WHAT ABOUT NORA?
MIT
IMPRESSUM
Eine Familienaufstellung im Puppenheim nach Henrik Ibsen
NORA Verena Lercher
Herausgeber: Luzerner Theater
Texte von Henrik Ibsen und Ensemble Premiere: 18. Januar 2017 Dauer: ca. 1 Stunde 20 Herzlichen Dank an unsere Impulsgeberin Marie-Claire Zingg sowie Margot Ruprecht für die Beratung.
TORVALD HELMER Christian Baus CHRISTINE LINDE Nina Langensand DR. RANK Lorenz Nufer
NILS KROGSTAD Mirza Šakić STATISTERIE Barbara Willimann
INSZENIERUNG Bram Jansen
RAUM UND KOSTÜME Sophie Krayer SOUND Jorg Schellekens
CHOREOGRAPHIE Ryan Djojokarso DRAMATURGIE Julia Reichert
BELEUCHTUNG UND TECHNIK David Clormann, Gregor von Wyl
REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Melanie Durrer
BÜHNENBILDASSISTENZ Susanna Lombardo
DRAMATURGIEASSISTENZ Nikolai Prawdzic
Intendant: Benedikt von Peter Verwaltungsdirektor: Adrian Balmer Künstlerische Leitung Schauspiel: Regula Schröter Redaktion: Nikolai Prawdzic, Julia Reichert Gestaltung: Studio Feixen Druck: Engelberger Druck AG
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Die Drucksache ist nachhaltig und klimaneutral produziert nach den Richtlinien von FSC und Climate-Partner.
What about Nora?
TEXTNACHWEISE Seite 5: Diagramm aus: Nora oder ein Puppenheim. Grundlagen und Gedanken zum Verständis des Dramas. Dieter Bänsch (1991): Frankfurt a.M.: Diesterweg Seite 7: Zitat Ibsen aus: Brief an Ludwig Passarge, München, 16. Juni 1880. Alle anderen Texte sind Originalbeiträge für dieses Heft. BILDNACHWEISE Probenfotos: Ingo Höhn, S. 8: C. Baus, S. 12: N. Langensand, S. 13: L. Nufer, M. Šakić, Umschlag aussen: V. Lercher.
TECHNISCHER STAB Technischer Direktor: Peter Klemm, Produktionsassistent: Julius Hahn, Assistent der techn. Direktion: Michael Minder, Produktionsleiter: Roland Glück, Chefrequisiteurin: Melanie Dahmer, Leiter Probenbühnen: Thomas Künzel, Transporte: Ido van Oostveen, Hamzi Gashi, Chefmaskenbildnerin: Lena Mandler, Leiterin der Kostümabteilung: Angelika Laubmeier, Gewandmeisterin Damen: Ulrike Scheiderer, Gewandmeisterin Herren: Andrea Pillen, Kostümmalerin: Camilla Villforth, Leiterin Ankleidedienst: Monika Malagoli, Fundusverwalterin: Rhea Willimann, Werkstättenleiter: Ingo Höhn, Leiterin Malersaal: Brigitte Schlunegger, Schlosser: Nicola Mazza, Leiter Schreinerei: Tobias Pabst, Tapezierer: Alfred Thoma, Leiter Statisterie: Sergio Arfini
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Das Projekt des jungen niederländischen Regisseurs Bram Jansen erklärt alle Figuren aus Ibsens Klassiker «Nora (Ein Puppenheim)*» zu Protagonisten. Er stellt, in loser Anlehnung an die Praxis der Familienaufstellung, den Klassiker neu auf. Können die Konstellationen der zentralen Figuren Themen vergegenwärtigen, verborgene Dynamiken und Leerstellen aufdecken und so vielleicht ein neues Verhältnis zur sozialen Umwelt schaffen, wie es die Therapieform tut? Gemeinsam mit dem Ensemble, ausgehend vom Stücktext, erkundet Jansen die individuellen Welten von Ibsens Figuren und ihrer Umlaufbahnen. Mal wird zitiert, mal reformuliert, mal interpretiert. Die Zuschauer treffen auf fünf Individuen, die jeder, jede ihre ganz eigene Version der Geschichte zu erzählen hat. Aber was ist mit Nora?
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Figuren aus dem 19. Jahrhundert begegnen uns in einer ganz zeitgenössischen Konstellation, beinahe zum Anfassen. Was bringt eine Mutter, einen Mensch dazu, ihren Platz in der sozialen Ordnung zu verlassen, den Status aufzugeben und mit ihm alle Sicherheiten? Ist es die Suche nach sich selbst oder der Traum einer anderen, besseren Zukunft? Oder ist es Flucht nach vorne, weil das Bekannte auf einmal fremd geworden ist? Wer hat den Luxus, sich diese Fragen zu stellen? Welche Rolle spielt die Arbeit im Leben der Witwe Christine Linde? Warum kämpft der Anwalt Krogstad so um die Anerkennung einer Gesellschaft, die ihn ablehnt? Träumt der todkranke Arzt Dr. Rank vom gesunden Volkskörper? Welche Angst treibt den Bankier Torvald Helmer um? Was ist die Gravitationskraft, die dieses System zusammenhält? Und was bleibt, wenn rigide soziale Konventionen der Aufforderung «Erkenne Dich selbst!» weichen?
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«What about Nora»
Aufstellung der Hauptpersonen
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Mit Ibsen im Stuhlkreis 4
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DIE WELT ALS PUPPENHAUS
* Die Handlung des Originals finden Sie auf Seite 14
Im 19. Jahrhundert oder heute, wir leben alle im Puppenhaus. Trotzdem, die Fäden des Puppenspielers lassen Spielräume zu. Das Nutzen dieser Spiel- und Freiräume hat in den letzten 100 Jahren Schritt für Schritt zum Umbau des Hauses geführt. Heute ist die Architektur des Puppenhauses eine ziemlich andere. Es ist grösser, hat mehr Türen, Räume und mehr Fenster. Die Fäden des Puppenspielers sind jedoch nicht weniger geworden – sie verlaufen nur anders. Und, den Umbauten zum Trotz: Der Ausgang wurde bis heute nicht gefunden. – Nikolai Prawdzic
Die Personen
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Gemeinsam mit dem Team haben die Schauspielerinnen und Schauspieler für «What about Nora» im Rückgriff auf Ibsens Original ihre Texte selbst entwickelt. Wir haben sie gefragt, was sie an ihrer Figur besonders interessiert hat.
wie unperfekt wir als Menschen sind? Wäre nicht das der Schlüssel zu einem sinnerfüllten Leben?
CHRISTIAN BAUS über Torvald Helmer
MIRZA ŠAKIĆ über Nils Krogstad
Torvald wirkt erst mal nicht so sympathisch, wenn man das Stück liest, sehr konservativ. Man denkt: Ist ja klar, dass dem die Frau abhaut. Aber auf der anderen Seite ist er ein Ehemann, der alles dafür tut, dass die Familie sorgenfrei und mit hoher gesellschaftlicher Anerkennung leben kann. Er ist auch derjenige, der zurück bleibt, der sich jetzt alleine um die Kinder kümmern muss. Was aus dem würde, das interessiert mich schon, der ist ja so prinzipienfest. Das gefällt mir auf eine Art. In unserem Kontext würde mich interessieren, ob er eine Erkenntnis erlangen kann oder ob er einfach zu dem Schluss kommt: Meine undankbare Frau kann mir mal den Buckel runterrutschen! NINA LANGENSAND über Christine Linde Dass sie nicht still sitzen kann. Endlos weiterreden – das meine ich mit nicht still sitzen können. Ich glaube, die Linde würde jetzt auf diese Frage ganz viel reden, aus Angst sie könnte etwas vergessen zu sagen. Sie wickelt
sich schnell in etwas hinein, wo sie dann ungewollt viel Platz einnimmt. Sie will helfen, die anderen aber nicht bevormunden, findet den Absprung jedoch nicht. Sie hat zugleich Angst zur Last zu fallen und wird dadurch manchmal leiser. Dabei interessieren mich ihre Strategien, wie sie es vermeidet, über ihre eigenen Probleme nachdenken zu müssen, obwohl sie selbst immer von radikaler Offenheit spricht. LORENZ NUFER über Dr. Rank Mich interessiert die Tragik, die hinter der Figur steckt. Rank ist todkrank, vergeudet aber sein ganzes Leben damit, diese Krankheit, die ja auch sein Schicksal ist, zu verbergen. Diese Hybris, die Krankheit überwinden zu wollen, das hat etwas von einem antiken, tragischen Helden. Er hat diese Idee vom Übermenschen, den Wunsch alles Unvollkommene hinter sich lassen. Ich glaube, er würde sich am liebsten selbst abschaffen. In dieser Figur stecken Aussagen, die vielleicht auf uns alle, auf unsere narzisstische Zeit zutreffen. Können wir akzeptieren, wie unwichtig oder
Was ich schön finde an diesem Charakter ist, dass Nils, dass seine Stellung, die er in der Gesellschaft hat, «voll am Arsch» ist. Die Probleme mit den Kindern, den Frauen. He’s breaking bad. Er ist wirklich total zerstört, kämpft aber. Das ist wunderschön für mich als Schauspieler, viel Material, viele Emotionen, die zugänglich werden. Wie dieser Charakter es schafft, jeden Morgen aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und sein Bestes zu geben, obwohl er weiss, dass sein Ruf am Boden ist und ihn die Leute auf der Strasse komisch angucken. Ja, diese Kaputtheit auf der einen Seite und gleichzeitig dieser Sinn für die vorherrschende Moral auf der anderen Seite, dieses Spannungsverhältnis interessiert mich am meisten. VERENA LERCHER über Nora Helmer Es ist eben diese Frage, die mich viel mehr beschäftigt als die Figur. Die Rolle, wie sie der Autor ursprünglich angelegt hat, ist für ihre
Zeit brisant, seither, mit dem Verlauf der Zeit, eher banal. Das liegt nicht an der Rolle, sondern an der Figur, die sie aufgrund der heutigen Zuschreibungen abgibt. Ich möchte die Nora nicht darstellen, ich muss sie befragen. Und nur die möglichen Fragen ergeben eine Konstellation von gegenwärtigen Sichtweisen auf die Rolle, die wir dann als Figur im Jetzt wahrnehmen können. HENRIK IBSEN über das Schreiben Alles, was ich gedichtet habe, hängt aufs engste zusammen mit dem, was ich durchlebt, – wenn auch nicht erlebt habe. Jede neue Dichtung hat für mich selbst den Zweck gehabt, als geistiger Befreiungs- und Reinigungsprozess zu dienen. Denn man steht niemals ganz über aller Mitverantwortlichkeit und Mitschuld in der Gesellschaft, der man angehört. Deshalb habe ich einmal als Widmungsgedicht dem Exemplar eines meiner Bücher folgende Zeilen vorangesetzt: Leben heisst – dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich. Dichten – Gerichtstag halten über sein eigenes Ich.
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Noras Kinder Vom Skandalstück zum Klassiker
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(und darüber hinaus)
von Nikolai Prawdzic und Julia Reichert
«Sie wissen es nicht, aber sie tun es.» – Karl Marx
«Dröhnend fällt die Tür ins Schloss». Eine Frau entschliesst sich, Mann und Kinder zu verlassen, tauscht die heile Welt ihres Puppenheims gegen Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung. Das war in den Augen ihrer Zeitgenossen ein so ungeheuerlicher Affront, dass sich ein veritabler Skandal anbahnte. Für die deutschsprachige Erstaufführung 1880 in Hamburg sah sich Ibsen gezwungen, ein alternatives Ende zu schreiben, in dem Nora der Kinder wegen bleibt. Es schien ihm «das kleinere Übel», «die Vergewaltigung (des Stückes) selbst zu besorgen». Und Nora dableiben zu lassen. Ibsens Stücke gelten als Zeitstücke. Auch seine «Nora» ist von ihrem Entstehungskontext, ihrer Zeit, aber auch ihrem sozialen Milieu kaum zu trennen. Ibsen hatte mit dem Stück
eine Geschichte aus seinem Bekanntenkreis aufgegriffen. Seine Vertraute, die Künstlerin Laura Kiefer, hatte, ähnlich wie Nora, mit einer gefälschten Unterschrift ihrem lungenkranken Mann eine Italienreise ermöglicht. Als das ans Licht kam, wurde sie nicht nur von ihrem Mann verlassen, sondern auch von der Gesellschaft ausgestossen und in eine Nervenheilanstalt abgeschoben. Dabei hatte Ibsen selbst ihr noch geraten, ein offenes Gespräch mit ihrem Mann zu führen. Für den norwegischen Dramatiker war die Kritik an der gesellschaftlichen Rolle der Frau sowie das Aufzeigen der Widersprüche im gesellschaftlichen Korsett der Institution Ehe ein zentrales Anliegen. Er setzte sie in vielen späteren Werken fort – und bald nach der Uraufführung erhielt auch seine «Nora» ihr ursprüngliches Ende zurück. (Die Konsequenzen ihrer Entscheidung erspart uns Ibsen in diesem Fall. Keine seiner späteren Figuren wird so ungeschoren davon kommen). Die Frage, wie es mit ihr weitergeht, darf offen bleiben.
Ibsens Stück gilt als eine der Initialzündungen für die bürgerliche Emanzipationsbewegung. Dabei geht der Text über Fragen der Gleichberechtigung von Mann und Frau hinaus. Viel allgemeiner verleiht es der Überzeugung des Norwegers Ausdruck, dass eine gewisse Freiheit des Menschen, sein Leben zu wählen und zu gestalten, Voraussetzung für ein mit Sinn erfülltes Leben ist. Peer Gynts «Sei du selbst!» wird schon hier, im bürgerlichen Salon, spürbar. Und mit dem Versuch «Gerichtstag zu halten über das eigene Ich» liegt der Autor ganz im Trend seiner Zeit: Der Mensch beginnt sein Innenleben genauso systematisch zu befragen wie die Spielregeln seiner Gesellschaft. Dass Ibsens Lebenszeit mit dem Aufkommen der modernen Psychologie und Soziologie zusammenfällt, überrascht wenig. Und entsprechend ist der Blick des Dramatikers für innere Bewegungen sowie äussere Zwänge gleichermassen geschärft.
«Das Einzige, was ich an der Freiheit liebe, ist der Kampf um sie; aus dem Besitz mache ich mir nichts.» – Henrik Ibsen
Aber Freiheit von was oder für was? Das Stück rückt auch in den Blick, dass individuelle Entscheidungsfreiheit einige grundlegende ethische Problemstellungen mit sich bringt. Schliesslich vollzieht sich Selbstver-
wirklichung nicht ausserhalb, sondern innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft – mit allen Konsequenzen. Viele von Ibsens Protagonisten nehmen den Antagonismus in Kauf. Der Einzelne stellt sich gegen die Gemeinschaft: «Ich muss dahinter kommen, wer Recht hat, die Gesellschaft oder ich.». Wo steht Freiheit gegen Verpflichtung und Verantwortung? Mit Noras Aufbruch verlieren die Kinder ihre Mutter. Torvald Helmer hat den Verlust seiner Ehre zu befürchten. Was erwartet Nora, wenn die Tür hinter ihr ins Schloss fällt? Gibt es eine Hoffnung auf Neuanfang? Wenigstens eine symbolische Wirkung ihres Ausbruchs auf die Nachwelt? Immerhin hat die Nachwelt Noras Entscheidung intensiv rezipiert und diskutiert: Herbert Marcuse wetterte, und nannte Ibsen einen «schlechten Psychologen», «wenn er Nora nicht ansieht, dass sie selbstverständlich bei Mann und Kindern bleibt.» Rainer Werner Fassbinder schickte sie in seiner Verfilmung in ein Spiegelkabinett der Sehnsüchte. Elfriede Jelinek liess sie in ihrer Fortschreibung «Was passierte, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte» als feministische Arbeiterin in der Textilfabrik zum Rhytmus der Ausbeutung tanzen. Es gibt sogar eine anti-feministische Überschreibung aus den 80er Jahren, die den verlassenen Torvald zum Helden erklärt: «Torvald – ein Puppenheim».
Was ist mit Nora, heute? Nora träumt das ganze Stück vom «Wunderbaren» – der erfüllten Beziehung auf Augenhöhe, dem richtigen Leben oder dem wahren Selbst und ist dem heutigen Menschen mit dieser Sehnsucht vermutlich gar nicht so fern. Doch, genauer betrachtet, hat unsere Welt mit der ihren nicht mehr so viel gemein. Denn Ibsens in Traditionen eingebettete Welt der rigide definierten Rollen hatte schon im 19. Jahrhundert erste Risse gezeigt. Im Darauffolgenden ist sie mehr und mehr in sich zusammengestürzt. Sie ist einer flexiblen Welt gewichen, in der Disziplin und starre gesellschaftliche Rollen von Autonomie und Selbstverwirklichung abgelöst wurden. Heute ist aus der Aufforderung «Kenne Deine Stellung in der Gesellschaft!» längst die Aufgabe «Erfinde Dich neu!» geworden. Das Individuum ist zum Entscheidungsträger über sein eigenes Leben avanciert (während, paradoxerweise, die soziale Mobilität eher ab- als zunimmt). Das ist sicher auch ein Schritt in Richtung Freiheit. Schade nur, dass Selbstverwirklichung heute nicht mehr bloss Option ist, sondern eine Aufgabe, bei der es viel zu gewinnen, aber noch mehr zu verlieren gibt. Und sie hat einen Preis: Für den Soziologen Georg Simmel bedeutete Individualisierung bereits nicht nur die Individualisierung der Lebenswege, die Zunahme an Reflexionsfähig-
keit und von Authentizität, sondern auch die wachsende Isolation des Einzelnen. Später diagnostiziert sein Kollege Alain Ehrenberg im Markt der Möglichkeiten das «erschöpfte Selbst», das sich in dauerhafter Selbstfindung völlig verausgabt. Die Herstellung einer kohärenten, selbstverwirklichten Biografie ist zu einem nicht endenden Projekt geworden. Eine permanenten Identitätsarbeit – bei der das Streben nach Glück und Authentizität (oder das Wunderbare?) das Individuum so unerreichbar locken wie den Esel die Karotte am Stecken. Die Frage ist nicht, wer der Mensch ist, sondern vielmehr, was er (noch) alles werden kann. Vielleicht führt auch deshalb heute nicht mehr die Dramatik, sondern die Ratgeberliteratur die Bestsellerlisten an. Von heute aus betrachtet, stellt Noras Ausbruch, ihre Verweigerung, die ihr zugedachte Rolle nicht weiter zu spielen und sich stattdessen auf den Weg der Selbstfindung zu begeben, mitunter den Anfang einer Entwicklung dar, deren Kinder wir heute sind.
«Wir wissen es. Aber wir tun es trotzdem.» – Slavoj Žižek
Ibsens Nora Die Handlung des Originals
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Ibsen schrieb sein 1879 erschienenes Erfolgsstück als retrospektive Analyse – erst vom Ende aus lässt sich dieser Krimi des Seelenlebens aufklären: Nora, Tochter aus gutem Hause, heiratet den aufstrebenden Torvald Helmer. Die junge, lebendige Frau ist sein «Eichhörnchen» und ganzer Stolz, sein trophy wife. Das Paar ist acht Jahre verheiratet und hat drei Kinder. Nora gibt fleissig Geld aus und spätestens mit der Beförderung Torvald Helmers zum Direktor einer Aktienbank scheint das bürgerliche Glück perfekt. Allerdings hütet Nora ein Geheimnis: Vor einigen Jahren fälschte sie die Unterschrift ihres Vaters und nahm beim zwielichtigen Anwalt Nils Krogstad einen Kredit auf, um Torvald einen Kuraufenthalt zu ermöglichen. Dass sie diesen immer noch heimlich abbezahlt, gesteht sie erst ihrer alten Schulfreundin Christine Linde. Die hatte augenscheinlich weniger Glück als Nora, musste die kranke Mutter pflegen und eine Vernunftehe eingehen. Jetzt, verwitwet, sucht sie neuen Lebenssinn und Arbeit. Ihre Freundin Nora soll helfen, bei der Bank eine Anstellung zu finden, was auch gelingt. Doch Christine Lindes neue Stellung gehörte just dem Kreditgeber Nils Krogstad. Der sieht seine ohnehin prekäre Existenz gefährdet und erpresst Nora: Ihr Ehemann und die Welt sollen von der gefälschten Unterschrift erfahren, wenn Nora seine Kündigung nicht verhindert. Die Tage um Weihnachten werden für sie zum Drahtseilakt: ihr Mann darf den entlarvenden Brief Krogstads unter keinen Umständen in die Hände bekommen. Helmer und sein bester Freund, der sterbenskranke Arzt Dr. Rank, ahnen von all dem nichts und verehren, jeder auf seine Weise, Nora als das hübsche, verantwortungslose Püppchen, als das sie sich ihnen präsentiert. Dass Christine Linde und Nils Krogstad sich früher kannten, ja sogar liebten, gibt Nora nur kurz Anlass zur Hoffnung. Der Druck auf sie entlädt sich in einem entgleisenden Tanz, der Tarantella. Dr. Ranks Krankheit nimmt eine Wendung zum Schlechteren. Am Schluss lässt Christine Linde Noras Geheimnis auffliegen. Ihr Ehemann zeigt sich erst entsetzt, ist aber, als er seinen Ruf in Sicherheit weiss, bereit, Nora zu verzeihen. Doch Nora hat eine ganz andere Erkenntnis gewonnen: Sie will sich fortan «selbst erziehen», möchte «wissen, wer Recht hat, die Gesellschaft oder ich» und will nicht mehr Frau, sondern «Mensch» sein. Und geht.
10.03.— 16.04.17
Tauben fliegen auf
Uraufführung nach dem gleichnamigen Roman von Melinda Nadj Abonji -> Box
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