpheus nimmt hier Abschied von seiner geliebten Eurydike, die ins Reich der Toten herabgestiegen ist. Morau hat sich jedoch bewusst gegen eine düstere Beerdigung entschieden und kontrastiert mit viel Farbe und Mustern das traditionelle Bild des schwarzen westeuropäischen Abschieds. Lebensfreude und Leichtigkeit prallen auf düstere und schwere Gefühle. Gegensätze und Paare – dieses Inszenierungskonzept zieht sich durch die ganze Produktion. Der Spanier kreiert gemeinsam mit seinem Team eine Welt, in der der Dualismus vorherrscht und immer wieder dekonstruiert, beziehungsweise aufgeweicht wird. Grenzen verschwinden, Szenen verschwimmen, Lebensfreude vermischt sich mit dem bitteren Geschmack des Abschieds. Gegensätzlich wird auch der zweite Teil der Inszenierung – vom farbigen Irdischen geht es hinab in die Hölle des 21. Jahrhunderts, einen Supermarkt. Hier lebt definitiv nichts mehr, alles ist klinisch sauber, sogar die Bewohnerinnen und Bewohner (der Chor und das Tanzensemble!) scheinen ferngesteuert zu sein. Fast wie Roboter funktionieren sie in der Unterwelt, kontrolliert von … ja von wem eigentlich? Morau setzt dem Publikum mit dieser Umsetzung den Gesellschaftsspiegel vor die Nase. Der Mensch als Marionette, kopflos ausführend, gefangen im Hamsterrad des Alltags. Selina Beghetto




Klare Symmetrien und verschlungene Formen Der Choreograph Marcos Morau im Gespräch mit den Dramaturginnen Selina Beghetto und Rebekka Meyer Selina Beghetto / Rebekka Meyer —

Orpheus und Eurydike – eine der ältesten (Liebes-)Geschichten. Was hat dich am Mythos interessiert? Marcos Morau — Mit Mythen konfrontiert zu sein, heisst immer auch, der Geschichte ins Auge zu blicken. Es geht darum, die Vergangenheit zu befragen, darüber zu sprechen und sie anzuschauen. Ganz abgesehen davon war mein erster Gedanke: Wie interessant ist eine solche Erzählung wie die von Orpheus und Eurydike in der heutigen Zeit? Ist es wirklich etwas, womit wir uns im 21.  Jahrhundert beschäftigen? Schaffen wir es heute, innezuhalten und der Liebe allein unsere volle Aufmerksamkeit zu schenken? SB / RM — Was macht das Stück so zeitlos für dich? MM — Wir begegnen den menschlichen Emotionen jeden Tag – wer möchte da nicht hineintauchen? Es ist merkwürdig: Obwohl die Geschichte aus einer anderen Zeit zu kommen scheint, ist etwas sehr Gegenwärtiges darin versteckt. Ausserdem sind

menschliche Beziehungen selbst etwas Zeitloses. Ich finde das Thema Menschsein und die Auseinandersetzung mit sich selbst sowie der Welt die zentralste Aufgabe des Menschen und der Kunst. SB / RM — Was war dein Startpunkt, wie hast du mit deiner Recherche begonnen? MM — Ich habe als allererstes den Mythos gelesen, wollte den Kern der Geschichte begreifen. Diese Herangehensweise ist sehr typisch für meinen Arbeitsprozess, ich versuche immer tief in die Materie einzutauchen und möglichst viel über das Thema zu erfahren, um es auch wieder zu «entlernen». Ich abstrahiere also das angeeignete Wissen und entwickle es in meine Richtung weiter. SB / RM — Was war deine Vision der

Geschichte von Orpheus und Eurydike?   MM — Meine Idee war es, zwei unterschiedliche Welten zu kreieren. Der erste Akt gleicht beinahe einem Traum, er zeigt Eurydikes Begräbnis, ein Ereignis, das auch eine Zeremonie sein könnte, ein Tribut ans Leben, eine Liebesode an die Folklore, ein Totenritual – eine Passage zwischen


11 zwei Welten, etwas, was in den osteuropäischen Ländern oft anzutreffen ist. Der zweite Teil (bestehend aus dem zweiten und dritten Akt) stellt als komplette Kontrastierung zum ersten die Unterwelt, also die Hölle, dar. Wir finden uns in einem sehr sterilen Supermarkt wieder, dem jegliches Leben entzogen worden ist. Die Entscheidung, diesen Raum in ein derartiges Setting einzubetten, hat mit der Frage zu tun, wie ich mir die Hölle heute vorstelle – der Supermarkt als Metapher für unsere Welt, als Spiegel der heutigen Konsumgesellschaft. Hier landet auch Orpheus, um seine Eurydike zu retten. SB / RM — Die Geschichte von Orpheus

und Eurydike ist als Oper weltberühmt geworden, hat aber auch einen interessanten tanzgeschichtlichen Hintergrund mit Adaptionen u. a. von Pina Bausch und John Neumeier. Wie verwandelst du den Stoff in ein Tanzstück?

MM — Mir ist es wichtig, dass der Tanz seinen Platz im Geschehen findet. Dadurch gerate ich manchmal mit der Musik in einen Konflikt (lacht). Ich nähere mich ihr manchmal aus einer anderen Richtung, in einer schnellen zeitgenössischen Art, was die beiden

Welten aufeinander prallen lässt – damals und heute. Mein Wunsch war es, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Kräften Musik und Bewegung zu finden. Manchmal wollte ich eine Idee verstärken, wie beispielsweise die Lobpreisung der Zeremonie – um damit wiederum der Hoffnung Platz zu geben. Des Weiteren wollte ich unseren eigenen Verhaltenskodex in Frage stellen, mich über das System lustig machen. Ich versuche das Stück so zu tanzen, wie das Licht und die Farben hüpfen, wenn man sie während der Fahrt vom Autofenster aus beobachtet. Tanz ist für mich etwas Abstraktes, Formen und Bewegungen sind nicht konkret, sondern fluid. Dadurch entstehen viele Lücken, die ich zu füllen versuche. SB / RM — Wie gehst du mit der

Musik um, und was erzählt sie dir?

MM — Glucks Musik ist sehr interessant. Obwohl sie repetitiv erscheint, besitzt sie eine Reinheit, der ich noch nie begegnet bin. In meinem kreativen Prozess tendiere ich dazu, Musik so zu verändern, dass ich mich der Thematik und der Idee, die ich entwickeln will, aus verschiedenen Perspektiven annähern kann. In diesem Fall habe ich immer Zuflucht in Glucks


12 Musik gefunden und versucht, den Gestus jedes Themas zu analysieren. Manchmal wollte ich mit den Emotionen die Richtung der Musik unterstreichen, aber manchmal wollte ich der musikalischen Energie auch widerstehen, sie sabotieren. Ich bin der Meinung, dass Musik Millionen von verschiedenen Deutungsmöglichkeiten bietet: Für diejenigen unter uns, die damit arbeiten, ist die Herausforderung, diese umzugestalten.

sind reich an Details, fast wie Gebete. Im zweiten Teil versuchen wir, die Bewohner der Welt kälter und entmenschlichter zu zeichnen, aber mit einer klaren Haltung und einer fast kriegerischen Präzision.

SB / RM — Du hast eine sehr eigene

MM — Normalerweise komme ich mit einer klaren Idee auf die Probe, die ich weiterentwickeln will. Gleichzeitig erlaube ich mir auch, offen zu sein, um neue Ideen im Prozess zu entdecken. Ich glaube, dass meine kreative Arbeit zwischen den beiden Polen Reflektion und Intuition fliesst. Ich fühle mich in der Mitte dieser zwei Kräfte sehr wohl. Aber ich versuche auch, wie im Film zu arbeiten: Die Szenen gedanklich klar vorbereitet zu haben, bevor ich am Set erscheine.

und besondere Bewegungssprache –  wie würdest du diese beschreiben?

MM — Seit einigen Jahren entwickle ich gemeinsam mit meiner Kompanie eine ganz eigene Bewegungssprache. Diese versucht, das Prinzip des Organischen, welches im Ballett und oft auch im zeitgenössischen Tanz vorherrscht, zu dekonstruieren. Stattdessen suchen wir eine neue Kontinuität, neue verschlungene Formen in der Bewegung. In «Orfeo ed Euridice» haben wir versucht, die Bewegung in zwei ganz spezifische Zustände zu bringen: Im ersten Teil ist dies die Suche nach dem Spiegel, der Dualität, der Symmetrie, der Reflektion der zwei Welten des Mythos: Leben und Tod, Liebe und Verlust. Diese Bewegungen

SB / RM — Wie arbeitest du? Hast du

schon genaue Vorstellungen, bevor du auf die Proben kommst, oder nutzt du gerne die kreativen Momente, die spontan entstehen?

SB / RM — Welche Rolle haben die

Tänzer, welche die Sängerinnen?

MM — Die Beziehung zwischen Tänzern und Sängerinnen ist sehr klar. Die Sängerinnen haben eine sehr direkte Verbindung zum Mythos: Sie


13 agieren im Glauben, dass sie Orpheus, Eurydike und Amor sind. Doch ich habe auch versucht, eine Interpretation zu finden, die die Geschichte sehr kalt und distanziert erzählt. Als hätten die Protagonistinnen aufgehört, daran zu glauben, was sie tun, und wüssten schon vor Öffnung des Vorhangs, dass nichts ihr Schicksal ändern wird. Die Tänzerinnen und Tänzer andererseits haben eine weniger offensichtliche Beziehung zum Mythos, weil sie keine bestimmte Figur repräsentieren. Ihre Präsenz und ihre Dynamik helfen, eine Stimmung zu erzeugen. SB / RM — Du warst selbst nie professioneller Tänzer: Was sind die Vorteile dieses Zugangs zum Tanz und wo stolperst du? MM — Kein Tänzer zu sein, hat mir erlaubt, die Bühne als Spielwiese ohne Grenzen zu verstehen. Ich schulde dem Tanz nichts, ich fühle mich frei. Ich erkenne in meinem Körper und meinem Lernen keine Stigmata oder Schemata, ich habe keine Schule oder Kompanie, der ich mich verpflichtet fühle. Alles wurde aus mir heraus geboren, mit meinen Ängsten und meinen Obsessionen. Die Tatsache, kein Tänzer zu sein und mich weltweit einer kreativen Arbeit zu widmen, war nicht

immer einfach. Oftmals frage ich mich auch: Was tue ich hier eigentlich? SB / RM — Was ist die grösste Herausforderung dieser Produktion? MM — Ein Künstler muss sich immer Herausforderungen stellen und kann sich genau dann richtig ausdrücken. Wenn alles einfach wäre, die Welt perfekt und die Inspiration unendlich, hätte Kunst keinen Grund zu existieren. Ich sage mir selbst immer, dass es gut ist, Kunst zu haben, um zu überleben, und wir nicht zufrieden sein müssen mit der Realität des Lebens. Ausgehend von dieser Annahme versuche ich als Künstler, in jedem Werk eine neue Tür zu öffnen. Wenn dieser Mythos bereits hunderte Male gespielt und dargestellt wurde, wieso sollte ich es nochmals tun? Habe ich etwas Neues beizusteuern? Natürlich, aber was? Und da beginnt der Prozess, lange bevor ich mit den Tänzern ins Studio gehe. Die Herausforderung ist es, der Geschichte der Vergangenheit aktuelle Bedeutung zu verleihen. Über die Gegenwart zu sprechen, indem man auf die Vergangenheit baut.



Süsse Tristesse Der musikalische Leiter Alexander Sinan Binder über Chr.W. Glucks Musik.

Die Musik erzählt den Orpheus-Mythos durch …

… wunderbare Schlichtheit. Quasi durchkomponiert und in einem zu der Zeit aussergewöhnlichen musikalischen Fluss greifen die einzelnen musikalischen Abschnitte ineinander und erzählen in jedem Moment die äussere Handlung auch aus der emotionalen (Innen-)Perspektive der sehr menschlich dargestellten Figuren. Musikalisch verzichtet Gluck auf jeglichen Pomp. Die drei Sängerinnen und ich haben in der gemeinsamen Arbeit versucht, jede einzelne Tonverzierung und Koloratur akribisch genau zu setzen und so eine puristische Fassung der Musik beizubehalten, die den starken musikalischen Inhalt nicht überlädt.

Hier sollten Sie genau hinhören:

Eurydikes Arie «Questo asilo» sowie das Accompagnato-Rezitativ «Che puro ciel» von Orpheus sind ein wahres Zelebrieren der Schönheit. Gluck beschreibt das Elysium hier mit lautmalerischem Vogelgezwitscher und bereichert das musikalische Material mit Naturklängen. Das rhythmische Gerüst mit Triolen und 6/8-Takten, das Durchschreiten von Ton- und Klang-

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feldern sowie die Tonart F-Dur verweisen einerseits zurück auf barocke Pastoralmusik, blicken andererseits aber bis zum Idyll von Beethovens «Szene am Bach» voraus.

Die Besetzung der Oper ist für Glucks Zeit sehr ungewöhnlich, weil … … erstens dem Chor eine grosse Bedeutung beigemessen ist: Er agiert als wirklicher Gegenspieler zu Orpheus. Zweitens ist auch die Reduktion auf nur drei Gesangs-Solistinnen sehr besonders; sie steht im Gegensatz zu den Konventionen der Opera seria, von der sich Gluck bewusst abgewandt hat.

Bereits Zeitgenossen wunderten sich beim Hit «Che farò senza Euridice» über das heitere C-Dur von Orpheus’ Trauerarie. Die Schwierigkeit der Arie besteht darin … … dass sie sehr leicht zu einem fröhlich-belanglosen «Liedchen» werden kann. Die tiefere Bedeutung der Arie tritt nur dann hervor, wenn alle Parameter des Musizierens stimmen, wenn jedes noch so kleine harmonische Detail empfunden und mithilfe der Phrasierung und Artikulation herausgearbeitet wird, ohne es zu romantisieren. Dann kann ein Moment der süssen Tristesse entstehen, welcher mich an so manch unendliche Traurigkeit und Sehnsucht bei Tschaikowsky erinnert.


Orpheus und Eurydike ca. 1 – 8 n. Chr. OVID

ca. 525 BOETHIUS

Also rief der Sänger und schlug zum Gesange die Saiten; Blutlos horchten die Seelen und Tantalus haschte Nicht die entschlüpfende Flut; und es stutzte das Rad des Ixion; Geier zerhackten die Leber nicht mehr; die belischen Jungfrau’n Rasteten neben der Urn’; und Sisyphus sass auf dem Marmor. Damals ist, wie man sagt, den gerühreten Eumeniden Bei dem Gesange zuerst die Trän’ auf die Wange geflossen.

Was gilt Liebenden ein Gesetz? Liebe ist sich höchstes Gesetz. Wehe! Noch ehe die Nacht sich grenzt Sucht Eurydicen Orpheus’ Blick, Sucht, verliert sie, vernichtet. Diese Fabel sie gilt für euch, Die ihr aufwärts zum höchsten Tag Euern Geist zu erheben strebt. Wer zur Höhle des Tartarus Seine Blicke hinunter beugt, Was er Köstliches mit sich führt, Schwindet, sieht er die Schattenwelt.

1904 RAINER MARIA RILKE

1950 JEAN COCTEAU

Sie aber ging an jenes Gottes Hand, den Schrittbeschränkt von langen Leichenbändern, unsicher, sanft und ohne Ungeduld. Sie war in sich, wie Eine hoher Hoffnung, und dachte nicht des Mannes, der voranging, und nicht des Weges, der ins Leben aufstieg. Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein erfüllte sie wie Fülle.

La mort meurt. C’est le mythe de l’immortalité. Der Tod stirbt. Das ist der Mythos der Unsterblichkeit.


im History-Check

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1762 CHR.W. GLUCK

1858 JACQUES OFFENBACH

Die Türen mögen kreischen in ihren schwarzen Angeln und den sicheren und freien Weg öffnen für den Sieger.

Es muss endlich heraus! Orpheus, ich bin deiner müde. Als ich die Deine ward, glaubte ich, einen Künstler zu heiraten, der fähig wäre, die zarten Saiten meines Herzens zu süsser Harmonie zu stimmen. Aber wie hab ich mich getäuscht! Orpheus, du bist eine gewöhnliche Geigernatur!

1953 INGEBORG BACHMANN

2013 ELFRIEDE JELINEK

Wie Orpheus spiel ich auf den Saiten des Lebens den Tod und in die Schönheit der Erde und deiner Augen, die den Himmel verwalten, weiss ich nur Dunkles zu sagen. [ … ] Und ich gehör dir nicht zu. Beide klagen wir nun. Aber wie Orpheus weiss ich auf der Seite des Todes das Leben und mir blaut dein für immer geschlossenes Aug.

Der Sänger stellt sich doch tatsächlich vor, dass ich mich drum reisse, mit ihm zu gehen, dass ich mich seit meinem Tod nach nichts anderem mehr gesehnt habe. Der Sänger glaubt, ich kann es gar nicht erwarten, mich aus meinem Schatten herauszulösen und wieder in die Gewalt zu kriegen, mich wieder einzukriegen, mich endlich wieder einzukriegen. Als Schatten wieder einzukriegen. Nein, in mich möchte ich nicht mehr einkehren.




Biografien MARCOS MORAU Der spanische Choreograph Marcos Morau Dukowshka studierte Choreographie in Valencia, in Barcelona und in New York. Ausserdem besitzt er einen Masterabschluss in Theatertheorie. Seine Arbeitsweise ist interdisziplinär und vereint verschiedenste Kunstformen. Ohne selbst Tänzer gewesen zu sein, gründete Morau 2005 seine eigene Kompanie «La Veronal», deren Mitglieder aus verschiedenen Sparten stammen: Tanz, Theater, Film, Fotografie und Literatur. Sein Interesse liegt in der Entwicklung einer eigenen Erzählsprache und der Erforschung unterschiedlicher Ausdrucksformen und -mittel. Marcos Morau erhielt 2013 den National Dance Award, der ihm vom spanischen Amt für Kultur verliehen wurde. Ausserdem ist er Preisträger des Sebastià Gasch Awards, ein wichtiger Preis der FAD – Foundation for Arts and Design. Seine Kreationen haben ihm auch an internationalen Choreographie-Wettbewerben wichtige Auszeichnungen eingebracht, unter anderen in Hannover, Kopenhagen und Madrid. Er choreographierte weltweit für renommierte Kompanien wie die Compañía Nacional de Danza in Spanien, Scapino Ballet Rotterdam, GöteborgsOperans Danskompani, Ballet de Lorraine, Ballet du Rhin, Carte Blanche in Norwegen oder das Royal Danish Ballet in Kopenhagen. Mit seiner Kompanie «La Veronal» ist er auf zahlreichen internationalen Bühnen zu Gast, u. a. am Théâtre National de Chaillot in Paris, an der Biennale in Venedig, am

Julidans Festival in Amsterdam, Tanz im August in Berlin, Roma Europa Festival, SIDance Festival in Seoul, Sadler’s Wells in London oder am National Arts Centre in Ottawa, Kanada. «Tanz 30: Orfeo ed Euridice» ist seine erste Arbeit am LT, die gemeinsam mit Marina Rodríguez entstanden ist. Rodríguez ist langjährige Tänzerin seiner Kompanie «La Veronal» aus Barcelona. ALEXANDER SINAN BINDER studierte Orchesterleitung und Klavier an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf sowie an der Zürcher Hochschule der Künste. Als musikalischer Assistent war er u. a. an der Deutschen Oper am Rhein sowie am Staatstheater Mainz engagiert. Er stand bereits am Pult international renommierter Klangkörper wie dem Tonhalle-Orchester Zürich, Lucerne Festival Strings, WDR Funkhausorchester Köln und der Staatsoperette Dresden. Seit der Spielzeit 18/19 ist er als Kapellmeister und Korrepetitor am LT engagiert, wo er u. a. die musikalische Leitung von «Tanz 30: Orfeo ed Euridice» sowie «Die Grossherzogin von Gérolstein» innehat. ABIGAIL LEVIS gab ihr Bühnendebüt am Aldeburgh Festival als Ottavia in Monteverdis «L’incoronazione di Poppea». Weitere Engagements führten sie an die Utah Opera sowie zum Lakes Area Music Festival. 16/17 war sie Stipendiatin der Deutschen Oper Berlin und sang dort u. a. die Titelrolle in «Dido

20 and Aeneas» sowie Siébel in Gounods «Faust». Am LT ist sie ab der Spielzeit 18/19 festes Ensemblemitglied und war bereits als Stéphano in «Roméo et Juliette» sowie Zerlina in «Don Giovanni» zu erleben. DIANA SCHNÜRPEL studierte Gesang an der Chorkunstakademie in Moskau und an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig unter Prof. Regina Werner-Dietrich. Die Partie der Königin der Nacht in Mozarts «Zauberflöte» sang sie in Braunschweig, Detmold, Klagenfurt, Salzburg, Graz und Weimar. Seit 16/17 ist sie Ensemblemitglied am LT. Hier sang sie u. a. Gepopo / Venus in «Le Grand Macabre» und die Titelpartie in «Maria Stuarda». In der Spielzeit 18/19 ist sie u. a. in «Die Grossherzogin von Gérolstein» zu erleben. KATHRIN HOTTIGER schloss im Sommer 2017 ihren Master of Arts Performance vokal mit dem Minor Alte Musik an der Hochschule Luzern – Musik mit Auszeichnung ab. Im Frühling 2016 war sie als Venus in John Blows Oper «Venus and Adonis» in einer Produktion des UG Theater Luzern zu sehen. Ausserdem sang sie 16/17 am LT die Rolle der Gretel in Humperdincks «Hänsel und Gretel». 18/19 kehrt sie als Amor in «Tanz 30: Orfeo ed Euridice» ans LT zurück.


Raum fĂźr Kultur schaffen. Menschen zusammenbringen. Kunst unterstĂźtzen.


TANZfreunde Luzerner Theater WIR SIND

Wir sind die TANZfreunde LT, eine Interessensgemeinschaft von neugierigen Tanzbegeisterten, die exklusive Einblicke in den Tanzalltag erhalten möchten und sich aus persönlicher Leidenschaft für die Sparte Tanz engagieren. Werden Sie jetzt Mitglied. Wir freuen uns auf Sie! WAS WIR IHNEN BIETEN

— Trainings- und Probenbesuche — Exklusive Previews und einzigartige Einblicke hinter die Kulissen während einer Endprobe — Begegnungen mit den Tänzerinnen und Tänzern — Austausch mit dem künstlerischen Leitungsteam von «Tanz Luzerner Theater» WEITERE VORTEILE EINER MITGLIEDSCHAFT

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MACHT SOMMER-FESTIVAL 16. August – 15. September 2019

Info: lucernefestival.ch

. 12. – 15ber: Septeom zar t/

M lus te-Zyk n o P a r D odo mit Te ntzis Curre

Hauptsponsoren


Impressum

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TEXTNACHWEISE

BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

Alle Texte sind Originalbeiträge für dieses Heft. Die Handlung ist dem Originaldruck der Partitur ( 1764 ) entnommen (dt. Übersetzung von Hans Swarowsky, Kassel 1962 ) und wurde von Rebekka Meyer erweitert. Die Zitate auf S. 16/17 stammen aus: Ovid: Metamorphosen. Aus dem Lateinischen von Johann Heinrich Voss. Köln 2010; Anicius Manlius Severinus Boethius: Trost der Philosophie. Übersetzung von Eberhard Gothein. Berlin 1932; Chr.W. Gluck: Orfeo ed Euridice. Text von Ranieri de’ Calzabigi. Deutsch von Christine Siegert. Stuttgart 2014; Jacques Offenbach: Orpheus in der Unterwelt. Text von Hector Crémieux und Ludovic Halévy. Berlin 1875; Rainer Maria Rilke: Orpheus. Eurydike. Hermes. In: Neue Gedichte. Leipzig 1907; Orpheus / Bühne und Film: Cocteau weinte. In: Der Spiegel 42/1950; Ingeborg Bachmann: Dunkles zu sagen. In: Die gestundete Zeit. München 1957; Elfriede Jelinek: Schatten (Eurydike sagt). Rowohlt 2013.

S. 4/5: S. 8/9: S. 14: S. 18/19:

Herausgeber: Luzerner Theater Theaterstrasse 2, 6003 Luzern www.luzernertheater.ch

Ensemble «Tanz Luzerner Theater», Abigail Levis Ensemble «Tanz Luzerner Theater» Ensemble «Tanz Luzerner Theater», Abigail Levis Ensemble «Tanz Luzerner Theater», Abigail Levis

Umschlag Abigail Levis, aussen: Kathrin Hottiger Gregory Batardon fotografierte die Klavierhauptprobe am 14. Februar 2019.

Spielzeit 18/19 Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Redaktion: Selina Beghetto, Rebekka Meyer Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG Diese Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und Climate-Partner.

TECHNISCHER STAB

Technischer Direktor: Peter Klemm, Technischer Leiter: Julius Hahn, Produktionsassistentin: Marielle Studer, Produktionsleiter: Roland Glück, Bühnenmeister: Markus Bisang, Chefrequisiteurin: Melanie Dahmer, Stv. Chefrequisiteurin: Simone Fröbel, Requisite: Oliver Villforth, Leiter der Beleuchtungsabteilung und Beleuchtungsmeister: David Hedinger-Wohnlich, Leiterin Ton­und Videoabteilung: Rebecca Stofer, Tontechniker: Thomas Lötscher, Franz-Christian Schaden, Leiter Probenbühnen: Thomas Künzel, Transporte: Ido van Oostveen, Hamzi Gashi, Dobrica Vasovic, Chefmaskenbildnerin: Lena Mandler, Leiterin Kostümabteilung: Ulrike Scheiderer, Gewandmeisterin Damen: Hanni Rüttimann, Gewandmeisterin Herren: Andrea Pillen, Kostümmalerin: Camilla Villforth, Leiterin Ankleidedienst: Monika Malagoli, Fundusverwalterin: Rhea Willimann, Werkstättenleiter: Marco Brehme, Leiterin Malersaal: Brigitte Schlunegger, Schlosser: Nicola Mazza, Leiter Schreinerei: Tobias Pabst, Tapezierer: Alfred Thoma, Leiter Statisterie: Sergio Arfini


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