Kurzgeschichten 2015/1 M.F.Schwarz

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Die Aufregung Und Die Magnolie

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ie Magnolie ist eine Pflanzengattung aus der Familie der Magnoliengewächse. Die Magnolie kommt als Baum und als Strauch vor. Unter einem Baum wird allgemein eine verholzte Pflanze verstanden. Die Baumpflanze besteht meist aus einer Wurzel, einem hochgewachsenen Stamm und einer belaubten Krone. Sträucher haben keinen Stamm, sondern bilden regelmäßige Stämme aus bodennahen Knospen aus. Die Wuchsform des Strauches nennt sich Basitonie. Die basitone Wuchsform hat mit dem Bariton leidlich wenig gemein. Bariton ist aus dem Griechischen Wörtern barys und tonos entlehnt. Ersteres heißt so viel wie, schwer oder tief und letzteres Klang. Bariton bezeichnet eine tiefe männliche Gesangsstimmlage – die etwa zwischen Tenor und Bass anzusiedeln ist. Der Mann stand eines Morgens einfach nackt in seiner Küche. Man habe immer wieder die Augen abgewendet, konnte dann doch nicht widerstehen, heißt es, hin zu schauen, ob der Mann in seiner Küche noch immer nackt war. Nicht ausgehalten, nicht nicht zu widerstehen, nicht ausgehalten habe man es, korrigierte man sich. Man konnte den Blick vom nackten Mann in der Küche nicht abwenden. Der Mann war immer wieder vom Herd zum Kühlschrank, zum einzigen Fenster gelaufen. Auf dem Boden hätten Bücher gelegen. Jede Menge Bücher. Man hatte ihn aus den höheren Stockwerken gesehen. Man hatte gesehen, Wie ein nackter Mann um sechs Uhr morgens in seiner Küche läuft und dabei aussieht als würde er diskutieren. Als Akritonie hingegen bezeichnet man das Wachstum von Knospengrößen an den Spitzen von Jahrestrieben. Die Botanik versteht unter Knospengrößen oder unter Knospen den jugendlichen Zustand eines Sprosses. Eine akritone Magnolie ist also ein Magnolienbaum. Anfangs dachte man der Mann würde für ein Theaterstück proben. Der Mann hatte eine tiefe Stimme. Eine Bariton Stimme, wie man sagen würde. Ein dumpfes Brabbeln, ging durch das Küchenfenster, wie Licht der aufgehenden Sonne. Ich war Hamlet der Rest ist schweigen. Ich war die Hamletmaschine. Reden ist Silber,

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Schweigen Gold. Diese Sätze konnte man verstehen. Über die restliche Sozialisation des Nackten ist sonst weiter nichts bekannt. Die Magnolie ist ein Baum oder ein Strauch, der immergrün ist. Die Blätter der Magnolie sind regelmäßig, also wechselständig angeordnet, wie die einer Sonnenblume. Der Blattrand ist glatt. Die Nebenblätter fallen bald nach Herausbildung des Blattes ab. Muss man hier sagen, des eigentlichen Blattes oder reicht, des Blattes? Die Blüten der Magnolie sind endständig. Endständig heißt, sie sitzen am Ende des Zweiges. Bei einigen Arten werden die Blüten schon in der vorigen Vegetationsperiode angelegt. Sie blühen entsprechend im Frühjahr vor dem ersten sichtbaren Blattwuchs. Die Magnolie ist eine beliebte Pflanze. Man hatte den Mann aus einem höheren Stockwerk beobachtet. Genaugenommen schräg oben. Mit Blick über den Hinterhof. Hätte der Mann eine Wohnung weiter rechts gewohnt, und nicht über dem Torbogen, so hätte der Magnolienbaum im Hinterhof das Fenster der Wohnung, der Küche des Mannes verdeckt – man hätte ihn nicht beobachten können. Die Magnolie ist voll besetzt mit weißen Blüten. Nur der Volksmund bezeichnet Falschgeld als Blüten, die Amtssprache der Polizei versteht unter Blüten Spielgeld. Erst als sich herausstellte, dass der Mann mit dem Theater und mit der Schauspieleire gelinde gesagt rein gar nichts zu schaffen hat, informierte man die Polizei. Man hatte gesagt, es sehe zwar so aus, als Probe der Mann ein Stück. Aber das sehe nur so aus, weil er Fetzen aus realen Theaterstücken tatsächlich vor sich hin rufe – er probe aber nicht. Die Polizei, musste sich erst überzeugen lassen und das von der schwere des Falls. Der Mann war daraufhin weiter allein und nackt durch seine Küche gelaufen. Der Anruf inszenierte den ersten Teil des Dramas. Die Magnolie im Hinterhof der Wohnung des Mannes, war bis auf ihr Blütenkleid nackt. Die Polizei hatte sich Zeit gelassen, heißt es vom Beobachter aus dem höheren Stockwerk. Weil nun der nackte Mann in der Küche nicht so leicht davon kommen sollte oder überhaupt, was wenn er davon kommt?, nun weil jemand, der beobachtet wird, wie festgesetzt ist, setzte man aus dem oberem Stockwerk die Observation fort. Die Magnolie gilt als leicht giftig. In der Rinde und im Holz findet sich das Alkaloid Magnoflorin. Haut und Schleimhautblasen können Vergiftungserscheinungen sein, sowie Krämpfe. Bis heute existiert keine allgemeingültige Definition der Alkaloide. Feststeht, dass Alkaloide Stoffe sind, die direkt auf den Organismus wirken und dabei meistens giftig sind. Das erste isolierte Alkaloid war Morphin, welches aus reinem Schlafmohn Papaver Somniferum extrahiert wurde.

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Als die Polizei eintraf, hatte sich der Nackte einen Morgenmantel übergeworfen und hielt eine leere Tasse Kaffee in der Hand, was von den zuständigen Beamten, nicht weiter zur Notiz genommen wurde. Man hat es nicht bemerkt, dass der Mann eine leere Tasse Kaffee trank. Zur Polizei hatte er in der Tür gesagt: Sie kommen zu spät, meine Freunde, für meine Gage. Kein Platz mehr für Sie in meinem Trauerspiel. Die beiden Beamten schauten dabei nur wenig irritiert und wiederholten die Vorwürfe, die gegen den Mann erhoben worden waren. Dass er gerufen habe Fleisch und Fleisch gesellt sich gern und Sätze gefallen wären wie: dann wäre ich mir erspart geblieben. Soll er gerufen haben. Der Mann schlürfte nur seinen Kaffee und schüttelte den Kopf. Wischte sich den Mund ab und machte ein stoßendes ahh Geräusch, wie nach einem gutem Schluck. Die Polizei schritt über den Hinterhof durch einen Torbogen, über dem sich die Wohnung des Mannes befand. Bis auf ihr weißes Blütenkleid war die Magnolie nackt. Die Polizisten schritten also geradewegs unter ihm hindurch. Wie man aus dem Hinterhaus schräg gegenüber einige Stockwerke über der Wohnung des Mannes beobachtete – kritisch observierte. Der Mann legte, nach Aussage des beobachtenden Nachbars, seinen Überwurf ab und machte sich wieder auf, die Küche nackt zu durchkreuzen. Er hatte diesen Überwurf aber nicht abgeworfen, als wäre die Nacktheit ein Akt der Befreiung – er hatte den Mantel ganz ordentlich auf den Küchentisch gelegt. Das fand man besonders, dass jemand seinen Morgenmantel auf den Küchentisch legt, statt ihn über den Stuhl zu hängen. Der Mann hatte eine Topf blühenden Lavendel auf dem Küchentisch. Überall in der Küche lagen aufgeklappte Bücher, über die der Mann mal bedächtig, mal trampelig drüber stieg. Die Magnolie ist das Symbol Nordkoreas. Es gibt 220 Magnolien, wobei nicht unterschieden wird in basitone und akritone Pflanzen. Die Magnolie ist ein sehr altes Gewächs und wahrscheinlich noch vor den Bienen entstanden. Sie wurde in der Zeit vor den Bienen von Käfern bestäubt. Auch heute erfreuen sich die Käfer der Blüten der Magnolie. Das erste Mal tauchte der Begriff und Gattungsname Magnolia 1703 auf. Charles Plumier beschrieb in seinem Buch Genera, die Magnolie als einen blühenden Baum von der französischen Karibikinsel Martinique. Die auch heute noch zum französischen Überseedepartment gehörende Insel Martinique, ist Teil der Europäischen Union und ihre Währung ist der Euro. 1999 hat es einen Film gegeben, der Magnolia heißt. Zum Ende des Films gibt es den Satz: wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.

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Der nackte Mann in der Küche habe sich dann nackt einen Kaffee zubereitet und sich dabei die Haare immer nach hinten geworfen und sei mit den Händen durch sie gefahren, ganz als wolle er sich einen Zopf binden, wozu seine Haare jedoch augenscheinlich zu kurz wären. Den Kaffee habe er langsam getrunken und die Tasse gleich ausgespült. Woraufhin er sich seinen kurzen Bart mit Fit eingecremt habe. Fit ist ein gängiges Spülmittel. Erst jetzt fällt der Spiegel über dem Kuchenwaschbecken ins Auge des Betrachters aus der Wohnung schräg über dem Mann im Magnolienhinterhof. Mit seinem Fit-Bart sei er weiter durch die Küche gelaufen, wobei er weiterhin aussah, als halte er eine große Rede. Dabei schwang sich sein Glied hin und her und erinnerte weniger an einen Propeller oder eine Urwaldliane, sondern vielmehr, als ein unnützes Stück Menschlichkeit. Er hatte wieder ein paar Runden gedreht und sei dann vor einem Küchenschrank zum Stehen gekommen. Davor jedoch habe er seinen Fit-Bart erneuert. Indem er sich erneut eine großzügige Ladung des Spülmittels ins Gesicht pfefferte. Aus dem Küchenschrank hat er eilig einige Töpfe genommen und sie verkehrt herum auf den Küchentisch gelegt. Den Topf Lavendel habe er dazwischen auf den Boden und auf eines der aufgeklappten Bücher gestellt. Kunstvoll, kunstvoll habe er seinen Morgenmantel zwischen die Töpfe gelegt und ein Trommelkonzert gegeben, wobei er des Öfteren den Mantel auf die Töpfe legte, er also den Klang dämpfte. Ob der Mann, dass aus Rücksicht oder aus Liebe zur Kunst tat, ist nicht weiter bekannt. Als er vor dem Waschbecken in der Küche stand, in den Spiegel schaute und sich in der Küche rasierte, muss sein Fit-Bart schon leicht angetrocknet gewesen sein. Er schien sich dadurch nicht beeindrucken zu lassen. Danach habe er noch einige Runden nackt in der Küche gedreht, sah inzwischen nicht mehr aus, als würde er eine große Rede halten oder großspurig disputieren, sondern sah aus, als würde er sich über etwas aufregen. Der Magnolienbaum oder der Magnolienstrauch wird nicht allzu häufig von Krankheiten heimgesucht. Die häufigsten Krankheiten der Magnolie, ob Strauch oder Baum, ist der Mehltau, die Schildlaus, die weiße Fliege und das Bakterium: Pseudomonas syringae. Pseudomonas syringae erzeugen die Blattfleckenkrankheit. Gefährdet ist die Pflanze besonders an kühlen und feuchten Tagen – wie Anfang April. Die Blattflecken sind meist von einem gelben Hof umgeben, der mit der Zeit zu einem Loch im Blatt oder in der Blüte wird. Ist ein Trieb von der Bakterie befallen, kann er absterben. Die Bakterien verbreiten sich durch Regentropfen. Sie überwintern im Laub oder in befallenen Trieben. Bisher nahm man an die Bedeutung des Bakteriums beschränke sich auf die durch es verursachten

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Schäden. Man ist allerdings zu der Vermutung gelangt, dass das Bakterium Pseudomonas syringae auch an der Wolkenbildung, Hagel und Schnee beteiligt sei. In wie fern man sich diese Beteiliung, in wie fern das Bakterium seine Aktien in der Wolkenbildung habe, sei weiterhin noch unklar. Entdeckt wurde es im Übrigen nicht an der Magnolie, sondern am Flieder. Daher auch der Name Syringae – heißt Flieder. Man habe beobachtet, wie der Mann – noch immer nackt – einen Topf mit einer klaren Flüssigkeit – wahrscheinlich Wasser – auf dem Herd gestellt habe. Man habe sich darüber gewundert, weil man sich über alles wundert, was der Mann tut. Nach einiger Zeit seien davon die Scheiben des einzigen doppelglasigen Fensters beschlagen. Der Mann habe dann seinen Finger genommen und gut leserlich das Wort: Chiffre in das Fenster geschrieben. Die Nacht war schwül gewesen. Ab und an hatte ein Wetterleuchten den Himmel kurzzeitig erleuchtet. Ansonsten war es finster gewesen. Finster weil Wolken-verhängen. Und windig war es gewesen. Richtig windig. Der Wind war warm und angenehm gewesen. Die Stimmung wie kurz vor einem Gewitter. Einem Sommergewitter im April. Ansonsten war es ruhig gewesen. Schließlich habe der Mann seinen Morgenmantel übergeworfen. Locker ohne ihn zu verschließen und sei aus dem Vorderhaus in den Hinterhof getreten, auch hier habe er einige Runden gedreht und seine Stimme schallte in einem lauten Flüsterton durch den Hinterhof. Er war auf den alten Blütenblätter der Magnolie hin und her gerutscht. Aber er habe sich nicht unter den Baum gesetzt. Es Schien als meckere er mit etwas oder jemanden, traue sich aber nicht seine Stimme zu erheben. Würde man es nicht besser wissen, man hielte ihn für einen obdachlosen. Gegen sieben Uhr morgens habe man beobachtet wie der Mann seinen Morgenmantel abgeworfen habe, aber ohne große Geste, und durch den Torbogen unterhalb seiner Wohnung aus dem Hinterhof in Richtung Straße geschritten sei. Er sah aus als schimpfe er. Die Magnolie im Hinterhof hatte schon diesen glitschigen Teppich aus Blütenblätter gelegt, der klebte wie unsauberer Küchenboden. Aber der Baum erfüllte den Hof mit einem zwar falschen, aber durchaus wunderbaren Duft. Es war April. Der Mann war gegangen. Überall in der Küche lagen botanische Bücher, Bücher über Pflanzenkrankheiten, Pilzbefall, Ungeziefer, Verfärbung der Blätter und Schneckenplagen. Im Film heißt es wird kommen ein Froschplage. Die Magnolie war krank. Eine Bakterienplage hat die Magnolie über den Regen befallen. Der Mann hatte nicht mehr geschlafen seit die Magnolie krank geworden war. Er war also mit ihr krank

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geworden. Die Blüten der Magnolien waren gekommen wie jedes Jahr vor den ersten Blättern, aber sie waren verklebt und hatten Löcher und die Löcher hatten einen hässlichen braunen Rand, in der sonst so strahlend weißen Blattfarbe

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Der Tallit D

u stehst auf der Autobahn. Du hast es nicht in der Hand. Du stehst auf der Autobahn kurz hinter einer Brücke. Aber definitiv nicht auf der Brücke. Eindeutigen unten drunter. Auf der Autobahn gibt es Schilder. Die Schilder warnen dich vor den Flugzeugen, die über das Stück Strecke fliegen um dann dahinter zu landen. Du hast deinen Hut auf den Boden gelegt. Für den Berufsverkehr ist es noch zu früh. Du hast eine Picknickdecke ausgebreitet. Du wartest auf die heranstürmenden Massen von Karosserien, von Vehikeln, von Automobilen, von Berufstätigen, von Steuerzahlern, von Menschen in einem Getriebe, einer Routine – eines täglichen Ein-Mal-Eins. Du hast dich hingesetzt auf die Picknickdecke auf der Autobahn. Du weißt, dass die Kolonne der Kraftfahrer kommt, weil sie jeden Morgen kommt. Du weißt, dass sie kommen wird. Das weißt du, weil du es von der Brücke aus beobachtest hast. Weil du es tagelang beobachtet hast. Du sitzt unter der Brücke und schenkst dir ein Glas ein. Zu einem Picknick gehört Food und Beverage, wie man sagt. Wie du so oft gehört hast, als du noch eifrig, berufstätig und Teil der Kolonne warst. Jetzt aber kein Wort mehr über die Arbeit, die du nicht mehr hast und deswegen kein Wort über sie verlieren kannst. Was man hat, hat man. Was nicht, das nicht. Du wunderst dich, wo die Kolonne bleibt. Die Kolonne der vielfachen deiner apokalyptischen Reiter. Du glaubst aber nicht an das neue Testament und auch nicht an die vier letzten Dinge. Die Menschen, die daran glauben sind immer so pathetisch und pathetic. Völlige Übertreiber. Nur eine Bauernreligion kann von Apokalypse sprechen. Oder einem verblendeten Gehör schenken. Heute, denkst du dir, würde dieser Johannes selbst auf der Autobahn sitzen. Es könnten siebzig Siegel geöffnet und es würden trotzdem keine Posaunen ertönen. Du hast dich auf die Autobahn Richtung Stadt gesetzt, weil das mehr bringt. Das macht aber nichts, weil du dir ein vielfaches an Flaschen mitgenommen hast. Wenn du ehrlich bist, warst du auch ein bisschen zu früh, damit du dir schon einen antrinken kannst. Inzwischen wärst du pünktlich. Von einer entfernten und blinkenden Blechkolonnen keine Spur. Du wunderst dich. Aber das macht nichts denn du, ja was, ja du hast Zeit. Ein Leben lang Zeit. Ein Leben lang denkst du, und lachst und musst die Decke wegwischen, um den ofenporigen Asphalt zu fühlen. Die Picknickdecke scheint dir sieht aus wie dein schwarz weiß gestreifter

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Gebetsmantel. Asphalt in eine natürliche oder künstlich hergestellte Mischung aus Bitumen und Gesteinskörpern. Bitumen ist Latein und heißt Erdpech. Juden hatten im Mittelalter eher nicht so das glückliche Leben, sondern eines voller Pech. Bitumen ist ein aus Erdöl gewonnenes Gemisch verschiedener organischer Stoffe. Es wurde schon vor drei tausend Jahren von den Babyloniern aus natürlichen Quellen gefördert. Was die Babylonier mit den Bitumen anfangen anfingen, stand nicht in deiner Quelle. Das ist eine Loch in der Recherche. Wahrscheinlich haben sie keine Autobahnen gebaut. Manchmal musst du schnell von einem zum anderen kommen. Du hast ja Zeit. Was machen Menschen die Zeit haben und sich wundern? Die stellen sich Sachen vor, aus Zeit und Wunder. Du fragst ob du lieber stehen oder sitzen sollst. Und entscheidest dich für liegen. Mal richtig die Decke nutzen, die eigentlich dein Gebetsmantel, dein Tallit ist. Aber deine Füße und Hände berühren schon den Aspahlt. Den ofenporigen Asphalt. Damit hast du kein Problem, denn du kennst bereits das Gefühl wie ofenporiger Apshalt sich an fühlt. Du fragst dich was besser wäre: von einem Lkw oder Pkw erfasst werden und im sitzen, liegen oder stehen. Dann fragst du dich, was ist besser von einem weißen, einem roten, einem schwarzen oder einem fahlen Fahrzeug erwischt zu werden. Asphalt leitet sich von griechischen Asphaltos ab und meint so viel wie Erdharz. Asphalt ist kein Teer. Das wird oft verwechselt, wie Kain und Abel, Seth und Osiris, Romulus und Remus – oder war es Romus und Remulus? Du weißt es nicht und ärgerst dich. Hast auch keine Möglichkeit es jetzt nach zu schauen. Ist auch sinnlos. 95% der Straßen in Deutschland sind mit einer Asphaltdekce ausgestattet. Jährlich werden hier etwas fünfzig Millionen Tonnen Asphalt produziert. In Mesopotamien gab es zur Zeit der Antike ein natürliches Vorkommen von Asphalt. Das Material fand daher häufig Verwendung. So zum Beispiel für Schmuck, Gefäße, als Mörtel für Lehmziegel und um Risse und Löcher zu schließen und zu klitten – womit das Rechercheloch geklittet und geschlossen ist. Du freust dich. Du lachst und befühlst den ofenporigen Asphalt. Als erste wurde die AVUS 1914 mit einer Asphaltdecke versehen – um die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen. Ein Flugzeug fliegt über dich hinweg und landet. Du hast eine Picknicktasche dabei und holst ein Stück Kreide raus. Und malst ein vier Felder Schema auf die Autobahn. Du brauchst eine Pause und legst dich wieder hin. Aber nicht auf die vermeintliche Picknickdecke, sondern auf den nackten Asphalt. Aber du hörst keine Donnern. Nicht mal ein leises Wimmern einer herannahenden Kolonne. Blechkolonne. Autokolonne. Du suchst noch mehr Wörter, findest aber nichts. Nicht einmal warm ist der Asphalt. Du stehst

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auf und schaust auf dein Werk. Verärgert stellst du fest, es fehlt nicht nur ein Feld. Die vier letzten Dinge, denkst du ironisch und sarkastisch dich selbst auslachen, die vier letzten Dinge könnte man in deine Raute einsortieren. Was besser ist: LKW, PKW, Stehen, Sitzen und Liegen, Schwarz, Weiß, Rot, Fahl passen nicht in dein Schema. Deine statistischen Grundkenntnisse reichen nicht aus. Auszurechnen, was besser wäre liegen, stehen, sitzen, PKW oder LKW zumal du feststellst: es gibt auch noch Motorräder. Du bist sauer. Richtig fuchsteufelswild sauer. Und springst auf der Autobahn rum. Du kugelst dich. Du rollst dich. Landest neben der Leitplanke im rasen und flüchtet erschrocken zurück auf den Gebetsmantel. Was wenn du die Kolonne verpasst. Der Mantel ist dir wie eine rettende und schützende Insel in einer unbekannten und schwer zu begreifenden Welt. Du verstehst nicht, wo die Kolonne der Fahrer bleibt. Du hattest dir alles genau überlegt. Tage lang von der Autobahnbrücke beobachtet und jeden Tag kamen die berufstätigen Kraftfahrer in die Stadt gefahren. Jeden morgen um Acht. Halbe Stunde früher halbe Stunde später nichts. Aber Punkt war immer die Hölle los. Außer heute und es ist schon fünf nach Acht. Du schaust ob deine Uhr kaputt ist. Du guckst ob du auf der richtigen Autobahn bist. Alles stimmt bis auf ein Detail: niemand hier außer du. Der offenporige Asphalt ist eine besondere Form des Asphaltbetons, die in den achtzigern entwickelt wurde. Er heißt auch Flüsterasphalt. Seine Zusammensetzung kennzeichnet sich durch einen hohen Anteil an groben Gesteinskörnungen. In Folge bilden sich viele zusammenhängende Hohlräume. Zum einen werden von diesen Hohlräumen eine Menge an Geräuschsverschmutzung absorbiert und zum anderen kann das Regenwasser nach unten abgeleitet werden. Dadurch bildet sich nur ein dünner Film Wasser. Das verhindert Sprühfahnen, reduziert Aquaplannig – ist also gemeinhin sicherer. In alpinen Regionen, ist die hohe Absorption von Flüssigkeiten ein Problem, denn so wird zur Enteisung 40% mehr Salz benötigt. Auch wirken sich Schneeketten sehr schlecht auf die oberste Schicht des Flüsterasphalts aus. Du liegst auf der Autobahn und es ist dir inzwischen egal, ob das Auto ein PKW, ein LKW, schwarz, rot, weiß oder fahl ist. Es ist bereits halb neun und immernoch niemand hier. Verärgert stellst du fest, dass heute Schabbat ist und kein Mensch am Schabbat arbeitet. Das Schlimmste ist, dass alles immer vorbei geht. Egal was es ist, es geht vorbei. Eine Sache kann noch so schlimm sein, sich im Moment noch so furchtbar anfühlen und den Anschein erwecken, die Zeit würde frappierend ihr rapides Tempo verlieren und wie eine Murmel ausrollen und stehen bleiben. Aber im

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Gegenteil, die Zeit vergeht sogar noch schneller, wenn etwas Schlimmes passiert, obwohl es sich so anf端hlt als w端rde sie zum stehen kommen. Man w端nscht es sich. Man sagt sich, es muss jetzt anhalten. Es h辰lt nichts an, denn das schlimmste ist, dass alles immer vorbei geht.

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Die mir Anvertrauten

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ch habe mich für die mir Anvertrauten immer vollständig aufgeopfert. Ich sage vollständig und meine, ich habe mein Leben dem Leben, der mir Anvertrauten aufgeopfert. Heute ist der erste schöne Tag in diesem Frühling. Leute übertreiben so schnell, wenn mal die Sonne scheint. Vorhin bin ich an einem Park vorbei gekommen und habe eine Frau im Bikini gesehen. Im Bikini. Ich finde so etwas nicht anstößig, aber ich finde auch, man sollte sich in der Öffentlichkeit anders benehmen. Ich habe den mir Anvertrauten nie vorgeschrieben, wie sie sich zu benehmen haben, sondern ihnen stets, in meiner Aufopferung, deutlich gemacht, was ich für mich für richtig erachte – was sie daraus machen, ist ihre Sache, sage ich immer. Ich sage immer, hier sind die Optionen und du musst wählen. Ich habe die mir Anvertrauten nie unter Druck gesetzt, nie sie gezwungen sich zu entscheiden. Ich habe gesagt, man kann sich auch nicht entscheiden. Manchmal aber, habe ich gesagt, ich hätte nur ein enges Zeitfenster. Enges Zeitfenster und begrenzte Entscheidungszeit. Man kann sich auch nicht entscheiden. Aber ich habe nie willentlich, die mir Anvertrauten angezeigt sich zu entscheiden. Will sagen ich habe ihnen nie die Pistole, wie man sagt, auf die Brust gesetzt. Nur manchmal kommentiert, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ich muss auch irgendwie planen und Termine machen können. Ich kann es mir nicht leisten, dass einer meiner Klienten zu spät kommt. Denen mir Anvertrauten habe ich gesagt, in einem Kampf kann man entweder verlieren, gewinnen oder nicht mit-machen. Es ist der erste schöne Tag. Ich sitze im Büro und warte. Ich warte auf meinen Anvertrauten, den Hilfebedürftigen, den Klienten. Das trifft sich gut, sage ich dann schon manchmal in den zuständigen Behörden – weil ich kann helfen. Ich helfe. Man muss das helfen organisieren, man kann es nicht auf Ehrenamt laufen lassen. Was meine Aufgabe ist? Ich muss sehen, dass meine Klienten, meine mir Anvertrauten, laufen. Gut laufen. Man redet hier auch schnell von Verantwortung. Der Klient muss Verantwortung übernehmen. Für sich, sein Leben. Meine Kollegen tappen oft in die Falle, die Verantwortung zu übernehmen. Ich sitze im Büro schon seit einer halben Stunde. Ich habe die Vorhänge zugezogen. Ein Lichtfetzen ein Streifen wirft sich auf den Schreibtisch. Meine Hände sind gefaltet. Liegen auf dem Tisch. Noch nie ist einer, der mir Anvertrauten nicht

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zu einem Termin erschienen. Es ist laut im Büro. Ein Güterzug, denke ich mir. Ich sage immer: ich hätte ein schlechtes gewissen, einfach nicht zu kommen. Ruhe im Büro. Ich muss sagen, dass ich die Ruhe im Büro gar nicht so schlecht finde. Wenn ich, den mir Anvertrauten etwas rate, raten will, einen Ratschlag geben will oder meine Meinung sagen will, dann wechsle ich in die Ich-Form. Wie zum Beispiel: ich würde mich schämen, so etwas zu sagen. Ich würde so etwas nicht sagen, wie gesagt, ich würde nicht, was du tust, ist deine Sache, aber ich, ich würde. Eine andere Falle, in die meine Kollegen oft tappen: die Freundschaft mit dem Klienten. Ich sage immer, der Klient ist nicht der Freund. Der Klient kann ein Freund werden, aber erst einmal ist der Klient der Klient. Noch nie ist, in all meiner Zeit, ein Klient mir gegenüber wirklich feindselig oder wirklich aggressiv geworden. Ich bilde mir darauf nichts ein. Man sagt ja irgendwann ist immer die Zeit. Das erste Mal. Manchmal glaube ich schon durch meine Fähigkeiten Aggressionen präventiv abzuwehren, aber das kann man nicht laut sagen. Zu viele Leute haben eine besondere Meinungen über sich. Man muss seine besondere Meinung über sich vor den anderen verborgen halten. Es geht sie nichts an. Das sage ich auch immer meinen mir Anvertrauten, ich würde mir genau aussuchen, wem ich was erzähle. Ich habe das Informationsmanagement genannt. Manche sagen ich wäre kreativ andere paranoid. Wirklich aggressiv, das muss ich ergänzen. Einmal war einer der mir Anvertrauten auf 180. Er hat gesagt, am liebsten würde er jemanden umbringen. Ich sagte: aha. Er sagte, am liebsten würde er auf die Straße gehen und irgendwo in ein Stück Fleisch ein Messer stecken. Ich sagte: aha. Er wiederholt Stück Fleisch und grimassierte – verzog also irgendwie das Gesicht, wie während einer Übersprungshandlung. Ich ließ einen Moment verstreichen, schaute nach Draußen, aus dem Fenster, die Gardine war nicht zugezogen. Blickte auf die Baustelle des Bahnhofs und dahinter auf die Bahngleise in Sichtweite des Büros. Ließ die Zeit ihre Wirkung entfalten. Drehte mich zu dem mir Anvertrauten und fragte: und möchtest du mich auch gern umbringen? Der Klient fühlte sich ertappt, deutete ich im Nachhinein. Er bejahte meine Frage und ohne zu Warten fragte ich: warum tust du es dann nicht? Das war ein Moment der Spannung. Wenn ich ehrlich bin, auch der Moment eines Machtkampfes. Ich würde aber auch sagen, ein Moment, der unsere Beziehung auf ihre Stabilität austestete. Später sagte ich mir, damit hast du erfolgreich die Aggressionen weg-gebunden. Ich habe die mir Anvertrauten nie unter Druck gesetzt. Ich habe mich immer aufgeopfert. Man sagt ich sei ein plakativer Mensch, ich habe das verstanden.

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Weiß aber nicht, wie ich mich verbessern soll. Eine Freundin hatte mir ein Foto von mir geschickt. Per Nachricht auf ‘s Telefon. Ich habe das Foto erst nicht beachtet. Nicht beachtet klingt so, als wäre es mir abhanden gekommen. Als hätte ich es nicht gesehen, zufällig übersehen. Ich muss aber ein Foto auf dem ich selbst bin bewusst ignorieren. Das Foto habe ich aufgemacht in meinem Telefon. Ich habe es erst in der Totalen betrachtet. Es zeigt den Klienten und mich, wie wir Holz zusammentragen für ein großes Feuer. Es zeigt ihn wie er im letzten Moment, den Holzscheit beinahe auf den Berg Scheite wirft, aber mit ihm auf dem Foto sein will. Also geradezu von dem Holzscheit weggezogen wird. Es zeigt mich, locker da stehend, die Schulter hängend den Bauch etwas raus drückend, vor allem ein Hohlkreuz machend. Ich sitze im Büro. Die Vorhänge zugezogen. Das Licht hier erinnert mich an Dämmerung. Am Schreibtisch. Mein Telefon auf dem Tisch. Ich habe meine Finger genommen und habe mich und mein Gesicht größer gemacht. Größer gewischt. Das Bild wie mit den Finger zusammen gezogen. Meine Freundin und Kollegin hat mir zu dem Bild eine Nachricht gesandt. Schau mal, du und B., schrieb sie. Ich sage hier B Punkt wegen der Schweigepflicht. Man darf die Namen der Anvertrauten nicht aussprechen. Die Namen der Anvertrauten sind wie ein Fluch. Man darf auch keine Zusammenhänge, Familiengeschichten oder Anderes nennen, das auf die Anvertrauten zurück führen könnte. Ich sage immer, sage immer zu meinem Klienten, wenn ich meine Schweigepflicht breche, bringst du mich vor Gericht, einverstanden? Dann lache ich. Meist lache ich allein. Es ist Mittag. Der Klient ist bereits eine Stunde zu spät. Ich sage immer: über zehn Minuten reden wir nicht, aber das selbe gilt dann für mich und ich würde nicht über zehn Minuten zu spät kommen. Der mir Anvertraute hat es nicht leicht. Ich kann das verstehen. Man sagt oft, ich würde die mir Anvertrauten zu sehr psychologisieren. Ich habe das verstanden, weiß aber nicht wie ich es ändern soll. Ich habe mein Gesicht auf dem Foto auf meinem Telefon heran-gezoomt und es mir im Detail angeschaut. Jetzt habe ich mich doch einmal an das Fenster gestellt. Den Vorhang an einer Stelle gelichtet, aber ich kann den mir Anvertrauten nirgends entdecken. Das Bürozimmer ist nach Nordosten ausgerichtet. Das weiß ich, weil ich während meiner Bedenk–… ich meine, während meiner Wartezeit auf mein Telefon schaute und mir das Bürohaus aus der Vogelperspektive anschaute. Aus der Vogelperspektive erscheint die Distanz zwischen dem Baugelände des Bahnhofs, der Gleise dahinter und dem Bürohaus winzig. Selbst wenn ich mich aus dem Fenster lehnen würde, man könnte mich auf dem Satellitenfoto nicht sehen – weil es ein

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statisches Bild ist. Ich sehe einen Provinzboulevard, eine Kleinstadteinkaufsstraße. Am Ende der Straße gegenüber des Baugeländes des Bahnhofs hängt an einem Haus das klapprige Schild des geschlossenen Cafés Eisenbahnstübchen, in zu großen Teilen abgeblätterter rot-weißer Leichtschrift. Auch eine Kleinstadt will sich der Gentrifizierung anschließen. Sie bettelt darum auseinander gerissen zu werden. Ein Zug läuft in den Bahnhof ein. Die Leute kommen aus dem Bahnhof, schlängeln sich durch die Baustelle und überschwemmen den Provinzboulevard, ohne Notiz von dem geschlossenen Café zu nehmen. Da mag man urteilen, die Verdrossenheit der Leute ist der große Veränderer, die unsichtbare Hand, die unseren Städten das Gesicht abreißt und raubt und ihr überall ein äquivalentes Aussehen einpflanzt. Manchmal denke ich, der Zug ist wie ein Pinsel. Es ist Markttag. Ich hatte mir schon vorgestellt, wie die Leute den Provinzboulevard überschwemmen und die Marktstände davon tragen. Die Leute übertreiben so schnell, wenn mal die Sonne scheint. Ich habe mir einen Rollkragenpullover angezogen. Es hat an der Tür geklingelt, es war aber nur die Post. Ein Paket für einen Kollegen. Ich denke, da sind Fotos von mir – von meinem Gesicht als Nahaufnahme drin. Ich verwerfe den Gedanken. Ich sollte nicht solche Gedanken haben. Ich sitze wieder an meinem Schreibtisch. Ich habe mein Telefon aufs Display gelegt. Das ist wie der schwarze Balken, andersherum. Der Lichtfetzen auf dem Schreibtisch, der durch einen Spalt in der Gardine bricht, hat sich ausgebreitet. Ich beobachte ihn sich ausbreiten. Schon lange nicht mehr auf die Uhr geschaut. Aber auf den Lichtfetzen geschaut. Der Fetzen wandert auf mein Telefon. Wenn ich das Telefon jetzt umdrehen würde, dann könnte ich das Foto nicht mehr erkennen. Ist auch besser so, denke ich. Mein mir Anvertrauter ist inzwischen fünf Zentimeter Lichtfetzen zu spät. Über Zehn Minuten reden wir nicht, hatte ich gesagt. Man sagt ich sei ein manipulativer Mensch, ich habe das verstanden. Weiß aber nicht, wie ich mich verbessern soll. Als Jugendlicher, war man mit dem mir Anvertrauten auf Gleisen gelaufen. Da hatte es eine Tante gegeben, die sei mit dem mir Anvertrauten auf Gleisen gelaufen um einem Onkel – wahrscheinlich ihrem Mann – Druck zu machen. Wenn du nicht, dann der Zug. Woraufhin ich sagte, ich wäre an seiner Stelle nicht mit der Tante mitgezogen, aber wie es manchmal ist: mitgehangen mitgefangen. Ich habe Hunger. Der mir Anvertraute ist schon sieben Zentimeter Lichtfetzen überfällig. Was einer Realzeit von zwei Stunden entspricht. Ich glaube inzwischen, dass er nicht mehr kommt. Ich habe so ein Ding. Spleen, würde man sa-

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gen. Je mehr Hunger ich bekomme, desto wählerischer werde ich. Das ist immer so, wenn etwas fehlt, egal ob Essen, Frau oder Literatur. Ich werde wählerisch. Und das, wenn ich es mir eigentlich genau genommen nicht leisten kann. Das ist so ein Spleen. So ein Ding. Keine Ahnung wo das herkommt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der mir Anvertraute zu spät kommt. Korrigiere. Überhaupt nicht erscheint. Der Klient hatte ja schon mit Fünfzehn das Auto der Eltern genommen, geklaut oder geraubt, wie man sagt. Also er hat noch als halbes Kind das Auto genommen. Wo er denn das Fahren gelernt habe, hatte ich ihn gefragt. Hier und da. Aber vor allem durch zu schauen. Den Eltern legte man nahe ihr Kind anzuzeigen. Dem folgte die Empfehlung den Schlüssel zu verstecken. Unter uns, sagte man ihnen, wir würden sie jetzt nicht haftbar machen. Aber den Schlüssel offen liegen zu lassen ist nun leider ein nachlässiges und straffälliges Verhalten, aus dem schnell ein Vorsatz gemacht wird. Zur Abschreckung hatte man den Klienten in die Jugend JVA gesteckt. Drei Tage saß er da unter Verbrechern, die sich alle über den Jungen freuten, ihm jeder seine Geschichte erzählte, einen Tipp hier und einen Ratschlag da. Der Klient habe sich das alles genauestens angehört. Und kam relativ frohen Mutes aus der Anstalt. Von Abschreckung kann man halten, was man will. Für mich wie ich im Büro an meinem Schreibtisch sitze und auf den Klienten warte, er inzwischen Acht Komma Fünf Zentimeter zu spät ist, für mich zählt nur, dass ich ab da an, mit arbeitete. Zwischenzeitlich hat er bei seiner Tante und seinem Onkel gewohnt. Das war aber auch nicht das wahre. Arbeite das wiederholte ich oft ihm gegenüber. Wenn mir der Klient zu Kumpelhaft war. Vorschlug ein Bier trinken zu gehen. Dann erinnerte ich ihn an das Arbeitsverhältnis und er wurde ruhig. Man muss die Anvertrauten auch manchmal in die Schuhe stellen. Ich habe ihm jedoch nie etwas schlechtes gewünscht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Noch nie ist ein mir Anvertraute zu spät gewesen oder gar nicht erschienen. Ich überlege mir, bis Hundert zu zählen und das Büro zu verlassen. Weiß aber nicht, wie schnell ich zahlen soll. Bei eher Hundert Sekunden, da müsste ich schon angezogen sein, sonst könnte ich das Büro nicht bei Hundert verlassen und darum geht es ja. Ich bin noch einmal an das Fenster getreten und habe auf die Straße, die Kleinstadteinkaufsstraße geschaut. Aus dem Mittag ist ein Nachmittag geworden. Um den Bahnhof ist es ruhig. Ein Güterzug hat das Gelände stumm und taub gemacht. Draußen auf dem Provinzboulevard der Bahnhofsstraße war ein Markt gewesen wie jeden Donnerstag. Man baut die Stände zusammen. Ich schaue aus dem Fenster nach oben. Der Himmel blau. Ein Kondensstreifen hat sich aufgebläht und verliert sich in der Atmosphäre.

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Es blieb nicht bei einem Verkehrsdelikt. Es bleibt nie bei dem einen Delikt. Danach kamen Fahren ohne Führerschein. Strafbestand nach §21 StVG. Trunkenheit am Steuer ebenfalls ohne Führerschein. Strafbestand nach §21 StVG und § 315 c Abs. 1 Nr. 1a StGB. Mehre Wiederholungen der voran gegangen Tat. Weitere Verkehrsstraftaten wie Nötigung § 240 StGB, unerlaubtes Entfernen vom Unfallort § 142 Abs. 1 StGB. Wer sich eine Geschichte dazu spinnen möchte: Erst hat der mir Anvertraute getrunken, dann ist er ins Auto gestiegen, von mir aus: auf deine Landstraße, dort hat er durch Hupen und Lichtzeichen seinem Vordermann deutlich gemacht, dass dieser schneller fahren soll. Wegen einer Unerwarteten Abbremsung des Vordermanns ist der mir Anvertraute dann in den Anvertrauten gefahren und hat also Fahrerflucht begangen. Ich weiß es nicht, denn meistens sichte ich die Akten meiner mir Anvertrauten nicht. Die meisten haben ihre kriminelle Hochphase laut Statistik mit 25 Jahren erreicht. Der mir Anvertraute hat von dieser Statik nicht viel gehört, wie es scheint. Als der mir Anvertraute erneut entlassen wurde, sind ihm seine Papiere von der Brücke neben der Anstalt auf die Autobahn geflogen. Er sammelte sie ein. Heißt er ist die Ausfahrt nach unten gelaufen, auf dem Standstreifen geschlichen und dann auf die relativ unbefahrene Autobahn, wie er sagt, gesprungen und hat seine Papiere eingesammelt. Wurde erwischt und seine Auflagen wurden verschärft. Das war ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr nach § 315 b StGB. Zu unterscheiden ist hier der Eingriff von außen, wie ihn der mir Anvertraute sich zu Schulden kommen lassen hat und die Verkehrsfeindliche Inneneingriffe – den PKW als Waffe benutzen. Pädagogisch gesprochen, würde ich sagen, ein Teil von ihm ist noch immer Fünfzehn. Tante und Onkel waren ausgezogen und hatten das Kind untergebracht. In einem betreuten Wohnen nach. Dort sei er rausgeflogen. Das wegen zu geringer Hilfebeteiligung. Heißt also er hat sich nicht an die Regeln gehalten. Er kam ein Heim. Wurde wieder straffällig. Was genau, weiß ich nicht. Kann ich aber in die Akte gucken. Wegen der, mir unbekannten, Straftat landete er wieder im Vollzug. Es heißt zwar Haftstrafen sollten nicht unter sechs Monaten liegen – das ist unter § 47 Abs. 1 StGB geregelte – weil dann die negativen Effekte, wie Kriminalisierung zu sehr im Vordergrund liegen, das hielt den entscheidenden Richter allerdings nicht davon ab den mir Anvertrauten wieder in den Vollzug zu stecken. Der mir Anvertraute ist immer wieder durch das System gefallen. Als meine Frau noch da war, haben wir den ganzen Morgen da gesessen und ihre Träume gedeutet. Wir tranken Kaffee, saßen in der Küche unserer kleinen

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Wohnung und deuteten ihre Träume. Es hat eigentlich immer gleich begonnen. Ich war schon früher wach und machte Kaffee. Wenn ich einen guten Morgen hatte, wusste ich etwa, wann meine Frau aufsteht, ins Bad geht und vom Badezimmer in die Küche kommt – und gut war, dass ich ihr einen frisch gebrühten Kaffee quasi à la Minute hinstellen konnte. Hatte ich keinen guten Morgen, gab es zwischen: sie setzt sich an den Tisch und ich serviere den Kaffee ein kleines Zeitloch. Ich glaube sie hat mir die Zeitlöcher verziehen. Dann saßen wir erst einmal da und haben nichts gesagt. Meist fing sie dann an, über ihre Rückenschmerzen, Kieferschmerzen – sie war Zähneknirscherin – zu klagen und infolge der Kieferschmerzen, litt sie unter Kopfschmerzen. Die ersten Worte, die wir miteinander tauschten, drehten sich um ihre Symp­ tome. Überhaupt ruhte unsere Beziehung auf dem Rücken ihrer Wehwehchen. Wenn ich zu ihr Wehwehchen sagte, machte sie das wütend. Deswegen sagte ich Wehwehchen nur, wenn ich sie wütend machen wollte. Und wütend wollte ich sie nur machen, wenn mich ihre Wehwehchen nervten. Bruxismus, wie ich nachgelesen habe, kann sogar Tinnitus auslösen. Ich habe meine Frau dann gefragt, ob sie ein Piepen im Ohr hat. Weiter kann es Kieferschmerzen, Kauschmerzen und Kopfschmerzen auslösen. Das wussten wir schon. Die drei großen K des Bruxismuses. Das Wort Bruxismus erinnert mich an Brutalismus. Wenn meine Frau mich mit ihren Wehwehchen nervte, dann schlug ich ihre Symptome nach um ihr zu sagen, was sie hat. Wissenschaftlich gesehen, sagte ich ihr am Küchentisch, ist der Bruxismus noch viel zu wenig erforscht. Die Forschung weiß noch nicht einmal, ob es sich überhaupt um eine Krankheit handelt. Und die Forschung weiß auch nicht ob man diese Krankheit behandeln kann oder muss – wenn es denn eine ist. Das machte sie meist ziemlich wütend. Das Foto ist grau auf dem Display. Das Telefon im Standby. Ich nehme meinen beiden Finger und lege sie auf mein Gesicht und vergrößere mich. Details über Details. Flecken von denen ich nicht wusste, dass sie existieren. Haare dessen Existenz ich abstreiten würde. Ich sitze am Schreibtisch und starre auf den Bildschirm meines Telefons. Es ist egal wie lange ich das Foto anschaue, ich kann den Hass nicht reduzieren. Ich trage eine Brille. Das ist praktisch. Nicht weil ich dann was sehe, nicht nur das. Sondern auch weil ich auch ein Brillenputztuch in meiner Tasche habe, womit ich also die Brille putzen kann, aber nicht nur das. Immer wenn ich nervös werde, werden meine Hände schwitzig. Das ist mir oft unangenehm. Ich denke dann, jeder kann das von Zehn Metern, wenn nicht riechen, doch aber sehen,

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wie nass meine Hände sind. Das ist mir unangenehm. Ich denke dann, es hat sich bereits eine Pfütze unter mir gebildet. Getraue ich mich nach zu sehen, gibt es natürlich keine Pfütze. Soviel kann ich an den Händen gar nicht schwitzen. Aber um dem vorbei zu beugen, nehme ich mein Brillenputztuch, gebe vor meine Brille zu putzen, indessen ich doch meine schwitzigen Hände abtrockne. Letzte Woche ist der mir Anvertraute bei den sozialen Diensten zu einem Training gewesen. Ein Training für Verkehrsstraftäter. Man sagt aber Verkehrsdelinquenz, wie man mich korrigierte. Verkehrsdelinquenz, weil das nicht so stigmatisierend ist und weil jeder Verkehrsteilnehmer Gefahr läuft einen Normverstoß zu begehen. Also ich wüsste, wenn ich gerade einen Normverstoß begehe. Ich sehe da keine ständige Gefahr. Aber was ich sage und denke, spielt wohl keine allzu große Rolle. Bei diesem Training da habe ein Mann gesagt, er feiere gerne Feste. Feucht fröhliche Feste. Er habe oft diese Alliteration gebraucht. Mein mir Anvertrautet machte sich lustig über den Mann, denn er schien nicht zu wissen, ob er das Sprachliche möge oder die Sache an sich. Mein mir Anvertrauter ist nicht dumm. Aber damit habe er recht gehabt. Ausgiebige Feiern damit kann auch er etwas anfangen. Nur aus Bequemlichkeit fährt man dann mit dem Auto Nachhause. Der Mann bei den Sozialen Diensten sagte, in seiner Gegend ist Nachts keiner auf der Straße. Keine Gefahr also. So wenig Gefahr, dass er mehr aufpassen muss nicht eine Katze zu überfahren. Nach StGB § 315c ist das eine Gefährdung des Straßenverkehrs und dazu ein Vergehen, dass durch rücksichtslose Weise begangen wurde. Rücksichtslos ist ein Vergehen dann, wenn aus eigensüchtigen Motiven und aus Gleichgültigkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern begangen wurde. Für z.B. ein schnelleres Fortkommen oder aus Bequemlichkeit. Auch Katzen gegenüber. Raser und Säufer, meinte der mir Anvertrauten, sind die beiden Menschen, die immer alles bagatellisieren müssen. Und ich dachte nur, bagatellisierst der sich jetzt selbst durch die Anderen? Meine Frau war immer ziemlich wütend, wenn ich meine rationale Brille aufsetzte, wie sie sagte. Ich habe das später mal analysiert und bin darauf gekommen, dass wenn Menschen mir mit ihren Symptomen zu nahe kommen, ich anfange diese Krankheitserscheinungen a zu rationalisieren und b gerne die Verantwortung über die Symptome bei dem mir Gegenüber belasse. Was c zur Folge hat, dass sich derjenige allein gelassen fühlt. Ich habe herausgefunden, dass wenn Menschen von ihren Problemchen erzählen, dass sie dann gerne wollen, dass man sich auf ihre Seite stellt. Wenn ich das Gefühl habe, jemand will mit seinen Symptomchen mich auf seine Seite ziehen, fühle ich mich manipuliert und mein

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Anti-Manipulations-Deflektor-Schild schaltet sich ein und ich sage: wegen dem Bruxismus brauchst du eine Verhaltenstherapie. Ich habe aber tatsächlich keine Ahnung, ob die Verhaltenstherapie gegen Bruxismus hilft. Manchmal ist meine Rationalisierung nichts als Wortklauberei. Wortklauberei hat meine Frau mir oft vorgeworfen, als sie noch da war. Ich habe das Fenster ein Stück aufgemacht. Manchmal macht mich die Stille im Büro verrückt. Wahrscheinlich nicht nur mich. Das Fenster ist ein Spalt offen. Angekippt. Trotzdem meine ich, hat die Stille im Büro zugenommen. Vielleicht ist es so, dass wenn man auf Jemanden wartet, einem der Moment besonders still vorkommt. Weil man dann besonders auf sich zurück geworfen ist. Zumindest sich so fühlt. Ich habe in meinem Leben immer selbst agiert. Nicht in eine Minute habe ich die Zügel meines Lebens aus der Hand gegeben. Religiöse Menschen können das nicht verstehen. Für die gibt es nichts, als diese Zügel einmal los lassen, um sich für immer mit ihrem Gott zu vereinen oder in dieses Gottes Gefüge zu geben. Ein Teil von Gottes Uhrwerk, von Gottes Mühlen zu werden. Ich bin Atheist. In meiner Welt gibt es kein Wesen, kein Schicksal, keine Macht, die die Zügel in der Hand hat, außer mich selbst. Für mich gibt es kein übergeordnetes Mahlwerk, nur das, das sich der Mensch selbst auferlegt oder rein begibt. Die tägliche Routine. Der Mensch, das ist der Mensch als Sand im Getriebe. Ich habe mal gehört Gott wäre das ewige Du. Derselbe Mensch hat auch gesagt, das Ich entsteht im Du. Der hat gesagt, der Mensch, das ist der Mensch im Verhältnis zu den oder zu seinen Anderen, das weiß ich nicht mehr so genau. Der Mensch, der das gesagt hat, war auch religiös, aber Jude. Deren Argumente sind meist durchdachter und weniger getrieben. Die Juden haben immer argumentiert, als hätten sie alle Zeit der Welt. Die Christen immer so, als hätten sie das Messer bereits im Rücken. Gottes Messer im Rücken. Das Christentum ist die Angststörung des Altertums Aber was bleibt den meisten Menschen übrig? Viele meinen ja die Religion sei was für den absteigenden Ast. Wenn ich mich in meinem Umfeld so umschaue, kann ich dem im Prinzip zustimmen. Im Prinzip, weil sich religiöse Gedanke doch immer wieder einschleichen. Der religiöse Gedanke ist ja nichts anderes als die willentliche Abgabe der Zügeln. Ob ich Gott mit seinen drei Namen nenne oder ich den religiösen Gedanken in meiner neuen Spiritualität verbuche. Verbuche, ich sage hier bewusst verbuchen weil mir die Sprache der Ökonomie immer die Zügel waren, die ich am ehesten halten konnte. Im Gegensatz dazu muss ich ehrlich sagen, dass mich dieser ganze moderne Quatsch von Selbstfindung ziemlich genauso nervt, wie die alteingesessenen Glaubenssysteme. Dieser ganze spiritistische Mist ist für mich, nichts als Ersatz-

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religiön. Kann sich einer mit keiner der drei Großen anfreunden, bleibt wohl nur die Kulturflucht. Dann heißt es wieder man muss zu sich kommen, sich selbst finden und sich erkennen. Wenn ich mich selbst finden will, muss ich mich ja erst einmal von mir trennen und das kann ich nicht. Ich bin immer da. Es gibt keinen Tag an dem ich mich nicht habe. Das ist der ewige Fluch des Lebens. Man kommt nicht von sich los. Man kann sich nicht vergessen. Man kann sich nicht verdrängen und man kann auch sich nicht finden. Daher! Wenn man für einen Monat in einer dunklen Höhle ohne Menschen ohne alles wohnt und dann nach den vier Wochen wieder mal in einen Spiegel schaut. Dann hat man wahrscheinlich einen kurzen Moment von Findung. Eigentlich aber war man die ganze zeit da. Der mir Anvertraute hat sich im Gesicht tätowieren lassen. Das Maori Gesichtstattoo wäre für mich wie ein Fluch, habe ich ihm gesagt. Und insgeheim habe ich mich gefragt, wie viel Angst muss eine Person haben, sich dauerhaft eine Kriegsbemalung ins Gesicht einfleischen zu lassen. Ich soll den mir Anvertrauten keine Vorschriften machen. Jeder lebt sein Leben nach seinen Vorstellungen und wird damit glücklich oder auch nicht. Man kann nie wissen was der Morgen bringt. Man kann deswegen auch nie Empfehlungen aussprechen. Ich sage dem mir Anvertrauten er soll seine Gerichtstermine wahrnehmen und nehme insgeheim in Kauf ihn in seinen Tod durch den herunter fallenden Dachziegel geschickt zu haben. Manchmal fällt es mir schwer die mir Anvertrauten nicht mit meinem Rat zu schlagen. Manchmal habe ich keine andere Wahl entweder ich darf mich mit meinen Gedanken rum schlagen oder ich spreche sie aus. Dieses Selbstfinden beschäftigt mich. Im negativen Sinne. Vielleicht will ich mich auch nicht finden. Zu mir kommen und so weiter. Ich bin aber dennoch davon überzeugt, der der sich finden will, der entfernt sich. Ja ich kann Argumente, wie sich entfernen, um zurück zu kommen nicht dulden, mögen sie noch so plausible sein. Augenscheinlich plausible sein. Ich werde mich für diesen spiritistischen Mist nicht erwärmen können. Und wenn ich ehrlich bin, dann denke ich: das das alles auf zweierlei Fehlglauben der Menschen beruht, die meinen sie hätten etwas Außergewöhnliches gesehen oder erlebt. Zum einen will jeder Mensch etwas Besonderes sein, außer vielleicht die Depressiven, die wollen gar nichts sein. Jedem Menschen, der etwas besonderes sein will, dem kommt ein besonderes Ereignis wie gerufen. Wenn es doch heißt, das Ich entsteht im Du, muss das auch heißen, das Ich entsteht im Du aus Besonderheit. Für den Exzentriker ist dieses Besondere wie Heroin für den Junkie. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Wie Brot und Wein aus Luft. Befriedung eines

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Bedürfnisses, wie Wasser mit einem Sieb schöpfen. Der zweite Irrglaube betrifft die Wahrnehmung des Menschen. Es ist nicht weit hergeholt, dass der Mensch von seiner Wahrnehmung, wie das Kind von der Mutter, abhängig ist. Er ist aber in keinem Idealisierungsprozess dieser Wahrnehmung, sondern die Wahrnehmung ist die Idealisierung und andersherum. Was zur Folge hat, dass der Mensch seine Wahrnehmung als absolut empfindet. Es gibt nichts, was ich nicht schmecken, riechen, sehen und so weiter, kann. Selbst wenn die Wahrnehmung des Menschen irritiert wird. Wie durch einen Zaubertrick oder die Erleuchtung. Man denke an die billigen Tricks Sitz-schwebender Einkaufstraßen-Yogis oder wie auch immer man diese Leute auf ihrem Stuhl bezeichnen mag. Selbst wenn der Mensch eigentlich merken müsste, dass seine Wahrnehmung ganz und gar nicht souverän und reliable ist, sondern sogar äußerst fragil und labil ist, ist er nicht gewillt sein Dogma der absoluten Wahrnehmung aufzugeben. Er ist eher bereit zu sagen, ihm sei etwas außergewöhnliches passiert. Etwas Spirituelles. Etwas, das die Wissenschaft nicht begreifen kann. Das ist nichts, als der feige Plan B eines schwachen Menschen. Was außerhalb der engen Grenzen der Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung passiert, existiert nicht oder ist gleich der Gottesbeweis – heutzutage der Spiritismusbeweis. Ich bin gern ein Mensch, dem man seinen Stress nicht ansieht. Nicht ansieht heißt ich sitze in einem Café, lasse mir die Sonne auf die Stirn und in den Kopf scheinen. Die Sonne scheint mir in den Kopf, denke ich tatsächlich. Wobei ich in Wirklichkeit durchaus gestresst bin. Ich sitze ruhig im Café schaue meinen Kaffee dabei zu, wie er leerer wird, indessen die Welt über mir zusammen bricht. Ich sitze ruhig im Café, lasse mir nichts anmerken, nur um nach Hause zu rennen oder zu einem Termin zu hetzen. Dass ich mal nicht Zehn Minuten zu spät, kommt nicht vor. Ich mache das alles nur, um mir zu beweisen wie ruhig und gelassen ich bin, während wie gesagt, die Welt über meinem Kopf zusammen bricht. Nur um mir zu beweisen dass ich irgendetwas gelernt hätte. Aus meinem Leben gelernt hätte, um es weiter zu geben. Um mich besser aufopfern zu können. Intensiver feil bieten kann. Mich anbieten kann, wie auf einem Dienstleistungs-Basar für Soziales. Für das Ehrliches. Für das Gute. Ich will mich für eine gute Sache aufopfern, damit ich selbst nicht existieren muss. Ich will mein Wissen aus meiner Nicht-Existenz weiter geben, um überhaupt zu sein. Ich stehe auf der Straße, dem Provinzboulevard der Kleinstadteinkaufsstraße vor dem Büro. Es mag wohl Nachmittag sein inzwischen. Ich würde mich nie fragen, warum der mir Anvertraute nicht zu dem Termin erschien. Ich finde das respektlos. Ich denke, man sollte einer Respektlosigkeit nicht mit einer anderen

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Respektlosigkeit beikommen, weil es die vorangegangene Respektlosigkeit rechtfertigt. Sie gar legitim erscheinen lässt. Ich stehe mit dem mir Anvertrauten nicht auf einer Stufe. Ihm gegenüber wurde ich nie respektlos auftreten. Habe es auch nie getan. Ich bin nicht mit den mir Anvertrauten befreundet. Ich habe ihm gesagt, irgendwann einmal, wenn wir nicht mehr zusammen Arbeiten, kein Arbeitsverhältnis mehr haben, dann könnten wir mal ein Bier trinken gehen. Ich habe mich nicht gut gefühlt, nach dieser Aussage. Fast ekelhaft. Ich schaue nach oben. Der Himmel noch immer Blau. Der Rollkragen kratzt an meinem Hals. Mir ist warm. Zwei weitere Kondensstreifen sind dazu gekommen und bilden mit dem ersten ein A. Ich glaube aber nicht an Zeichen. Mich am Hals kratzend laufe ich den Boulevard entlang und meine noch erkennen zu können, dass hier vor ein paar Stunden Markt gewesen ist. Das vor allem am überall herum liegenden Müll. Die meisten meiner mir Anvertrauten, haben oft Angst. Sie meinen meistens sie würden sich ändern wollen. Sie wollen sich aber nicht ändern, sie wollen einer Strafe entgehen. Sie sehen nicht ihr Verhalten. Sie erzählen mir, wie sie da und hier drum herum kommen, aber sie wollen sich nicht ändern. Der mir Anvertraute, hat mir mal erklärt, wie man die MPU austricksen kann. Er meinte er habe einen Ratgeber gelesen und einen Anwalt befragt. Der Anwalt hat ihm versprochen, ihm zu helfen die MPU zu knacken. Als wäre die Untersuchung ein Rätsel einer Sphinx. Ich sage Ihnen, wie Sie der Sphinx den Schädel spalten. Ich kann solche Anwälte nicht leiden. Man darf jetzt nicht glauben, ich sei eifersüchtig oder neidisch. Der Anwalt der Heilsbringer. Ich glaube solche Anwälte sind ein schlechter Einfluss. Mit solchen Anwälten kann man gleich sein Testament schreiben, das habe ich so meinem mir Anvertrauten gesagt. Ich habe gefragt, ob dieser Anwalt auch testamentarische Arbeiten macht. Und lachte. Wieder allein. Der mir Anvertraute fand das nicht witzig. Weswegen ich wieder zum Ernst des Tages übergegangen bin. Diese Anwälte werben mit Sätzen wie: Sie glauben die MPU wäre fair? Dann schauen Sie sich die Faktenlage an. Die Faktenlage, denke ich und meine: wer hat es nötig sich doppelt abzusichern. Entweder die Fakten so und so aus oder die Lage. Diese Anwälte spielen mit der Angst der mir Anvertrauten. Und die mir Anvertrauten, sie haben Angst. Sie haben Angst vor der Bestrafung. Sie sehen nicht, dass die Bestrafung auf ihr Verhalten folgt. Sie können das nicht verknüpfen. Sie gehen von sich aus. Sie meinen sie seien sicher, wenn sie besoffen hinter dem Lenkrad sitzen und nur schnell nach Hause wollen, nach dem es mal wieder feucht fröhlich gewesen ist. Sie sagen, ja sie waren bequem.

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Das Auto zu nehmen, obwohl man randvoll besoffen 3,5 Promille intus hatte. Das ist reine Bequemlichkeit. Falsche Bequemlichkeit. Es macht mich rasend, wenn sie sagen Bequemlichkeit und da wünsche ich mir manchmal insgeheim. Still für mich, dass etwas passiert. Dass sie ein Kind überfahren und endlich aufwachen. Dann wieder denke ich, ich sollte nicht solche Gedanken haben. Als meine Frau noch da war, haben oft den ganzen Morgen dagesessen und ihre Träume gedeutet. Meisten hat sich erst dagegen gewehrt und gefragt, wozu wir das machen. Woraufhin ich mich künstlich echauffierte und ihr besonders artifiziell und hochtrabend erklärte, dass Träume das Tor zu ihrem Ich seien. Wie pervers das Ganze war – fiel mir erst viel später auf. Sie hatte gesagt, sie hatte von drei meiner Exfreundinnen geträumt. Sie sagte, sie wüsste nicht mehr, was diese drei Frauen in ihre Traum gemachten haben. Sie waren einfach da, sagte sie. Meine Frau war oft Opfer ihrer selbst, dachte ich und ich sagte: die drei großen Rivalinnen, die keine sind. Und ich sagte: wie sieht deine Deutung aus. Sie habe keine Deutung, außer dass sie sich furchtbar fühlte. Ich konnte das nicht verstehen, wie man sich so vor die Hunde der eigenen Gefühle werfen kann. Ich konnte nicht begreifen, wie man sich so sehr seinem, von mir aus, Unbewussten so sehr ausliefern kann. Sie sagte, sie wissen trotzdem nicht, was es bringen soll, ihren Traum zu deuten. Woraufhin ich laut los-lachte – ja geradezu laut los prustete – während wir am Küchentisch saßen. Ich sagte, Träume deuten, wäre eines meiner größten Vergnügen. Das ging so hin und her. Wir stritten und zwischen durch deute ich ihren Traum. Ich half ihr meine Deutung über – wie pervers das war. Ich sagte ihr, klar ist das furchtbar, aber was will der Traum dir sagen. Unsere Traumdeutungs-Session endete meist damit, dass sie ging und ihren halbleeren Kaffee auf dem Küchentisch stehen ließ und ich wartete, bis er kalt geworden war und ihn dann weg schüttete. Sie war einfach so oft so eifersüchtig und neidisch, auf alles was mich nur im geringsten interessieren könnte. Als krankhaft eifersüchtig würde ich sie nicht bezeichnen, obwohl sie es war. Sie war krankhaft eifersüchtig, aber sie riss sich zusammen. Und das rechnete ich ihr hoch an. Ich weiß es nicht. Ich habe ihre Eifersucht, trotzdem nicht ertragen. Manchmal ist es so, dass wenn man mit einem tendenziell – mit einem Menschen mit einer Eifersuchtsdisposition zusammen ist, dass man diesem beweisen will, dass er dass sie recht hat. Man will denen einen Gefallen und ihnen zeigen, dass sie recht haben. Dann denkt man wieder, so einfach ist man nicht zu manipulieren. Ich schlängele mich inzwischen durch das Baugelände am Bahnhof, ohne Notiz von dem geschlossenen Café genommen zu haben. Der Zug in dieser Provinz

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kommt nur alle Stunde. Ich hasse diese Scheiss-Provinz. Irgendwas muss es geben, dass sie dazu bringt aufzuwachen. Ich frage die mir Anvertrauten, auf einer Skala von ein bis zehn, wie wahrscheinlich ist es, dass Sie wieder besoffen fahren und sie sagen, das ist schon wahrscheinlich. Und ich stehe da und kann nichts machen. Außer sie begleiten. Begleiten in den Tod. Ich trage ihre Schuld mit. Jeden Tag häuft sich meine Schuld. Ich frage mich, warum der mir Anvertraute heute nicht gekommen ist. Anfänglich habe ich die mir Anvertrauten gedutzt. Wenn die mir Anvertrauten Angst haben, macht mich das sauer. Ich kann mit ängstlichen Menschen nicht umgehen. Ich habe mir das Dutzen abgewöhnt und bin zum Sietzen übergegangen. Auf dem Bahnsteig, in diesem Bahnhof bin ich der einzige Mensch. Ich habe mich für die mir Anvertrauten immer vollständig aufgeopfert. Ich sage vollständig und meine, ich habe mein Leben dem Leben, der mir Anvertrauten aufgeopfert. Heute ist der erste schöne Tag in diesem Frühling. Ich setze mich auf eine Bank und warte auf den Zug. Meine Frau hat mir immer ein Bild aus dem Fahrstuhl geschickt. Sie hat in einer IT-Firma als Assistenz gearbeitet. Es ging um Sicherheitssysteme, so genau weiß ich das nicht. Sie hat mir oft ein Bild aus dem Fahrstuhl geschickt. Diese Bilder sahen so aus, dass sie ihr Smartphone nahm und ein Foto von sich im Spiegel schoss und mir schickte. Einmal waren wir zusammen im Fahrstuhl und haben ein Bild gemacht. Sie hat mir auch das Bild geschickt. Wahrscheinlich mit einem Kommentar dazu. Wahrscheinlich ein Kommentar, wie: schau mal: wir. Meine Frau hat gern, wir gesagt. Wenn meine Frau, wir sagte, bin ich innerlich zusammen gezuckt, ohne dass man es äußerlich sehen konnte. Mein Zug fährt ein. Ich stehe langsam von der Bank auf. Die Türen öffnen sich und vereinzelt treten einige Menschen aus der Tür. Manche rauchen nur eine und warten auf die Weiterfahrt. Andere wohnen tatsächlich hier. Ich halte einen Moment inne, bevor ich in den Zug steige. Es hat für mich immer etwas befreiendes diesen Ort zu verlassen. Wie ich in den Zug steige, denke ich wortwörtlich: ich habe mir das Fahrstuhl-Bild nie angeschaut.

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Herzschlag und Wermut M

al wieder einer dieser Abende. Es war kurz vor zwölf. Ich hatte mich nicht in Schale geschmissen, trug aber Anzug. Schwarz mit Rollkragen. Die Leute meiden einen dann. Das war mir ganz recht. Die Leute mögen Anzüge nicht. Einer dieser Abende, man weiß einfach wie er ausgeht. Ich stand auf einer brüchigen Straße vor der Tür und klingelte. Rutschte zwischen den Steinen hin und her. Ich war nicht nervös. Es war den Tag über sehr heiß gewesen. Ich hatte mich nicht wie viele andere an den Strand gelegt, sondern den Tag in meinem Wagen mit offenem Verdeck verbracht. Die Beine auf dem Amaturenbrett überkreuzt. Im Rücken dieser Vergnügungspark. Unter mir der Holzsteg und aus meinem Blickwinkel nichts, als der Atlantik. Ich genoß diesen privaten Moment unweit des Strandes, wo wie gesagt die Anderen waren. Wer sagt, die Hölle, das sind die Anderen, der besorge sich einen Wagen und verbringe einen Tag mit sich selbst. In meiner Zeit in New York kam ich irgendwann zu dem Punkt, wo ich mich zwischen Essen und Trinken entscheiden musste und ich beschloss das restliche Geld an einem Tag in Flüßiges zu verpulvern. Es war noch immer heiß – relativ. Ich ließ mich davon nicht stören und hatte einen handlichen Sonnenschirm zwischen Oberarm und Brust geklemmt, als wäre ich von einem Speer getroffen. Ich klingelte noch einmal, hörte wie jemand auf der anderen Seite an die Tür trat, sah wie ein Oktupusauge durch den Türspion spähte, hörte ein metallenes Geräusch, als der Blickschutz beiseitegeschoben wurde und ein Bulldoggen Gesicht schaute durch das Bullauge von Fenster in der Tür der Bar und öffnete diese. Mir waren diese Klingelspiele und das warten schon immer albern, nicht mal als Kind fand ich Klingelstreiche besonders witzig. Als ich in die Bar wie gesagt, kurz vor zwölf kam, herrschte bereits ein reges Treiben. Ein Waits-Verschnitt kämpfte mit dem Klavier. Hier konnte niemand mehr sagen, dass Piano hätte getrunken. Ich zerteilte eine Schicht Rauch und ließ den Schirm in einem ausgebeulten Metallzylinder zurück. Der Blick ins Portmonee offierte eine Aussicht in absolute Leere. Ich wusste was das heißt – ich

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musste später irgendwie halbwegs ungesehen die Zeche prellen. Was ich hier gut finde, man wird nicht angestarrt. Du kommst nicht in den Raum und die Gespräche versiegen und die Leute stieren auf dich. Nein wir sind hier nicht in der Provinz. Jeder ist hier so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er gar keine Zeit hat irgendwie zu schauen, wer, was, wie und weshalb da die Tür reinkommt. Ich hatte mich an die Bar gestellt. Das ist eine Sicherheitsmaßnahme. Ein Deckenventilator drehte unaufhörlich seine Runden und gab ein Quietschen von sich, das ich unter Gesprächsgeräuschen und Klaviergeklimmper nur schwer ausmachen konnte. Ich hatte mich an die Bar gestellt, obwohl ein Hocker neben mir frei war. Ich muss einfach wissen wann Schluss ist. Im Sitzen geht das nicht. Da säufst du und säufst, stehst auf und zack trifft dich der Schlag – du bist rotzevoll. An der Bar stehen ist eine Vorsichtsmaßnahme. Ich weiss dann wie viel ich saufe. Zumal ich, um hier einfach abhauen zu können einigermaßen Herr meiner Beine sein sollte. Ich hatte meinen braunen Hut abgelegt. Oft mache ich auch noch meine Uhr ab und lege sie auf den Tresen, dazu war ich nicht in der Stimmung. Ich wollte mich nicht allzu heimisch fühlen, denke ich. In der Not frisst der Teufel Kaviar. Mir war diese Gruppe von mehreren Männern und einer Frau gleich aufgefallen. Eine Königin unter Dilettanten, dachte ich und bestellte einen Wermut, Belsazar rot. Öffnete den Knopf meines Jacketts. Ich dachte erst die Männer wären schwul – waren sie aber nicht. Schwule schauen irgendwann irgendwie zu mir rüber. Diese hatten von mir nicht die geringste Notiz genommen. Es machte mir nichts aus. Die Bienenkönigin massig umringt von drögen Drohnen, die sie nur für mich interessanter machten. Ich trank. Ich mochte das Zeug, weil es so süffig ist und wegen dem Namen. Baal, Belzebug, Balthasar, Behemoth, Belsazar, diese Buchstaben das konnte nur Gutes verheißen. Ein Saxophonist kam dazu. Stellte sich neben das Klavier und den besoffenen Musiker und fing, ohne den Anderen anzuschauen, an zu spielen. Ich weiß noch, ich stellte etwa gegen Mittag, den Wagen auf den Holzsteg, wusste die Karusselle hinter mir, öffnete das Verdeck und hörte ein paar Songs, die genauso wie die Insel hießen. Noch in den 40ern trennte die Insel von Brooklyn eine Meerenge. Um eine Autobahn zu bauen einverleibte man Coney Island dem Rest. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein. Ich hatte schon morgens mit dem Trinken angefangen. Dann den Wagen geliehen, hatte mich aus der unsäglichen Atmosphäre Manhattans schnell entfernt und ihn direkt ans Wasser gestellt. Zu zweit wäre es sicher romantisch gewesen. Alleine war ich nur irgend

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zu besoffen um den Wagen auf gerader Spur zu halten. Ich nenne das D&D drink and drive. Die Sonne knallte mir ins Gesicht und ich schlief ein. Ich hatte einen Plan gefasst mich erst mit Drohnen anzufreunden um dann auf die Königin zu stürzen. Das dürfte nicht aussehen wie eine Attacke, weshalb ich um mich zu beruhigen, noch einen Belsaza bestellte. Zugegeben kein kongenialer Plan, aber immerhin ein Plan. Rücklings hatte ich mich gegen die Bar gelehnt. Abgestützt auf dem Tresen ließ ich meine Hände baumeln. In der einen Hand der Wermut mit der anderen drehte ich eine Zigarette, die ich aber noch nicht anzündete. Der Waits-Verschnitt spielte tatsächlich ein Lied seines augenscheinlichen Idols. Es war aber nicht Coney Island Baby, sondern irgendwas von Heartattack and Vine – ich wusste aber nicht genau was. Irgendwie kamen mir alle Menschen wie Hunde vor. Man ließ sich die Haare als Mann wieder im Gesicht stehen. So gab es langhaarige Hunde, kurzgeschorene Köter und kunstvoll melierte Kläffer. Und der Rest sah aus wie hochgezüchtete, aber zum Leben unbrauchbare Pudel. Männer die aussehen wie Frauen und Frauen als hätten sie gar kein Geschlecht. Man hat mir schon öfters gesagt, ich sei irgendwie kein besonders großer Menschenfreund. Neben mir betrank sich ein Paar oder zwei Fremde auf einem Date. Ich hörte Fetzen von: nur dieses Mal. Kein Wort zu ihr. Das bringt sowieso nichts. Dann verließen sie die Bar. Einer die Hand in der Gesäßtasche des Anderen und ich kam mir vor wie im Rodeo. Fehlte noch der Staub auf der Zunge, für ausreichend unangenehme Hitze sorgte das Klima hier. Die Gruppe mit den Männern und der Frau stand noch immer neben mir. Man hatte sich in diesen Räumlichkeiten angewöhnt einen Klavierspieler und manchmal einen Saxophonisten zu engagieren. In dieser Bar irgendwo in Brooklyn. Nach kurzer Zeit war ich schon angefüllt von der Musik, dem Rauch und auch von dem Alkohol. Ich war etwas tiefer gesunken und saß beinahe rücklings an der Bar, was mir auf die Knie ging. Meine Augen formten sich zu Schlitzen, die wie Nebelscheinwerfer das Interior abtasteten. In jeder Pause des Musikers bestellte ich ein neues Glas und trank das Zeug in einem Schluck. Ein Schluck ist gut, aus dem Augenwinkel sah ich, dass die Flasche bald leer war. Weswegen ich dann doch einen Manhattan bestellte – besser früher als nie. Die Musik zerfloss in meinen Ohren, mein roter Drink wurde schwarz in meinen Augen Ich hatte kein Feuer dabei und fragte explizit nach Streichhölzern und zwar die Gruppe neben mir. Die Frau in der Mitte hatte welche und ich meine Eintrittskarte. Ich bestellte lautstark eine Runde Belsaza für alle. Es wunderte mich, dass die

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Frau so oft zum Barkeeper schaute, machte mir aber nicht viel daraus. Die Bienenkönigin hatte Leder-Ballerina, die vorne an der Spitze belackt waren, an. Ihre Beine waren dünn, sehr dünn, man würde denken sie brechen bei jedem Schritt. Sie waren durchgedrückt und ihre Unterschenkel standen über wie zum Sprung bereit, wie die einer Antilope. Ihr Haar war aschblond. Die Pupillenknöpfe so groß, dass sie ihre Iris verschlangen. Die Lippen schmal und rot angemalt. Kein Lippenstift, sondern ein roter Stift, den sie in regelmassigen Abständen, wann immer sie von ihrem Glas nippte, herausholte und den Strich nachzog. Einer der Männer, die ich als Drohnen bezeichnete hatte Motorradkleidung an. Er verhielt sich irgendwie anders als die Anderen. Es war seine Geste und Gebärde, ich wusste aber nicht was daran. Aber ich muss sagen Wermut trunken wie ich war, nahm ich an, dass musste ihr Freund sein. Vor dem musst du dich in Acht nehmen. Ich stob und stakte im süßen Wermut. Ich klebte wie eine Motte ein Nachtfalter in Melasse. Ich wand mich in zurückgelassener Asche alter Zigaretten. Ich tobte und wirbelte Staub auf. Sie lachte allgemein viel oder besonders über meine Scherze. Ich konnte an der Gruppe Männer nicht erkennen, dass ich irgendwie nicht willkommen war. Ich bestellte noch eine Runde roten Wermut für uns und wir stießen an. Als ich mit ihr anstoß, berührte ich vermeintlich versehentlich ihre Schulter. Am anderen Ende des Tresens saß ein langer Typ, der aussah als gehöre er zum Dunstkreis von Musikern, Produzenten und Co. Er war mir aufgefallen, weil ich ihm die Melancholie, mit welcher er in sein Glas schaute, abnahm. Den meisten Menschen, die irgendwie ihre traurige Ader haben, denen glaube ich das nicht. Denen will ich am liebsten sagen, reiß dich mal zusammen. Dem langen Typen am Ende des Tresen aber glaubte ich. Ich nahm ihm seinen Hundeblick gen Glasboden ab. Es gab eine Pause in der Musik und der Waits-Verschnitt von Pianosänger kam zur Bar. Ich sagte ihm, was ich dachte. Wie auf den Live-Aufnahmen aus den Siebzigern – das war eine Art Kompliment. Er bestellte Whisky und ich war sicher das tat er nicht für seine Stimme und sprach nicht weiter mit mir. Die Gruppe der Drohnen und Bienenkönigin hatte sich an einer der wackligen Tische gesetzt, direkt vor dem Saxophonisten. So kann man auch Gespräche verhindern. Der Waits-Verschnitt ging rüber zum Langen und der sprang auf und ging in die Knie, weil er so groß ist, fiel sein Kniefall nicht weiter auf. Unbeeindruckt setzte er sich wieder ans Klavier und die beiden spielten. Ich dachte mir: früher bargen alle Nächte ein Geheimnis. Waren irgend aufregend und so wieso

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ulkig, ein Kapitel für sich, aber der Zauber war abgefallen – schmeckte wie zu lange in Schnaps eingelegte Früchte. Vom Barmann kann man sich eine Schale alter Oliven besorgen, was ich meist auch machte und nahm die Schüssel mit zum Tisch der Königin und bot ihr ein paar an. Man hatte kein Problem damit, dass ich mich setzte. Sie aß die Oliven genüsslich beinahe wie aus meiner Hand. Wobei uns ihre Horde schon argwöhnisch musterte, aber besonders der Barmann schaute mit Argusaugen auf uns. Ich bestellte zwei Wermut und dachte die Sache wäre gegessen. Im Gegenteil nahm er sogar meine Bestellung äußerst widerwillig auf. Auf einmal hatte ich die Bienenkönigin geküsst und an die Brust gefasst – aber nur an eine. Die Gruppe der Männer erschreckte sich, wusste nicht recht wie reagieren. In einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit stand sie um den Tisch, denn sie waren vor Schreck aufgesprungen. Der Mann in Motorradkleidung, den ich für meinen größten Widersacher hielt war zur Bar gerannt. Den Barkeeper im Schlepptau starrten sie uns an. Jetzt bloß keinen Herzschlag bekommen Männer, sagte ich. Bringt doch die Flasche Wermut mit und wir besprechen das –ganz in ruhe. Mein Vorschlag stieß auf taube Ohren, was damit, wie gesagt, zusammen hängen könnte, dass man hier direkt vorm Saxophonisten saß. Die Bienenkönigin, die inzwischen ihre dünnen und gebrechlichen Beine, eingewickelt in Strumpfhosen, auf meine abgelegt hatte, stellte sich als Freundin des Barkeepers heraus. Was wohl die schlechteste Wahl gewesen ist. Es gab ein großes Gezeter und Gejammer. Einen Mann hätte man sicher an Ort und Stelle mehr noch als die Leviten gelesen, mich eine Frau aber schmiss man nur aus der Bar. Als ich aus der Bar kam, war es bereits hell und ich spürte sofort, wie mein schwarzer Anzug sich aufwärmte. Das war angenehm. Deswegen setzte ich mich auf die Stufen vor der Bar, rauchte. Schaute auf den Wagen, den ich geliehen hatte. Holte aus meiner Jackettinnentasche die Flasche geklauten Wermut, trank und stand auf. Machte das Verdeck meines Wagens auf und dachte daran, dass ich den auch nicht bezahlen werde.

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Brüder »Du willst also wissen, was mich antreibt?« Da standen wir gerade vor dem Zaun. Dahinter das Rollfeld. Über uns Flugzeuge. Ein enormes Gebrüll unterbrach immer wieder unser Gespräch. »Du willst also wissen, was mich antreibt?«, fragte mein Bruder erneut. Er war für mich immer ein Vorbild gewesen. Einen Vater hatten wir nicht so richtig. Nicht so richtig trifft es ziemlich genau. Wir waren in einem Einfamilienhaus aufgewachsen. Eigentlich in einer Reihe dieser Häuser. Sicher fünf an der Zahl. Fünfmal umziehen empfand ich als Kind aufregend. Ich musste auch nichts tun, außer auf den Kisten sitzen und warten, bis sie im Haus verräumt waren. Manchmal wurde ich auf den Kisten ins Haus getragen. Ich glaube unsere Mutter hatte ein schlechtes Gewissen. Immer wenn mein Bruder und ich mit anpacken wollten, hob sie die Hand, wie zum Schlag, winkte aber ab und sagte: wir sind noch zu klein. Unsere Mutter hatte etwas herrisches und gleichzeitig liebenswürdiges. Sie schien kein Interesse an uns zu haben und doch war sie immer bestens informiert. Sie wusste, wie die Mädchen hießen, die wir trafen oder mindestens gut fanden. Sie wusste, von unseren Noten, bevor sie auf dem Zeugnis standen. Beinahe war es so, als hätte sie überall ihre Spitzel. Und irgendwie schaffte sie es, dass wir beide unseren Vater nicht ernst nahmen. Einmal hat mein Bruder sogar unserem Vater gesagt, dass er uns nichts beibringen kann. Unser Vater hat dann gelacht und gesagt: kommt drauf an, was du lernen willst. Er dachte das wäre ein Scherz. Aber mein Bruder scherzte nicht. Weil du hier nur ein Gast bist. Das machte meinen Vater fassungslos, aber er behielt seine Contenance. Sowieso war er ein sehr ruhiger Mensch. Es gab an ihm nichts auszusetzen und doch schaffte unsere Mutter es, dass wir ihn nicht mochten, piesackten – bis wir ihn irgendwann hassten. Der arme Mann konnte dafür nichts. Jetzt wie mein Bruder und ich am Rollfeld stehen, denke ich, wir haben dem Mann das Leben schwer gemacht. Er hatte sich immer ein Kind gewünscht. Und unsere Mutter schenkte ihm zwei. Was für zwei. Wenn wir zum Fußball gingen, waren wir für die gegnerische Mannschaft. Er zeigte uns seine Garage und wir meinten wir fänden die Küche interessanter. Er wollte mit uns Drachen steigen lassen und wir sagten, wir würden lieber Pflanzen sammeln. Er wollte mit

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uns Fahrräder reparieren und wir sagten ihm, wir wollen uns die Hände nicht schmutzig machen. Er wollte ein Baumhaus bauen. Wir gingen mit ihm in den Baumarkt. Wir halfen ihm die Sachen in den Wald zu tragen. Die ersten Bretter wurden in den Stamm genagelt. Ein Lastzug eingerichtet. Und ein Dach geplant. Als es schon zu spät war. Als unser Vater im Schweiße seines Angesichts vor dem Rohbau unseres Baumhauses stand, lachte er und er lachte irgendwie selten und wir sagten ihm, wir hätten von Anfang keine Lust gehabt, aber er war so bemüht. Zu zweit verließen wir den Wald und unseren Vater ließen wir zurück. Ein Flugzeug ist über uns hinweg geschossen. Ich hatte mir angewöhnt den Flugzeugen nicht weiter hinter her zu schauen. Mein Bruder verhält sich so genauso. Genauso ist gut, dabei ahme ich ihn nach. Er schaute nur auf die neuen Flieger, niemals auf die vorbeigeflogenen. Sehnsucht war ein Gefühl, dass wir uns ausgetrieben hatten. Vor einigen Wochen ist unser Vater gestorben. Vielleicht auch vor einigen Monaten. Ich weiß nicht. Wir waren nicht auf der Beerdigung. Unsere Mutter war enttäuscht. Allen ernstes enttäuscht. Mein Bruder sagte ihr: sie solle seinen Tod feiern und sich einen richtigen Mann suchen. Da hat unsere Mutter meinen Bruder nur giftig angeschaut. Es gibt zwei Arten von Spinnen. Die Einen bauen ein Netz und warten, bis eine Beute sich in den klebrigen Fäden verfängt. Sie lassen das Netz die Beute fangen und gehen dann nur fressen. Die andere Art baut kein Netz. Sie geht auf die Jagd und schlägt zu. Unsere Mutter sagte immer, man muss wissen, wann man welche Spinne sein muss. Ich weiß nicht, ob unser Vater dieses Baumhaus zu Ende gebaut hat. Jetzt wo wir am Rollfeld stehen, Fluglärm meinen Bruder und mich stumm machen und mein Bruder sein übermäßig protziges Auto direkt an den Zaun gestellt hat, denke ich: oft hat unsere Mutter das Wort Netz gesagt und ich habe Nest verstanden. Ein Flugzeug jagt über unseren Köpfe hinweg. Übermäßig, weil ich immer dachte, mein Bruder wäre einer, der das nicht nötig hat. Mit Statussymbolen protzen. Da habe ich mich geirrt, wie unser Vater sich in seinem Wunsch, einen Sohn haben zu wollen, irrte. Manchmal schlichen wir uns Abends aus unserem Zimmer, saßen vor der Wohnzimmertür, ich noch mit meiner Bettdecke auf der Schulter, mein Bruder mit dem Schürhaken in der Hand – falls unserer Mutter etwas passiert, wie er sagte. Dabei stritten die beiden um uns. Unsere Mutter verteidigte uns. Unser Vater griff sie an, wegen uns. Dass wir nie auf seiner Seite stünden. Dass wir ihn nicht schätzten, respektierten. Einmal fiel das Wort, weil wir ihn hassten. Er hatte

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recht, wir hassten ihn. Aber er wusste nicht, dass wir das unserer Mutter zum Gefallen taten. Ein Gefallen, nach dem sie uns nicht gefragt hatte. Den Schürhaken hat mein Bruder nie benutzt, aber immer wenn die Beiden lauter wurden, warf ich, vor der Wohnzimmertür sitzend, die Decke über meinen Kopf und durch einen kleinen Spalt, sah ich die Finger meines Bruders den Schürhaken wetzen. Mein Bruder war allgemein kein gewalttätiger Mensch, weder als Kind noch jetzt als Erwachsener. Nur einmal hat er in der fünften Klasse einen aus der Dritten verkloppt. In dem Sommer wurde ich eingeschult. Und das nur, weil der Drittklässler ihn angespuckt hatte. Ich sehe das Bild noch heute vor Augen. Mein Bruder auf den Armen des anderen Jungen kniend und ihn anspuckend. Er ertränkte den Jungen in seinem Speichel. Der Junge verschluckte sich und hustete. Ich konnte ein Aufblitzen in den Augen meines Bruders sehen und ein feuchtes Glänzen auf seinen Zähnen. Auch ich fühlte mich gut. Man muss den Menschen zurückgeben, was sie einem geben haben, hat mein Bruder da gesagt. Dann kam eine Lehrerin und schimpfte meinen Bruder. Auf dem Elternabend gab es kein anderes Thema. Seitdem machte es unser Vater unserer Mutter zum Vorwurf gewalttätige Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Er sagte, sie habe uns mit ihrer kühlen Art zu gefühllosen Menschen gemacht. Manchmal dachte ich, wie wir vor der Wohnzimmertür saßen und den Streit unseres Vaters und unserer Mutter belauschten, dass er ihre kühle Art gar nicht unseretwegen anprangerte, aber ich wusste nie was er damit meint. Kühle Art. Mein Bruder hatte mir verboten auf die Beerdigung zu gehen. Ich hatte meinen Bruder immer sehr bewundert und hörte deswegen auf ihn. Aber manchmal da nehme ich durch ein kleines Schlupfloch, einen kleinen Spalt in seiner Aufforderung reiß aus. Ich war zwar nicht auf der Beerdigung, aber danach an unseres Vaters Grab. Meine Frage allerdings, was er mit der kühlen Art meint, hat unser Vater nie beantwortet. Mutter trug ein Jahr lang Schwarz. Wir haben das nicht verstanden. Ein Jahr lang schwarz. Wozu?, fragte ich unsere Mutter. Für den?, fragte mein unsere Mutter. Er war entsetzt und unsere Mutter beschimpfte ihn – damit uns. Als wir Kinder waren hat unsere Mutter immer gesagt, uns sitzt der Schalk im Nacken und hat dabei gelächelt, als würde ihr das gefallen. Heute sagt sie, wir wären mit dem Teufel im Bunde und sie lächelt nur noch selten. Mein Bruder brach die Schule nach der zehnten Klasse ab. Das kann man nicht tatsächlich einen Abbruch nennen, weil er die Schule beendete, mit Empfehlung für das Abitur und sehr guten Noten. Unsere Mutter nannte es Abbruch. Für sie ist jeder Mensch, vor allem jeder Mann, wie sie betonte, der nicht studiert oder

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studiert hatte, wertlos. Ich weiß nicht so genau, womit unser Vater seine ganze Zeit verbracht hat. Beruflich. Ich weiß aber, dass er jeden Abend vor seinem Computer saß. Das war so eine Leidenschaft. Manchmal kommentierte unsere Mutter das und nannte es abfällig Hobby. Desto erstaunter war ich, als mein Bruder nach der Schule eine kaufmännische Ausbildung machte, später doch studierte und inzwischen als Programmierer arbeitet. Mein Bruder war immer ein Spur zu aufmüpfig. Er war immer etwas zu vorlaut. Das brachte uns viel Ärger, weil ich stets für ihn mithaftete. Mitgehangen mitgefangen das heißt: willkommen in der Sippenhaft. Manchmal denke ich, das hat uns erst so richtig zusammen geschweißt und dann denke ich, mein Bruder hätte den ganzen Ärger allein gar nicht ertragen. Wir sitzen auf der Motorhaube des protzigen Autos meines Bruders. Wir reden nicht. Er hat einen Satz angefangen und nicht beendet. Die Motorhaube ist noch warm. Vorhin sind wir über eine Allee gefahren. Er hat mir gezeigt, wie schnell das Auto von 0 auf 100 kommt. Es hat knappe sechs Sekunden gedauert. Als ich meine Hand an meine Armbanduhr, zum Stoppen, anlegte, zitterten meine Finger – aber nur etwas mehr als sechs Sekunden – meine Schrecksekunden abgerechnet. Mich wundert es, dass Flugzeuge nicht stinken. Wenn man sich an eine Rennstrecke stellt, stinkt es nach Abgasen, Ruß und Gummi. Steht man an der Startbahn eines Flughafens, wenn auch einige Meter entfernt, hinter einem Zaun, dann riecht es nach nichts. Ist Kerosin geruchlos? Eine Frage, die ich meinem Bruder stellen werde. Er hat immer alles gewusst. Selbst als ich studierte und auch schon im Studium weit fortgeschritten war – er hat immer alles gewusst. Mein Bruder weiß alles. Die Sitze des protzigen Autos meines Bruders sind beige. Noch heute hat mein Bruder einen Faible für die Farbe Beige. Wenn ich etwas beiges an ihm kommentiere, wie die Autositze, dann sagt er, das habe er sich behalten. Im Moment das Flugzeug über unseren Köpfe hinweg flog, fuhr man das Fuhrwerk ein. Ein allzu lautloser Vorgang. Das habe er sich behalten, damit meint er, das habe er sich aus der Kindheit mitgenommen. Sprechen wir dann weiter über die beigen Sitze seines protzigen Autos, dann erzählt er die Geschichte, wie er als Kleinkind, wenn unser Vater schon auf der Arbeit war und unsere Mutter noch schlief und ich noch nicht geboren war, die Klappe des Kohleofens aufmachte. Den Ofengeruch in sich auf nahm. Eine Schaufel in seine Hand nahm und die Asche des Ofens auf dem Teppich verteilte. Das habe er gemocht. Die Asche aus dem Ofen war beige. Das hat er sich mitgenommen. Wo mein Bruder hinkommt trägt er einen Teil der Asche

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seiner Kindheit mit. Wie andere in, zum Beispiel einer Kette oder einem Ring, die Asche ihrer verstorbenen Verwandten zum Beispiel ihres Vaters. Unser Vater wurde nicht verbrannt. Aber heute würde man über ihn sagen, dass er ausgebrannt war. Man würde sagen, er leide unter Burn-Out. Unser Vater leidet nicht mehr. Er ist vor einigen Wochen gestorben. Vielleicht auch vor einigen Monaten. Ich weiß es nicht. Mutter hat uns eine Nachricht geschickt. Kurz und bündig wie ein Telegramm. Sie hat uns die Reaktion meines Bruders nie verziehen. Seitdem herrscht eine Art Funkstille zwischen uns dreien. Oder eher zwischen uns und unserer Mutter. Ich würde gern wissen, was sie macht. Mein Bruder meint, sie würde nicht mehr im Fünften wohnen. Wenn wir über unsere fünf Reihenhäuser sprechen, in denen wir gewohnt haben, dann sprechen wir vom Ersten, Zweiten, Dritten, Vierten und Fünften. Mein Bruder sagt, unsere Mutter ist in eine Wohnung gezogen. Ich glaube das nicht. Unserer Mutter in eine Wohnung, das ist lächerlich. Ich weiß nicht, wem ich es eher zum Gefallen tat unseren Vater zu hassen, meiner Mutter oder meinem Bruder. Wenn ich meinen Bruder frage, was er denkt, dann sagt er, wir haben unseren Vater nicht gehasst, nur wenig geschätzt. Es ist doch komisch, da sagt unsere Mutter, nur ein Mann, der studiert hat, ist was wert und dann sucht sich einen Mann, der fünfundzwanzig Jahren nichts anderes macht, als Steine übereinander zu stapeln. Steine übereinander stapeln, das habe ich als Kind mal gesagt. Mein Bruder hat unseren Vater nicht so rühmlich behandelt und abfällig gesagt, Maurer. Manchmal denke ich, das Vermächtnis unseres Vaters ist die Vermählung meines Bruders mit unserer Mutter. Dann wieder denke ich, ich sollte nicht solche Gedanken haben. Früher waren mein Bruder und ich zu dem Rollfeld mit dem Fahrrad gefahren und hatten stundenlang dagesessen und die Flugzeuge beobachtet. Einmal hatten wir uns eine Schachtel Zigaretten und zwei Bier besorgt. Da muss mein Bruder gerade vierzehn gewesen sein. Erst habe ich ihn bewundert für seinen Mut im Supermarkt Bier und Zigaretten zu kaufen, dann bewunderte ich ihn dafür die Schule abzubrechen. Was ja nicht stimmt, weil abgebrochen hat er sie nicht. Aber unsere Mutter sagte immer abgebrochen. Ich bewunderte ihn dafür eine Lehre zu machen. Unserer Mutter zu trotzen. Er verdiente Geld, währenddessen ich noch nicht einmal einen Abschluss hatte. Als ich einen Abschluss hatte, studierte und als ich fertig war mit dem Studium hatte er noch immer mehr Geld als ich. Er hatte immer mehr als ich. Ich war aber nie neidisch auf ihn. Wenn es eine Form von liebevollem Neid gibt, dann ist es die Bewunderung. Ich wünschte ihm nie Schlechtes. Er arbeitete hart und viel, studierte dann auch, arbeitete noch mehr

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und hatte bald nur noch wenig Zeit für uns. Es schien, als hätte seine Woche zwei Tage mehr. Er machte soviel, dass ich überhaupt nicht wusste, ob er noch lebt. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn zu bewundern. Als unser Vater starb, blieb es zunächst ruhig. Erst kurz vor der Beerdigung kam mein Bruder. Und das nur, um mir zu sagen, dass wir da nicht hingehen. Und ich, wie gesagt, hörte auf ihn. Wer zwei Tage mehr in der Woche hat, dem glaubt man. Mein Bruder warf mir immer vor, ich würde zu oft nicht die Wahrheit sagen. Manchmal sagte er: zu oft lügen. Ich aber sagte ihm dann, dass ich gar nicht wissen kann, was diese Wahrheit ist. Dass was heute wahr ist, morgen falsch ist und vice versa. Ich sagte ihm, die Wahrheit ist für mich so ein schrecklich fragiles Gebilde, dass ich sie nicht erkenne, selbst wenn sie vor mir steht. Ich sagte ihm ich kann den Wald vor lauter Bäumen… und unterbrach mich selbst. Ich sagte ihm, ich würde nie lügen, und das ist die Wahrheit. Denn lügen würde heißen, ich erzähle absichtlich etwas anderes, gegenläufige oder nicht die ganze Wahrheit. Meine Wahrheit erzähle ich, wie ich sie im Moment empfinde. Deswegen kann man nicht von ich lüge sprechen, wenn ich im nächsten Moment eine andere Wahrheit erzähle. Gerade habe ich meinem Bruder gesagt, ich würde nie lügen und empfand es als die Wahrheit. Mein Bruder sitzt auf der noch warmen Motorhaube seines protzigen Autos und wie ich von Wahrheit spreche unterbrechen Flugzeuge unser Gespräch. Und wie ich sagte, ich lüge nie, muss ich jetzt sagen das stimmt vielleicht nicht. Ich bin mir meiner Wahrheit also nicht mehr sicher und muss mich korrigieren, also eine andere Wahrheit annehmen. Als der Bug eines Flugzeug sich erhob, wie ein aggressiver Schwan, sich größer macht, sticht ein reflektierendes Stück Metall mir ins Gesicht. Wenn ich eine andere Wahrheit annehme, nennt mein Bruder das lügen. Ich lüge aber nicht. Der Asphalt des Rollfeldes ist vom Gummiabrieb der Reifen der Fahrwerke der verschiedenen Flugzeuge schwarz verfärbt und sieht aus wie ein poröses Tongefäß. Ich erinnere, dass ich mal zu unserer Mutter sagte, dass mein Bruder Zigaretten und Alkohol, er 14 ich 9, für uns kaufte, die wir dann am Rollfeld zu uns nahmen. Unsere Mutter schimpfte erst meinen Bruder und dann mich. Später sagte ich, dass ich, als ich von Zigaretten und Alkohol sprach, nichts als log. Woraufhin unsere Mutter mich erneut schimpfte. Ich also doppelt geschimpft war. Als Ausgleich schimpfte sie meinen Bruder, dass er einen schlechten Einfluss auf mich habe. Da waren Zigaretten und Alkohol schon vom Tisch, wie man sagt. Unser Vater war zu dieser Zeit wohl arbeiten. Unsere Mutter hat noch nie gearbeitet.

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Mein Bruder und ich sitzen auf der Motorhaube und beobachten ein Flugzeug über das Rollfeld brausen. Oft bin ich allein zum Rollfeld gefahren und habe mir vorgestellt mein Bruder würde mich begleiten. Auch wenn wir gemeinsam am Rollfeld standen, ob auf unseren Fahrrädern, die Füße auf dem Boden scharrend, die Arme auf den Lenker abgelegt, die Hände über ihn baumelnd oder wenn wir auf seiner Motorhaube saßen, also später, also als Erwachsene, habe ich mir nie vorgestellt in einem der Flugzeuge zu sitzen und abzuheben. Ich habe mir nie vorgestellt abzuhauen. Ich denke mir, ich bin wohl das einzige Kind, der einzige Jugendliche und der einzige Erwachsene, der nie unter Fernweh litt und leidet. Ich sage leiden, weiß aber doch, dass Menschen von Fernweh, als eine besondere Sehnsucht, schwärmen. Uns hat es nie an etwas gefehlt. Ich kann mich an keinen schlimmen Tag in meiner Kindheit erinnern. Sicher hatte unsere Mutter uns oft gerügt und oft geschimpft, aber das musste sie tun, sonst hätten wir sie als Mutter nicht ernst genommen. Das wusste sie. Sie ist eine kluge Frau. Unsere Mutter weiß alles. Ich frage mich, wie es ihr heute geht. Mein Bruder meint, sie würde jetzt arbeiten. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie arbeitet. Wie sie mit Leuten redet. Zeit ich mich erinnern kann, redete sie nur mit uns. Sie war keine Frau mit vielen Freunden. Ab und an, kam uns eine alte Schulkameradin besuchen. Ab und an. Einmal im Jahr. Das Flugzeug steht nun auf dem Rollfeld und wartet auf den Start. Ansonsten sah ich unsere Mutter mit niemanden, außer mit unserem Vater, meinem Bruder und mit mir selbst sprechen. Von heute an, schuldet ihr mir nichts mehr. Das letzte was unsere Mutter zu uns sagte, soweit ich mich erinnere. Als mein Bruder auszog, gab es einen riesen Krach. Mein Bruder und meine Mutter stritten über jede Kleinigkeit. Manchmal stritten sie darüber, ob er etwas Besteck mitnehmen darf. Aber mein Bruder hat das nie wie eine Wunsch gesagt, sondern immer wie einen Befehl. Wie unsere Mutter ihm nie sagte, dass sein Auszug sie irgendwie berührte. Sie schimpfte ihn, meckerte ihn und machte ihm, wie uns, wie immer den Prozess wegen einer Gabel, einem Löffel oder einem Messer. Unser Vater war, wenn er nicht auf der Arbeit war, davon immer relativ unberührt und ließ die beiden streiten. Merkwürdigerweise gab es überhaupt keinen Streit, als ich auszog. Nachdem ich ausgezogen war, fand der Kontakt zu unserer Mutter und unserem Vater nur über meinen Bruder statt. Ich bin in der Zeit nie allein zu unserem Elternhaus gefahren. Es war nicht so, dass ich das nicht konnte, durfte oder sollte. Es kam mir einfach nicht in den Sinn. Als die Nachricht vom Tod unseres Vaters unsere Mutter erreichte, wollte sie

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ihm folgen. Nie hat sie sich mit ihm verbunden. Nie ihn angesehen. Nie haben wir ihn und sie gehört. Nie, wie sie vielleicht stöhnt und er grunzt. Alle unsere Freunde hatten ihre Eltern mal gesehen oder mal gehört – aus versehen. Wir nie. Unsere Mutter meinte, dass sie mit unserem Vater nur aus Zweck zusammen gewesen ist. Dass sie für uns mit ihm zusammen ist. Mein Bruder und ich, wir haben das nicht verstanden. Aus Zweck. Sie hat uns nie gesagt, was das für ein Zweck sein soll. Als unser Vater starb und unsere Mutter die Nachricht erhielt, wollte sie ihm folgen, wie sie im Nachhinein sagte. Sie ging dazu zu seinem Lieblingsort. Um ihm nahe zu sein. Machte das Garagentor zu. Bei uns stand das Garagentor immer offen. Ein Nachbarssohn sagte zu meinem Bruder mal, unsere Mutter ist ein offenes Scheunentor. Er hat ihm darauf eine Backpfeife verpasst. Unsere Mutter schloss das Garagentor, setzte sich ins Auto und startete den Motor. Sie saß im Auto, wie wir am Rollfeld stehen und wartete. Aber bevor sie unserem Vater folgen konnte, schlief sie ein. Schlief einfach ein und das Auto ging aus. Mein Bruder liebte Bücher. Er liebte sie, aber er las sie nicht. Er war jemand, der ein gut gefülltes Bücherregal als notwendiges Stück Interieur bezeichnete, ohne, wie gesagt, dass er sie je las. Mit sogenannten repräsentativen Büchern gefüllt, wie er sagt. Wie ich repräsentativ dachte, machte sich ein Flugzeug auf zur Landebahn. Es ist so, dass man nicht viel oder gar nichts vom eigentlichen Flughafen sieht. Hier wo wir sind gibt es nur die Startbahn. Es könnte genauso gut eine Filmkulisse sein, wir würden es nicht bemerken. Mein Bruder richtet seine Wohnung wie ein potemkinsches Dorf ein. Er selbst hat es in der Art bezeichnet – was ich nicht verstand und von den böhmischen Dörfern in der Wohnung meines Bruders sprach. Ich kann und will die Titel diese repräsentativen Bücher nicht aufzählen. »Du willst also wissen, was mich antreibt?«, fragte mein Bruder mich zum dritten Mal. Ich hatte ihn nichts dergleichen gefragt. Ich würde es nicht wagen. Das Flugzeug steht noch immer und wartet. Er fragt mich, als wären wir mitten in einem Gespräch. Der Wind still und geruchlos. Ganz dem Anschein nach hat man im Flugzeug nun Starterlaubnis bekommen. Erst jetzt sehe ich ihm in die Augen. Ich hatte mir angewöhnt, wenn wir miteinander sprechen, nach vorne zu schauen. Geradeaus. Irgendwo hin. Auf das Flugzeug, wie es auf uns zu kommt, als wolle es uns überfahren, nur um uns zu übertreffen. Ich hatte mir angewöhnt, wenn ich mit meinem Bruder spreche, irgendwohin zu schauen, nur nicht zu ihm. Als dürften wir nicht direkt miteinander sprechen. Jetzt aber schaute ich zu ihm. Er war beharrlich. Ich nachgiebig. Er sagte: »ich bin ein Loser und ich

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arbeite mir den Arsch ab, damit das keiner merkt«. Das Flugzeug schießt über unsere Köpfe hinweg. Eins-Zwei-Drei Sekunden später schaltet uns ein ohrenbetäubendes Gebrüll stumm.

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