Schlichtereffekt

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Am Ende der Empfindsamkeit Eine Analyse

Menschen lieben—Unmenschen lieben nicht. Nur wer in der Lage ist, zu lieben, ist auch ein Mensch.

Ein Bericht von Robert Mhiver


Berlin mitte der Neunziger. Gerade war die TWA 800 vor Long Island New York abgestürzt, da verübte ein Unbekannter ein Anschlag auf Olympia. Ein Sicherheitsbeamter wird erst als Held gefeiert, dann wird er von der Presse zerrissen. Der Präsident ruft zum Kampf gegen den Terror aus. Ein Mann weiß nicht, ob er noch in der Lage ist zu lieben. Will es wissen und bucht eine Reise nach Amsterdam mit einer Affäre. Am Flughafen wartet sie bereits auf ihn. Als er sie vor dem Gate warten sieht, packt ihn der Zweifel und er flüchtet aus dem Flughafen. Eine junge Frau aus England mit schrecklicher Flugangst kommt nach Berlin. Sie zieht in eine berlinübliche WG. Ihre neue Mitbewohnerin—Imago einer Lolita—bewegt sich ausschließlich und zwanghaft auf Stöckelschuhe. Sie wohnen über einem Bestattungsinstitut. Der Bestatter hatte sich verkalkuliert, Särge auf Sonderpreis ohne Komission eingekauft—nun steht das Bestattungsinstitut seine angeschlossene Wohnung, die man gar nicht so von einander trennen kann, voll mit den Särgen. Ein Polizist Mitte der 20er, träumt vom großen Coup, stattdessen darf er Nachtschichten schieben und Streife fahren und sich um Nachbarschaftsstreitigkeiten kümmern. Die Mutter seiner Frau ist schwer krank. Sie hat sich mit einer neuen Infektionskrankheit infiziert, welche das menschliche Immunsystem schwächt, bis es zusammenbricht. Das kann man manchmal bis zu 10 Jahren dauern, aber so genau weiß das keiner. Eine Taxifahrerin von der man nicht weiß, wer sie ist, woher sie stammt und was ihr Motiv ist, fährt einen Mann innerhalb einer Woche Schweden. Dort haben ihre Eltern auf Öland eine Art Farm. Später fahren sie nach Stockholm und Schlichter, der die tragende Figur im Buch ist, findet Stockholm sieht aus wie ein skandinavisches Miami Vice. Am Ende der Woche geschieht ein Mord und ein Mann zeigt sich selbst an. Es soll ein gerichtliches Gutachten für ihn geschrieben werden. Der Autor des Berichtes konstatiert daraufhin den Schlichtereffekt.

Tag X Generation P Wenn mich Jemand angreifen will, dann ziehe ich meine weiße Weste an und sage—such den Fleck.

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enn ein Flugzeug landet, hört sich das immer an, als würde man eine Zitrone umstülpen—als Geräusch. Klingt das wie die Ausstülpung von Fruchtfleisch. Entgegengesetzte Bewegung. Einen Moment im Windkanal stehen und sich die Ohren zu halten und schreien. Cleo Kidman sitzt auf ihrem Sessel und gräbt ihre Finger in den Vordersitz. Unvermindert muss sie an das Unglück von vor zwei Wochen denken. Ein stummer Schrei geht als Luftzug über ihre Lippen. Es heißt Flugangst bekämpfe man am besten mit Vielfliegerei. Am besten mit kurzen Strecken. Angst erzeugt Stress. Und Stress heißt es, sei schlecht für den Organismus. Sie macht ein Gesicht, als ob sie auf eine Zitrone beißt. Die Bremsen heulen auf—und Cleo denkt ihre Angst wird mit jedem Flug stärker. Berlin London, das ist so eine Kurzstrecke. Sie muss daran denken, wie 230 Menschen starben und presst eine Hand zwischen Gürtel und Bauch, verschafft sich Luft. Der Airbus bremst und die Fluggäste werden nach vorne gedrückt. Sie ist Agnostiker aber in Momenten der Angst spürt sie, wie ihre Finger sich willkürlich auf Kreuzfahrt machen und von ihr auf der Stirn gestoppt werden müssen. Ein bleierner Geschmack im Mund, bitter im Rachen wie Magensaft. Sie löst die Hand zwischen Bauch und Gurt und holt eine Packung Kaugummi aus ihrer Hosentasche. Sie zieht einen Kaugummi aus der Packung. Streift das weiße Papier von dem Stück essbarem Kautschuk. Es fühlt sich rau auf der Haut ihrer Finger an. Ein Knistern geht in ihren Gehörgang und die Alufolien des Kaugummis verschwindet mit der weiß roten Packung und dem Geräusch in ihrer Hosentasche. Als würde sie taub werden. Sie Steckt das Kaugummi in den Mund. In Momenten der Angst, ist ihr jede Bewegung, jedes Detail, jedes Ereignis mehr als—eindringlich. Sie muss daran denken, wie das Flugzeug wie die Hülle eines Insektes zerbrach und in den Atlantik stürzte. Sicherlich das war 6000 Kilometer entfernt, als dort im Bauch des Flugzeugs ein Treibstofftank platzte und das Flugvehikel von innen her—wie auffraß. Sicher das ist ein Einzelfall. Sie weiß, statistisch gesehen ist ein Flugzeugabsturz unwahrscheinlich. Ihre Angst hat das noch nicht begriffen. Sie weiß, kasuistisches Denken ist nur Futter für ihre Angst vor dem Fliegen. Das Anschnallzeichen erlischt. Sie atmet auf. Der Bauch des Flugzeugs platzte, wie eine Wasserbombe. Vor dem Flughafen gibt es Demonstranten, die rufen: “9 Millionen sind 3,5 Millionen zu viel. Wir wollen einen sicheren Flughafen.” Cleo versteht kein Wort. Und wundert sich über Protestschilder, auf denen Prozentangaben stehen. Sie denkt sich, sogar der Protest erhält hier sein statistisches Fundament. Deutschland du bist das Land der Zahlen. Deutschland, Deutschland denk ich an dich in der Nacht, hast du mich aufs zählen gebracht. Ein Bild von Graf Zahl kommt ihr in den Kopf, sie muss kichern und flüstert leise vor sich hin: “They call me the count, because I love to count.” Cleo Kidman zieht ihren Rollkoffer über nicht-abgezogene und blutrote Dielen. Farbeimer stehen im Flur. Sie erfreut sich an nackten, gerade verputzten Wänden und vier Meter hohen Decken. Und über Stuck, den sie aus England nicht kennt. Ihre neue Mitbewohnerin ist so etwas, wie das ausgewachsene Imago einer Lolita—einer Nymphette. Weniger war sie jedoch als Bild ihrer Art zu sehen. Sie war wie ein hübsches Brautjungfernkleid aus dem Secondhand. Blass, aber noch nicht verblasst. Wie ein klappriges Grammophon. Leise, aber noch nicht still. Wie eine Madame Bovary. Müde, aber noch nicht…—lassen wir das. Lolita hatte noch nie andere Schuhe als Pumps getragen. Noch nie ein anderes Geräusch, als das beständige Klacken der Absätze unter ihren Füßen gehört. Ein starrer Blick geht durch Cleo hindurch. Die eine Hand ausgestreckt, die andere am Rollkoffer—wie der Stereotyp des Spaziergängers. Lolitas Knopf-großen Pupillen, die den Augenwinkel nicht kennen, blicken auf Cleo. Kalte Erwartung. Pumps, gebrauchte Blue-Jeans mit Loch im Knie und ein schlabber Top. Kein BH. Pausbackige rote Wangen passen sich roten Lippen an, die sie im kräftigen Rot leicht, aber kläglich untertreffen. Nur ihre Stimme, bezeichnet man als fiepsig. Sie hat sich daher das zu viele Sprechen abgewöhnt und stöhnt nur künstlich heiser einige taube Worte—sie denkt, das wäre attraktiv. Sofort entsteht eine Rivalität der Stimmen. Wegen Fiepsstimme muss sie jeden Abend Whisky trinken. Erst ab vier Gläsern, macht es Sinn, sagt sie und Cleo versteht kein Wort und sagt, dass sie Deutsch noch üben muss, auf Englisch. Ende der Vorstellungsszene. Wenn sich zwei unsichere Menschen treffen, ist das meist ein sehr ruhiges aufeinandertreffen. Cleo folgt Lolita‘s Schuhen in das Wohnzimmer der Wohnung. Söckchen keine Socken stecken in diesen wackligen Gestellen.

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Lieblingspose Lolitas: die Beine angewinkelt seitwärts auf dem Bett. Kopf auf dem Kissen. Leerer Blick ins Zimmer. Und alle, die sie sehen können, denken: was ein Körper, was ein Gerät, was ein Teil. Das sexuelle Küken der WG. Schauen auf diese Schuhe, schwarzes Leder silberne Schnalle und ein Absatz zum töten. Das teuerste an ihr sind diese Schuhe. Die Neue in der Wohngemeinschaft, steht samt Koffer und Mantel im Türrahmen der Wohnzimmertür. In England hatte sie in einer Fabriketage gewohnt. Es läuft die Wiederholung der Fussball-EM. Der tiefe wie breite Röhrenfernseher und das Wohnzimmer werden belagert von einer Meute Trikot tragender Jungs, die auf Bierbänken um den Fernseher, wie um ein Lagerfeuer sitzen. Die Jungs schauen sich alle Spiele von vorne an. Fußball-Marathon nennen sie das. Sie wollen den Sieg ihrer Mannschaft und die Niederlagen der anderen immer wieder sehen. Die Nymphette hat sich wieder auf ihre Matratze im Wohnzimmer gelegt. Die Jungs haben sich Theaterschminke gekauft und sich die Nationalflagge auf die Wangen gemalt. Cleo setzt sich auf einen Stuhl und verfolgt das Spiel. Versteht wieder kein Wort und spricht auch keines. Man empfindet sie nicht als schüchtern, sondern als ausgewogen reserviert und bewusst zurückhaltend—wie eine stille Autorität. Das ist wie ein Heimspiel, nur andersherum. Vom Austragungs-Land ins Sieger-Land und europaweit gibt es keine schlechteren Gewinner als deutsche. Einer der italienischen Spieler scheint motorische und koordinatorische Schwierigkeiten zu haben. Er wandelt auf dem Platz hin und her. Ist als Abwehrspieler etwa so durchlässig, wie ein grobes Sieb, zum Schmetterling fangen etwa so nützlich wie ein Hula-Hoop-Reifen, als würde er den Ball nicht sehen. “Es heißt”, sagt einer der Jungs. “Er habe sich etwas am Kopf getan, während eines Kopfballduells.” “Das er gewonnen hat”, wirft ein Anderer grätschend ein. Cleo nennt ihre neue Wohnung, über einem Bestattungsinstitut, wegen dem Stuck—Royal Flat. Ganz anders als die heruntergekommene und im Winter kaum bewohnbare Fabriketage, in der sie in England gehaust habe. Der Fußballspieler läuft orientierungslos über den Platz und führt den Libero wieder in den italienischen Fußball ein. Unwillkürliche fast spastische Bewegungen. Stolpern, hinfallen, Lapsus nach Lapsus, Faux pas nach Faux pas, die der Spieler zu kaschieren weiß. Meist als Täuschungsmanöver, wie beim Freistoß hinfallen, bis ein anderer irritiert den Ball in Richtung Torraum tritt und der Gefallene an der Mauer vorbei stürmt und den Ball mit der Masse seines Körpers ins Tor stößt. Wer leistet, bekommt keine Diagnose—sein Motto. Unwillkürliches Lachen und Weinen. “Der wird in ein paar Jahre aussehen, wie Stephen Hawking”, sagt einer der Trikot tragenden Jungs, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden. Cleo steckt sich einen neuen Kaugummi in den Mund. Fragt Lolita ob sie auch einen möchte, die von ihrer Lieblingspose gen Fernseher, aber daran vorbei die Wand anstarrt. Die WG zählt jetzt vier Frauen und eine Horde Männer. Sonst sind im Haus keine fremd-vermieteten Wohnungen, lediglich drei anderen Wohnungen einer Familie, die ein Bestattungsinstitut im ersten Stock führen. Im Interview nach dem Spiel, stammelt der Spieler, mit dem begrenzten Bewegungsspielraum, nuschelnd einige sinn-zusammenhangslose und unverständliche Wörter zusammen und weicht den Fragen genauso gut aus, wie dem Ball zuvor im Spiel. “Die Dysarthrie zeigt sich in der immer schlechter zu verstehenden Sprache, gleich der eines Schlaganfallpatientens”, erklärt der Junge mit der Vorliebe für sprachlose Physiker im Rollstuhl. “Dem hängt die Zunge im Mund, wie ein totes Stück Fleisch,” kontert wieder der Andere, wie ein Tennispartner. Der Fußballspieler weint wegen dem Null zu Null und lacht, weil seine Mannschaft damit ausscheiden wird. Viel später erst, wird bei dem italienischen Fußballspieler amyotrophe Lateralsklerose diagnostiziert und ebenso viel später, werden zwei Londoner Psychiater des King‘s College sagen, Kopfverletzungen sind ein Risikofaktor für das Lou-Gherig Syndrom, es können aber auch Dopingpräparate und Düngemittel des Rasens schuld daran sein oder eine genetische Disposition. Der Physikerjunge sollte lieber seinen Sinn für Blickdiagnosen stärken, als Fußball schauen. Ein Haus, eine Mädchen-WG bestehend aus Studentinnen und ihren Verehrern, die vorgeben Fußballfans zu sein und ein Bestattungsinstitut. Die Italiener sind inzwischen nach Hause gefahren und Lolita hat ihre Matratze ans raumhohe Fenster gelegt. In den ersten Wochen macht Cleo nichts anderes als Lolita am Fenster in Lieblingspose zu beobachten. Draußen vor dem Fenster unten im Hof verursachen Müllmänner einen immensen Krach. Ein Nachbar aus dem Dritten Beschwert sich. Der Müllmann winkt ab. Ein Nachbar aus dem Zweiten streckt den Kopf aus dem Fenster und beschwert sich über den über ihm. Ein jähes, spontanes Schmunzeln fliegt an Lolitas Lippen vorbei, wie Wermut an besonders trockenen Martini‘s, die heutzutage niemand mehr trinkt. Inzwischen spielt Tschechien gegen Portugal in Birmingham. Der Müllmann Erik, der sich als Kind mit einer überbehütenden Mutter nie eigenständig und immer in Abhängigkeit fühlte, lehnte fremde Hilfe partout ab. Er regt sich gerade zu darüber auf, wenn sich ihm eine helfende Hand offeriert. Er empfindet es als Blamage. Sodass er an diesem Morgen die schwere Mülltonne allein aus dem Hof schob. Sein Kollege ihn noch fragte: “schaffst du das?” Er nur: “Ja doch”, krächzend schrie und die Tonne auf

Rollen in die Toreinfahrt wuchtete. Stolperte, als sie über eine Kante krachte. Er so etwas wie: aus dem Weg, rief— er wusste, er hatte die Kontrolle verloren—und hastig die Tonne verfolgte. Die beiden Frauen ahnten ihr Glück und rannten wie angestochen vom Wohnzimmer an den Jungs vorbei, die nur im Augenwinkel auf sie schauten, in die Küche ans Küchenfenster, dass zur Straße zeigte. Erik indes an der selbstständig gewordenen Mülltonne zehrte—jetzt wusste er, wie seine Mutter sich gefühlt haben muss—sie ihn jedoch, wie er sie geschoben hatte, gen Kopfsteinpflaster der Straße zog. Er war leider sehr klein, dass man ihn hinter dem Gefährt nicht sehen konnte und seine Kollegen sich einmal mehr über seinen Enthusiasmus und seine Energie wunderten. Abfällig zu einander sagten, wenn der in der Geschwindigkeit weiter macht, ist er in fünf Jahren nicht mehr dabei. Gemächlich in konstanter Geschwindigkeit fährt der braune Müllcontainer am Müllauto auf rechter Spur vorbei. Cleo und Lolita beobachten mit aufgerissenen Augen, wie in diesem Moment ein länglicher schwarzer Wagen sich, wie in Zeitlupe, in das autonome Müllbehältnis drückte, das Plastik barst und Essensreste auf die Motorhaube spritzten. Und das war nun ausgerechnet Franck, der Leichenbestatter auf dem Weg zu seinem Parkplatz auf dem Hinterhof. Den Leichenwagen beladen mit einer unzulässigen Anzahl von Särgen, die Gott-sei-dank ohne Leichen auf die Straße purzelten, zerbrachen und die Straße für zwei Stunden blockierten. Cleo und Lolita liegen noch immer sich kugelnd auf dem Boden in der Küche. Der Stephen Hawking Junge betritt die Küche und begibt sich auf dem kürzesten Wege verlegen zum Kühlschrank. Er traut sich nicht seinen Blick aus dem kalten Schrank zu nehmen. Die beiden Frauen haben aufgehört zu lachen und schauen zu dem Typ, der da in den Kühlschrank starrt und ohne sich etwas zu nehmen die Küche verlässt. Wer in einem Polizeiauto fährt hat gefälligst eine Uniform zu tragen—es sei denn er wird abgeführt. Zwei Männer einer in Uniform, einer in zivil steigen aus dem grünen Auto aus. Stehen beinahe genüsslich vor dem auf der Straße verteilten Missgeschick. Ein schockierter Bestatter sitzt noch hinter dem Lenkrad und es riecht nach Abfall. Bioabfall, wie man das heutzutage neuerdings nennt. Ein Müllmann, der im Boden versinkt. Zwei Frauen liegen sich den Bauch haltend lachend auf dem Boden der Küche. Ein paar Jungs schauen Fußball. Die Beamten tun so, als kennten sie sich nicht. Der Mann in Uniform geht schnurstracks auf die Karambolage zu. Der Mann in zivil schleicht über Umwege hin und gibt sich als helfende Hand aus. Erik möchte am liebsten im Müllauto zerquetsch werden. Die beiden Polizisten verabschieden sich per Handschlag. Der Uniformierte klopft dem in zivil auf die Schulter und setzt eine aufmunternde Miene auf. Der grüne Wagen fährt davon. Der Mann in zivil schließt die Augen, atmet durch und dreht sich um. An den Straßenrändern lassen sich noch ein paar Holzstücken und Plastikstücken zusammen klauben. Die wird der Regen fort waschen. Zwei Männer begegnen sich auf der Straße. “Marvin Wolf, nennen Sie mich Wolf ”, spricht der Mann, der bisher, der Mann in zivil geheißen hat. “Nachname Thom, Vorname Franck, nennen Sie mich wie Sie wollen”, erwidert der Mann aus dem Leichenwagen. Mit einer abgeklärten Schockhaltung, wenn Menschen sich kalt machen um zu funktionieren. Schizoide Charaktere. Achtung nur Bleuler dachte, dass es einen Zusammenhang zwischen Schizoid und Schizophren gibt. Sie gehen durch die Toreinfahrt in den Hinterhof, wo der Leichenwagen noch beschmutzt vom Abfall steht. Inmitten des unsanierten Hofes. Eine Wand bröckelnde Fassade aus Gründerzeit—seitdem nicht mehr angefasst. Die anderen roter Backstein. “Kein Kratzer das gute Stück.” Franck Thom führt den Finger, als wolle er Staub abwischen, über die Karosserie seines Leichenwagens. Sie laden Holzkisten aus dem Wagen. Schwarze schwere Türen, wie Kühlschränke aus den 50ern. Rüschenvorhänge und ein seltsam geruchloser Geruch. Man denkt ja immer in einem Leichenwagen würde es stinken, wie man es aus einschlägigen Romanen weiß wie Leichen riechen—ein Geruch, den man niemals vergisst und Stereotypen des Kriminalromans. Wolf hilft Särge in die Wohnung—das Bestattungsinstitut Thom zu tragen. Eine Glastür, die zu zart ist eine Wohnungstür zu sein, führt in eine Art einstöckiges Vorhaus oder einen Lagerraum. Wie im Vorhof zu den Katakomben stapeln sich hier nicht Schädel über Schädel, sondern Särge über Särge an den Flanken des Vorhauses zum Bestattungsinstitut und zur Wohnung. “Du willst dich an den Markt anpassen”, spricht der Leichenbestatter. Wolf schweigt und trägt seinen Teil des Sarges mit Mühe. “Was machst du? Du guckst, wo kannst du was kriegen, richtig? Du suchst dir einen—Sie wissen schon”, macht der Bestatter einen schlechten Witz. “Und dann findest du diesen Markt für Sonderpreise. Särge für das halben Geld. Und was machst du?” Wolf stößt sich an einem Sarg. Die beiden schalingern im Flur, wie unter Turbulenzen. Der Bestatter lässt sich nichts anmerken, guckt nur schnell nach links und rechts, den taumelnden Sarg abzufedern. “Richtig du kaufst ein. Du kaufst einfach richtig viel ein. Und am Ende. Am Ende bleibst du auf dem Schmott einfach liegen.” Sie schieben den Sarg eine schmale Treppe nach oben. Wolf keucht. Thom wirft den Sarg auf die anderen Särge und sie stehen im Büro, wie Franck sagt. Wolf kann nicht viel erkennen, denn eine Landschaft aus Särgen. Irgendwo hinter einer Marmor Schreibtischgarnitur hat sich der Bestatter auf einen Pfauensessel aus Rattan hingesetzt.

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“Man ist ja gutgläubig”, sagt der Mann hinter dem Schreibtisch auf dem Korbsessel. “Und kauft nicht auf Kommission. Bei dem Preis geht das auch nicht. Was will man dem sagen, ihre Särge kosten die Hälfte, kann ich die auf Kommission kaufen? Nein das machst du nicht. Du kaufst die Särge und gut ist.” Wolf schweigt und schaut zu den gestapelten Särgen. Ein bisschen so, als würde er sie zählen. Eine unangenehme Stille ist zwischen die Beiden ins Bestattungsinstitut getreten. “Von meinem Vater”, unterbricht Thom das Schweigen und zeigt auf die Schreibtischgarnitur. “Wenn Sie mich fragen, ob man seine Eltern selbst bestatten sollte als Bestatter, dann sage ich ganz klar: ja”, meint Thom und wälzte sich im Sessel. Wolf hat sich inzwischen vor den Schreibtisch auf einen schmalen Stuhl gesetzt. Er fühlt sich wie ein Schuljunge beim Rektor, der sein Rektorenbüro in einer Werkstatt für Särge hat und dazu Wohnzimmer sagt. “Sie müssen das Chaos verzeihen. Ich habe schon eingangs gesagt, dass ich gerade ein wenig mit dem Absatz zu kämpfen habe. Ehrlich ich frage mich, stirbt den heute niemand mehr? Aber wissen Sie, Wolf war ihr Name, richtig?” Er nickt unbehaglich und blickt sich genervt um. “Tasse Tee?”, fragt Thom kurz. “Bitte?”, Wolf irritiert. Ein quietschendes Geräusch. Der Bestatter hat einen Stock in der Hand und schiebt einen Teewagen mit einem Samowar aus Messing hinter dem Schreibtisch hervor. Ein Rad am Wagen ist kleiner als die andere. Der Wagen fährt nur widerwillig. “Tee?”, fragt der Bestatter erneut. Kniet sich vor den Teewagen und hält eine kleine Tasse unter den Hahn des Samowars. “Wissen Sie Wolf, wenn man die Wahl hat zwischen Absatzproblemen und einer tödlichen Krankheit, nehme ich die finanziellen Probleme”, sagt Franck, öffnet ein Fach der Schreibgarnitur auf seinem schweren Schreibtisch aus eher dunklem Holz—es war so oder so dunkel im Zimmer des Bestatters—und holt eine Zigarre heraus, die aussieht wie der fette Kokon einer flugunfähigen Falterart. Hält Wolf eine Zigarre seinerseits hin, der dankend ablehnt. “Immerhin früher oder später landen Sie alle bei mir. Keine Ahnung wie Sie das sehen, aber niemand muss in ein Krankenhaus gehen. Nicht Mal einen Arzt muss man sehen. Man muss keine Pillen nehmen und sich keine Spritze geben lassen. Man muss sich nicht von der Krankenschwester oder dem Krankenpfleger—heute machen das ja auch Männer—anpacken lassen. Man kann bei rot oder grün über die Ampel laufen. Man kann sich anschnallen im Auto oder es lassen. Dieses ganze Sicherheits-gebabbel kann man sich anhören oder auch nicht.” Er macht eine Pause, nuckelt an seiner Zigarre. Legt sie im Aschenbecher ab. Lässt sie ausgehen. Es stinkt. Zündet sie wieder an. Riecht an ihr. Freut sich über die Glut. “Ob Sie an Lungenkrebs, Leukämie oder Gehirntumore glauben oder nicht. Sie können Ihren Onkologen fragen oder ihr Horoskop lesen oder diesen neuen Quacksalbern und deren Energiehokuspokus glauben. Egal was Sie machen. Es spielt keine Rolle. Ob Sie sich entscheiden für Armut oder Krankheit. Ob glücklich oder unglücklich, verheiratet oder Junggeselle sind” Er steht auf. Schaut auf Wolf hinab, wie ein Pfarrer in der Beichte. Läuft zu den Särgen, die übereinander gestapelt vom Boden bis zur Zimmerdecken, dieses Bürowohnzimmers reichen, streichelt das Holz, wie zuvor den Lack seines Wagens. Verliert sich in Holzdetails. “Aber an deinem Bestatter an dem kommst du nicht vorbei”, sagt er gegen die Särge gelehnt. “Schön, dass sie hier sind Herr Wolf. Schießen Sie los. Was führt Sie her? Wer ist gestorben? Manchmal mache ich mir einen Scherz und rate, wer gestorben ist”, sagt er lachend, klopft sich auf die Brust—wie aus einem Blasebalg mit Loch, flieht stoßartig Rauch aus seinem Rachen. Und lässt sich wieder in seinen Pfauensessel fallen. Ein Wolke aus Staub schießt aus einem Kissen, dass auf dem Möbelstück liegt. Die gesamten Wohnung war ein einziger Sarg. Dieser Mann wohnte in einem Sarg. Auf dem Balkon, im Badezimmer, in der Küche, im Flur überall wo man hinkam lagerten Särge. Kleine Särge, große Särge, breite Särge, dünne Särge, Särge aus verschiedenen Holzsorten. Sogar Särge aus Metall für die Gruftbestattungen. Die größte Särgesammlung Berlins bis dato. Mag man scherzen. “Es ist die Mutter meiner Frau.” “Danke nochmal für die Hilfe draußen. Das war vielleicht ein durcheinander.” Der Mann, der sich als Wolf vorgestellt hatte, war nicht älter als Mitte zwanzig. “Meine Frau hat mich geschickt.” “Weil sie es selbst nicht schafft, da wäre sie nicht die Einzige. Haben Sie eigentlich schon einen Todesanzeige?” Frau Caroletta Wolf eine gute Frau, viel zu jung zum sterben. Ja, er hatte den Namen seiner Frau angenommen. Das ist heute keine Schande mehr, meint Thom—unverheiratet. Er hat Angst, dass sie ihm einfach wegstirbt, deswegen keine Frau. Was hat sie denn? Immunschwäche, wie sie eigentlich nur Schwuchteln bekommen. Caroletta hatte sich auf einen französischen Philosophen eingelassen. In ihrem Alter noch eine Affäre. Das war eine Verfehlung. Die kleinen Sünden bestraft… Sie wusste doch, dass er schwul war. Dumme Frau. Dass sie jetzt an Lungenentzündung… Brabbelt Wolf vor sich hin. Der kümmerliche Rest von Wolf im Stuhl. Der Bestatter die Zigarre wie eine Motte im Mund. Rauch drückt sich

durch die Holzrillen der Särge. Ist wie ein dampfendes Insektizid. Wolf tat seiner Frau einen Gefallen und organisierte die Trauerfeier, Bestattung und was dazu gehört. “Haben Sie schon eine Rede?” Wolf reicht dem breitschultrigen Mann einen Fetzen Papier, den er aus seiner Hosentasche gezogen und auseinander gefaltet hatte. Zögerlich streckt der Bestatter die lange Hand entgegen. Vor zweihundert Jahren wäre der kein Bestatter, sondern Leichbitter geworden. Ungefähr mit derselben Abneigung den Leichbitter auf einen Kaffee einzuladen, etwa genauso gern kam man ins Bestattungsinstitut Thom, dass schon von außen, durch ein liederliches Schild, in Form eines Sarges—der Humor Francks war nicht jedermanns Sache—weniger auf sich aufmerksam machte, als abschreckte und dafür sorgte, dass Leute die Straßenseite wechselten. Wie Beziehungsgestörte, Menschen die nicht lieben können und der Mistelzweig. Am besten anzünden. Franck ließ sich in den abgegriffen Korbsessel rutschen. Schlürfte Tee, den er bisher noch nicht angerührt hatte. Versuchte Wolf in Zeichensprache zu fragen, ob er noch Tee brauche. Machte ein Geräusch von zufriedenem Stöhnen. Er zog die Mundwinkel nach unten, nickt beständig, baute die Unterlippe aus, wie er es aus seinem Lieblingsfilm kannte. Sah ein wenig aus, wie eine Bulldogge. “Das ist gut. Haben Sie das selbst geschrieben?” “Gerade im Auto, ja.” “Glückwunsch, suchen Sie noch ein Praktikum als Nekrologschreiber? Spaß… Gut, das ist gut. Man sieht gleich Sie schreiben auch privat. Nicht? Na dann sollten Sie aber. Bei der Polizei sind Sie? Da macht man so einen Quatsch nicht? Recht haben Sie. Vermutlich. Vermutlich haben Sie Recht. Ich mache Ihnen ein gutes Angebot. Sie liegen im Recht. An der Totenrede müssen wir nicht arbeiten. Fehlt ein Sarg. Ich rate Ihnen suchen sie sich ein billiges Modell aus. Landet so oder so unter der Erde. Ich rate Ihnen zu einem billigem Sarg und teuren Blumen. Passen Sie auf, ich mache Ihnen einen unschlagbaren Preis. In Amerika nennen Sie das Discount. Sie stehen auf der richtigen Seite Wolf. Recht und Ordnung das hält die Gesellschaft zusammen. Sie sorgen für Recht und sind die Ordnung. Früher gab‘s da noch die Religion, aber seitdem wir den Polizeiapparat haben, brauchen wir keine Religion mehr. Wann ist denn die gute Frau verstorben?” “Ist sie nicht.” “Nicht?” “Nein.” “Das macht es schwierig. Also hören Sie, ich kann nur tote Menschen und fast tote Menschen unter die Erde bringen.” Beide trinken, konspirativ oder wie alte Feinde. “Endstadium.” “Was für eine Haltestelle?” “Irgendwas von erworbene Immunschwäche im Endstadium heißt es seitens der Ärzte.” “Das heißt Sie rechnen schon mit dem Tod der Dame?” “Alsbald möglich.” “Das gefällt mir, da kommen wir ins Geschäft”, sagt er und drück die Zigarre im Marmoraschenbecher—passend zur Garnitur—aus. “Sie sind einer aus der Z-Liste.” “Liste?”, fragt Wolf unbestimmt. Scheint als hätte er schon bereut, sich dem Bestattungsinstitut Thom anvertraut zu haben, als er zerborstene Särge auf der Straße liegen sah—er glaubt aber nicht an Zeichen. “Sie kennen doch XY-Listen. Das sind zwei Listen mit Menschen, die bald sterben könnten. Berühmte Menschen, verstehen Sie. Man bereitet den Tod berühmter Menschen vor. Wenn Sie es in die X-Liste geschafft haben, dann wir das Fernsehprogramm ihres Nekrologs wegen unterbrochen. Das ist eine große Ehre und betrifft eher den Kohl oder den Herzog, sollten die mal schneller als gedacht abdanke. Das Fernsehprogramm. Egal was gerade läuft. Stellen Sie sich das mal vor, nur weil Sie verreckt sind. Erzählen Sie‘s es nicht weiter, aber ich glaube bei den Beiden kann man lange auf eine Unterbrechung der Nachrichten warten, wenn Sie verstehen…” “Und Y-Listen?”, fragt Wolf skeptisch. “Da stehen alle Menschen drin, für die man die Rede ebenso schon vorbereitet hat, deren Tod ist dann ein Thema in den Nachrichten. Ich weiß aber nicht ob man dabei vor dem Wetter und nach dem Wetter unterscheidet. Die deutsche Medienlandschaft ist ein einziger Dschungel.” Schweigen. Der Bestatter holt eine zweite Zigarre aus der Schreibgarnitur. Klopft sie auf den Tisch. Lässt sie durch die Hand gleiten. Riecht an ihr. Stößt ein lautes: ahh, aus. “Wunderbar und es sind nicht mal kubanische.” Er entzündet ein Streichholz an seiner Hose und meint: “nicht schlecht oder? Habe ich aus den Staaten. Sicher Sie wollen keine?” Wolf schüttelt den Kopf, wie der Schuljunge, der gefragt wird, warum er der Lehrerin einen vergifteten Apfel gegeben habe. “Sie haben die Stiefmutter—Schwiegermutter verzeihen Sie, ich verwechsle das manchmal”, korrigiert er sich.

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“Sie haben die Schwiegermutter auf so eine Liste geschrieben, nur dass eben ihre Schwiegermutter nicht berühmt und bekannt war. Ist, verzeihen Sie, bekannt ist. Und weder das Fernsehprogramm für sie unterbrochen, noch sie in den Nachrichten erwähnt werden wird. Also Z-Liste, für alle Menschen, deren Wert die Gesellschaft noch nicht erkannt hat, die an ihr gescheitert sind, wie an Galileo Galilei, Freiherr von Braun oder Darwin. Wobei Braun hat es sicher auf die Y-Liste geschafft.” Wolf langsam unruhig, scharrt mit den Füßen auf dem Boden und zählt die Särge. “Also ich schlage Ihnen einen Deal vor. Ich mache Ihnen einen Vertrag zu guten Konditionen fertig, weil Sie schon vor dem Tod hier sind. Frühbucherrabatt das Gegenteil von Last-Minute und das habe ich oft genug. Sie haben ja keine Ahnung wie manche hier herein stürmen und rufen: jede Minute zählt. Sie wissen ja hoffentlich, ein toter Mensch muss in acht Tagen unter die Erde. Man denkt immer acht Tage sind ausreichend, aber was erzähle ich da, manche Menschen kriegen ihr ganzes Leben nichts auf die Reihe, wieso dann plötzlich in acht Tagen?” Wolf ist ein Mann, der gerne alles schon fertig hat, bevor es gefordert ist. Das war schon in der Schule so. Manchmal hatte er sich sogar selbst Hausaufgaben ausgedacht, die er dann machte und auf die Lehrer schimpfte, wenn sie mal wieder nicht die Hausaufgaben kontrollierten. Wozu macht man sich denn die Mühe. Ohne Fleiß kein Preis. Das sei ähnlich mit der Schwiegermutter meint er. Er will, wenn es soweit ist, alles auf einen Punkt schon fertig haben.

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er Fussball-Marathon ist zu Ende. Die Jungs, einer nach dem anderen, kommen in die Küche, wo Cleo und Lolita es sich inzwischen gemütlich gemacht haben und einen Kaffee schlürfen. Den sie türkischen Kaffee nennen, dabei haben sie nur altes Kaffeepulver genommen und heißes Wasser, aus einem pfeifenden Wasserkessel, darüber geschüttet. Die Getränke dampfen. Eine braune Schicht liegt auf der Flüssigkeit. Es heißt, das wäre der Sand der Beduinen. Jeder tritt einzeln an die Frauen heran, wie zur Abbitte. Einer der Jungs bleibt in der Wohnung. Der gemütliche Moment ist vorbei. Ein Rest eingetrockneter Kaffee steht noch Wochen im Abwaschbecken, neben dem Küchenfenster. Ob man vor dort aus noch Wochen später Holzspäne sehen kann, ist nicht bekannt. Der Lolitaverschnitt von Mitbewohnerin riecht die Rivalität und stolziert auf ihren Stöckelschuhen, als wäre sie ein Weißstorch auf Froschsuche. Bald fallen die Brüste ihr aus dem dünnen Top, denn sie verwehrt es sich einen BH zu tragen. Sie will ihre Brust nicht einsperren. Also aus feministischen Gründen, sie selbst ist aber keine Feministin, wie sie sagt. Sie findet BH‘s unbequem. Cleo Kidman sitzt noch am Fenster. Es ist ruhig in der Royal Flat. Draußen vor dem Fenster, fahren Autos, über die Stelle wo der Leichenwagen in die Mülltonne krachte, hinweg. Beinahe nichts erinnert an den Zusammenstoß. Weg gewischt. Die Zeit wischt über alte Wunden hinweg, wie Sandpapier. Der Junge steht noch in der Küche. Er traut sich nicht über schwarze Löcher zu reden. Das Mädchen auf den Stöckelschuhe, bemerkt er ist nicht wegen ihr geblieben. Sie schließt sich im Zimmer ein. Verpasst nicht die Gelegenheit mit der Tür zu knallen. Die beiden Tassen im Abwasch klirren. Ein Schwall billiges Parfüm drückt sich, wegen des Luftzuges, durch den Türspalt ihres Zimmers. Erobert jeden Winkel der Wohnung und erzeugt das selbe Gefühl in Mund und Rachen, wie an Brennnesseln zu riechen. Der Froschprinz entpuppt sich als Verehrer Cleo‘s. Aus dem Nachbarzimmer ist das Geräusch von Stöckelschuhen zu hören. Wie sie aufgeregt durch den Raum klacken. Dämmerung. Fahles Licht bricht sich zaghaft Bahnen in die Küche. Cleo sitzt noch immer am Fenster. Lolita inzwischen auf der Matratze allein im Wohnzimmer, in Lieblingsposition. Seitwärts auf der Matte liegend und die Beine angewinkelt. Der Blick starr. Alle die an ihr vorbei kommen, denken: was ein Gerät, was ein Teil, was ein Körper. Der Junge steht im Türrahmen zur Küche. Er räuspert sich und bringt kein Wort heraus. Cleo schaut aus dem Fenster.

Widerstandes erkoren worden. Der dicke Mann gibt nicht auf. Beinahe fallen ihm vor Lachen die Grübchen aus dem Gesicht. Winken, Grübchen. Alles wabbelig und weich, außer dem Bart im Gesicht, der ist kastenförmig rasiert, wie ein Röhrenfernseher. Beinahe ganz unverhofft rückt die beleibte Dame an ihren Auserwählten heran. Aber nur zwei Zentimeter schiebt sie ihren massigen Körper in Richtung Lebensabschnittspartner und beißt ihm zaghaft in den Finger. Kurz und asexuell. “Komm schon, komm schon”, spricht er leise. Sie blickt ihm in die Augen und er gibt ihr einen Stupser auf die Nase. Der Unbekannte flüstert zu sich, “alles ist schon gut”. Und wischt sich die Stirn ab. Das Kind dreht sich zu ihm um. Das Zitronengeräusch und die Bahn kommt zum stehen. Der Unbekannte verlässt die U-Bahn an der Station Rosenthaler Platz und hat es nicht weit. Ja hier gibt es durchaus Parallelen zu Franz Biberkopf. Die Mitte der Stadt ist eine einzige Ruine. Trotz des halben Jahrzehnts nach dem Mauerfall, sieht es hier aus, wie kurz nach Kriegsende. Verlassene Gebäude. Besetzte Gebäude. Und alles ist fürchterlich trist. Grau über Grau. Aufgebrochene Straßenbahnschienen verwandeln die Straße in einen Schützengraben. Aber am schlimmsten sieht der Potsdamer Platz aus. Brachland. Ein paar Kräne und eine Menge Sand. Der Unbekannte hat etwa eine Strecke von Zweihundert Metern vor sich, kennt sich in der Gegend bestens aus. Er kennt sie wie seine Westentasche. Am Rosenthaler Platz, der eher Baustellenplatz heißen sollte, hängt ein Wahlplakat der Partei, die den demokratischen Sozialismus für sich proklamiert. Davor steht eine Gruppe Jugendlicher die was von Chaostagen erzählen. Der Unbekannte weiß nicht, was ein Chaostag sein soll. Er kommt zum stehen. Polizeiabschnitt 31 Brunnenstraße. Er dreht sich noch einmal um. Kindheitserinnerungen flackern vor seinem innerem Augen auf. Am Fuße des Volksparks, erinnert er sich, hatte er sich seine erste Gehirnerschütterung geholt. Im Winter, als der Teich zugefroren war. Von dort hatte ihn sein Opa auf dem Schlitten Nachhause gezogen. Er weiß davon nichts mehr, wegen Gehirnerschüttern. Eine Urlaubserzählung, die er sich zur Erinnerung gemacht hat. Betäubt und benommen lag er rückseitig auf dem Schlitten und wurde vom Opa in die Wohnung in der Griebenowstraße, den Berg hinauf, gezogen. Ein kurzer Urlaub, den die Mutter jäh beendete, nachdem sie erfuhr, dass ihr Kind mit dem Kopf das Eis brechen wollte. Der Unbekannte widmet sich wieder der Polizeiwache. Er zittert leicht. Eine Hand streicht seinen Bauch, dort wo sein Magen liegt. Er fasst sich Mut und führt den Finger an die Klingel des Abschnittes 31. Der Finger liegt auf dem Knopf. Er bringt nicht die Kraft auf zu läuten und dreht ab. Läuft davon und hält sich den Bauch, als hätte er eine Schusswunde.

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in Unbekannter sitzt in der U-Bahn. Die Bahn poltert über das Gleis im dunklen Tunnel. Der Unbekannte macht sich nicht die Mühe, die Ein- und Aufgänge während der Fahrt zu zählen, wie ein Kind es ihm gegenüber macht. Fährt die U-Bahn in einen Bahnhof ein, klingt das nicht unähnlich dem Geräusch, wenn man eine Zitrone umstülpt. Ein dickes Pärchen setzt sich neben das Kind, das noch die Stirn gegen das Fenster drückt und darauf wartet, dass die Bahn weiter fährt, es wieder Ein- und Aufgänge zählen kann. Der Unbekannte ekelt sich erst vor den dicken Leute. Die beiden scheinen sich gestritten zu haben. Der dicke Mann lacht und sucht die unangenehme Spannung zu überbrücken. Der Unbekannte gegenüber denkt sich, so macht der Dicke das immer. Unannehmlichkeiten überbrücken wollen. Konflikten im weiten Bogen aus dem Weg gehen. Jeder Lacher ein Rosinenbomber um die dicke Frau zu besänftigen. Fett vom Doppelkinn wölbt sich und Grübchen bilden sich im schwabbeligen Gesicht des fetten Mannes, beobachtet der Unbekannte gegenüber, nimmt das Kind keine Notiz davon, sondern zählt noch mit den Fingern. Eine aufgequollene Hand winkt einem aufgequollenen Gesicht zu. Ungeschicktes Lachen. Er sucht seine dicke Freundin zu sich heran zu winken—sie ignoriert ihn. Die Bahn fährt unterhalb des alten Mauerstreifens—Todesstreifen, wie er auch geheißen hat. Hätte der Unbekannte das vor zehn Jahren gekonnt, er wäre sicher nicht Held der Arbeit geworden, aber doch zum Held des

n der Polizeiwache Abschnitt 31 Brunnenstraße Hausnummer 175 Berlin Mitte bezieht ein junger Polizist seinen Schreibtisch. Arbeitsplatz 23. Ein Berg Akten liegt vor ihm. Er ist keiner der viel übrig hat für Verschwörungstheorien. Er schlägt die erste Akte auf. Legt sie beiseite und widmet sich der nächsten. Fertigt eine Notiz an und legt sie in die Akte. Inzwischen liegen vor ihm zwei gleich hohe Aktenstapel. Sein Telefon klingelt. Er nimmt ab. Es ist seine Frau. Ob er beim Bestatter gewesen ist. Sie solle ihn nicht auf der Arbeit anrufen und ja wäre er gewesen. Wie es war. Unangenehm. Ob alles fix ist. Der Mann sei ihm ist suspekt gewesen, habe aber ein gutes Angebot unterbreitet. Er müsse weiter arbeiten. Das Verbrechen löse sich nicht von selbst. Er liebe sie auch. Regelmäßiges Tuten in der Gehörmuschel des blass grauen schnurgebundenen Telefons mit Wählscheibe. Der Kollege, der ihn gefahren hatte, läuft an seinem Schreibtisch vorbei und schlägt ihm herzhaft auf die Schulter: “und—alles geklappt beim Bestatter?”, fragt er knapp und läuft weiter, ohne auf eine Antwort zu warten. Herr Wolf gehörte zu den Männern, denen schon früh das Haupthaar ausging, aber auch Einer dem man seine Enttäuschung darüber nicht anmerkte. Er war gerade 25, als er mit der Polizeiausbildung fertig war und schon angeödet und angewidert von den nächtlichen Streifen. Die Streifen sahen keinesfalls so aus, dass er jede Nacht einen Schwerverbrecher stellte, einen Rauschgiftgroßhändler festsetzte, einen niederträchtigen Zuhälter von minderjährigen Frauen aufspürte oder zufällig auf ein Kartell von Steuerhinterziehern, in einem dumpfen dunklen und düsteren Raum angefüllt vom dichtem Qualm geklauter Zigarren und gezogenem Schnaps—gar noch selbst gebrannten und steuerfrei verzockten Geist, auf frischer Tat erwischte—in flagrante delicto—und auffliegen ließ. Das Verbrechen war überall. Das war keinesfalls der Fall und Wolf tat diese Vorstellung als infantile und naive Jugendträumerei ab, wie ein junger Forscher, der zwanzig Jahre lang auf die eine Entdeckung seines Lebens wartet. Die Nächte waren trostlos, langweilig und ödeten ihn an. Drei Mal Ruhestörung zwischen zwölf und zwei, hieß drei Mal fremde Menschen darum bitten die Stereoanlage etwas herunter zu drehen. Ganze vier Mal in der Nacht musste er eine Frau bitten, ihren Ehemann wieder in die Wohnung zu lassen, den sie alle zwei Stunden vor die Tür setzte und er—in Unterhose und Unterhemd weiß gräulich—wie ein Hund jaulte und an der Tür kratzte, bis sie wegen Belästigung die Polizei rief. Die, in Person Wolfs, nachts vor der Wohnung erschien, bereits von einem Mann etwa Mitte dreißig, wie es im Bericht hieß, der auf der Treppe saß das Gesicht im Schoß, wie zur Selbstbefriedigung, erwartet wurde. Und eine Frau in Reizunterwäsche die Tür aufmachte und ihren Ehering abstreifte. “Herr Kommissar, bitte nicht wieder mit dem Stock. Sie Rüpel.” Seufzen von Wolf und freudiges Grinsen von Ehemann und Ehefrau, der ein Träger runterrutschte, wie dem Mann die Unterhose, beide laut kicherten und Wolf die Tür

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ins Gesicht schlugen. Er hörte wie sich die Eheleute an der Tür rieben und stöhnten. Beamtenbeleidigung war das, nichts weiter. Und dafür hatte er studiert. Zwei Stunden später dasselbe Theater. Wolf war so etwas wie der Mediator der einhelligen ehelichen Libido. Einmal hatte ein Nachbar den Hund des anderen Nachbarn, mit einer Spur aus Hundekeksen in seine Wohnung gelockt und als Geisel genommen. Wolf fragte sich, ob der Hund die Tür selbst von innen öffnen konnte. Klopfte gegen die Entführer-Tür und bat um die Herausgabe der Geisel. Drohen, Rufen, Schreien waren die einzige Reaktion. Man rufe die Polizei. Sie sei schon vor Ort. Dann rufe man eine andere Polizei. Die Feuerwehr kümmere sich nur um Brände und Verletzte. Dann drohte es hinter der Tür, wenn die Einsatzkräfte nicht sofort das Wohnhaus verließen—Wortlaut der Person hinter der Tür, wahrscheinlich eine Frau—würde der Hund, der inzwischen leidlich jaulte und bellte, über das Internet verkauft werden. Wolf stand vor der Tür. Künstlich ruhig und redlich besonnen, wie er es gelernt hatte. In der Ausbildung hieß es, die meisten Probleme ließen sich mit Geduld lösen. Die kriminelle Person, handelt meist aus dem Affekt und der Affekt, sei eine Sache, die nicht lange auszuhalten sei. Was auch immer dieser Affekt sein soll. Dieses neue Ding, von dem jetzt alle reden, dachte Wolf, vor der Tür stehend, besonnen klopfend. Man möge bitte den Hund heraus rücken. Selbst in der Ausbildung sprach man davon. In Amerika sei es schon ganz groß. Den Hund bitte. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis diese Pandemie von medialem Virus nach Europa, Deutschland und Berlin schwappte. Wolf, der trotzdem er regelmäßig die Zeitung las, Nachrichten schaute und sich generell als eine informierte Person bezeichnete, er hatte keine Ahnung was dieses Internet sein soll. Noch wie man sich dieses Internet vorstellen müsse und wie man auf diesem Internet einen Hund verkaufen konnte, das wusste er schon gar nicht. Es war ihm ein schleierhaftes Gebilde von nebulöser Gestalt, aber auch ungeahnter Anziehungskraft. Wie einen alten orientalischen Basar zur Seidenstraße stellte er es sich vor. Auf den man nur gelangen konnte, wenn man dazu gehörte. Wenn man über eine spezielle Technik verfügte—eine moderne Form der Enigma, erbeutet aus alten Nazibeständen. Das Internet muss ein ominöser Platz sein, dachte Wolf, voll mit umtriebigen Gestalten, die aus dem Verkauf allerlei Sorten von Rauschgift, illegalen Medikamenten und Giften eine große Hehlerei machten. Ein Ort für Schwerverbrecher, Zuhälter und korrupte Politiker—all der ganze Abschaum, der auf den, von der Polizei rein gehaltenen Straßen, keinen Platz findet. Gott sei dank, meint Wolf zu sich. Man sollte mal einen V-Mann zu diesem Basar schicken und der dann das ganze Nest einfach ausheben sollte und am Ende sollte man es verbieten, dieses Internet. Wobei seine Vorstellung von Internet ziemlich nahe den Schilderungen von Burroughs Interzone kamen. Hätte, hätte Fahrradkette—sollte, sollte Witwe Bolte. Er empfand es als eine Farce, dass er nicht einfach die 9mm auf den Tisch knallen konnte, was letztlich dem Kommunikationstraining der Polizei geschuldet war und ein wenig auch dem Gesetzgeber. Die Zeit von Räuber und Gendarm war vorbei. Ost- und Westagenten arbeitslos. Keine Trenchcoats und keine Borsalinos von Steuermitteln kaufen und antiquierte Handfeuerwaffe unter dem billigen Anzug um die Schultern tragen. Stattdessen Schulz von Thun und die vier Seiten einer Nachricht. Statt: entweder du lässt deinen verfluchten Mann in eure verfluchte Wohnung und entweder der verdammte langhaarige Köter geht zurück zu seinem Besitzer, wenn ich noch einmal das Wort Geisel höre, oder ich durchlöchere deine verschissene Tür. Stattdessen war der Polizist Wolf so etwas wie ein freundlicher Bittsteller. Ein Bettler, der um Gehör und Raison bettelte. Ein Bettler von Recht und Ordnung in moosgrüner Uniform, deren Design sich an der aktuellen Mode orientierte—um dem Volk näher zu sein, wie es von offizieller Seite hieß. Nur hatten die Damen und Herren von offizieller Seite übersehen, dass die Mode sich jedes Jahr ändert und die Uniformierten inzwischen zwanzig Jahre hinter der Zeit waren. War moosgrün damals noch der neuste Schrei, war es heutzutage das einmalige und klare Zeichen, out-to-date zu sein, wie man es auf neuhochdeutsch bezeichnete. Mit dem Internet waren auch mehr von diesen Anglizismen in die deutsche Sprache gedrungen, ärgerte sich Wolf über die vermeintliche Verunreinigung seiner guten deutschen Muttersprache. Wolf fühlte sich wie ein Clown—wie ein bittender und bettelnder Clown in moosgrün. Sachebene: Her mit dem Hund, oder ich schieße. Appellebene: rück sofort den Hund raus. Selbstoffenbarung: wenn der Hund nicht sofort den Besitzer wechselt, verliere ich die Geduld. Beziehungsebene: ich knall dich ab. Er war es leid. Leid sich jede Nacht über Bekloppte zu echauffieren. Leid sich dabei aufs Gröbste zu langweilen und Leid war er es, dass man ihn nicht an die echten Fälle ließ. Dass er die öde Drecksarbeit machen durfte. Aber was, fragt man sich, ist der Unterschied zwischen jung und alt, die abgegessen von ihren Berufen Tag für Tag auf das Schichtende hoffen. Die Jungen, optimistisch im Versuch und kritisch in der Ausführung—wie Freud das mal sagte, als er sich die Nase puderte. Die Jungen denken, man muss doch etwas ändern können, so auch Wolf mit seinen 25 Jahren. Letztlich auch jene Qualität, die ihn—besser seine Karriere retten sollte. Einmal mehr kam er von einer seiner frustrierenden täglichen und nächtlichen Streifzügen—Recht und Ordnung zu wahren—einem monotonen Diensttag zurück zur Wache. Einem Diensttag, der daraus bestanden hatte eine gewisse Frau Möbius zu observieren, wie Wolf es nannte. In ihrer Wohnung zu observieren und ihr doch kein Verbrechen anheften zu könnte, spielte er schon mit dem Gedanken den Dienst zu quittieren. Da offerierte man ihm eine höhere Position

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mit höherem Gehalt—in vier Jahren. Nämlich weil er, anders als die anderen jungen Polizisten, sich nicht auf seiner Ausbildung ausruhte, sondern sich ständig beschwerte und mokierte, dass ihm dieses und jenes nicht als praktikabel schien. Vier Jahre dachte er sich und stieg in das Polizeiauto und war glücklich die hündische Geißel—ohne den Gebrauch von Schusswaffen und Blutvergießen—befreit zu haben. Vier Jahre. 1460 Tage, abzüglich hundert Tage Urlaub. Vier Jahre noch Nachtdienst, Ehestreitigkeiten, Geiselbefreiungen und jedes Jahr eine andere Seite der Nachricht.

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er Unbekannte schaut nach links und rechts, überquert die Straße auf direktem Wege zum Abschnitt 31. Dieses Mal hat er einen Plastikbecher gefüllt mit lauwarmer Kaffeebrühe und einen Schuss Milch, weil er Kaffeesahne nicht verträgt, in der Hand. Klingelt. Ein Surren zeigt an die Tür zu öffnen. Der Unbekannte steht in der Wache. Sieht sich um. Er ist nicht der Einzige, der an diesem Montag dem fünften August in der Polizeiwache eine Anzeige aufgeben will. Eine mehr oder minder freundliche Polizistin, mit kompliziertem russischen Namen auf einem Schild auf dem Revers geleitet den Mann in den Wartebereich der Polizeiwache. Der Unbekannt sitzt sichtlich nervös im Wartebereich. Macht mit dem klackende Geräusche, als ob er ein Haustier ruft. Ein Häufchen Elend. Seine Hände zittern. Kaffee schwappt über auf sein Handgelenk. Er wird gefragt, ob alles in Ordnung sei. Er versenkt den Kopf in die braune Brühe und antwortet nicht. Man ignoriert ihn, wie alle komische Menschen—sonderbaren Exoten—von denen augenscheinlich keine Gefahr ausgeht. Er holt eine Dose Kaugummi aus der Tasche und träufelt sich ein paar weiße Dinger in die Hand. Eine Billigmarke. Und schluckt die Dinger weg als wären es Pillen. Er wird angewiesen aufzustehen und sich an den Platz 23 zu begeben. Er stellt die Dose auf den Tisch. Der Kaffee ist leer. Der nervöse Unbekannte zieht eine Miene, als wäre jemand gestorben. Wolf noch immer versunken in seine Akten, bemerkt ihn erst einen Augenblick später oder er lässt den Unbekannten absichtlich warten. Er blickt auf, ohne eine Geste der Entschuldigung. Das Verhältnis von Anfang an hierarchisch asymmetrisch. Der Unbekannte schaut unwesentlich irritiert. Er sieht aus, als versuche er sich an etwas zu erinnern. Irgendwoher kannte er diesen Polizisten. Das muss man Wolf lassen, er weiß mit Menschen umzugehen. Er weiß wie man Druck erzeugt, ein Gefälle herstellt und er weiß, wie man einem Menschen das Gefühl gibt, man wolle eigentlich nichts von ihm. Manchmal meint Wolf hänge das mit seiner schlechten Laune zusammen, die wiederum, das weiß er, hängt sehr eng mit einem vergangenen aber vor allem bevorstehenden Nachtdienst zusammen. Der Unbekannte wartet inzwischen sichtlich gefasst, bis ihm das Zeichen zu reden gegeben wird. Beide Männer spielen jetzt, wer schießt zu erst. Der Unbekannte greift zu seiner Kaugummidose. Langsam bedächtig, als handele es sich dabei um ein Beweisstück. Er lässt den Polizisten vor sich nicht aus den Augen. Für gewöhnlich, die Erfahrung hatte Wolf gemacht, fangen die Leute irgendwann an, von selbst zu reden. Mit einem Klacken springt die Dose auf. Der Unbekannte blickt in die Dose, wie in ein Fernrohr. Um sie herum herrscht angebrachte Hektik. Die Telefone klingeln. Alte und junge Polizisten schnappen sich ihre Hüte und nehmen Reiß aus. Die Verbrechensprävention ist derzeit auf einem sehr niedrigen Stand. So bleibt nur das Eingreifen, wenn man auch verhindern will, dass ständig überall die Polizei eingreifen muss. Man empfiehlt den Menschen miteinander zu reden und erst wenn das Gespräch sinnlos geworden ist, die Polizei zu verständigen. Aus dem Augenwinkel beobachtet Wolf seine Kollegen. Nebenbei hört er mit, ein Unglücksfall. Ein junges Pärchen. Ob Unfall oder Selbstmord noch nicht klar. Er blickt den Unbekannten vor sich an und denkt, er muss hier sitzen und die Kollegen, fahren zum Tatort und er denkt wieder an eine Zahl: vier. Vier Seiten einer Nachricht. Vier Jahre langweiligen Dienst schieben. Stille zwischen den beiden Männern. Der Unbekannte schüttelt aus der Dose einige Kaugummis und schluckt sie­—erneut—wie Pillen. Wolfs Augenbrauen lichten sich. Die Pupillen in seinen Augen schärfen sich. Eine sanfte Erregung schleicht ihm über die Haut. Einige Härchen erheben sich. Er bekommt aber keine Gänsehaut. “Also bitte, was kann ich für sie tun?”, fragt er den Unbekannten. “Mein Name ist Ernst Edwin Schlichter und ich möchte mich selbst des Mordes bezichtigen.” In der Wache heißt es, Wolf komme nie mit zu einem Feierabendgetränk. Es heißt er trinke keinen Alkohol. Es heißt sein Vater wäre ein Trinker gewesen. Es gehen Gerüchte über Partnergewalt zwischen den Eltern um. Man munkelt, das muss seine Motivation gewesen sein Polizist zu werden. Wolf spricht nicht gern über solche Dinge, also bleiben—wie immer, wenn eine Person sich der Aussage verweigert—Mutmaßungen und Spekulation. Schräg gegenüber der Polizeiwache ein Imbiss. Der Laden grenzt an eine Brandwand, die den einstöckigen Imbiss und mehre, genau genommen um fünf Geschosse überragt. Es sieht aus als fallen Ziegelsteine aus der grauen Wand. Ein Mann steht mit einem Kärcher vor der Wand. Jemand hat in der Nacht das Wort Mörder an die Wand gesprüht. Langsam löst sich die Farbe aus der Wand und läuft aus dem Mauerwerk. Fünf Geschosse eines Wohnhauses, das aussieht, wie auf der Modelleisenbahnplatte einer Ruine von Stadt, die man mit Papierkügelchen beschossen hat. Unbelebte Flecken, eingerissene Straßenzüge und Löcher in den Häuserreihen. Die Mitte der Stadt, nichts als ein baufälliger Krater.

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as erste Mal Streit im Hause Cleo und Lolita, die eigentlich Sofia Sommerfeld hieß, hatte nicht lange auf sich warten lassen. Cleo nichts ahnend eine schwere braune Papiertüte aus dem Supermarkt auf dem Arm selbstvergessen auf dem Weg in die WG und überall lief dieses neue Lied. Hit des Jahrzehnts. Dauerbrenner. Alleskönner. Der perfekte Rocksong. Die Musiksender und Radioshows waren sich für keine Bezeichnung zu schade. Die Erfindung eines neuen Genres und dieses Mal nicht aus den Staaten. Heimspiel—home game dachte Cleo. Sie sagt, ein Freund von Zuhause hatte es ihr aus dem Radio aufgenommen. Die Musik der streitsüchtigen Brüder und die Britawards. Der Kampf der beiden Bands. Scheißleben und Parkleben. Cleo mochte beide Bands. Sie war wie die unentschlossenen Stonesfans, die sagten Schatz bitte glaub mir, ich werde dir niemals etwas tun. Aus dem Radio aufgenommen und auf Kassette gespielt. Eine ganze Kassette, A- und B-Seite, hatte er ihr aufgenommen. Cleo liebte ihre Kassette. Am Anfang: Oh Darling please believe me, was sie—auch wenn es ein gutes Lied war—meist vorspulte. Dass der mehr als ein Freund sein wollte, steht auf einem anderem Blatt. Jedoch ganz zu seinen Ungunsten wie es schien übertrug sich diese Liebe nicht auf ihn. Wie dem auch sei. Sie hörte den ganzen Tag die Kassette. Bis sie im Flugzeug saß. Hatte er nicht gesagt, er nehme ihr die Kassette gegen die Flugangst auf? Ihr Flieger stand auf dem Rollfeld und wartete auf eine Concorde, die gerade zur Startbahn rollte. Das Flugzeug, welches ein paar Monate zuvor den Rekord aufgestellt hatte. New York London in drei Stunden. In drei Stunden sehen, was Nulltoleranzstrategie heißt. Es hieß, das würde für Jahrzehnte das schnellste sein. Die schnellste Passagiermaschine. Triumph der Technik über die Physik. Da hätte Lilienthal in seinem Segelapparat hängend den Berg hinunter-gleitend, nicht schlecht gestaunt. Ihr Sitznachbar rief den Namen der anderen Maschine und alle Passagiere sprangen von ihren Sitzen auf und standen im Gang des Flugzeugs und schauten sich das Überschallflugzeug mit der krummen Nase an. Bis auf Cleo. Als einzige in ihrer Reihe sitzend—desinteressiert—versuchte sie diesen uralt Walkmen der ersten Generation inklusive hotline button, den er ihr mitgegeben hatte, zu bedienen. Versuchte es zumindest. Er hatte vergessen die alten Akkus auszutauschen und der Walkmen funktionierte nicht mehr, wie so manch anderes in diesem Semi-Verhältnis zwischen Semi-Affäre und Semi-Liebesbeziehung. I never do you no harm, please believe me. Der berstende Klang der Triebwerke schreckte Cleo auf. Wenn eine Concord startet hat das nichts mit einer Zitrusfrucht gemein. „The future“, sagte einer der Passagiere ergriffen. „Future”, stimmten andere überein, gleichzeitig erschüttert und erregt—in verschwörerischem Ton. Aufgerissene Augen als würden sie im Hubschrauber über den Bikiniatoll fliegen und den Test, die Druckwelle, den Pilz und die Explosion miterleben. Man erinnerte sich noch an das Thronjubiläum, an die Red Arrows und die Concorde. Ein Geschwader über dem Buckingham Palast und Millionen Menschen in den Straßen. Geifern in den Himmel. Hören verzögert über ganz London röhrende Triebwerke. Sehen den Fortschritt. Die Zukunft. Die erhabene Spezies. Homo Aerius Sapiens. Eigentlich liebte und hörte sie nicht die ganze Kassette, sondern nur dieses eine Lied und sie immer wieder zu der Stelle vor- oder zurückspulte wo es auf dem Band lag—wie einen Ort bereiste. Einmal wäre ihr beinahe, während eines ihrer Spulmanöver, die schwere braune Papiertüte aus dem Supermarkt aus dem Arm gefallen und beinahe Orangen, Zitronen, Eier, Tomaten und eine Dose Baked Beans auf die Straße vor dem Hauseingang der WG kugelten. Das Lied im Ohr. Die Einkaufstüte auf dem Arm. In der Hosentasche kramend, den Schlüssel suchend und die schaukelnde Papiertüte, warf sie von einen auf den anderen Arm. Knistern. Schlüsselbund klappern. Die Bügelkopfhörer, die aussehen, wie Ohrschützer, rutschten ihr den Hals hinunter auf die Schulter. Sie stand wie eine der DJanes bei der jährlichen Parade auf der Straße, der Straße die nach einem Aufstand, blutigem Aufstand vor fast einem halben Jahrhundert benannt ist. Wie einen Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter. Klimpern des versteckten Schlüsselbundes, übertönte ein leises Klacken der Türklinke und blieb von Cleo unbemerkt, die die Papiertüte auf dem Arm, verzweifelt den Schlüssel suchte und nicht auf die Idee kam—oder die Tüte nicht auf eine der Treppenstufen neben sich stellen wollte. Knarren der Tür und Cleo hielt inne. Schaute ungläubig in den Zentimeter breiten Spalt und schob sich dann abrupt die Tüte voran in die Wohnung. Das Lied lief leise um ihren Hals, wie eine musikalische Kette. Kaum hatte sie den Flur der Wohnung erreicht—Farbeimer noch immer links und rechts—stellte sich ihr Lolita Sofia Sommerfeld in den Weg. Gekleidet als wolle sie gerade das Haus verlassen. Die Hauspumps mit Straßenpumps ausgetauscht. Cleo wich aus. Sofia wich mit aus invers, wie ein Spiegelbild. Cleo links, Lolita rechts. Cleo rechts, Lolita links, versperrte ihr den Weg in die Küche. Wieder nach links und Lo folgte. Cleo‘s unsicheres, meist als arrogant bezeichnetes, Lächeln. Sofia‘s mienenloses, sonnenloses und freudloses Gesicht. Cleo in gebrochenem Deutsch unter starkem Akzent: “Was ist?” Sofia Lo, einer der Menschen, die sich einem in den Weg stellen wie ein Stein. Die still sind wie ein Stein und fragt man was ist, dann brechen sie die Mimikry und werden zum donnernden Orkan aus Vorwürfen, Enttäuschungen und blinder angestauter Wut—aber die deutlich erzürnte Sommerfeld sagte nur einen Satz: “wenn du noch einmal abschließt, wenn ich Zuhause bin, schmeiße ich dich raus. Verstanden?”, und verschwand die Tür knallend in ihrem Zimmer. Cleo die Papiertüte noch immer auf dem Arm. Aus den Kopfhörern: Rauschen, die Kassette war zu ende. Sie haben nie wieder darüber geredet. Und als Cleo sechs Wochen später zurück nach Lon-

ch mache den Job seit 20 Jahren und seit 20 Jahren finde ich es scheiße. Es ist interessant, ja. Es ist gut bezahlt, ja. Aber undankbar ist es auch. Eine Allgemeinheit will, dass ich die allumfassende Wahrheit aus Jedermann heraus kitzeln kann, egal ob Frau, Mann oder Kind. Ich soll wie ein Chirurg ein Skalpell nehmen, Hirn aufschneiden und Wahrheit heraus lesen. Oder besser noch, ich soll herausfinden wie jemand tickt, indes er einmal geblinzelt hat. Es ist egal, ob du es denen sagst, dass das nicht dein Job ist. Es ist egal. Am Ende wollen sie von dir ein Ja oder Nein hören. Ob du das aus dem Bauch entschieden hast oder per Test, auf den du dich verlassen kannst, weil er gute psychometrische Werte hat. Weil der Test reliabel und valide ist. Am Ende will man von dir eine 1 oder eine 0 hören, wie von einem Computer. War der Delinquent steuerungsfähig oder war er es nicht. Und du? Du willst liefern—schon klar. Du willst sagen, ja war er nicht oder nein war er. Sicher war ich mal von dieser Macht und Verantwortung angetrieben. 1 oder 0, du willst liefern, also setzt du dich mit dem Delinquenten hin, wie er so schön heißt, und analysierst. Liegt eine seelische Störung vor, ja oder nein. Liegt eine Bewusstseinsstörung vor, ja oder nein. Ist diese Bewusstseinsstörung tiefgreifend, ja oder nein. Und der Typ vor dir will nur eines. Wenn er denkt, er wäre clever, geht er auf unzurechnungsfähig. Wenn er tatsächlich clever ist, dann wird er einen Teufel tun und in den Knast wollen. Der wird dir erzählen, er hat alles geplant jedes Detail, aber Mitgefühl hatte er auch—er sei ja schließlich kein Psychopath. Es tue ihm auch leid. Was will man machen, es war dumm, aber ist geschehen. Er sei bereit die Strafe abzusitzen und dann ein neues Leben anzufangen. Forensische Psychiatrie ist no man‘s land. Ein Ort, der einen Zombie aus dir macht. Du kriechst dich selbst voll-sabbernd durch die Flure der Anstalt und musst in die Gruppentherapie. Resozialisierung heißt das und ist zwar nicht das alleinige Ziel der Strafe—es soll auch bestraft werden—aber doch das Hauptanliegen. Man will nicht mehr nur bestrafen allein. Man will den Delinquenten wieder gesellschaftsfähig machen, wie einen Penner von der Straße holen und ihn in einen Anzug stecken. Man will den Straftäter salonfähig machen. Nur dass dieser Anzug aus Benimmregeln besteht. Regel eins: bring niemanden um. Regel zwei: auch wenn jemand dich beleidigt, bringe ihn nicht um. Regel drei: wenn dieser Jemand deine Schwester vergewaltigt, dann bringe ihn nicht um. Er kann sogar deine ganze Familie schänden, dein Haus abfackeln und auf das Grab deiner Liebsten pissen, umbringen darfst du ihn trotzdem nicht. Capisci? Man muss den Terminator aus den Männern holen. Das mal eine Frau hier vor mir antanzt und begutachtet werden muss, ist übrigens mehr als selten. Da fragt man sich liegt das in der Natur oder in der Gesellschaft. Aber gib nicht der Psychiatrie die Schuld, die machen nur ihren Job. Schieb es nicht auf die Gesellschaft, die kennt nicht einmal den Unterschied zwischen JVA und forensischer Psychiatrie. Die denken, wenn einer in die Klapse kommt, ist er fein raus. Wenn du ins Gefängnis kommst, ficken sie dich in den Arsch. Kommst du in die Forensik veranstalten sie ein Rodeo mit deinem Gehirn und jeder darf mal reiten. Es ist auch nicht der Job des einfachen Mannes und der einfachen Frau da durch zu sehen und besser ist, sie haben keinen Durchblick, nicht um machen zu können was man will. Nicht damit das sogenannte Fachpersonal schalten und walten kann, wie es ihm beliebt. Die Welt ist ein Ort voller Scheiße. Aber vor allem ist sie ein Ort voller Zufälle. Was ist das schlimmste für den Menschen? Wenn er nicht weiß, warum die kleine Mathilda auf dem Schulweg abgefangen wurde und für Jahre im Keller gefoltert wurde. Wenn er nicht weiß, warum Alexander, der Bankangestellte erschossen wurde, bei einem schlecht geplanten Überfall. Menschen brauchen immer einen Grund. Wenn Menschen wissen, die junge Sarah Cohen, wird wegen ihrem Nachnamen in der Schule gemobbt, dann ist es gut. Irgendwie brauchen sie immer eine Verbindung. Ein Aha. Ein Heureka. Ein, deswegen passiert mir das nicht. Ein: der ist selbst schuld. Oder: wäre sie mal von der Mutter gefahren worden, wie die anderen Mädchen. Es muss einen Grund für Verbrechen geben. Aber die Frage ist nicht warum gerade ich, sondern warum ich nicht. Da hat sie Pech gehabt mit dem Nachnamen. Weil du Glück gehabt hast. Weil wir über Wahrscheinlichkeiten geredet haben. Weil es unwahrscheinlich ist, dass dein Kind von einem Perversen gefickt wird, aber so unwahrscheinlich es ist, es ist auch wahrscheinlich. Es kann immer überall Verbrechen geschehen. Wenn du zehn mal die Sechs gewürfelt hast, heißt dass nicht, dass du beim elften Mal dasselbe machst. Wenn du in ein Kasino gehst und dir elf Runden Roulette anguckst und bei der zwölften setzen willst wird dir das nicht helfen. Du gehst in eine Gameshow und dir werden dort drei Türen geboten und du sollst um ein Auto zu gewinnen auf eine tippen. Bevor die, von dir ausgewählte, Tür aufgemacht wird, sagt der Moderator, halt und öffnet dir eine der anderen beiden Türen und eine Ziege bläkt hinter der sich öffnenden Tür. Dann denkst du, gut jetzt haben wir fifty-fifty. Hast du nicht. Deine Chance halbiert sich nicht und man kann dir nur raten die Tür zu wechseln. Woher kommt dieser Irrtum? Man kann sagen Menschen brauchen ihre Wahrscheinlichkeit. Das wäre nur die halbe Miete, denn Menschen brauchen Sicherheit und sie bilden sich ein, sie würden Sicherheit per Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit bekommen. So schleicht sich in den Glauben an die Wahrscheinlichkeit die

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don—geschüttelt von Flugangst keine Frage—flog, sahen sich die beiden nie wieder. Jede ging ihren Weg. Die beiden Frauen waren nie Freundinnen geworden. Und hatte sich auch nicht gegenseitig besucht und das alles wegen einer abgeschlossenen Tür.

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Idee von Niederlagen vermeiden können. Man überlege sich das mal. Wenn man bei der vorher ausgewählten Tür bleibt und es die andere ist, ärgert man sich. Hat man gewechselt ärgert man sich doppelt. Doppelter Ärger oder doppelte Chance. Entweder oder. Die gefühlte Wahrscheinlichkeit sich zu ärgern, bei einem Irrtum, wiegt schwerer als die errechenbare Wahrscheinlichkeit. Das Leben lebt sich nur ohne Angst. Wenn dein Leben von Angst bestimmt ist, hast du ein Scheißleben. Hast du ein Scheißleben, musst du alles tun, damit es kein Scheißleben mehr ist—oder du wirst kriminell, dann hast du ein Scheißleben durch richterliche Hand, also mitnichten ein Scheißleben. Ein Scheißleben hast du nur, wenn es keinen Sinn hat. Holst du dir jeden Tag deine drei bis vier Injektionen Heroin ab, hast du kein Scheißleben, denn du hast was, wofür es sich lohnt aufzustehen. Du hast einen Grund in den Supermarkt zu gehen und Schnaps in einem Rollkoffer zu klauen und zu verzocken. Dein Job für den Schuss. Andere Leute arbeiten ein Jahr für zwei Wochen Sonne. Du arbeitest jeden Tag für jeden Tag Hero. Wer ist hier schlechter dran? Hast du jemanden umgebracht und steckst 20 Jahren in der JVA, hast du kein Scheißleben, weil du im Knast deine Strafe absitzt. Ein Scheißleben hast du, wenn du Mathilda heißt und acht Jahre alt bist und entführt wirst. Aber heißt du Mathilda und bist seit zehn Jahren in einem Keller eingesperrt, hast zwei bis drei Abtreibungen von deinem Stiefvater hinter dir, hast du kein Scheißleben, weil du einen Feind hast. Wer einen Feind hat, hat kein Scheißleben. Schaff dir ein Feindbild und du bist fein raus. Später wird Mathilda diese Sinnsuche Dämonen nennen. Das Gehirn kann eine subversive Sache sein, der Charakter aber auch. Sie wird sich schämen, für die Abhängigkeit von ihrem Feindbild. Aber Mathilda lass es gut sein. Schieb die Schuld nicht auf Leute wie mich, ich mache nur meinen Job. Schieb es auf niemanden. Schuld ist immer ein Freispruch, nämlich deiner Schuld. Es ist egal. Am Ende hat einer Recht und einer wird bestraft. Oder alle haben Recht und keiner wird bestraft oder alle haben Unrecht und alle werden bestraft und du fragst dich, ob dann was anders ist? Nichts ist dann anders. Ein Flugzeug stürzt ins Meer. Kurz nach dem Start. In den Atlantik. Fast noch zu sehen. Südlich von Long Island. Und es muss eine Verschwörung her. Es muss ein Attentat her. Eine große Katastrophe braucht einen großen Auslöser. Menschen brauchen adäquate Systeme. Und das lässt sich leicht logisch her führen. Ist für ein seltenes und schlimmes Unglück eine ebenso schlimme Ursache Schuld, macht das künftige Unglücksfälle nicht wahrscheinlicher. War es nur der Tank oder die Klimaanlage, die sich durch eine Reihe von Zufällen entzündet hat und daraufhin explodierte und das Flugzeug ins Meer und 230 Menschen in den Tod stürzte—braucht es eine äquivalente Ursache. Mit der Suche nach Ursachen sinkt die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass einem das selbst passiert, weil wie häufig kommen Terroranschläge vor? Richtig selten. Das heißt dein Flugzeug wird selten abstürzen. Eine einfache Kontrolle und Angstabwehr. Hast du keinen Grund steigt so die subjektive Wahrscheinlichkeit, deswegen braucht ein Verbrechen einen Verbrecher. Angstabwehr braucht einen Schuldigen. Ein simples System. Menschen fühlen sich bedroht, also brauchen sie jemanden über den sie das Gefühl von Bedrohung kontrollieren können, es geht hier nicht um ein Urteil oder darum, wie man es machen sollte—es geht um den Preis über den man sich die Kontrolle erkauft und dieser Preis ist die Erhaltung von Angst. Das soll keine Gesellschaftskritik werden, ich bin ja selbst Teil davon. Jetzt auch noch dieser Anschlag in Atlanta. Die Welt geht in ein düsteres Zeitalter. Wie gesagt, das soll keine Gesellschaftskritik werden, aber ich sage der Terrorismus wird unsere Gesellschaft retten. Kommen wir zur Sache: Ernst Edwin Schlichter allein schon für den Namen sollte der den Stempel Klapse bekommen. Was für ein Mensch. Es geht um seine Zurechnungsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit und der erzählt mir was von Liebesfähigkeit, was er mal gelesen hatte, in einer Illustrieren. Liebesfähigkeit aus einer Illustrierten. Ich werde den Verdacht nicht los, der denkt, ich wäre sein Therapeut. Man denke an die jüngsten Skandale. Man denke an die Montessori-Prozesse an den noch laufenden Wormser-Prozesse—der in einer Blamage enden wird, wenn man mich fragt. Unsereins muss Heutzutage gut aufpassen, was er sagt. Mein Name ist Mihver, Robert Mihver, ich bin psychologischer Gutachter zu Gericht und ich vertraue auf Persönlichkeitstests. ranck Thom sitzt in seinem Bestattungsinstitut. Särge über Särge stapeln sich inzwischen auch im Hof und Franck hofft, dass dieser August ein trockener August wird. Er sitzt an seinem Schreibtisch und öffnet und schließt die Ablage seiner Schreibgarnitur. Holt ein Tuch und fängt an den Marmoraschenbecher zu putzen. Er hustet und stößt auf. Der Aschenbecher sauber. Auf den Erfolg hat Franck sich eine seiner Zigarre angezündet und ein Glas Rotwein eingeschenkt. Schiebt sich und den Pfauensessel weiter nach hinten und legt die Beine auf den Schreibtisch und schaut zu den im Zimmer gestapelten Särgen. Der Samowar blubbert. “Wenn nur jeder Tag so ruhig wäre.” Rote Reste vom Wein liegen auf den Lippen des Sinnierenden. Einige Stockwerke höher sitzt Cleo Kidman am Fenster ihrer—noch für sie—neuen WG und schaut nach unten in den Hof und beobachtet den im Hof umher laufenden Herrn Thom vom Bestattungsinstitut. Inzwischen ist es so, will man zu den im Hof gelegenen Mülltonnen muss man durch ein Labyrinth von Särgen. Auf dem Küchentisch steht die Papiertüte und die Wohnungstür ist ein Spalt offen. Für die schnelle Flucht denkt Cleo. Franck Thom

thront auf dem Labyrinth, wie Theseus. Und das alles nur wegen einer abgeschlossenen Tür. Cleo konnte einfach nicht wissen, dass Lolita Sofia ein befreundetes Paar—ein Paar waren sie nicht mehr—das konnte Kidman nicht wissen, dass dieses Paar: Tobias Nyström und Johanna Svensson, kein Paar mehr waren. Nicht weil sie sich, wie so viele Andere, die neu in der Stadt sind, trennen müssen, um etwas neues zu erleben—für ein bisschen Abwechslung. Cleo konnte nicht wissen, dass es nicht Tobias Job, als Fahrradkurier war, der für die Trennung sorgte. Damals als Cleo in Berlin wohnte, nicht gerate angesehen und teuer noch dazu. Teuer besonders weil, die Fahrradteile, die Tobias für sein Fahrrad brauchte allesamt aus New York kamen. Die er in einem Katalog von drüben auswählte und dann per Fax bestellte und mindestens einmal monatlich anrief, wo Fahrradkuriere zwar nicht beliebter, aber verbreiteter waren. Einmal nach Amerika auswandern. Dieses Amerika, dass sich noch von seinem Flugzeugabsturz und seinem Attentat in Olympia erholen muss. Der große Traum einmal von dem Geld aus dem Kurierdienst nach New York fliegen und sehen wie es ist. Die breiten und langen Straßen vollgestopft mit Taxen und Autos. Kein Platz für Fahrradfahrer. Einmal da zwischen den Boliden und Hindernissen entlang rasen. Die Zeit vergessen. Gefahren vergessen. Alles vergessen. Untergehen in fünf Spuren endlos geradeaus gehenden Straßen. Aber wie soll ein Schwede in Berlin ohne Geld und ohne die Freundin überzeugen zu können nach NYC auswandern? So oder so, es sollte anders kommen—ganz anders. Geld, Fahrräder oder New York City waren nicht der Trennungsgrund, aber woher sollte Cleo das wissen? Johanna Svensson eine der wenigen weiblichen Dj‘s der Stadt hatte als Djane schon einige Erfolge vor zu weisen. Seien es Auftritte auf der jährlich immer weiter ausufernden Loveparade, in den Clubs der Stadt oder ihr Residentsstatus bei einem der größten Clubs der Stadt im ehemaligen Umspannwerk. Woher sollte Cleo wissen, dass Johanna am Tag des Unglücks Nachts um Vier allein wach in der gemeinsamen Wohnung, wie immer in der Küche saß. Bevor sie zu einem Auftritt aufbrach, sich einen Kaffee—schwedisch wie sie es nannte, Wodka in ihrem Kaffee zu kippen, machte. Ihn trank, um 20 Minuten später das Haus zu verlassen. Abschloss und den schweren Rollkoffer mit kaputten Reißverschluss Richtung Auguststraße bewegte, wo sie in einem Club auflegen sollte, der mehr abgefuckter Keller war, als ein Etablissement zum Tanzen und Trinken. Der normalerweise nur Dienstags und Donnerstags geöffnet war. So eine Abriss- und Kellerkultur konnte man überhaupt nicht mit Stockholm vergleichen, meinte Johanna begeistert zu Tobias. Was Berlin für sie war, war NYC für Tobias. Cleo konnte nicht wissen, dass Johanna, nachdem sie ihre nächtlichen Aufputsch-Kaffee getrunken, vergaß— schlaftrunken und dösig dröge wie sie war und benommen vom Wodka, der wie ein Geysir in ihren Kopf geschossen war—den Gasherd auszumachen und sich allmählich in der Zeit, wo sie die erste Bahn Richtung Mitte der Stadt nahm, die Wohnung mit Gas füllte. Cleo konnte nicht wissen, dass Tobias etwa eine Stunde später—um halb sechs—vor Atemnot aufwachte und sofort begriff: Gas. Raus hier. Und Richtung Wohnungstür rannte und stürmte. Die Luft anhielt. Diese Kombination von Gasgeruch, Todesangst, aus dem Schlaf gerissen worden sein, Luft anhalten und rennen, was das Zeug hält—ihn blind wie dumm und begriffsstutzig machte. Und Cleo konnte nicht wissen, dass Tobias verzweifelt versuchte schon halb im Delir, die Tür aufzureißen und aufzubrechen und erst Sekunden später realisierte: sie war abgeschlossen. Sein Schlüssel in der Radfahrertasche im Schlafzimmer. Unmöglich weit entfernt. Es musste so auch möglich sein, die Tür aufzubrechen, dachte der Benebelte. So schlug er gegen die Tür vom Gas um seinen Verstand gebracht. Er vermied zu schreien, denn jeder Schrei war der Verlust von Sauerstoff, Verlust von Zeit, dass niemand das dumpfe Klopfen und Schlagen morgens um halb sechs hörte. Cleo konnte nicht wissen, dass vier Stunden später die müde und glückliche Johanna nach ihrem Auftritt die Treppen ihres Wohnhauses hinauf lief. Den Plattenkoffer jede einzelne Stufe hoch hievte. Einen merkwürdigen Geruch in der Nase—sie dachte sich nichts dabei. Wollte nur schnell zurück ins Bett und ein paar Stunden mit Tobias kuscheln, bevor er wieder wie ein Irrer, wie sie sagt, durch die Stadt auf seinem Fahrrad ohne Bremsen fahren würde. Wahnsinnig und lebensmüde sei das, sagte sie nicht nur einmal. Vielleicht, dachte sie, schafft sie es ja dieses Mal ihn davon abzuhalten und diesen Sonntag mit ihm im Bett zu verbringen. Es kam anders. Cleo konnte nicht wissen, dass es anders kam. Sie konnte nicht wissen, dass als Johanna die verriegelte Tür aufgeschlossen hatte, die Klinke hinunter drückte und sie sich wunderte, denn die Tür kam ihr entgegen und mit ihr ein Schwall aus Gas. Von dem ihr sofort übel wurde und mit Tür und Gas der leblose Körper ihrer Freundes—Ex-Freundes, weil tot—zu ihren Füßen fiel. Eine Hand am Plattenkoffer, eine an der Türklinke. Die Hand vom Rollkoffer auf den Mund gepresst. Der Plattenkoffer kippt nach hinten um. Rutscht aber nicht die Treppen herunter. Zwei Platten, die aus dem kaputten Reißverschluss rutschten, aber schon. Segelten wie Wasserski auf den Treppen nach unten. Cleo sitzt am Fenster und starrt in den Hinterhof, inzwischen liegt eine Plastikplane über den Särgen und es regnet. Von Franck keine Spur. Er wird im Büro sitzen und rauchen. Tee oder Wein trinken. Sie ahnte nichts von dem Unglück. Am Ende bot Lolita Sofia ihrer Freundin Johanna, die ihr von dem Unglück tags zu vor kühl und blass erzählte,

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telefonisch an, sich mal zu erkundigen was so eine Beerdigung koste, denn im Erdgeschoss sei das Bestattungsinstitut Thom, von dem sie wisse, dass sie zu guten Konditionen gute Leistungen bringe. Wie heißt es unter dem Schriftzug im Schaufenster: Kompetent, Fair & Diskret—Bestattungen Franck Thom. Aber Johanna legte einfach auf und Lolita dachte, der muss ich helfen, zog sich ihre Hauspumps aus und Straßenpumps an, warf sich ein leichtes Jäckchen über das weite Top und drückte die Klinke nach unten. Wollte die Tür öffnen, doch es tat sich nichts. Sofort dachte sie, Cleo will sie töten und löste unter starken Herzklopfen—das erste Mal Panik—die Verriegelung der Tür und blieb davor stehen. Da kam Cleo gerade die Treppen zur Wohnung nach oben. Stand schließlich vor der Wohnungstür und kramte nach dem Schlüssel, hörte das Lied, die Bügel der Kopfhörer rutschten nach unten. Lolita drückte die Klinke nach unten und die Tür sprang eigenmächtig auf. Als Cleo die Wohnungstür abschloss konnte sie das nicht wissen und Lolita sagte ihren einen Satz, verschwand in ihrem Zimmer und schwieg lieber als mit der neuen Mitbewohnerin zu reden. Eine Woche und paar Tage später saß eine blonde Frau im Bestattungsinstitut. “Sie sind spät dran.” Die Frau murmelt etwas auf englisch. Es geht um ihren Exfreund, der sei tot und “muss unter die Erde, ich verstehe schon”, versucht Franck einfühlsam zu wirken. Wieder murmelt die Frau etwas auf englisch, dann auf schwedisch. “Schon gut, Sie kommen nicht von hier und kennen die Gesetze nicht. Ich schreibe auf den Schein, dass sie knapp acht Tage nachdem Tod hier waren.” Tobias hatte keine Familie mehr. Johanna hatte nachdem alles wegen der Beerdigung geregelt war den nächsten Flug nach Stockholm genommen. Die Beerdigung hatte mehr etwas formales. Franck und ein Geistlicher brachten den Sarg unter die Erde, stellten gleich, anders als üblich, den Grabstein auf das Grab. Jeder legte eine Blume aus dem, dem Friedhof angeschlossenen, Blumenladen, auf das frische Grab.

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ichard Mihver, ein schlacksiger Kerl mitte Dreißig, drei Tage Bart, lange braune Haare, immer in grau-tönigem Anzug, immer mit bunter Krawatte, sitzt er über seinen Unterlagen. Obwohl er inzwischen besser verdienend war, wollte er sich partout nicht von seiner Wohnung aus Studententagen trennen. Von dem Schreibtisch, der nackten Glühbirne und den langen Nächte. Er sagt, alles hat so viel Charme. Die Wohnung finster, einzig die nackte Glühbirne über seinem Schreibtisch brannte. Er sitzt unter der Glühbirne und genießt den Charme seiner Wohnung. Er sagt, er könne nur arbeiten, wenn ein weißes Rauschen zu hören ist, wie am Ende einer Kassette. Er hat die weißen Räusche von den Enden vieler Kassetten gesammelt und sich so ein Mixtape aus weißem Rauschen zusammengestellt. Er meint, mit Musik geht es nicht und wenn es ganz still ist, fühle er sich einsam, als ob ihm die Decke auf den Kopf fällt. Trotz Studium kann dieser Mann ohne Fachbegriffe ein Gefühl ausdrücken. Also Rauschen, weißes Rauschen und das Geräusch eines Bleistifts, den Mihver in ein Schmierblatt drückt. Man hatte ihn mal beraubt. Genauer genommen im Urlaub ausgeraubt und seine Aktentasche am helllichten Tage, einfach zwischen Arm und Brust abgezogen, wohin er sie geklemmt hatte und sei abgehauen. Einfach abgehauen. In der Menge verschwunden mit der braunen Aktentasche. Mit dem Dieb verschwand auch der Füller Mihvers und seitdem schrieb er nur noch mit Bleistift in Gedenken an seinen Füller. Richard Mihver war nicht altmodisch. Psychologische Gutachten und Berichte schrieb er größtenteils auf dem Computer—meist davor die Skizze mit Bleistift—den er sich vom ersten großen Gehalt gekauft hatte. Seine Schreibmaschine, ein italienisches Modell gute 15 Jahre vor seiner Geburt entwickelt, unter einer Schicht Zeit verstaubte allmählich. Hatte ihr der Personalcomputer die Existenz streitig gemacht, wie es der Discman mit dem Walkman gerade unternimmt. Manchmal wenn es schnell gehen muss, und Mihver ist keiner, der ein Faxanschluss sein eigen nennt, dann schickt er sogar einen elektronischen Brief, eine Email kurz für electronic mail. “Unfassbar”, sagt er. “Heutzutage muss ich nicht einmal zur Post. Ich kann den lieben langen Tag zuhause arbeiten und am Ende des Tages versende ich eine Email. Eine Schande, dass so wenige Leute eine Email besitzen.” Nur zum Essen muss man noch das Haus verlassen, das kann man sich noch nicht über das Internet bestellen. Mir liegt das Gutachten eines anderen Gutachters vor. Ich weiß so sollte man nicht arbeiten. Ich weiß ich sollte mir mein Urteil objektiv und ohne Beeinflussung schaffen. Das andere Gutachten zu lesen hat mich schon beeinflusst. Dort heißt es: “Gerade weil Herr Schlichter sich seiner selbst bewusst war, wie er meint, kann zum Tatzeitpunkt von keiner akuten Steuerungsminderung ausgegangen werden.” Ich weiß, dass ich zur Reaktanz neige. Für den Mord und nicht die Entführung, hat das Landgericht Berlin auf die Einsatzstrafe von 13 Jahr erkannt und nicht ausgeschlossen, dass sich der Angeklagte bei der Tötung in einem die Schuld erheblich vermindernden Affekt befunden hat. Insbesondere gegen diese Annahme richtet sich die auf die Verurteilung wegen Mordes beschränkte (nicht wegen Entführung)—ausdrücklich auch wegen des Schuldspruches—eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft und der Forderung eines weiteren psychiatrischen Gutachtens. Weiterhin kann ein Motiv aus

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Blutrache ausgeschlossen werden, da Opfer und Täter sich nicht näher kannten. In einem Urteil des Landesgerichts (LG) in Osnabrück aus dem letzten Jahr im Sommer heißt es: “die Frage, ob sich der Täter bei der Tötung seines Opfers in einem die Schuld erheblichen vermindernden Affekt befunden hat, ist unter Berücksichtigung des Gesamtverhaltens des Täters vor, während und nach der Tat zu entscheiden.” Weder konnte Herrn Ernst Edwin Schlichter nachgewiesen werden, dass er aus Habgier, Mordlust oder aus sexuellen Interessen den Mord ausführte, so bleiben sonstige niedrige Beweggründe. Diese Bewertung führt allerdings dann nicht zu einer Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen, wenn dem Täter bei der Tat die Umstände nicht bewusst waren, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, oder wenn es ihm nicht möglich war, seine gefühlsmäßige Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern. Siehe auch Rechtsprechung des Bundesgerichtshof Strafgesetzbuch Paragraph 211 Absatz 2 niedrige Beweggründe. Bis dato ist ja überhaupt nicht bekannt, warum Schlichter überhaupt mordete. Das einzige was bekannt ist, ist dass er sich selbst angezeigt hat. Aber warum er das getan hat, weshalb er mordete, was sein Motive waren—ist auch nach Verurteilung Seitens des Landesgerichtes Berlin nicht bekannt, daher legte die Staatsanwaltschaft Revision ein. Es liegt an mir heraus zu finden, was im Kopf Schlichtes vorgeht. Wenn keiner was weiß, fragt man den Psychologen. Schon klar. 72 Stunden nach der Tat, heißt es, hätte Schlichter sich gestellt. Das spricht schon für eine bestimmte Steuerungsfähigkeit. Auch sich zu stellen spricht dafür, dass er sich dem Unrecht seiner Tat bewusst ist, es sei denn es liegt eine erhebliche seelische Störung vor, wie der einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung. Gewisse Abarten und Entartungen seiner Persönlichkeit waren schon im Erstgespräch auffällig. Ständig hatte er sich verhaspelt und selbst korrigiert. Ah nein das war andersherum. Davor waren wir im Café, dann habe ich… Als wir auf dem Festland ankamen, kam ich zum ersten Mal auf die Idee, ach nein es war schon auf Festland, aber später. Retrograde Amnesie, ist ausgeschlossen, manchmal scheint es allerdings, dass er konfabuliere, aber ob er wirklich nicht mehr weiß, was geschehen ist und sich deswegen eine Geschichte ausdenkt oder mir etwas verheimlichen wollte—schwer zu sagen. Meine erste Blickdiagnose: irgendetwas zwischen einer anankastischer und asthenischer Persönlichkeit, ob mit Krankheitswert, kann ich nicht sagen. Interessant wäre wo anankastische Persönlichkeitsanteile und asthenische sich einander ausschließen—wofür Schlichter sich entscheidet, Zwang oder Anpassung. “Das ist ein Test, um zu sehen, ob ich noch in der Lage bin—zu lieben”, sagt E. E. Schlichter Ein zweites psychiatrisches Gerichtsgutachten über den Menschen, Ernst Edwin Schlichter soll geschrieben werden. Schuldig oder nicht Unschuldig? Schuldig ist er in jedem Falle, aber war er zum Tatzeitpunkt auch zurechnungsfähig und war er steuerungsfähig? Es muss darum gehen, sich in Schlichter einzufühlen; zu verstehen, wie er tickt. Seine Motive müssen aus seinen Handlungen extrahiert werden. Wie sonst, will man reparieren, was Schlichter geworden ist? Wie will man sagen, hat dieser Mann aus freiem Willen gehandelt? Ist es gerecht, ihn zur Verantwortung zu ziehen? Egal ob es um Heilung oder Resozialisierung geht. Personen, die den Bericht lesen werden und der Bericht sie aller Wahrscheinlichkeit, an sie selbst erinnert, und die Orte und Städte, welche im Gutachten und Bericht Erwähnung finden, sind in beiden Fällen, zwar nicht zufällig gewählt oder fiktiv, aber sie unterliegen einer Art von Schlichter-Effekt und dem geschuldet sind: explizit von ihm weiter gedachte Bilder, Wünsche und Geschichten, dieser Menschen und Orte. An die sich so niemand erinnern wird, weil Schlichter sie sich ausgedacht hat—mit dem feinen Unterschied, dass er sich darüber nicht im Klaren ist. Eine spezielle Form einer sozialen Form der Konfabulation. Wenn der Wunsch nach Beziehung so stark ist und so sehr von Neurose unterdrückt wird, führt das zum Schlichtereffekt nach Mihver. Das ist zu merken, wenn Schlichters Konstrukt der Wirklichkeit von dem seiner Mitmenschen grob abweicht, wenn er sich in einem Brettspiel von Gedankenmonopoly, Wille und Vorstellung verliert. Wenn die Melodie seiner Wirklichkeit abreißt und der deprivierte Ernst Edwin Schlichter ein neues Lied anfängt zu singen. Zeugen mögen diesen Verdacht erhärten. Der Bericht enthält die letzte Woche Schlichters, bis es zu dem Mord kam und ein paar exemplarische Momente kurz davor, die Aufaschluss geben über mögliche Motive, welche in die letzte Woche hinein wirken.

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n den Räumen der JVA Tegel, in der Herr Schlichter zur Untersuchungshaft sitzt, habe ich es mir zu Aufgabe gemacht Interviews mit dem mit dem Herrn S. zu führen. Daraus ergab sich eine Vielzahl an Information, welche ich auf zwei Kategorien verteilt sehe: die letzte Woche Schlichters vor dem Mord und einige mehr oder minder zusammenhangslose Vorinformationen. Es klirrten die Gläser. Es schlugen Wellen von Wasser in der Mitte der Gläser zusammen. Die Bodenhaftung verlor sich. Man versuchte sich an einen Schrank fest zu halten, bis der Schrank zu Boden—wie man selbst zu Boden geht. Panische Angst, Thanatos und Hypnos. Die Straßen erzittern und Häuser straucheln wie aus dünnen Stöcken gebaut. Mitte Februar, die Region Irian Jaya in Indonesien liegt in Schutt und Asche. Magnitude 8,2. Anfang Februar die Provinz Yunnan in China liegt in Schutt und Asche, 300 Todesopfer. Wäre die Erde ein Bonbon, wäre das Bonbonpapier die Erdoberfläche und in der cremige Füllung wäre eine Nuss. Seit dem Beben in Indonesien, weiß man im Erdinneren liegt ein fester Kern. Erdbeben sind alle messbaren Erschütterungen des Erdkörpers. Der Großteil aller Beben ist allerdings zu schwach um wahrgenommen zu werden. Im Grunde stehen die Erdplatten niemals still. Das Erdbeben ist meist nicht ein dezidiertes Ereignis sondern wird von einem Vorbeibeben und einem Nachbeben flankiert. Wie Mars von Phobos und Deimos. Übrigens, fügt Schlichter an, eine Reihe von Erdbeben heißt Erdbebenschwarm, und die kommen meist in vulkanischen Gegenden vor und in Deutschland im Vogtland und am Hochstaufen. Erdbebenschwärme können sogar die Gestalt der Erdoberfläche verändern. Eine ordentliche Artillerie ist ein nichts dagegen. Freilich, sagt Schlichter, können starke Erdbeben Tsunamis und Erdrutsche verursachen und dabei eine Menge Menschen töten. “Mein Name ist Ernst Edwin Schlichter und ich bin Seismologe.” Seit Anfang des Jahrhunderts wurden die zehn stärksten Erdbeben an Subduktionszonen gemessen. Eine Subduktionszone entsteht mit dem Abtauchen einer Platte der Lithosphäre mit der ozeanischen Kruste in den Erdmantel. Das kann man sich wie eine Lasagne vorstellen, wo eine Nudelplatte mit Käse und Hackfleisch zusammen unter eine andere rutscht. Vor allem trifft das auf den pazifischen Feuerring zu. Ein Vulkangürtel rund um den Pazifik. Ein drittel aller Vulkanausbrüche im Holozän, bevor der Mensch erschien, konzentrierte sich im pazifischen Feuerring—ebenso starke Erdbeben und Tsnuamis konzentrierten sich in diesem Ring. Schlichters Anliegen: er fragt sich, ist das eine Probe, um zu sehen, ob er noch in der Lage ist zu lieben und zu fühlen? Ich erkläre ihm erneut, ich bin nicht sein Therapeut und bitte ihn weiter zu erzählen, mir jedoch nur das für den Fall wesentliche zu sagen. Er sagt, er hatte mit einer Frau, die er nicht liebt eine Reise geplant, um zu sehen, ob er noch lieben kann. Er ist sich unsicher, aber ist das Selbstbetrug? Was ist das überhaupt, diese Liebe? Dieses eklige und stinkende Wort? Was soll das sein? Ist das ein Gefühl? Ist das ein Zustand? Oder ein Versprechen? Ist es ein Versuch seine elterlichen Bindungen zu ersetzen? Ist das Fortpflanzung? Ist das, was wir unseren Kinder geben, das was wir von unseren Eltern bekamen? Wie unsere Mutter uns fütterte, ist der Kuss eine Adaption dieser Geste? Küssen Flaschenkinder sich dann nicht? Oder küssen sie schlecht? Oder küssen sie gerade gut?—Oder ist Liebe ein kurze Thrill, der sagt: ohne dich kann ich nicht. Wenn dann, fragt sich Schlichter kennt er diesen Thrill? Den kennt er wie seinen elektromagnetischen Seismograph. Die kurze und zittrige Nadel. Wenn von Glaube, Liebe und Hoffnung gesprochen wird, ist damit die Liebe zu sich oder die geteilte Liebe gemeint? Sicherlich meint der Brief die geteilte Liebe, oder nicht? Ernst Edwin Schlichter meint, es kann sich nur bestätigen, dass er für die Liebe und das Gefühl unempfänglich geworden ist—wie eine kastrierte Frau, die sich Kinder wünscht. “Wenn, was ist dann der Schluss daraus?”, fragt sich Ernst Schlichter. “Nichts, aber auch rein gar nichts ist der Schluss.” Die Auserwählte war keine Unbekannte. Sie war Balletttänzerin in der Kompanie Het National Ballett in

Amsterdam. Sie war blond, pausbackig, hatte ein Grübchen im Kinn und weiche volle Lippen—im Grunde sah sie aus wie Suzanne Farell vor dreißig Jahren. Schlichter in der ehemaligen kaiserlichen Hauptstation für Erdbebenforschung Erdbebenstation in Hamburg Junguisstraße, man hatte ihn dorthin versetzt. Das Institut für Geologie, Geophysik und Geoinformationen freie Universität zu Berlin in der Malteserstraße 74-100 hatte ihn nach Hamburg verliehen. Dabei sieht die Erdbebenstation aus wie ein Einfamilienhaus ohne Spitzdach—wie ein Einfamilienbunker. Er lief im Einfamilienbunker umher wie ein zerstreuter Professor. Stellte sich mal wieder vor die alten Wiecherts Seismographen, den großen Glaskasten—dieses antiquierte Stück Technik und wendete sich wieder dem elektromagnetischen Seismographen zu. “Wenn irgendwo der Erdmantel schlackert und die Erdkruste zittert, sehe ich das ganz genau.” Der pazifische Feuerring erstreckt sich über die Nazcarplatte neben der südamerikanischen Platte. Man erinnere sich an das schlimme Beben von vor dreißig Jahren in Valdivia in Chile. Dabei ist die Nazcarplatte unter die südamerkanische Platte subduziert und hat—furchtbar zwei Millionen Menschen obdachlos gemacht. Das war ein drittel der Gesamtbevölkerung. 58.000 Gebäude wurden zerstört. Glücklicherweise, sagt Schlichter, wurde die Bevölkerung von einer Reihe von Vorbeben gewarnt und entging einem naturkatastrophlichen Genozid. Das waren aber keine Schwarmbeben, ergänzt er. 9,5 Magnitude auf der Richterskala, das hätte selbst die Nadeln hier zu einem wilden Tanz angeregt. Eine Schlichters Marotten: der unmäßige Konsum von Kaffee, führt manchmal dazu, dass er völlig ungewöhnlich, Kaffee in einen Papp- oder Plastikbecher fühlt, um ihn mitzunehmen. Kaffee zum mitnehmen—wie albern. Er saß in dem engen Haus der Erdbebenstation las die letzten Werte der Maschine—für heute—ab, nahm sein Protokoll und notierte den Wert. Es ist spät am Abend, er trank Kaffee schwarz. Seine tremorösen Hände machen der Nadel des Seismographen Konkurrenz. Er sagt, die Überwachung dient dabei nicht nur der rein geowissenschaftlichen Erforschung von der Entstehung von Erdbeben, der Vorhersage von Erdbeben oder Strukturen des Erdinneren, sondern hat auch eine geopolitische Dimension, ist die Nadel doch in der Lage Kernwaffentests aufzuspüren. Da war was los, als amerikanische Forscher vor 50 Jahren den ersten sowjetischen Atomtest auf dem Rußpapier ablesen konnten. Im Nirgendwo der kasachischen Steppe wurden Attrappen von Panzern, Häusern und Autos aufgestellt. 1500 Tiere in Käfigen fanden auf dem Gelände Platz, dann zündete man die Bombe. Und sie hinterließ eine tiefe Mulde. Panzer, Autos und Häuser diffundierte im Sekundentakt und wehten davon wie ein Kartenhaus aus Asche. Alle Tiere waren tot—Stalin war begeistert. Das Problem im alten Hamburger Erdbebeninstitut, trotz dessen das Gerät der elektromagnetische Seismograph der dritte Generation ohne Frage eine hoch komplizierter und hochmoderner Apparatur ist, sagt Schlichter, muss der Seismograph von Hand abgelesen werden. Weiter im pazifischen Feuerring geht es übrigens an der nordamerikanischen Platte vorbei an dem Punkt wo Russland und Alaska sich fast berühren. In der Nähe gab es 1964 ein schlimmes Beben. Magnitude 9,2. Auch das Karfreitagsbeben oder das große Alaska Beben genannt.169 Menschen starben noch Wochen später vibrierte der Erdball. Weiter in Richtung Japan, vorbei an Indonesien und Australien, zurück zur Nazca-Platte in Südamerika. Weil eben die Werte von Hand abgelesen werden müssen—er nennt es die seismologische Observation—und kein ausgebildeter und studierter Geologe sich nächtelang vor einen Seismographen setzen würde und den Graphen überwachen würde—also bitte dafür, braucht niemand studieren—braucht es Freiwillige und Praktikanten. Schlichter meint, er war immer eine Personen die nichts macht und trotzdem im Mittelpunkt stehe. Ein Mann aus Generation Praktikum, der überall mal gearbeitet hat, ein paar Fächer halb studiert hat und immer kurz vor dem Abschluss, sei es Vordiplom oder Diplom abgebrochen hat. Es war nie das richtige. Ein Mann tief verwurzelt in der Generation P, der immer auf den großen Mann gewartet hat. Der große Mann, der ihm dieses oder je es Angebot macht. Wo ist eigentlich egal Schlichter kann alles—er muss sich nur reinfuchsen. Er ist ein hervorragender Autodidakt wie Antoine Roquentin. Ernst Edwin Schlichter soll Studien durchführen—kein Problem. Er hat mal ein Praktikum bei dem berühmten Scott Reuben gemacht. Er soll recherchieren—kein Problem. Den ganzen Tag in der Bibliothek sitzen macht er am liebsten. Er soll einen Graphen lesen und Werte in ein Protokoll übertrage—kein Problem. Eine Sache hat dieser Mensch für sein Leben begriffen, Schein ist sein und mehr als das. Er kennt die Regeln zwischenmenschlicher Manipulation wie seine Westentasche. Er weiß wie er sich selbst manipulieren muss, damit die anderen sich verhalten wie er es sich wünscht und er sagen kann: ich habe die anderen manipuliert und weiß er hat sich für die anderen manipuliert und er wird das Fremdmanipulation nennen. Nichts ist wie es scheint und alles ist wie es scheint. Man will wie Roquentin eines Tages aufwachen und sich fragen: warum macht man das alles? Aber es passiert nicht. Man verbringt jeden Tag damit zu warten um aufzuwachen—aber es passiert nichts. Es läutete an der Institutstür. Schlichter sah auf. Starrte einen Zentimeter über den Blattrand ins Leere. Seltsame Stille nachdem der Schrei der Klingel verstummt war. Mit seltsamer Anmut zeichnet der Graph eine nicht nennenswerte tektonische Bewegung. Man kann nicht sagen, dass Schlichter ein Gammler war, einer der in den Tag hinein und von der Hand in den

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Der Schlichtereffekt—Ein Bericht von Richard Mihver “Wie es dazu gekommen war?” Ernst Edwin Schlichter

Anfang Sie holt ihn aus seiner Wohnung (Recherche - pierre?) und er erzählt ihr während er sich fertig macht davon, dass er seismolog ist und auf eine Anstellung wartet. Deswegen sei er in hamburg. Sie sagte, ob er scherze mache, war er doch extra wegen ihr in hamburg und habe eine Wohnung angemietet. Er sagt nein da habe sie sich verhört es gehe um das seismologische Institut

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Mund lebt. Man kann nicht von Faulheit sprechen. Das ist etwas anderes. Wenn es neben Faulheit und Fleiß noch eine dritte Achse auf dem Koordinatensystem im Leben gibt, dann ist das Schlichter. All die Menschen, die soviel können, aber nichts zu Ende bringen. All die Menschen, die im Ansatz soviel besser sind, als all die anderen und dann nicht die Geduld und Kondition aufbringen und von ihren Mitstreitern überholt werden. Keine Künstler und auch nicht hochbegabt. Ein Stück klüger und kreativer als der Rest, aber nicht ausreichend um einen Unterschied zu machen. Sie haben gute Einfälle, sind aber nicht brillant. Sie sind durchschnittlich und wehren sich dagegen. Sie wissen es reicht nicht. Manche von ihnen werden kriminell—aus Überdruss! Sie wissen, wenn sie nur wollten dann könnten sie, soviel besser sein. Wenn sie dann besser sind, dann warten sie auf den großen Mann, der es ihnen bestätigt—in Form eines Checks bestätigt. Des großen Mannes, der durch die Stadt zieht um die großen Talente zu sichten. Und deswegen ziehen sie auch durch die Stadt—um sich treffen. Damit man überein kommen kann. Der große Mann, die große Frau und der kleine Mann und kleine Frau treffen sich und sortieren passgerechte Aufträge. Gießen Formen für die Talente von Morgen. Neue Fußabtritte. Wegbereiter. Für jeden ist was dabei. Jeder kann hier dienlich werden. Ein Mensch muss tun, was er am besten kann. Nur so kommen alle weiter, und das sind keine neuen Erkenntnisse, welche die junge Disziplin der Motivationspsychologie erst mühsam entdecken und verklausulieren musste. Wo erst Begriffe erfundenen werden müssten und wo sie im Deutschen nicht verfügbar waren, holt sich der kleine Mann die Worte vom großen Mann und er nennt das, wenn er zwischen Anforderung und Fähigkeit den perfekten Zustand erreicht, er nennt das Flow, weil der große Mann das Flow nennt. Weil es in der Sprache des kleinen Mannes kein Wort wie Flow gibt. Jeder muss tun was er am besten kann, dann kommen alle weiter. Jeder muss sein bestes geben und jeder stirbt für sich. Aber Menschen wie Schlichter, Menschen aus der Generation P die wissen das längst. Die Brechen ja nur alles Halbfertige ab, weil sie wissen: Anforderung und Fähigkeit passen nicht zusammen—es gibt kein Flow—und wenn es niemand sagt, sie tun es und brechen ab und suchen neu. Machen ein anderes Praktikum nennen sich anders, geben sich einen anderen Namen: Freelancer, Entrepreneur, Projektleiter, Internetunternehmer und sind wer anderes. Schlichter kennt 2000 Namen aus ein paar dutzend Jobs, Berufen und Nebengewerben. Es werden im Laufe dieses Berichtes wohl einige. Ein Entrepreneur ist ein Unternehmer, aber nicht jeder Unternehmer ist ein Entrepreneur. Ein Entrepreneur ist eine schillernde Person der Zunft. Jemand mit Ideen, mit Kapital und Durchsetzungsvermögen. Schlichter war kein Entrepreneur. Es läutet an der Tür—erneut. Schlichter noch einen Zentimeter über den Protokoll. Unscharf läuft der Graph in seinen Augen. Schrill gellt der Schrei der Klingel durch das wenig geräumige Institut. Er erwartet Niemanden. Geht nicht ran, sondern rüber zum elektromagnetischen Seismographen der dritten Generation—moderne Geräte, hatte man ihm in Berlin gesagt—und liest weiter Werte ab. Es läutet nochmal—zum dritten mal. Er war genervt. Er legte den Stift auf das Protokoll ab. Lief zur Tür. Fragt sich, ob die Welt einem ohne Menschen größer vorkäme. Öffnete die Tür. Überraschung, es die Frau, die aussah wie Suzanne Farell in einer Weste aus Fell und auch Balletttänzerin war, mit der eine Woche später verreisen wird. Der Erdbebeninstitut war ein altes Munitionslager aus dem zweiten Weltkrieg. Er sagt, er hätte bisher ein paar mal mit ihr geschlafen und das wäre vorletzte Woche gewesen. Sie stand im Türrahmen. Erwartungsvoll, beschreibt er, zog sich ihr blondes Haar, wie in Graphen an ihrem Hals entlang. Er dachte an das Protokoll. Wer wie Ernst, einmal in eine Materie vertieft ist, dem wird es schwer fallen, nicht andauernd sich aus ihrem Vokabular zu bedienen. Er zieht sich an. Fährt sich durch die Haare. Wird überredet auf eine Geburtstagsfeier zu gehen. Denkt an das Protokoll. Denkt daran, er sollte es nicht vernachlässigen, auch wenn in der Nacht nichts passieren wird. Sie verlassen das Institut in der Jungiusstraße. Hamburg und seine reizende Umgebung. Die Fellweste sah aus, als hätte ein wilder Hund aus Spaß ein Kaninchen gerissen. Es durch die Luft geschleudert und als ihm Lust vergangen war—es zerpflückt, auseinander gerissen und halbseitig gerupft da liegen gelassen, wo der ihm der Spaß vergangen war. Und aus dem unregelmäßigen und leidlich in Mitleidenschaft gezogenem Exemplar von totem Kaninchen—Fellstückchen auf nackter Haut—hatte man eine Weste hergestellt, die aussah wie Haarausfall während der Chemotherapie. Auf dem Hausdach gibt es einen Pool. Hauptsächlich dreht sich die gesamte Party um den Pool. Mal springen Leute in den Pool. Mal werden Leute in den Pool gestoßen. Daneben gibt es ein Buffet. Von dem Buffet kann man sich Garnelenspieße nehmen, die Ellenbogen auf den Tisch abstützen und zugucken, wie Leute im Pool schwimmen und Spaß haben. Garnelenspieße sind so eine neue Sache, die Leute machen, die neue Sachen aus Amerika mögen. Garnelenspieße und grüne klebrige Mangosauce. Immerhin die Musik war nicht schlecht. Es lief Lemon Tree, Killing me softly und so ein schlechter Sommerhit Coco irgendwas. Ernst Schlichter ist kein großer Freund, der einfachen Konversation. Er unterhält sich nicht gern über Garnelenspieße und die Sauce. Er mag solche Parties nicht. Vielleicht mag er überhaupt keine Parties. Geburtstagsparties gehören zu den unbeliebtesten Parties in der Welt von Ernst Edwin Schlichter. Er sagt, wenn er zu seiner eigenen Geburtstagsparty eingeladen wäre, würde er nicht kommen. Nicht unbedingt, weil ihm das älter werden unerträglich ist: Falten bekommen, abfallende Mundwinkel, die

Haare fallen aus, die Kondition nimmt ab, der Charme versiegt, die Verzweiflung wächst—“nein ich hoffe sogar, schnell und schneller zu altern, um näher und dichter an einen natürlichen Tod zu reichen”, lustvoll, legere und lasziv, fügt er hinzu: “nur Feigling bringen sich um. Der Suizid ist eine ungültige Angelegenheit.” Er ist keiner dieser Charaktere, die sich nicht vor dem älter werden fürchten, aber er ist Jemand, der schnell bereut. Ernst Schlichter ein Kaffeetrinker, hatte sich nach langem Ringen und Zwingen, das Trinken, als Verschleierung und Sedierung angewöhnt, dazu rauchte er gewöhnlich, den das Rauchen wirkt auch sedativ. Deswegen sieht man Schlichter immer rauchen und Kaffee trinken. Ernst steht am Rande des Pools, Kaffee in der Hand und guckt benommen auf den Beckenboden, wie eine schüchterne Pistole. Irgendwo hatte er eine Kaffeemaschine aufgetrieben. Während der Rest der Gesellschaft um den Pool stand. Seine Suzanne Farrell mit den Anderen und er allein in der dunklen Küche des Loftapartments, wie dieser Amerikaner das genannt hatte, der vermutlich auch die Party veranstaltete. Das alte Ding abgestaubt und mit Wasser gefüllt. Ein schon mit einer Schicht aus Staub und Fett überzogenes Paket Kaffee auf einem Regal oberhalb des Herds gefunden und sich einen Kaffee gemacht, genießt er die Stille in der Küche, abseits der Anderen. Es gibt nichts beruhigendes, als das Tröpfeln einer Kaffeemaschine, sagt Schlichter. Die Beiden ziehen sich an. Schlichter hilft ihr in den Mantel. Er isst noch einen der Spieße. Schmeißt das Holzstück ins Wasser und sie verlassen die Feier. Was soll man jetzt machen? Nachhause gehen und mit einander kopulieren? Man muss die Rituale einhalten, sagt er. Man muss die Erwartungen mit Gewohnheiten füttern. Sie laufen über die Reeperbahn und halten an einige Kneipen. Überall ist es voll. Sie quetschen sich in die Kneipen. Die Luft ist schwitzig und klamm. An den Decken und Wänden kondensiert Schweiß. Jetzt mal kurz ein Kuss und eine Hand auf den Arsch legen. Ein Getränk pro Bar, klingt nach einem Konzept. Sie stehen am Tresen, quetschen sich auch hier nach vorne. Schlichter bestellt Wein (für sie) und Gin und Ananas (für sich). Er ist da klassisch. Humbert H. sei dank. Dolores Haze, ich bringe dir Blumen ans Bett, wenn du 20 bist. Komm, komm kleine Lo, ich gucke in deinen Kopf und mache dein Trauma ganz. In einigen von den Kneipen steht eine Jukebox. Die Suche nach einem Synonym, bringt nur Quatsch. Schlichter ist ernsthaft betrunken, steht vor dem Leierkasten und durchblättert die CDs. Wie er in den Leuchtkasten guckt und nach Songs sucht, flüstert er besoffen in die Jukebox: “wenn man weiß, wie man sich verhalten muss um als lebhaft, fertil und lustig erlebt zu werden, wenn man das einmal für sich heraus gefunden hat, kann man sich selbst bedienen, wie eine Jukebox und statt Geld in den Schlitz zu werfen”, sagt Schlichter schon sehr süffisant und lallend und in seinem Fall heißt das: Gin und Ananas in die Fresse kippen, das passende Lied auswählen und jetzt schaut alle: “ich kann springen und lachen und unsere Kindern werden bestimmt mal richtig hübsch. Ein Seismograph funktioniert so ähnlich.” Schmieriges Lachen, verzogene Gesichtszüge, dieser Mensch hat seine besten Tage hinter sich. Das Parkett knarrte, die Leute rings um her glotzten und Schlichter tanzt und trällert falsch und eine Sekunde nach dem Takt. Müde war er zwar schon zu Anfang des Abends. Er ist aber einer der Charaktere, die sich leicht mitreißen lassen. Weil er keinen echten Charakter hat, sondern sich aus einem Repertoire aus falschen und durchsichtigen Charakterstereotypen bedient. Er ist wie ein schlechtes Theaterstück, dessen Bühnenaufbauten aus Pappmaché sind. Soweit meine Einschätzung. Inzwischen war es drei Uhr morgens und für einen Tag mitten im Juli relativ kühl. Die Sonne ging in zwei Stunden auf. Um genau 05:08 Uhr. Die Hansestadt liegt ruhig und schläft. Die Kräne am Hamburgerhafen ruhten. Es war Sonntag. Ruhten wie Hände von müden Riesen. Der Hamburger Hafen weltweit unter den aufstrebenden Containerhäfen. Anfang des Jahres hatte es noch großen Streit zwischen heimischen und holländischen Reedereien gegeben. Es hieß, die EU komme nun und drücke die Preise. Inzwischen war es ruhig geworden um die Fremden und die Hamburger Seefahrer. Die heimischen Reedereien waren ruhig geworden—wenn nicht sogar schweigsam. Alles in der aktuellen Presse nach zu lesen. Beide sitzen in ihrem Auto. Sie will ihm die Hansestadt aus dem Auto zeigen. Er ist es gewohnt zu fahren und dabei seine Hand zwischen den Schenkeln der gerade Anwesenden zu schieben und Schlichter meint: “nicht aus übersteigerter Libido, wohl aber aus Wohlwollen, um sie zu liebkosen, zu streichen und zu erregen, oder einem Bild zu entsprechen, dass ich mal gerne sein wollte. Eines potente und bürgerliches Mannes—eben Durchschnitt.” Weiterhin, das hätte er gelernt, ergibt aus dem Griff zwischen die Beine, eine ganz neue Opulenz an Kontrolle. Zumindest, gibt er zu, soviel Kontrolle, wie auf einen Seismographen zu starren und zu zu schauen, wie er die tektonischen Aktivitäten aufzeichnet und dann entsprechend zu reagieren oder es zu lassen. In der Hafenstadt hat es schon lange kein Beben mehr gegeben. Auch als Beifahrer ließ sich das machen. Sie hatte zwar Schwierigkeiten zu schalten, hier zumindest musste sie einen Weg finden. Und warum eigentlich kein Automatikgetriebe? Wäre dann nicht alles leichter für diese Balletteuse? Hier wollte er durchschnittlich sein und sonst gab es nichts verwerflicheres als den Durchschnitt. Sie fahren in ihrem wie er sagte: klapprigen zweier Golf, um den Jungfernstieg, einmal, zweimal, dreimal. In

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einem miesen und schlechten Vergleich, meint Schlichter der Jungfernstieg ähnele Monets Dogenpalast, weil sich die von innen und außen beleuchteten Häuserreihen in der Binnenalster genauso spiegeln, wie der Palast in der Lagune Venedigs. Also wirklich Ernst Edwin Schlichter, du hast doch nur danach gesucht, mal etwas mit Monets Dogenpalast zu vergleichen, musste es den ausgerechnet der Jungfernstieg sein? Und fühltest du dich dabei sehr intellektuell, dabei sollte man deinen Name zwischen den roten Säulen vorlesen. Aber immerhin schlug hier wie die beiden die Binnenalster umkreisten, für einen Moment der Seismograph aus. Als die beiden damit fertig waren, wollten sie bei der Landungsbrücke den Sonnenaufgang genießen. “Wie man das so sagt”, meint Schlichter. Sie parkten unweit vom Wasser entfernt. In einer Seitenstraße. Sie stellt den Motor ab. Es fängt zu Nieseln an, als die beiden, während der früh morgendlichen Dunkelheit, in der Karre sitzen und Laternen begrenzt in das Auto scheinen. Weil Ernst Edwin Schlichter wusste, man würde eine Regung erwarten; küsste er ihr die Handgelenke, Unterarme, Schlüsselbeine, Wangenknochen, ihren Mund, ihre Augenlider und ihre Stirn und machte sich wieder auf den Weg nach unten, zu ihren Handgelenken, und zwischendurch knappe Kontrollblicke—ist es das erwartete Verhalten? Die Nadel des Seismographen schwingt ruhig und leicht zitternd hin und her—keine nennenswerte Erregung, wird auf de Papier aufgezeichnet. Es gab mal eine Zeit im Leben von Ernst Edwin Schlichter, als er behauptete er könne sein Leben in Ja und Nein sagen, teilen. Recht hatte er damit, aber er hatte auch etwas vergessen. Woher sollte er das auch wissen? Wer im Leben dem Gefühl folgt, nur den Dingen nachzugehen, die sich richtig anfühlen und wem es fürderhin nicht seiner Kontrolle obliegt—sondern es eine Stimme gibt, die beständig Ja oder Nein zu einem spricht—der kann das auch nicht wissen. Die Frage ist, war ihm in Folge eines Erdbebens, seine Intuition verloren gegangen? Die beiden im Auto, küssen und liebkosen sich weiter. “Ihr Oberteil war aus Nappaleder”, sagt Schlichter sich die Lippen befeuchtend, und auf ihm waren Flecken eines Hasenfells gestickt (an sich alles sehr hässlich). Er ließ es sich nicht nehmen, das Hasenfell auf ihrer Brust zu streicheln—es war so weich. Zog es ihr aus und öffnet auch den Rest ihrer Wäsche. In einem Schwall brechen ihre Brüste aus der geöffneten Bluse heraus—sie sahen fröhlich aus, wie sie da hingen. Und weiter noch, hatte er ihr einiges unwesentliches an gelassen, dass sich die Brüste in voller Freude über den Rest werfen konnte. (Es ist für den Koitus völlig nebensächlich, ob das Oberteil nun ausgezogen oder an den betreffenden Stellen nach unten bzw. nach oben geschoben ist.) Und es war schön. Er war erregt. Die Nadel des Seismographen schlug aus. Nicht wie bei einem Erdbeben, aber immerhin, wie bei einer kleinen Erschütterung. Als er bei diesem Doktor Reuben sein Praktikum machte in Springfield Massachusetts, gab es ein Erdbeben bei Littleton in New Hampshire 197 Meilen entfernt das sind 317 Kilometer. Da ging es um Anästhesieforschung in der arthroskopischen Kniechirugie. Er war auf dem Weg ins Baystate Medical Center und saß in einem Bus. Im MC herrschte rege Aufregung. Die Stoßdämpfer des Busses hatten dem Beben die Kraft genommen und Ernst Edwin Schlichter, spürte nicht einen Schlag. Man kann auch weder Nein noch Ja sagen, das hatte er vergessen. Schlichter war dazwischen geraten. “Wenn sich etwas nicht-richtig anfühlt, muss es sich nicht Falsch anfühlen”, erklärt er. Die innere Stimme war heiser geworden und ihre Modulation war irritierend. Der Regen in der Seitenstraße zur Landungsbrücke wurde stärker und prasselte auf die Frontscheibe des Autos und verwischte die Sicht nach Draußen und Drinnen. Sie legte sich auf die Rückbank des Vehikels und gierig wartend und nüchternen Blickes, schaute sie rüber auf den Vordersitz. Schlichter zog ihr die Leggins, Strumpfhose und was sie sonst noch unten herum an hatte, aus. Was dann insgesamt zwischen ihren Beinen hing. Stattdessen sie den Sonnenaufgang genossen—“wie man das so sagt”—schliefen die beiden noch auf der Rückbank mit einander—zweimal. “Ich dachte mir, einmal in diesem Leben Ja sagen.” Die Herausforderung war dabei, den engen Fahrzeugraum optimal zu nutzen. “Was uns gelang, zumindest kam sie einige Male und ich auch—zweimal.” Die Scheiben waren beschlagen. Ob vorbei gehende Passanten sahen, wer sich nackt im Fahrzeuginnenraum räkelte. Ob sich, das Auto bewegte? Ernst meint, wie ihre Brüste wippten, so schaukelte auch das Auto, im Takt der Penetration, die im Takt seines Herzschlages, der, wie die zittrige Nadel eines Seismographen—ruhig und nüchtern Schmerzmittel ins Kniegelenk injizieren und aufschneiden. Doktor Reuben setzte da auf eine Zweikomponenten Schmerzbehandlung mit Lidocain und Ketorolac. Gerüche von Verpaarung setzen sich nieder im Auto. Dämpfe von Geschlechtsflüssigkeiten steigen auf. Am Ende waren die Scheiben mit Fuß- und Handabdrücken übersät. Woher die stammen, wurde sie später gefragt, als

Ernst sich auf seinem und sie sich auf ihrem Nachhauseweg befand—von Händen und Füßen natürlich. Später am Morgen waren die beiden auf den Fischmarkt und frühstückten dort. Sie bezahlte. Er verabschiedete sich und die Schweißtropfen auf den Innenseiten der Fenster trockneten. Es lässt sich also sagen: die beiden, waren sich einander nicht fremd. Hatten einige Male miteinander geschlafen und von seinem Gefühl heraus, konnte Ernst sagen, er würde sich an diese Frau nicht binden (wollen) und doch plante er eine Woche später eine Reise nach Amsterdam mit dieser Frau. Was hast du dir dabei auch gedacht Schlichter? Gerade nach Amsterdam (das Venedig für kürzlich gebundene) um dir selbst zu beweisen—für Bindung bist du unempfänglich? Sollte das eine Belohnung werden? Und am Ende, wolltest du da sagen: ja unmöglich, ich bin unfähig Bindung einzugehen? War es eine Herausforderung. War da noch etwas, lebte da noch was, war dieses Herz in ED‘s Brust noch zu einer Erregung fähig? Was dem noch hinzugefügt sei: Schlichter unterbrach einige Male das Gespräch. Stand auf und verließ den Raum um auf Toilette zu gehen, wie er sagte. Ich hatte die ekelhafte Vermutung er masturbierte auf der Toilette. Übersprunghandlung sind Handlungen, die ein Tier ausführt, wenn es sich zwischen zwei gleichwertigen Handlungsoptionen nicht entscheiden kann. Das bedeutet im Falle des Kaninchens, wenn es den Fressfeind entdeckt sich das Fell lecken und im Falle Schlichtes die Masturbation. Er kommt dann immer mit diesem zufriedenen Lächeln von der Toilette und erzählt mir, wie er sich vorstellt, wie eine Frau von vielen Männern penetriert wird. Wenn Schlichter hilflos ist und sich zwischen Angst und Aggression nicht entscheiden kann, flüchtet er sich ins sexuelle. Jedes Kind, welches mindestens die sechste Klasse vollendet hat, weiß jedoch, Übersprunghandlungen—Lorenz in allen Ehren—sind empirisch nicht überprüfbar, nicht nachweisbar und letztlich ein theoretisches Artefakt eines überholten Paradigmas. Der folgenden Bericht enthält die Woche vor dem Mord Schlichters und ist dazu da, zu illustrieren: “wie es dazu gekommen war.”

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Samstagnacht. 7500 Kilometer entfernt. 6 Stunden Zeitverschiebung. Ein Mann versteckt einen grünen Rucksack in einem Mülleimer. Die Menge jubelt das Konzert ist grandios. Die Spiele sind wunderbar. Das Konzert genau das richtige um sich auf das nahende Ende der Spiele einzustellen—der Jahrhundertspiele. Muhammad Ali schwer an Parkinson erkrankt hatte das Feuer entzündet, wahrlich eine Sensation. Ein Uhr Nachts. Der Mann etwas abseits der 50.000 Menschen, die sich das Konzert anschauen, spricht in ein öffentliches Telefon: “eine Bombe wird hochgehen.” Freudentaumel und niemand beachtet den Mann, weder die Konzertbesucher noch die Polizei, die den Anruf entgegen nahm. Richard Jewell 34 Jahre alt Sicherheitsbeamter, bemerkt ein auffälliges Objekt in einem Mülleimer. Panik. Orientierungslosigkeit. Menschen wuseln durcheinander wie ein aufgeschreckter Ameisenhaufen.

Tag 01—Sonntag Schwarmzeit Es beschämt ihn. Die Leere—ist beschämend. Nichts tun zu können, ist beschämend. Ernst Edwin Schlichter

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er unbekannte Mann, der sich als Ernst Edwin Schlichter ausgegeben hatte, steht am Straßenrand mit einem Becher Kaffee in der Hand. Er streckt die Kaffee-Hand nach oben, als wolle er sich melden oder laut einen Prosit aussprechen. Ein hellelfenbein farbiges Fahrzeug mit Hufeisen im Kühler kommt vor seinen Füßen zum stehen. Eine Frau mit roßbraunen, aber deutlich rot stichigen Haaren, weißer Haut und Sommersprossen steigt aus dem Fahrzeug aus. Sie begrüßt ihren Fahrgast flüchtig, indem sie ihre Chaffeursmütze einen Moment lang hebt, und nimmt ihm einen Handgepäckkoffer ab. Legt ihn in den Kofferraum. Er ist inzwischen eingestiegen. Sitzt auf der Rückbank und schaut aus dem Fenster auf das fünfstöckiges Wohnhaus. Die Taxifahrerin startet den Motor, blinkt und ordnet sich in den Stadtverkehr ein. Schlichter träufelt sich einen Kaugummi aus seiner Kaugummidose in die Hand, in den Mund und schluckt ihn herunter. Der unbekannten Mann, der sich als Ernst Edwin Schlichter ausgegeben hatte, weiß noch nicht, dass er am Ende der Woche einen Mord begehen wird. Er weiß noch nicht, dass es manchmal nur Tage braucht um ein ganzes Leben zu verwerfen. “Gerade noch”, tönt es aus dem Radio des Taxis, “verarbeitete man den Schock über den Absturz der Fluglinie 800 vor der Küste New Yorks und dann mitten in der Nacht ein Bombenanschlag im olympischen Dorf .” Schlichter ist zu spät. Bei Lustlosigkeit droht Verspätung—eine simple Formel. Menschen stehen in einer Schlange und geben ihr Gepäck auf. Menschen warten hinter der Sicherheitskontrolle. Sitzen auf den Bänken, lesen Zeitung, hören Musik—lenken sich sonst irgendwie ab. Unterhalten sich, albern herum, langweilen sich, streiten und zoffen sich, lieben und hassen sich. Freuen sich auf ihren Urlaub. Verabscheuen sie einander—lieben sie einander? Lieben Begleiter ihre Begleiteten? Kosten und Nutzen, Vor- und Nachteil. Liebt sich Liebe aus Gelegenheit? Wenn, ist Schlichter diesem gelegentlichen Zufall überflüssig und sein Auftreten ist ihm überdrüssig. Weigert er sich Zufall und Gelegenheit zu sein? Hatte er mehr vom Leben erwartet, als dass sich sein Sinn aus dem gerade Möglichem ergibt? Hatte er, mehr Determination, erwartet? Schlichter ist niemand, der an Schicksal glaubt. Der Flieger steht an der Rampe und ist bereit Menschen aufzusaugen, als wäre er ein Badewannenabfluss oder einer dieser Flughafenbusse wartet vor dem Gate-Ausgang, die Reisenden zu dem Vogel, ohne Gefieder zu bringen. Wie dem auch sei, denkt er sich, wird die erwartungsvolle Miene der Frau aus Hamburg, sich wahrscheinlich um einige Zweifel und Sorgen bereichert haben—von Verzweiflung würde Schlichter, allerdings noch nicht sprechen, meint er. Er sitzt im Taxi. Spielt mit seinem Gurt. Rutscht auf seinem Sitz hin und her. Sie stehen in einer Art Stau. Baustellen über Baustellen, die Stadt ist eine einzige Baustelle. Seit fünfzig Jahren, einem halben Jahrhundert—seit ende des Krieges. Im Radio den ganzen Morgen schon Eilmeldungen und Berichte über den Anschlag. “Soweit bekannt, seien bei dem Akt des Terrors, wie es heißt, zwei Menschen ums Leben gekommen und 111, durch die mit Nägeln gefüllte Rohrbombe, verletzt worden.” Wo Platz für vier Spuren geschaffen ist, stehen auf drei Spuren Planierraupen, Dixieklos, Bagger und Bauarbeiterwagen. Ein träge gewordener Stadtverkehr quetscht sich durch eine Spur, wie Moorast durch einen Trichter. Seitdem vor zwei Jahren auf einer Baustelle in der Pettenkoferstraße nahe Schlichters Wohnung eine Fliegerbombe hochgegangen war und zwei Bauarbeiter mit in den Tod gerissen hat—ist man etwas vorsichtiger geworden, was

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allgemein die zeitliche Dauer der Baustellen enorm verlängert hat. Schlichter trinkt Kaffee, raucht und bläst den Qualm aus dem Fenster des Fahrzeuges. Es ist früh Herbst geworden. Und es ist etwas zügig im Auto. Die Taxifahrerin hat sich noch nicht beschwert. Etwas verbindet Schlichter mit dieser Jahreszeit, wahrscheinlich den Wechsel. Er ist sich unsicher, aber er weiß; er hält andauernde Zustände, egal was es ist, nicht gut aus. Er äußert sich nicht. Weder nein noch ja. Und meist heißt das, er macht und tut, bis er nicht mehr will und kann. Schlichter ist jemand, der gern früh aufsteht. Es fühlt sich so gut an, etwas zu beginnen. Und er ist jemand, der gern schon früh zu Bett geht. Es fühlt sich so gut, etwas zu beenden. “Bei den Toten handelt es sich um einen Journalisten aus Istanbul und eine 44 Jahre alte Touristin, deren Herkunft unklar ist”, klingt es aus dem Radio. Er gehört zu den Menschen, die Veränderung, wie Schlaf zum Leben brauchen. Sehen diese Menschen ein Fehlen an Veränderung, verfallen sie in einen tiefen lebensmüden Schlaf und nur wenige können diesem—Todesbruder—Schlaf entsagen. Sich andauernd eine äußere Veränderung wie Zucker zu injizieren, ist wohl das beste Hausmittel gegen innerliche Sinnlosigkeit. Reisen und saufen, Substanzen jeglicher Art helfen dabei ungemein. Ob sie schon ihre Arme verschränkt und nach oben zur Schulter zieht, fragt er sich. Ob sie schon mit den Füßen schabt und ungeduldig auf die Uhr in der Flughafenhalle schaut? Ja, er komme noch. Ja, er sei auf dem Weg. Ja, er freue sich auf diese Woche in Amsterdam. Nein, er fühle nichts. Nein, und daraus wird auch nichts ob in Amsterdam oder Berlin—daraus wird nichts. Plötzlich löst sich der Verkehr auf und sie fahren einige Minuten, schneller als es erlaubt ist. Schlichter drängt seine Fahrerin. Die gerade gewonnene Freiheit, erlahmt abermals in Baustellen, wie eine Sanduhr, deren Sand klamm geworden ist. Als Nervosität kann man es nicht bezeichnen, aber unangenehm aufgeregt ist er schon. Sie stehen wieder. Zweifel plagen Schlichter. Ein inneres Parlament tagt dort, wo eine Stimme seiner Zuversicht mal von Leben erzählte. Sie fahren an einem Platz vorbei, auf dem vor fünf Jahren noch eine Statue Lenins gestanden hat, auf die KarlMarx-Allee—ehemals Stalinallee—werden flankiert von Plattenbauten, welche mal die Sahne der Sahne der Bürger einer alten Regierungsform beherbergte. Sie passieren den Alexanderplatz und den Bahnhof, deren Bögen von Bauplane halb verdeckt werden. Man will den sozialistischen Putz von den Wänden der Stadt wischen. Schlichter sieht aus dem Fenster und sieht den Kaufhof, welcher noch immer im Kleid der deutschen demokratischen Republik vor dem Forum-Hotel steht. Sie fahren weiter nach rechts über die Karl-Liebknecht Straße. Steakhouse, ein Neubau in Gerüst, Risse in der Straße. Links auf die Mollstraße. Gerade aus auf die Torstraße. Rosenthaler Platz das Hungerhaus Rechts in die Brunnenstraße. Vorbei auf der rechten Seite am Volkspark Weinbergsweg und auf der linken Seite an der Stadtbibliothek Mitte und der Polizeistation Abschnitt 31. Dass Schlichter eine Woche später wieder hier sein wird, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht—behauptet er. Was allgemein dafür spricht, dass der Mord nicht geplant war. Kopfsteinpflaster auf der Invalidenstraße Ecke Chausseestraße. Das Fahrzeug ruckelt, wie bei einem winzigen Erdbeben. Sie fahren an der, aus dem linken Fenster sichtbaren Charité vorbei und kommen an den an Lehrter Stadtbahnhof und den Hamburger Bahnhof, wo seit knapp zehn Jahren Kunstausstellungen stattfinden, statt Güterverkehr. Der Lehrter Stadtbahnhof Knotenpunkt zwischen West und Ost. Visionär und Innovativ. In wenigen Jahren wird dort eine zweispurige Transrapid Magnetschwebebahn den alten Lehrter Bahnhof, den neuen Zentralbahnhof mit dem Hamburger Hauptbahnhof verbinden und die Strecke in genau 53 Minuten, ohne Zwischenstopp, mit einer Spitzengeschwindigkeit von 400 Stundenkilometern überwinden. Baukräne über Baukräne stehen dort, neben dem verglasten Backsteingebäude und graben eifrig tunnelartige Höhlen in die triste Baufläche neben dem Lehrter Stadtbahnhof. Ein breites Rohr, dahinter ein Zaun und Werbeplakate der Berliner Verkehrsbetriebe, ansonsten sieht das Gebiet aus, wie die Kulisse eines Western—trostlos und leer. Allein 7,3 Milliarden D-Mark wird die Magnetschwebebahn kosten. Die Tickets für die Berlin Hamburg Direktverbindung sollen 1. Klasse 110 DM und 2. Klasse 80 DM kosten. Schlichter kennt jeden Winkel, jede Gasse, jede Straße und jede Allee, dieser—seiner ihm verhassten—viel geliebten Heimatstadt Berlin. Diesem Baufälligen, sich noch immer vom Fall der Mauer nicht erholten unförmigen Gebilde und mehr Ruine als Metropole. “Das wunderbare ist”, meint er zur Taxifahrerin und richtet sich auf, dass die etwas abweisend näher an ihr Lenkrad rückt. Das Wunderbare, dieser—ihm verhassten—viel geliebten Heimatstadt, “sie ist aus Fragmenten erwachsen und jugendlich geblieben. Man findet sich wieder inmitten von historistischen Schinkelbauten und fünf Minuten später und zwei Straßen weiter, ragen Neubauten aus dem Boden und schaust du zur anderen Seite, ist da auf einmal ein Loch, eine Freifläche mitten in der Häuserreihe.” Wie Stacheln eines gefallenen Riesen oder die Reihen des Gebisses der Großmutter oder des Großvaters. Alt-Moabit, Turmstraße und Beusselstraße. Sie fahren über die Stelle wo der halbe Ring der Stadtautobahn in die Seestraße übergeht. Die drei Spuren der Autobahn in der Stadt aufgehen, wie ein versiegender Fluss.

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Flughafenzufahrtsstraße. Wieder staut es sich. Sie verlassen die Schlange der wartenden Karosserien. Endlich ist aus dem Fenster des Hellelfenbeinfarbigen Baby Benz der Tower des Flughafen Tegels in weiter Ferne zu sehen. Einer von drei Flughafen im Großraum Berlin. Schon tauchen hinter einer Brücke die Heckflossen einiger Flugzeuge auf und sehen dabei wie Haifische aus. Auf einer Anzeigetafel für Autofahrer steht: 17:35 Flugnummer: LH2031 nach AMS Amsterdam Gate: D Bemerkung: Check-In, Abfertigung. Der Flughafen befindet sich in einer Art Tal. Auf einem Berg, wie ein Tempel, der Pilger erwartet. Ist sich verlassen—Reisen, ein moderner Glaube? Hat die technische Entwicklung dem Ritual, der Fantasie und der Meditation die Kraft geraubt? Schon ist das Wirrwarr vor dem Flughafen zu sehen, neben einem alten Zugwagon, einer Imbissbude, tummeln sich Menschen, als wären sie Mist rollende Mistkäfer. Eine sich erhöhende Straße, führt zum Eingang des Tempels der Moderne. 11.000 Jahre neolithische Revolution, vergangene Völker, rollen riesige Steine auf einem Berg und schaffen den ersten Ort des Kultes. Göbekli Tepe. Südostanatolien. Zu deutsch bauchiger Hügel. Und was ist daraus geworden? Das Flughafengebäude sieht selbst aus, wie man sich Flugzeuge vorstellte, als sie noch nicht existierten. Wurde in 90 Tagen zur Zeit der ersten Berliner Krise der sowjetischen Blockade Berlins gebaut. “Wie fühlt sich etwas richtig an? Wie fühlte sich dieses Gefühl an? War es eher, eines dieser leisen Gefühle—ist Zuversicht wie Angst? Ist es eines dieser schreienden Gefühle, wie Panik oder Ekstase?” Schlichter nötigt die Fahrerin schneller zu fahren, dabei lehnt er sich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und tippt ihr mehrmals und zwar genau fünfmal auf die Schulter. Sonst ist er eher weniger zwanghaft. Quietschenden Reifens halten sie in einem Ruck vor dem Flughafeneingang. Auf einem Funkturm, schwingt ein Rotor. Menschen steigen aus. Die Maschinerie der Moderne ist eine groteske Industrie. Menschen, werden aus Bussen ausgespuckt und neue Menschen, werden in Busse gesogen—als wäre der Bus ein fressender Wal. Der nächste Bus naht heran und es beginnt das selbe Spiel von vorn. Das Rondelle, vor dem Flughafen ist, wie ein nicht zu besänftigendes organisches Karussell. Das moderne stereotype Leben und sein Fokus auf das Individuelle—ist eine Absurdität und künftige Generationen werden Relikte dieser Zeit in einem Kuriosum stellen—oder aus Kostengründen wieder verbuddeln. Schlichter reißt seine Handgepäckkoffer aus dem Kofferraum. Schmeißt der Taxifahrerin Geld in ihr Fenster. Stolpert über den Bordstein und der Becher Kaffee fällt ihm aus der Hand. Fällt auf dem Boden. Platzt dort wie eine Wasserbombe und rollt unter das Taxi. Schlichter fängt sich wieder und hastet in den Flughafen. Check-in ist bereits abgeschlossen. Schlichter steht irritiert und schwer flach-atmend—fast hyperventilierend vor der Anzeigetafel und muss erst lernen zwischen Ankunft- und Abflugtafel zu unterscheiden und sucht sein Gate. Als eine Frauenstimme in französischem Akzent heiser durch den Lautsprecher haucht: dies ist er letzte Aufruf, für alle Passagiere Lufthansa, Airbus 320 nach Amsterdam Gate D76. This is the last call for all passengers Lufthansa, Airbus 320 destination Amsterdam Gate D76. Er rennt. Sprintet. Den Koffer in der Hand. Hornhaut bildet sich auf seiner Innenhand, auf Herzlinie und Kopflinie. Schlichter glaubt nicht an Chiromantie. Die Finger einer Hand werden im Laufe eines Lebens etwa 25 Millionen Mal gebeugt und gestreckt. Man muss den Hass aushalten, meint Schlichter. Man muss gelassen sein. Man muss taub sein. Man darf den Betrügern im Gehirn nicht zu hören. Er steht nun nicht mehr vor der Anzeigetafel, sondern er läuft zum Gate D76. Als abermals die Stimme erklingt: dies ist der letzte Aufruf für Herrn Ernst Edwin Schlichter Lufthansa Airbus 320, nach Amsterdam. Bitte begeben sie sich zum Gate D76. This ist the last call for Mister… Er poltert den Flur herunter. Sicherheitsbeamte drehen sich nach ihm um. Eine Frau mit Kind auf dem Arm springt erschrocken zur Seite. Er rennt durch ein Geschäft für Herrenanzüge und reißt eine Schachtel mit Manschetten zu Boden. Die Schachtel ploppt auf und die silbernen Knöpfe kugeln ihm hinterher. Ein Verkäufer ruft ihm verärgert hinterher, aber das hört er schon nicht mehr. Ja, Schlichter komme noch. Ja, Schlichter sei auf dem Weg. ja, er beeile sich. Er renne sogar. Er renne den Flughafenflur hinunter. Ja, Schweiß perlt ihm vom Gesicht. Ja, er sei außer Atem. Ja, Schlichter freue sich auf diese Woche in Amsterdam. Ja, er wird den Flieger kriegen. Nein, er fühlt nichts. Nein, und daraus wird auch nichts ob in Amsterdam oder Berlin—daraus wird nichts. Er spürt ein Kribbeln in der Hand, wie sanfte Nadelstiche. “Und dann als ich sie dort stehen sah, in blauem Trenchcoat und blauem Stoffgürtel um deine Taille zusammengebunden. Dir von den Hüften hängend und dein helles blondes Haar, über den navy-blauen Mantel laufend, dein

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doch schönes Gesicht (und was für eines), zusammen geknautscht und wartend. Deine Miene starr und wartend. Wie ich dich dort am Schalter stehen sehe, wie du wartest und du für mich nichts, als Warten und Suchen bist—. Weiß ich, ich bin nicht derjenige, der dein Warten und Suchen beendet. Und es packte mich ein wilder Zweifel, läuft mir wie kalter Schweiß den Rücken hinunter, flüchtet sich unter meine Haut, reißt mir den Boden unter den Füßen weg und so schnell ich den Flughafenflur hinunter gerannt war, unseren Flieger noch zu kriegen—”, so langsam trottet Ernst Edwin Schlichter aus dem Flughafengebäude hinaus. Steht dort vor der Eingangstür in der Nähe einer Bushaltestelle und der Imbissbude im alten Bahnwagon. Lehnt keuchend an einem, von der Draufsicht, dreieckigen Geländer, welches die Skulptur vom Fall Daidalos und Ikarus beherbergt. Eine Anspielung auf Lilienthal in Fliegerhaube und Fliegerbrille, angestrengt nach vorn schauend als läge er im Flug-Apparat oder als sei er abgestürzt und hätte den Sturz überlebt. Lilienthal nachdem der Flughafen benannt ist und dessen 100. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird. Und Schlichter hält sich am Geländer fest—ist geblendet von der Sonne. Ist irritiert von den Wolken. Ist irritiert von den startenden Flugzeugen. Hört ständig ein Rauschen, ein Geräusch, wie es sich anhört eine Zitrone umzustülpen. Kratzt sich am Kopf und hat einen faden Geschmack im Mund. Eine Stimme, die beständig Nein ruft—siegte heute. Er wünschte sich, es würden gekräuselte Tulpen auf einen Altar gebracht. Wenn man der Angst nachgibt, ist das ein irritierendes Gefühl. Es fühlt sich an, wie ein Sieg und man weiß: es ist keiner. Beobachtet über seinem Kopf die startenden Flugzeuge, in halber Kurve mit dem Wind in Richtung Osten aus Berlin heraus, fächern sich dann auf und verschwinden im Horizont. Hochmut kommt vor dem Fall. Wer hoch steigt, wird tief fallen. Falsche Gedanken. Sein Vater hatte ihm noch gesagt, steig nicht zu hoch, denn deine Flügel hält nur der Wachs zusammen. Wollte er seinen Sohn umbringen? Hat er sich die Freiheit über den Tod des Sohnes erkauft und wusste er es? Wahrlich Daidalos hatte alle Zeit der Welt darüber nach zu denken. Die Kinder sind euch nicht gegeben—sie sind euch aufgegeben.

S

ie soll es sich überlegen. Die Flughäfen seien ja besonders unsicher—heutzutage. Man wisse doch, wie schlecht die Kontrolle seien. Unqualifizierte und unter-bezahlte Sicherheitskräfte. Gerade eine Woche war es her, als die TWA 800 vor der Küste New Yorks abstürzte. Und gerade das bei ihrer Flugangst sei überhaupt nicht gut für ihr zentrales Nervensystem. Man kenne doch die zytotoxische Wirkung von Angst. Was das Wort heiße. Wisse sie auch nicht genau, aber auf jeden Fall nichts Gutes—fertig. Darüber weiß man doch gerade Heute schon sehr viel. Erst neulich hatte sie im Fernsehen auf BBC einen Beitrag gesehen, wie schlecht auch Stress sich auf das Gehirn auswirke. Sogar psychische Krankheiten kann man durch Stress bekommen. Man dürfe sich nicht auch noch absichtlich gefährden. Warum nicht den Bus nehmen? Es ist nur eine Frage der Zeit bis die Terroristen erneut zuschlagen würden und es dauere nicht mehr lang, bis sie auch nach Europa und vor allem nach England kommen, hieß es bei BBC. Die wissen doch wie eng Amerika und Europa und England zusammen arbeiten. Das sei ein ganzes Terrornetz mit Zellen überall verteilt auf dem ganzen Globus. Und gerade nach Deutschland wollen die Terroristen, dem Satellit Amerikas—hatten sie bei BBC gesagt. Man brauche ein wirksames Zellgift für all die Terrorzellen. Aus dem Hintergrund der Fabriketage drang das Lied, das sie so sehr mochte. Zum hundertsten Mal. Deutschland gerade Deutschland, das sei doch nach dem Fall der Mauer einer der unsichersten Orte ganz Europas—Warschau, Bukarest und Moskau und den restlichen Ostblock, die alte Sowjetunion ausgenommen. Moskau könne man ja eigentlich so-wie-so nicht zu Europa zählen. Aber, protestierte sie, das ist 7 Jahre her und ging auf die restliche Argumente nicht ein. Aber Aber, wurde sie nachgemacht, sie soll nicht immer widersprechen und ein bisschen auf die Erfahrung einer alten Frau—old lady hören. Und seit im letzten Jahr die Grenzkontrollen weg fielen, komme doch soviel Gesindel Zigeuner, Diebe und Gauner in das Land. Wie die Westgoten nach Rom. Wie die Wikinger nach England. Sie sei wirklich froh, dass England diesem Quatsch von Schengener Abkommen nicht beigetreten sei, sagte ihre Mutter am Telefon und aus dem Hintergrund hörte sie wieder den Anfang ihres Liedes. Cleo legte den Hörer auf den Tisch und lief durch die Fabriketage in die alten verglasten Büros, die jetzt zu Schlafzimmern geworden waren. An Platz mangelte es Cleo nicht, nur an Wärme im Winter. “Was machst du da?” “Ich nehme dir eine Kassette auf ”, kam die Antwort abrupt, ohne das er auf sah. Cleo stand noch eine Weile im Türrahmen der Glastür—sie mochte diese Position—und ging schließlich zurück zum Sofa. Ließ sich fallen und griff wieder zum Telefonhörer. “Er nimmt mir eine Kassette auf, schön nicht?” Aber die besorgte Mutter am anderen Ende konnte sich nicht mit ihrer Tochter freuen. “Er sagt, dass wird mir gegen die Flugangst helfen.” Henry und Cleo, ihre Semi-Beziehung mit emotionaler Asymmetrie zu Ungunsten Henrys. Sie hatten wenig

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CLE


Geld und wohnten in diesem Fabrikhaus. Wer in England Besitzer eines Hauses ist und wessen Haus leer steht, der muss aufpassen, denn schleicht sich jemand in das Haus ohne erkennbare Einbruchsspuren, dann kann man ihn nicht einfach rausschmeißen. Ein Haus in England zu besetzen ist straffrei, solange der Einbruch ohne Gewalt erfolgt und die Besetzer dem Besitzer nichts stehlen. Rausschmeißen kann man sie nur über eine Räumungsklage vor Gericht, was etwa ein halbes Jahr dauert. Am wichtigsten für Hausbesetzer ist es sofort das aufgebrochene Türschloss auszutauschen, dass ihnen die Polizei den Einbruch nicht nachweisen kann. Das ist der Grund warum viele Hausbesitzer leer stehende Schulen, Fabriken, Bauernhöfe, Villen und sogar Schlösser untervermieten. An junge Menschen wie Cleo und Henry, die dann zu einem Spottpreis einen befristeten Mietvertrag, der halbjährig erneuert werden muss, bekommen und auf das vermeintlich leer stehende Haus aufpassen müssen. So kam es, dass das Semi-Paar im historischen Farringdon in der Londoner Innenstadt wohnte, einen Spottpreis eher eine symbolische Miete zahlten und eine ganze, aber alte Fabrik ihr Eigenheim nannten. Indes Freunde von ihnen außerhalb der Stadt in der Turnhalle einer Schule wohnten, andere einen Bauernhof bezogen hatten und wieder andere in der Stadt eine alte Bar bezogen hatte. Das war ein Fest der Besitzer des Hauses hatte den Barbesitzer über eine Räumungsklage rausgeschmissen und dieser hatte es nicht für nötig erachtet seine Bar leer zu räumen, was dazu führte, dass die Freund Henrys und Cleo‘s jedes Wochenende ein Saufgelage veranstalteten. Nach einem halben Jahr mussten sie allerdings das Haus verlassen—immerhin der Besitzer musste sich nicht um die Entsorgung diverser Alkoholika kümmern, denn das war schon geschehen. Ob Cleo Henry jemals fremd gegangen war? Einen Nachteil hatte die Fabrik allerdings— im Winter war es kalt, schweinekalt, bitter kalt, das eigentlich nur die beiden alten Büros bewohnbar waren und man ansonsten in Anorak durch das Heim ging. Allen voran der sichtbare Atem und überall gefrieren die Fenster von innen. Um einen Job kündigen zu können, müsste Cleo erst einmal einen Job haben. Ob es ein Nachteil war, dass das Haus regelmäßig unter-untervermietet wurde, darüber waren sich die Cleo und Henry uneins und die Kommunikation darüber lief recht einseitig. Der Hausbesitzer schlug einen Zettel an die Tür und informierte darüber, dass die ersten zwei Etagen der Fabrik für einen Abend oder mehrere Wochen nicht zu betreten seien, weil dort ein Film gedreht wurde und die Filmfirma die Etagen für ein Filmset gemietet hatte. Einmal hatten die Beiden die Ankündigung übersehen oder es gab überhaupt kein Zettel und stolperten geradewegs in eine fremde Party, besoffen sich mit Freigetränken und quatschen mit Menschen wie Madonna. In solchen Zeiten durften Cleo und Henry den Haupteingang des Hauses nicht benutzen, sondern mussten über eine alte rostige Feuerleiter in eines der oberen Fenster klettern, was sich besonders mit Einkaufstüten schwer machte, da sie aber kaum Geld hatten, waren die Tüten nicht so voll und so ging sich das aus. Inzwischen hatte Henry sich neben Cleo auf das Sofa gesetzt und hörte das Telefonat wie ein offener Ermittler ab—bis er von Cleo in den Küchenbereich geschickt wurde. In der Fabriketage gab es keine Zimmer außer den beiden alten Büros. Er soll Rührerei—scrambled eggs machen, das kann er, besonders gut. “Bevor der sich auf ‘s Sofa fletzt soll er ersmal was schaffen.” Beide Frauen lachten, eine diabolischer als die andere. “Was ist?”, fragt die Mutter, als Cleo jäh aufhörte zu lachen. “Ich hasse das.” “Was?” “Wenn er das macht.” “Wenn er was—”, wird unterbrochen von der 20 Jahre jüngeren Kopie ihrer selbst. “Wenn er”, sagt Cleo und Henry stand nur ein paar Meter entfernt und rührte Eier in einem Topf zusammen und flüstert weiter, “sich einfach neben mich auf das Sofa setzt und zu hört, was ich am Telefon sage. Ich hasse das—” Sie schaut aus dem Fenster der geräumigen Fabriketage. Auch von der Mutter ist nichts zu hören. Nach einer Weile hört Cleo, die beinahe schon das Telefonat, hätte sie keine Hörer am Ohr, vergessen hätte: “Wenigstens macht er dir Frühstück.” Wieder schweigen beide. Henry rührte fleißig das Ei. Es roch in der gesamten Fabriketage nach Butter und Schnittlauch. Bis die beiden lauthals lachten—erneut. Cleo und ihre Mutter waren so etwas wie falsche beste Freunde. Die Mutter fühlte sich jung und Cleo sich reif und erwachsen—so hat jeder sein Vorteil im mütterlich-töchterlichen Abhängigkeitsverhältnis. Manchmal klaute Henry für die Frau in die er verliebt war und sich wenig geliebt fühlte und schob geklautes Essen, Schminke und Kohle zum Heizen über die alte Feuerleiter und überraschte sie mit der Beute seines marginalen Raubzuges. Er gab sein bestes. “Alles okay?”, fragte der—wegen lautem Lachen—aus dem Küchenbereich gesprungene. Er war Gefühlsausbrüche jeglicher Art nicht gewohnt und schien sich auch an sie nicht gewöhnen zu wollen. Henry war in einer stillen Familie aufgewachsen. Er Wirtschaftsberater, sie Ärztin für Dermatologie, übten stets einen subtilen Druck auf ihren Sohn aus. Passive Erziehung nannten sie es, wenn Henry ihrer Meinung nach etwas falsch gemacht hatte— tagelang nicht mit ihm zu sprechen. So hörte er nie die Worte: du darfst nicht oder du sollst nicht. Hatte er etwas falsch gemacht, sich falsch verhalten und falsch gesprochen, sich aufgeregt, überregt und war ausser Fassung ge-

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raten, die Eltern gaben ihm einen stillen Rahmen und er spürte das daran, dass die Eltern ihn ignorierten und mit nicht-Existenz straften, als wären sie persönlich vom Verhalten des Sohnes gekränkt. Einmal als er gerade 14 war, hatte er zum ersten Mal eine Freundin mit nach Hause gebracht und sie übernachtete bei ihm. Heimlich hatten sie etwas Alkohol gekauft und mit auf sein Zimmer geschmuggelt. Es wurde lauter. Die beiden merkten nicht, wie laut sie waren. Er war ausgelassen—außer Fassung wie nie. Vom nächsten Tag an sprachen die Eltern vier Wochen lang nicht mit dem Sohn. Sie aßen weder zu Abend noch schenkten sie ihm irgendeine Art von Aufmerksamkeit. Aus Trotz ernährte sich Henry vier Wochen lang nur von Chips. Crisps wie sie in England heißen. Deswegen auch die Liebe zu Cleo und manchmal dachte er, sie liebe ihn auch—weil er ein Quäntchen Gefühl bemerkte. So hat jeder Seins. Cleo legte den Hörer auf. Starrte aus dem Fenster. Stand auf öffnete es. Sommerlich Geruch der Stadt drang in die Fabriketage und vermischte sich mit dem Geruch von gebratener Butter. Auf einem Tablett hatte er das Rührerei auf zwei Teller verteilt, dazu Toast und eine kleine Schüssel Crisps. “Rührerei machst du wie Risotto—niemals aufhören zu rühren.” Liebte es seine Semi-Freundin in Sachen Kochen zu belehren.

N

aturgemäss eine Stunde später in Berlin um 17.30. 11,3 Kilometer vom Flughafen Tegel entfernt. 13 Jahre, Bos­ni­a­kin aus Srebrenica, weiblich, Familie vorhanden, aber unbekannt, notiert Wolf im Einsatzwagen in ein dafür vorgesehenes Formular. Und fügt als Notiz hinzu: sie wurde das 32. Mal erwischt. Taschendiebstahl. Vermutlich zur Versorgung der Familie—unbekannt. Wert unter 50 DM. Wolf zögert einen Moment, setzt wieder an und schreibt: der Tatbestand wird wegen Alter der delinquenten Person und wegen dem geringen Wert, nicht zur Anzeige gebracht. Das grün-weiße Fahrzeug der Polizei steht auf der Straße vor dem Lustgarten. Der Polizist Marvin Wolf schaut aus dem Fenster des Einsatzwagens über den gepflasterten Aufmarschplatz und verliert sich in der Übersetzung der auf dem schmalen Giebel eingemeißelten Weihinschrift des Alten Museums. Er denkt das Mädchen sei sicher Kriegsflüchtling. Zählt die Adler über der Inschrift. Man dürfe sie nicht auch noch bestrafen. Sie sei mit der Mutter und dem Vater vor dem Massaker geflüchtet. Ihr Bruder sei getötet worden, während des Massakers. 18 kannelierte ionische Säulen. Er notiert auf dem Formular: Friedrich Wilhelm III. hat zum Studium der Altertümer jeder Art, sowie den freien Künsten 1828 dieses Museum gestiftet. Knapp einen Kilometer entfernt vom Alexanderplatz. Er wendet seinen Blick ab vom klassizistischen Schinkelbau hinzu seinem Standartformular, bemerkt den Fehler und zerreißt das Blatt. Holt kein Neues heraus, sondern erkundet mit den Augen die Reiterstatuen links und rechts, auf dem Dach und auf Vorsprüngen des Alten Museums, die die breite Treppe flankieren. Er war schon oft hier vorbei gefahren, aber noch nie, hatte er sich den Lustgarten, das Alte Museum und die Reiterstatuen so genau angeschaut. Die Granitschale hatte man aus einem der Markgrafensteine der Rauenschen Bergen geschlagen. Östlich von Berlin Richtung Posen bei Fürstenwalde/Spree Landkreis Oder Spree. Neben der 1937 eröffneten Autobahn Richtung Frankfurt Oder. In den Rauenschen Bergen dort beim Bunker Fuchsbau. Vor 150 Jahren war dort ein Bergbau, wo unter Tage Braunkohle abgebaut wurde. Die Miene wurde 1942 von ehemaligen Häftlingen des KZ-Außenlager Sachsenhausen, nämlich Ketschendorf-Bad Saarow unter der Aufsicht der Waffen SS zu dem Bunker Fuchsbau erweitert, dabei waren sowohl Mineure, Bauingenieure und Architekten Häftlinge des Konzentrationslagers. Die Anlage sollte mal als wichtigste Nachrichtenzentrale der Waffen SS und des Sicherheitsdienstes SD dienen, welche den Bunker Fuchsbau bis 1945 nutzten. Nachdem Ende des 2. Weltkrieges war es 12 Jahre lang ruhig um den Fuchsbau und den Rauenschen Berge. Ab 1962 erfolgte die Nutzung der Bunkeranlagen seitens der DDR-Luftwaffen der NVA LSK/LV als zentraler Wechselgefechtsstand. Bis der Fuchsbau knapp ein Jahr nach dem Fall der Mauer am Tag der deutschen Einheit am dritten Oktober 1990 an die Bundeswehr übergeben wurde, welche wiederum den Bunker als Standort der fünften Luftwaffendivision nutze, bis freilich endlich der Bunker 1994 geschlossen wurde und im Vorjahr fachmännisch versiegelt worden war. Damit sind die Räume der Bunkeranlage in den Rauenschen Bergen die einzige ihrer Art, welche von den Armeen dreier verschiedener Staats- und Regierungsformen genutzt wurde. Der massiven Granitschale vor dem alten Museum sah man dieses historische Zeugnis natürlich nicht an. Er heißt hebt das Pferd einen Huf, ist der Reiter eines unnatürlichen Todes gestorben, infolge einer ethnischen Säuberung, denkt Wolf und verwirft den Gedanken. Vermutlich ein Gerücht. Bei einer Untersuchung aller Reitstatuen Europas beziehungsweise einer repräsentativen Stichprobe aller Reiterstatuen konnte sich dieser Verdacht vom gehobenen Huf des Pferdes nicht bestätigen. Er reißt ein neues Formular vom Block ab und notiert in die leeren Zeilen: Ob der Bildhauer Albert Wolff eines natürlichen Todes oder eines Unnatürlichen gestorben sei, ist nicht bekannt, aber er hatte einen Sohn, der hieß Martin Wolff. Er zerknüllt erneut das Blatt und nimmt sich ein neues Formular vom Stapel—dahin wandern also die Berliner Steuergelder—und notiert: zwei Komplizinnen hatte die bosniakische Taschendiebin gehabt. Ob der Koran Taschendiebstahl aus Not erlaubt, fragt sich Wolf. Zu dritt haben die Mädchen eine ältere Frau vor Erichs Lampenladen, sprich dem Palast der Republik überfal-

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WO


in hellelfenbein farbiges Auto, Art Limousine, Marke Benz, Braureihe 240, Modellnummer W123, Baujahr 1985 einer der letzten seiner Art, Hufeisen auf dem Kühlergrill—steht laufenden Motors vor dem Flughafengebäude des futuristischen Tegeler Flughafens. Unweit der Justizvollzugsanstalt in der Seidelstraße. Eine Frau mit roß-braunen aber deutlich rot stichigen Haaren sitzt auf dem Fahrersitz des Autos und raucht selbst gedrehte Zigaretten. Der 4-Zylinder Reihendiesel Motor knattert, wie ein Trecker. Was heutzutage niemand mehr macht: eine Uniform zum Taxifahren anziehen. 17:40 ein Airbus 320 steht auf der Startbahn und wartet auf Freigabe. Das roß-braune Haar zum Pferdeschwanz gebunden entkommt aus einer Chaufffeursmütze. Immerhin, denkt sich Ernst Edwin Schlichter, die Taxifahrerin steht noch dort—Motor an—wo er sie bezahlt habe und Schlichter öffnet die Tür und steigt ein. Er schaut reumütig zum Flughafen. Ein Bus fährt hupend links an den beiden vorbei. Otto Lilienthal liegt noch immer am Boden—eingefroren als eine Statue aus Bronze—und er weiß nicht, was ihn hat abstürzen lassen. Ikarus zerteilt und in Fetzen gerissen, liegt weinend auf dem Rücken im Meer. Rechts war die Insel Levitha und das Honigreich Kalymna um ihn herum treiben seine Federn, wie die eines gerupften Vogels und er weiß nicht, was hat ihn abstürzen lassen. Schlichter zittert am ganzen Leib und holt aus seiner Jacketttasche eine Dose Kaugummi, stürzt einige weiße und Kaugummiförmige Gebilde, als wären es Tabletten. Einen Moment geht das Zittern und Grimassieren noch, dann löst es sich, wie eine Muskelverspannung im Rücken — ohne Knacken oder Krachen, mehr wie ein Seufzen, fährt Schlichter in den Federkernsitz der Rückbank. Die Fahrerin, schiebt ihre Mütze nach oben. Starrt Schlichter in die Augen. Zieht den Schlüssel vom Zündschloss ab. Singend erlischt das knattern des Motors. Führt ihn in das Glove-Compartment ein. Öffnet das Fach. Es springt nach vorn, wie ein paar Brüste, denkt sich Schlichter. Entnimmt ihm ein goldenes Etui. Klackend springt die Schachtel auf. Hinter einem Gummiband warten selbst gedrehte Zigaretten. Bevor die bisher schweigsame Taxifahrerin sich eine Zigarette ansteckt, leckt sie einmal über die Klebestelle, klopft den Stengel in der Hand aus. Führt den Schlüssel zurück in das Zündschloss und dreht ihn. Ratternd startet der Motor. Langsam verlässt das Vehikel rollend den Flughafen. Aus ihrer Tasche schnippt ein Sturmfeuerzeug und leise knisternd entzündet sich das Papier. “Ob du Liebe gehabt hättest für uns beide? Ob das gereicht hätte? Ob das für Amsterdam gereicht hätte?”, fragt Schlichter im Interview zum gerichtlichen Gutachten, dass ich anfertigen soll, um zu prüfen ob dieser Mann für die Tat der Tötung oder des Mordes zurechnungsfähig und steuerungsfähig gewesen war. Sie halten an der Tankstelle vor dem Flughafen. Ernst kauft zwei Pappbecher billigen Tankstellen-Brühkaffee, der mit einer feinen Ölschicht überzogen ist und meint, wer in so einer Lage ist, wie der seinen—der freut sich über jeden Verbündeten. Es war Schwärmzeit. Hunderte Ameisenköniginnen flogen aus dem Ameisenbau, drehten auf der Reise den Hochzeittanz, ließen ihre Flügel fallen—als hätte die Sonne sie geschmolzen—und gründeten neue Staaten. Aber nur ein paar Prozent, der Rest flog so lange auf der Suche nach dem Hochzeittanz, dass sie zwischendurch irgendwo erlahmten und zusammen brachen. Auch die flügellosen, befruchteten Ameisen-Königinnen liefen ausdauernd: alle Häuserritzen, alle Strassenkluften und alle Wiesenlöcher ab, und brachen zusammen. Überall lagen Leichen von Königinnen und überall krabbelten darüber noch lebendige Königinnen. Es war ein Mayhem. Die Taxifahrerin hatte das Radio wieder eingeschaltet. Im Nacken der Flugzeugabsturz der TWA 800 vor der Küste New Yorks und dem Olympiaattentat fordert der Präsident der Vereinigten Staaten Bill Clinton schärfere Methoden zur Bekämpfung des Terrorismus. Wir werden sie finden. Wir werden sie vor Gericht bringen und wir werden sehen, dass diese Menschen bestraft werden, Clinton. Nach reichlicher Überlegung—es waren knapp ein paar Stunden vergangen, seitdem es hieß: the games will go on—fordert der Präsident eine Revision, eine Verschärfung des im April verabschiedeten Antiterrorgesetzes. Er sagt, aus aktuellem Anlass sei es notwendig, der Polizei

das Abhören von Verdächtigen zu erleichtern. Bestimmte, aber begrenzte Schritte seien nun nötig. Das Radio schnarrte und spielte einen Song, den Schlichter nicht kannte. Er schnippst eine Ameise von der Kopflehne des Sitzes, schräg hinter der Fahrerin und sagt: “die werden auch immer größer!” “Wohin?”, fragt die Taxifahrerin ungeduldig, als das in die Jahre gekommene Hellelfenbein farbige Fahrzeug über die General-Ganeval-Brücke den Hohenzollernkanal passierte. Schlichter trinkt schlürfend einen Schluck Kaffee. Ist das nicht ironisch? Das Flugzeug auf der Startbahn hat Starterlaubnis bekommen und befindet sich inzwischen in der Luft auf dem Weg nach Amsterdam. Mr. Play-it-safe Ernst Edwin hatte Angst vor ihr, hatte Angst vor dem Flug und hatte Angst vor all dem, was Anderen ein willkommenes Novum im Alltag ist—ist das nicht ironisch? Die beiden Turteltauben in Amsterdam, es hatte nicht sein sollen. Ein Mann 98 Jahre alt gewinnt im Lotto er stirbt am nächsten Tag—ist das nicht ironisch, klingt es aus dem Radio. Und nun? Niemand weiß, dass Schlichter nicht geflogen ist. Es beschämt ihn. Die Leere—ist beschämend. Nichts tun zu können, ist beschämend. Beschämt und verärgert sitzt er im Taxi und sieht sich selbst den Kopf auf die Hände gestützt im Treppenflur seines Wohnhauses. Jetzt dorthin zurück und so tun, als wäre nichts? Wenn ED, aber gar nicht hier ist, dann kann er auch nicht in seine Wohnung; denkt er sich, und beobachtet eine Ameisenkönigin auf Erkundungstour, ob sich im Taxiinnenraum ein Staat gründen lässt und berührt das kleine Insekt und den darunter liegenden Stoff der Rückbank und sie mit den Fingerspitzen befühlend, als wäre es das zarte Chitinkostüm oder die Haut eines Menschen. Er richtet sich auf. Schüttelt sich. Streicht über die Taschenklappen seines Jacketts. Er hatte bei seinem Nachbarn geklopft heute morgen und erzählt, er wolle mit seiner Geliebten nach Amsterdam. Sie wissen schon, Grachtenfahrten, Kaffee hinunter schlingen, Pfeife auf Kanalbrücken rauchen und so weiter. Der Nachbar stand im Türrahmen und wusste nicht recht, was er mit den Informationen anfangen soll und dachte sich, am ehesten freut er sich über den Nachbarn Herrn Schlichter, mit dem er sonst noch kein Wort gewechselt hatte. Schlichter meint, er würde eine Woche nicht Zuhause sein, ob der Nachbar ab und an nach der Wohnung schauen könne. Sie wissen schon, nach dem Rechten sehen, Blumen gießen, Katze füttern, Lüften, Heizen et cetera. Schlichter verließ das Wohnhaus, einen Becher Kaffee in der Einen und seinen Handgepäckkoffer in der anderen Hand, steht an der Straße und ruft ein Taxi zu sich heran. “Man muss sich seine Wege verbauen, um zu sehen, wie man da wieder raus kommt. Muss man nein sagen, um ja sagen zu können?”, fragt er die Taxifahrerin, die inzwischen auf den Stadtring zusteuert. Bevor die Regierung nach Berlin ziehe, heißt es vom Verkehrsminister, brauche es einen Tunnel unter dem Tiergarten. 1,4 Millionen PKW, LKW und Motorräder brausen täglich durch die Stadt, 178000 davon über die A100. “Wohin?”, fragt die Taxifahrerin erneut und fährt auf den Stadtring—vorbei an der Stelle wo der Stadtring in der Seestraße aufgeht. Zusammenfassung: Schlichter kann für eine Woche nicht in seine Wohnung zurück, noch kann er sich dem Häuserblock oder seiner Straße nähern, noch im Supermarkt nebenan einkaufen, das Schwimmbad besuchen oder in der Bibliothek stöbern gehen—es müssen jegliche alltäglichen und gewohnten Tätigkeiten vermieden werden— denn Schlichter ist eine Woche nicht Zuhause. Was wenn die Nachbarn ihn erwischen, wie er draußen vor der Tür ein Buch liest? Er würde dastehen, als feiger Lügner. Ein Betrüger, ist er jetzt schon—nur weiß es keiner. Der Verkehr auf dem Stadtring war ruhig an diesem Morgen. Auf der rechten Spur fährt ein hellelfenbein farbiges Fahrzeug die vorgegebene Geschwindigkeit und ein Mann schaut aus dem Fenster. Nach dieser Woche, wird E.E. Schlichter viel arbeiten müssen, was er allein schon für Taxifahrten ausgegeben haben wird—sind Unsummen. Und das in einer Zeit, da Erdbeben selten geworden sind, sagt der möchte-gern Seismologe Schlichter. Schlichter, war jemand der keinen festen Job hatte, der nicht zu ende studierte oder eine Ausbildung abgeschlossen hatte. Er hatte Interessen, wie andere Menschen Freundschaften. Er war jemand, der es trotzdem schaffte, sich in der Gesellschaft halbwegs zu integrieren. In einer Gesellschaft bestehend aus Menschen, die der Generation Praktikum angehörten. Er war jemand, der nicht gerne ruhte. Manche würden sagen, er war ruhelos. Andere würden sagen manisch. Diese Ruhelosigkeit übertrug sich auf sein gesamtes Leben. Hatte aber auch zur Konsequenz, dass er weder Menschen noch Tätigkeiten, über eine längere Zeit kannte und noch ausführte. Mal testete er neue Sportwagen. Mal war er Proband, nahm Medikamente und wohnte Monate in einer dafür gebauten Wohnung. Dann wurde er selbst Versuchsleiter und testete Probanden. Mal überprüfte er Hotels auf Komfort und Service. Einmal wurde einer seiner Reiseberichte in der National Geographic abgedruckt. Mal war er, technischer Assistent und erarbeitete die statistische Auswertung. Die meisten Menschen, die diesen Bericht lesen mögen, werden denken: schau an, was ein abwechslungsreiches Leben und bewundern gar diesen Menschen Ernst Edwin Schlichter—sie sollen nicht vergessen, dass er ein Mörder ist. Schlichter besaß das seltene Talent, innerhalb von Sekunden eine Sache vollständig zu antizipieren und sie

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len, seien über die Straße gerannt, Autos hätten gehupt und wären in die Klötzer gestiegen, wie Reiter ein letztes Mal in die Steigbügel. Schließlich seien die drei Mädchen aus Srebrenica über den Aufmarschplatz Richtung Altes Museum gerannt und an der dieser Schale oder übergroßen Granitschüssel gestellt worden. Leuten gingen vor rüber und schüttelten den Kopf. Immer dieses Gesindel. Wolf setzt den Stift ab und locht das Formular an der dafür vorgesehenen Stelle und sortiert es in den dafür vorgesehenen Aktenordner in den dafür vorgesehenen mobilen Aktenschrank, wie die Kiste im Fußraum des Dienstwagens für die Akten liebevoll genannt wird. Am Ende wurden sie wegen ihres Alters frei gelassen—erneut und zum 32. Mal. Nachdem sie auf der Wache in der Brunnenstraße ein enormen, aber unverständlichen, weil Bosnisch, Terz veranstalteten, hatte Wolf später von seinen Kollegen gehört. Er war auf Streife gewesen und hatte die drei Mädchen an Kollegen übergeben. Sein Formular ausgefüllt, zwischen Lampenladen und Lustgarten stehend und sei dann weiter gefahren. In einen weiteren Nachtdienst. Auf der Baustelle des Reichstages hatte es einen Überfall gegeben. Dort wo der Bundeskanzler Kohl vor einem Jahr den ersten Spatenstich getan hatte. Und Wolf hört sich selbst sprechen: Ich muss sie festnehmen. Bitte wehren sie sich nicht. Ich bin Polizist und sie haben eine Straftat begangen. Steigen Sie in das Fahrzeug. Vier Seiten einer Nachricht, die auch das Mädchen aus Srebrenica Bosnien und Herzegowina nicht verstehen konnte.

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absolut zu assimilieren. Es war als würde er die Mahlzeit der Fliege mit der Fliege fressen. Wie jedem Segen und Fluch inne wohnt, war seiner, sich rasch dem Zenit einer Sache zu nähern, diesen zu überschreiten und sich anschließend schrecklich zu langweilen. Dabei war er weit entfernt genial, besonders clever oder überdurchschnittlich klug zu sein—das einzige was dieser Mensch ist, ist ein Mischwesen zwischen asthenischen und anakastischen Persönlichkeiten zu sein—wie der Minotaurus halb Mensch halb Tier, halb abhängig, halb zwanghaft. Über Schlichters Mutter konnte ich bisher aber nichts in Erfahrung bringen. Mehr noch, wie eine bittere Säure, stiegen Galle-artige Flüssigkeiten in seinem Selbst auf, setzten sich in seine Glieder und bescherten ihm rheumatische Schmerzen, auch wenn er sich bester Gesundheit erfreute. Er sagte mal, alles was einen befreie, wird einen über kurz oder lang beuteln und Fesseln anlegen—das ist allen Menschen gemein, dachte er und irrte. Die Fahrerin und Schlichter fahren auf der A100 auf Höhe Schloss Charlottenburg auf der einen und dem Luisenkirchhof III auf der anderen Seite, in Blickweite der Funkturm am ICC. Es ist dieses Mischung aus endlichem Sommer und früh beginnenden Herbst. Blätter in allen Farben. Ahorne und Linden gedeihen noch in prachtvollem Grün—schwenken ihr grünes Kleid im Wind—wohingegen Kastanien schon im alljährlichen Sterben begriffen sind. Wind, Wetter, Nässe—im Sommer, der ungewöhnlich kalt ist. 1,4 Millionen Fahrzeuge auf Berlins Straßen. Währenddessen sie über den Asphalt, das Kopfsteinpflaster, die Plattenstraßen fahren, fegt und scheucht hinter ihnen, der Fahrtwind die ersten Blätter auf, dass sie nur so durch die Luft wirbeln und stürmen. “Ich fragte sie, ob sie Kinder habe.” Schlichter und die Taxifahrerin verlassen die Autobahn unter einem blauem Schild, auf dem in weiß geschrieben steht: Messedamm, Messegelände. ICC 80 Meter rechts abbiegen. Und neben ihnen war schon das Raumschiff, der Panzerkreuzer aufgetaucht. Teil des Messegeländes. Scharfe Rechstkurve und die Beiden fahren wie in den Bauch des Schiffes. Gekachelte Wänden und Neonlicht. Ein Fahrzeug dessen hellelfenbein in der Dunkelheit verschwindet, flackert in den gekachelten Wänden auf. Wenn Cleo Kidman die Wahl hätte würde sie nicht in Farringdon wohnen, sondern im Barbican. Als die deutschen das Quartier Barbican zerbombt hatten—the Blitz nannte man die Angriffe der Luftwaffe des dritten Reiches, unwahrscheinlich, dass diese aus dem Fuchsbau koordiniert wurden—wurde nach dem Krieg ein Architekturwettbewerb ausgerufen, welchen ein damals einflussreiches Architekturbüro gewann und dort wo ein Loch durch den Krieg und the Blitz entstanden war, ein Kultur- und Konferenzzentrum—das modernste und größte seiner Art—errichteten. Es war konzipiert wie ein übergroßes Atrium mit Teich in der Mitte und Mietshäusern rings um her. Der große Teich war nur über die Wohnungen zu erreichen. Drei Restaurants, ein Theater mit einer Kapazität von über 1100 Sitzen, drei Kinoleinwänden, sieben Konferenzhallen, eine Bibliothek, eine Kunstgalerie und eine Konzerthalle. 4000 Menschen wohnen in 2014 Wohnungen. Cleo wünschte sie wäre eine davon. Sie wünschte sie wohnte nicht in dieser verlassenen Fabriketage—dieses wie abgestorbenes Organ, sondern im drei Metrostops entfernten Barbican. Le Corbusier wäre ein Herz aufgegangen. Eine Stunde Zeitverschiebung, nicht ganz Tausend Kilometer entfernt, stehen Schlichter und die Taxifahrerin auf dem Parkplatz unweit des zentralen Omnibusbahnhofes. Schlichter meint er fahre gern Bus. Das Fenster des Taxis ist offen. Ein Mann bleibt vor dem altem Benz stehen. Sieht die beiden im Fahrzeug nicht. Lehnt sich gegenüber an ein anderes Auto. Sofort gewinnt der Mann Schlichters Interesse. Wäre Schlichter kein verkapptes Mitglied der Generation P—er wäre Psychologe geworden. Ein anderer Mann kommt dazu. Reisetasche in der Hand. “Ich weiß du bist gerade erst aus dem Bus, aber—”, spricht der erste und wird unterbrochen. “Ja war ne lange Fahrt. 11 Stunden Berlin-Saarbrücken, das ist nicht ohne.” Der Mann in Kapuzenpullover und hängender Jeans. Schlichter beobachtet die beiden. 17:55. Die Taxifahrerin hat sich eine Zigarette gedreht und schaut aus dem Fenster auf die anderen Seite. Im Blick das ICC Messegelände, das war mal der Stolz von West-Berlin denkt sie über das inzwischen leicht marode Gebäude. Sie hat die Chauffeursmütze auf dem Armaturenbrett abgelegt. “Ja ich weiß und wenn es nicht so dringend wäre, würde ich dich auch nicht fragen”, erklärt sich der Mann in Kapuzenpulli dem Mann mit Reisetasche. “Aber ich wollte dich fragen, ob du morgen für mich arbeiten kannst.” Es ist anstrengend, denkt Ernst Edwin, Menschen zuzuhören, die so oft: aber, sagen und doch nicht zum Punkt kommen. “Morgen?”, fragt der Andere. “Ja Morgen, weil ich will diesen du weißt schon.” “Keine Ahnung.” “Ich will diesen Zwang untersuchen lassen. Im Krankenhaus. Die meinten die wollten auch meinen Schlaf untersuchen.” “Ich arbeite heute schon.” “Heute noch? Aber ich dachte 11 Stunden Busfahrt.”

“Der Tag ist sowieso verschenkt, da kann ich auch noch arbeiten gehen.” “Scheiße, wenn du heute arbeitest, kannst du morgen nicht für mich arbeiten. Fuck. Scheiße”, flucht der mit dem Termin im Krankenhaus und Schlichter erfreut sich an dem Schauspiel. Die Taxifahrerin bläst Zigarettenrauch aus dem Fenster, wenn sie das Ding mal schließen, wenn irgendwann Einmal das Licht aus den Bullaugen des Panzerkreuzers erlischt, denen wird sicher nichts besseres einfallen, als ein Shoppingcenter da rein zu pflanzen. Wie am Potsdamer Platz. Gibt es Brachland in Berlin, wird es unter einem Shoppingcenter versteckt. Und ehrlich gesagt, da wo die Mauer mal eine vernarbte Wunde mitten durch die Stadt schnitt—hat Hettche gemeint—ist nichts als Brachland. Der Mann in Kapuzenpulli und Baggy rennt los, über die Straße ein schwarzer Wagen geht in Vollbremsung. Hupt. Der Mann in Schockstarre. Der andere nicht anders. Schlichter weiß nicht wo er zu erst hin schauen soll. Den Fast-überfahrenden oder den Erschrockenen über den Fast-überraschten. Das Leben, denkt Schlichter, macht es einem immer so schwer. Die Taxifahrer schnippst die Zigarette in einen Busch neben dem Taxi. Der Mann auf der Straße ist weiter gerannt Richtung Omnibusbahnhof. Wo der andere hergekommen war. Die Taxifahrerin dreht sich zu Schlichter um. Er hat den Kopf soweit aus dem Fenster gelehnt, wie es nur geht, will er nicht aufstehen. In weiter ferne hört man das Horn eines Busses tönen. Der Andere hatte sich noch keinen Zentimeter bewegt. “Also”, sagt die Fahrerin und schaut zu Schlichter nach hinten. “Ob wir etwas essen wollen. Ob ich dafür bezahle” hatte die Fahrerin gesagt, meint Schlichter im Interview zum Gutachten. Schlichter kommt mit einer Tüte und einem Plastikbecher aus Richtung ZOB wieder. Die Fahrerin hatte sich noch eine Zigarette angezündet. Zieht ihre Mütze wieder auf und steigt aus dem Fahrzeug. Die beide haben sich auf eine Bank auf dem Parkplatz gesetzt. Ernst trinkt schwarzen Kaffee. Seine Fahrerin isst ein Sandwich. Ob Schlichter von seiner Frau verlassen wurde. “Ich antwortete: mein Gefühl hat mich verlassen.” Ob die Taxifahrerin ein Hotel kenne, das man stundenweise mieten könne. Sie verstehe nicht. Schlichter meint, nur über die Nacht. Sie verstehe nicht. Er brauche nur sechs Stunde. Ein Mensch sowieso brauche nur 5,5 Stunden Schlaf jede Nacht. Man muss an sich arbeiten. Der Schlaf besteht aus Phasen, die sich alle 90 Minuten wiederholen. Zuerst zwei flache Schlafphasen, dann zwei Tiefschlaf-Phasen und am Ende die REM Phase—Rapid Eye Movement Phase, die hauptsächlich mit dem Träumen assoziiert wird. Will man sehen, ob jemand Träumt muss man ihm nur die Augenlider im Schlaf nach oben schieben, bewegen sich dann die Augen ruckartig nach links und rechts, heißt das REM und jemand träumt gerade. Das geht auch bei Hunden. Wenn Menschen übrigens sagen, sie schlafwandeln, weil sie Träumen sie müssten weglaufen, dann ist das wahrscheinlich Quatsch, weil der Muskeltonus, bis auf die Augen in der REM-Phase komplett gelähmt ist. Was nun mit dem Hotel sei. Wenn man gut ist, sagt Schlichter, dann schafft man die flachen Schlafphasen einfach ab und macht noch zwei Dinge: tief schlafen und träumen. Träumen darf man nicht außer acht lassen, sagt Schlichter auf der Bank auf dem Parkplatz. Die Taxifahrerin hat ihr Sandwich aufgegessen. Schlichter trinkt in kleinen Schlücken—er will sich nicht sofort noch einen Becher kaufen müssen. Die Träume braucht der Mensch nämlich um die Realitität zu verarbeiten und sich auf mögliche Realitäten vorzubereiten. Was nun mit dem Hotel sei. Ja stundenweise meint er. Sie kenne aber keinen Puff oder ein Bordell in der Gegend. Wenn sich das Gehirn nach 5,5 Stunden Schlaf anfühlt, als verbrenne es von innen—dann hat man es falsch gemacht. Und es hilft auch kein Kaffee, sagt Schlichter augenzwinkernd. Aber, sagt die Taxifahrerin, sie kenne ein Motel unweit von hier. Genau genommen nicht mal fünf Fahrminuten. Die schenke Sie Schlichter. Direkt an der Autobahn. Schlichter hat sich nach vorne gesetzt. Er will Gleichberechtigung und sich als Fahrgast emanzipieren. Selbstbewusst liegt seine Hand, neben dem Fenster, auf der Tür. Er pfeift eine Melodie, die er in einem Flughafengeschäft gehört hat. Aber keines dieser Taxfree-Geschäfte, er ist ja nicht eingecheckt und er denkt nicht an die Hamburgerin, er denkt an Parfum aus Duty-Free-Shops und wie es wäre jeden Tag ein neues und ungewohntes Parfum aufzulegen, wie jeden Tag eine neue Identität anzunehmen, wie es wäre jeden Tag zum Flughafen zu fahren und ein Parfüm aufzulegen, von dem er noch nie gehört hat, man würde ihn kennen, man würden wissen Schlichter sei da, man würde ihm ein neues Parfüm geben, man würde wissen: dieser Mann kennt sich aus, man würde schon von weit her sehen, wie er aus dem Taxi steigt, er ist wieder da und er wird ein neues Parfüm auflegen und das wäre, denkt er, wie ein anderes Leben zu leben. Als Sabine Krüger ihre Stelle angetreten sei, hieß es—noch im Bewerbungsgespräch—Ruhm und Reichtum gehen hier ein und aus. Sie werde mit berühmten Menschen in Kontakt kommen. Frau Krüger sitzt auf ihrem Stuhl, wie die dickglasige Hornbrille auf ihrer Nase, auf der kleinen Narbe, wo mal eine Warze war. Hat sie sich weg machen lassen. Danach war sie beim Friseur. Dauerwelle auffrischen. Berühmte Menschen, Rennfahrer, Models, reiche Leute—wunderschöne reiche Menschen. Ausgestopfte Königstiger und vollgestopfte Täubchen. Vollgestopft mit dem Staub der Straße. Aber die AVUS lebt ihre letzten Tage als große Rennstrecke. Wenn etwas stirbt, dann wirft es noch einmal viel Staub ab, wie eine Kerze kurz bevor sie ausgeht. Dekadenz ist eine Erscheinung des Untergangs. Frau Krüger weiß nicht, was das Wort Dekadenz bedeutet. Krügers Chef ist wütend auf Krüger, wegen

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der Buchung. Krüger fragt wo sind die Rennfahrer. Wo ist denn meine Buchung. Man wird ja wohl noch träumen dürfen, sagt Krüger leise und nickt dem Chef untergeben zu. Das war das dritte Mal. Sie solle aufpassen. Er verschwindet. Krüger sitzt allein auf dem Stuhl und denkt und sagt vor sich: man wird ja wohl noch träumen dürfen. Wenn Krüger träumen darf, dann träumt sie von Asphalt, quietschenden Reifen, dicken schwarzen Bremsspuren, windschnittigen Rennfahrern im Overall und aerodynamischen Boliden. Und dann legt Krüger den Kopf auf die Hände und träumt, dass eines Tages ein Rennfahrer kommt, der noch weiß was innere Werte sind, der sich nicht von einem Körper blenden lässt. Der nicht die Models an der Rennstrecke, wie ein Ritter die Hofdame bei dem Lanzenturnier, angafft. Man wird ja wohl noch—. Was ein Körper, was ein Gerät, diese Beine, dieser Geruch, was ein Körper, was ein Gerät. Dann ist Krüger auch schon eingeschlafen. Hat den Kopf auf den Tisch gelegt und träumt. Hat die Buchungen vergessen. Von draußen leuchtet der Stern auf dem Dach. Hört das aufbrausen der Motoren. ICC und die AVUS das waren mal der Stolz des eingemauerten Westens. Wenn du die Grenze passiert hast. Wenn du die Schikane an der Grenze—wenn du denn Ossi in NVA Uniform ausgehalten hast, dann tun sich vor deinen Augen die endliche Weite einer Rennstrecke auf und alles was du machst: Gas geben, dich frei fühlen. Frei und eingemauert. Schon 1958 hat man in den Zielrichterturm der AVUS ein Motel gebaut. Das Besondere in unserem Haus ist das Restaurant, rund um die Uhr geöffnet. Schon weiten sieht man den Stern auf dem Dach. Nicht so weit wie den Funkturm nebenan. Und was ist, nichts ist mehr mit rasen. Seit Sieben Jahren gilt Tempo 100. Scheiß Wende. Der Ossi und sein Trabant sind neidisch auf den Wessi und seinen Benz, deswegen darf man auf der AVUS nur noch 100 fahren, erzählt Krüger jedem Gast der länger bleibt. Alte Bilder, alte Werte, gute alte Zeiten, schlechte neue Zeiten. Wenn es so weiter geht, gibt es in ein paar Jahren keine Rennen mehr auf der AVUS. Was ist passiert mit dem Menschen, liebt er das Risiko nicht mehr, würde Krüger denken, aber sie weiß ja nicht Einmal, was das Wort Dekadenz bedeutet. Ob sie morgen wieder kommen solle. Ja morgen früh. Bei sechs Stunden mache sie aber nicht mit. Er wird ja auch wohl nicht sofort ins Bett gehen. Gerade mal 19 Uhr. Da geht doch keiner in ein Bett. Auch kein Ernst Edwin Schlichter. Also morgen nachdem Frühstück gegen 10. Er solle sich mal ausschlafen. Dieses Gerede von 5,5 Stunden kann nicht gut sein. Und weniger Kaffee trinken, das aber hört er schon nicht mehr. Sabine Krüger reibt sich die Augen. Kein Gast weit und breit. Was kann sie denn dafür. Ja dann habe sie eben drei Mal nicht abgerechnet, das könne wohl mal vorkommen. Blumen liegen auf der Rezeption. Die hat der Chef hingelegt, soll gemütlich aussehen. Ein Motel muss einladend wirken, hat er gesagt. Auf der Rezeption liegt ein Mensch, der sich hinter einer ausgewachsenen Dauerwelle verbirgt, wie ein Wischmop. Sie solle sich mal eine zeitgemäße Frisur zu legen. Sie seien ja schließlich nicht mehr in den 80ern. Der Wischmop träumt von Rennfahrern. Von gestählten und harten Körpern, von Schönheit, die ihr Leben riskiert. Nichts gefällt so sehr. Es gehen Gerüchte um, die AVUS als Rennstrecke soll verlegt werden. Ein Röhrenmonitor wirft ein flackerndes Bild auf den Wischmop von Dauerwelle. Der Chef hat das Ding mal angeschafft, soll die Übersicht über die Buchungen verbessern. Da hat Sabine innerlich gelacht. Die paar Gäste pro Woche könne sie getrost in ihrem Buch aufführen. Aber für Sabines Buchungsbuch ist jetzt kein Platz mehr, neben Röhrenmonitor und Blumengesteckt. Das Motel solle modern und einladen aussehen. Der Gast soll sich hier fühlen, als sei er schon im Morgen angekommen. Einen Computerkurs musste sie auch besuchen. Windows 3.11 kannte sie nur von Udo, der war ein PC-Freak und so etwas wie ihr Freund. Er meinte immer: ihr Macker, dann lachte er wie eine Ente und ging an seinen PC, Fenster in Win 3.11 verschieben und Minesweeper spielen. Einmal hat Udo im Minesweeper verloren und gleichzeitig hat er seinen PC verloren, weil er seinen Monitor mit der Tastatur verdroschen hat. Sabine dachte besser als mich, und lachte innerlich. Ein Mann in Anzug knallt eine Handgepäckkoffer auf die Rezeption. Sabine Krüger schreckt auf, dass sie fast mit dem Stuhl hinten über fällt—mitsamt Monitor. Daneben stellt der Mann eine Plastikdose Kaugummi—aber er knallt sie nicht, sondern hat sie sachte neben das Blumengesteck gestellt, wie einen Talisman aus Glas. Schlichter, Ernst Edwin. Er brauche eine Zimmer. Fragt, ob noch was frei wäre. Unter Schock schiebt Krüger die, auf die Narbe auf der Nasenspitze gewanderte, dickglasige Hornbrille wieder auf den Nasenrücken, dass sich wieder ein Bild für die Götter der 80er ergibt, hinter dem modernen Bildschirm des PCs. Ein Bild für jeden HeMan Fanatiker. Blonde, im Ansatz braune, Dauerwelle und Hornbrille. Da will man mal drauf schießen. Sperma auf den dicken Gläsern. Ernst sitzt auf seinem Autobahnhotelzimmer. Jemand war sehr clever und hat das Hotel auf einer Erhöhung gebaut. Es ist schon von weit her zu sehen. Immer seltener sitzen Menschen auf der Tribüne, die Schlichter aus seinem Zimmer nur vage erkennt. Immer seltener. Irgendjemand vor 40 Jahren war sehr clever und hat vorsorglich aus dem Zielrichterturm ein Motel gemacht. Autos rauschen an seinem Zimmer vorbei. Ihm ist schwindelig. Er schaut aus dem Fenster. Es ist dunkel im Zimmer. Das Zimmer ist schallisoliert. Der Blick aus dem Autobahnhotelzimmerfenster: Vor seinen Augen, unter gelben Straßenlaternen ziehen sich Leuchtstreifen in reziproken Fäden dahin—ihm ist das Schöne überdrüssig. Er legt sich auf das Bett und schaltet das Radio ein. Er mag die Stimme der Moderatorin und bestellt etwas Wein. Er bestellt eine zweite Flasche. Zum ersten Mal hat Schlichter das Gefühl länger als seine sechs Stunden schlafen zu

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wollen. Er wird nicht pünktlich aufstehen. Das Taxi wird warten und das Taxameter zählen. “Bist du jetzt in Amsterdam oder suchst du mich? Denkst du mir ist etwas passiert? Denkst du mir wäre nichts passiert? Denkst du überhaupt?” Er nimmt die Kaugummidose aus dem Jackett und stellt sie auf den Nachttisch. Löscht das Licht. Versucht zu schlafen. Sucht intuitiv die Dose auf, wie das Orakel von Delphi. Im Halbschlaf kippt er die Dose um, ein paar Kaugummis fallen aus der Dose. Schlichter kehrt einige auf, wie Asche seiner toten Mutter, und schmeißt die Kaugummis wie Tablette. Schläft ein. Mehr als 900 Anrufer, heißt es im Radio, hätten sich bei der Polizei gemeldet und Hinweise gegeben. Sonderagent David Tubbs appelliert an alle Menschen, die davor, dabei oder nach der Detonation im Park waren, sich mit den polizeilichen Behörden in Verbindung zu setzen—telefonisch, per Fax oder sogar per Email, die habe man extra für die Suche nach dem Täter eingerichtet. Sabine Krüger hat das Radio eingeschaltet und den Kopf wieder neben das Blumengesteck gelegt und träumt von Rennfahrern, an die niemand mehr glaubt. Wer auch immer wen weg-bombt. Nur Nachrichten. So weit weg. Was geht Krüger eine Bombe in einem Mülleimer an. Jeder Hinweis sei jetzt wichtig, so Tubbs. Ihre Beobachtung könnte von entscheidender Bedeutung sein. So weit weg. So viele Träume. Der Bildschirm des Computers flackert. Man müsse über eine Erleichterung des Lauschangriffs und eine berechtigte Einschaltung des Militärs bei Anschlägen in denen Chemische, Biologische und nukleare Waffen eine Rollen spielen, nachdenken. Es werde über eine Überarbeitung des im April verabschiedeten Gesetzes nachgedacht, heißt es aus dem Weißen Haus. Manche wollen die Revision. Manche denken, es wäre gut, die gestrichenen Stellen, vor allem denen, die dem Militär Zugriffsrechte im Inland gewähren, in das Gesetz mit aufzunehmen. Im französischem Fernsehen wurde eine Phantomzeichnung eines Mannes und einer Frau veröffentlich. Tubbs wollte zu den vermeintlichen Hauptverdächtigen keine Stellungnahme beziehen. “Wir haben weder eine Zeichnung anfertigen lassen noch veröffentlicht.” Ihm sei ferner zu Ohren gekommen, es gebe bereits eine Liste mit Namen. Sonderagent Tubbs habe weder eine solche Liste gesehen, noch anfertigen lassen. “Es wird eine Bombe hochgehen. Ihr habt 30 Minuten Zeit”, hatte der Attentäter der Polizei gesagt. “Wir brauchen die allerbesten Ideen”, hatte Präsident Clinton gesagt. Möbius, Wolf soll eine Frau Möbius besuchen. Frau Laura Möbius verdacht auf Rauschgifthandel in der Wohnung. Verdacht auf Anbau und Verkauf von Rauschgiftmitteln in den eigenen vier Wänden. Ausgesprochen gut besucht. Vor 3 Jahren hatte man Escobar erschossen. Er war aus seinem 5 Sterne Gefängnis ausgebrochen. Das war in Kolumbien 9000 Kilometer entfernt. Er war nach Medellín zurück gekehrt. Alle zieht es in die Heimat zurück. Man muss nur warten. Geduld und die vier Seiten einer Nachricht. Dann telefonierte er mit seinem Sohn, eine US-Kolumbianische Sondereinheit verfolgte den Anruf zurück. Dann folgte die Razzia 16 Monate nach dem Ausbruch, dann folgten die Schüsse. Schließlich knieten die Schützen sich vor die Leiche Escobars, wie Wildjäger vor einem erlegten Löwen in der Savanne— Medellín die Savanne Escobars—und machten ein Foto. Sein dicker Bauch quillte nach rechts über—wie ein träger Kuchenteig. Wenigsten das T-Shirt hätten sie ihm nach unten ziehen können. Wenn der Polizist Marvin Wolf Rauschgift hört, denkt er an Pablo Escobar und er denkt daran, wie er vor drei Jahren auf den Fernseher starrte, als man verkündete Escobar sei erschossen worden und Wolf hatte Tränen in den Augen. Und er schwörte sich, niemals soll jemand von Escobars Kaliber in die zerbrechliche Stadt Berlin kommen. Da war er schon in der Polizeiausbildung. Wolf solle sich als potenzieller Drogenkäufer ausgeben. Es war Abend. Sonntag Abend Ende Juli ungewöhnlich kalt für Juli. Es reiche wenn er sich morgen auf den Weg mache. Er solle sie—Möbius nicht stellen. Egal was er sehe. Erstmal abwarten. Wenn man einen Dieb fangen will, dann sollte man warten bis dieser eindeutig zu weit geht. Das ist wie die Spinne, die ihr Opfer erst selbst speisen lässt und dann frisst—sozusagen zwei Fliegen in einem Netz. Das ist wie Cleo‘s Mutter am 1. Weihnachtsfeiertag den Truthahn Gregor mit Hack vom Schwein füllt. Wolf solle sich unauffällig in die Wohnung schleichen. Es gehe nur um die Information. Hat er verstanden, morgen reicht. Bloß nicht Sonntag zu einem Drogenhändler fahren, das machen nur Junkies und egal wie sehr Wolf sich anstrenge, wie ein Junkie wird er nicht aussehen. Minos der König von Kreta flehte Poseidon seinen Onkel auf Knien an, er müsse König werden—nichts auf dieser Welt als ein Königreich, können ihm das seltene Gut dieser Erde, das Glück, bescheren und er wolle dazu dem Gott der Meere das erste was aus dem Meer entsteigen würde opfern. Poseidon schickte einen prächtigen Stier. Lange Rede kurzer Sinn, Minos war auch nur ein Halbgott und fand den Stier so schön, dass er ihn in seine Herde eingemeindete und einen hässlichen Inzuchtsstier im Wasser ersäufte. Poseidon war nicht dumm und bemerkte den Betrug. Wie er es schaffte Minos Frau Pasiphaë mit dem Verlangen nach dem Huftier zu strafen, bleibt wohl ein

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göttliches Geheimnis. Entstanden war daraus Minotaurus den Minos in das Labyrinth sperrte. Die Geschichte vom Ariadnefaden und so weiter. Nachdem das Ganze so schlecht für Minos ausgegangen war, sperrte er den Erbauer des Labyrinthes: Daidalos in einen Turm. Er hatte ihn und seinen Sohn auch in das Labyrinth gesperrt, was selten dämmlich war. Niemand sollte die Wahrheit um den Minotaurus, Minos Frau, dem Geschenk Poseidons erfahren. Die eigene Frau verparrt sich mit einem Stier. Den Gott der Meere hatte er beschissen—man will nicht das so etwas zu den Ohren der Allgemeinbevölkerung gelangt. Deswegen Daidalos und Ikarus im Turm. Er war sauer auf seinen König. Was konnte Daidalos für die schmutzigen Geheimnisse des Königs? Einen Erfinder in einen Turm zu sperren, ist in etwa so clever, wie eine Fluchtwagen nicht voll zu tanken. Mag Minos das Land und das Meer versperren, jedoch steht der Himmel sicher offen. Auf diesem Weg werden wir gehen. Er mag alles besitzen, die Luft besitzt Minos aber nicht. So wurde Daidalos der erste Whistleblower. Viel später veröffentlichte eine kolumbianische Journalstin, die geliebte Escobars ein Buch über ihre Affäre mit Pablo und veröffentlichte darinnen auch seine Kontakte zu verschiedenen wichtigen Politkern. Das ganze eine Eklat. Das politische Nachbeben Escobars. So hat jeder seins.

Tag 02—Montag Nichts besseres auf Erden Besser Blumen, die welken, als welche, die gar nicht erst aufgehen.

E

r hatte sich Zitrusfrüchte auf ‘s Zimmer bestellt. Man hatte ihm gesagt, die liefere man nicht auf ‘s Zimmer, aber zum Frühstück könne man schauen, ob sich eine finden ließe. Es ist bereits nach Zehn. Er hat lange geschlafen. Er muss Kaugummis neben dem Nachtschrank aufsammeln. Die sind zu Boden gefallen. Gestern Nacht. Wer weiß, wann er neue kaufen kann. Die Frau am Telefon hatte sich über seinen Ton beschwert. Sie tue nur ihren Job. Sie habe die Regeln nicht gemacht. Sie müsse auflegen—Schichtende. Er wisse nicht, was an Zitronen auf ‘s Zimmer so regelwidrig sein solle. Keine Zitronen auf dem Zimmer, hatte sie in das hausinterne Telefon geschrien. Zwei Stockwerke unter ihm—er hat es aber nur einmal gehört. An der blumengekränzten Rezeption. Im Autobahnmotel. Dem Zielrichterturm. Stolz des Westens. Zwei Objekte des Stolzes nebeneinander AVUS und ICC. Das mit den Abkürzungen, macht man schon eine Weile so, bis man es perfektionierte und sich dafür schämte. Aber es ist so praktisch. Er könne aber ein Frühstück dazu buchen und dann Zitronen haben. Sie solle sich nicht im Ton vergreifen. Aber er hatte sich doch vorher… Beide unzufrieden und die Zitronen hatten sich keinen Millimeter bewegt. Er sitzt unten im Foyer und hat sich eine Zitrusfrucht vom Buffet geklaut. Das hat er nämlich nicht mit dazu gebucht. Zitronendieb. Könne er aber noch. Finger abhacken. Er fragt wo denn die Rezeptionistin sei. Ein Mann hinter der Rezeption sagt, was geht ihn denn das an. Er solle stecken lassen. Die Zitrone geht aufs Haus. Er sitzt in einem Sessel im Foyer. Guckt auf den Parkplatz. Die Blumen fangen an zu welken. Von einem Taxi weit und breit keine Spur. Besser sie welken, als dass sie gar nicht erst aufgehen. Besser man hat im Leben einmal eine gute Zeit. Nur Blumen die welken, tragen Früchte. Keine Spur vom Hellelfenbeinfarbigen Fahrzeug. Wachsende Früchte— Humbert Humbert, hätte es nicht besser sagen können.

N

ichts besseres auf Erden, als die Zeit seines Lebens in Depression zu verbringen und der Melancholiker kann es immer wieder tun, denn er lebt in der Vergangenheit. Wie sich das anfühlt, denkt sich der Fahrradkurier Tobias Nyström auf der Müllerstraße. Das Fahrrad macht ein Leerlauf-Geräusch. Friedhofsmauern und das Friedhofshaus auf der rechten Seite. Nyström lässt sich treiben. Fährt vorbei an der gemeinsamen Wohnung. Gegenüber vom alten Kino. Alhambra steht in großen Lettern auf dem Dach. Schließt nicht auf mit den fünfstöckigen Wohnhäusern, sondern verbleibt dort auf Höhe des Dritten— so genau erkennt man das nicht. Brandmauern stehen wie Wächter an den Flanken des Kinos. Seestraße Ecke Müllerstraße. Es fühlt sich komisch an, wenn er zwischen zwei Jobs auf dem Weg von einem zum anderen—Lieferung abliefern, abholen, in die Kuriertasche stecken, aus der Tasche holen, den Bund der Tasche lösen, auf dieses Springding drücken, die Schnur lösen und irgendwo stehen. Irgendein Laden, eine Wohnung, eine Lagerhalle fremd sein und sprechen. Mit fremden Leuten Deutsch sprechen. Manchmal aus Versehen schwedische Worte hinein-nuscheln. Viel sagt er nicht. Das Wort Lieferung verwendet er in jedem Satz. Ihre Lieferung. Die Lieferung. Habe Lieferung. Wo ist die Lieferung. Das kann keiner Sprechen nennen. Wenn er dann an seinem Zuhause vorbei fährt, fühlt sich das komisch an. Sozusagen Johanna passiert, an sie denkt, an das Stückchen fleischliche Heimat denkt, dann weckt diese Frau in ihm keine Heimatliche Gefühle. Er mochte Schweden nie und das hat nichts mit der Sprache zu tun. Johanna müde von der langen Nacht, dem lautem Sound—wie ein DJ-Freund Johanna‘s das immer sagt—, und dem Zigarettenqualm. Tobias versteht nicht, wieso Jemand sich in einem Bunker einsperrt—freiwillig einsperrt und Musik wie aus Geschützen hört. Er weiß nicht, wie es um die schwedische Marine steht, aber Johanna macht wohl einen guten Job. Ein Teil von ihm will nichts, als den Auftrag hinwerfen—die Lieferung auf dem Friedhof vergraben, er muss lachen, innerlich lachen. Denn er ist schon auf Höhe Amsterdamer Straße und zurück fahren, lohnt sich nicht. Ein Teil von ihm, will nichts als kurz nach oben zu Johanna. Ins Bett legen, kuscheln, vielleicht Sex. Er genießt die Freiheit auf dem Rad. Sie hasst den Kurierjob. Einmal war er mit im Tresor, wie der Laden heißt, wo Johanna immer hinfährt zum auflegen. Er ist auf der Bassbox eingeschlafen. Sie hat ihn geweckt. Es war bereits hell Draußen. Er trottete ihr hinter her. Das rollende Geräusch des Plattenkoffers. Eine Geräuschkulisse wie am Flughafen. Radfahrer, er schaut den Radfahrern nach. Johanna spricht aufgeregt. Hier in Berlin passiert was großes. Irgendwas hat sie geschafft. Er hat keine Ahnung, wovon sie redet. Irgendjemand hat was gesagt. Irgendein Typ mit drei Buchstaben findet sie gut. Die Musik, die sie macht sei gut. Von wilden Jahren spricht sie.

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Da hat Tobias zum ersten Mal gemerkt, sie leben in zwei verschiedenen Welten. Sie lacht über ihn, auf der Bassbox eingeschlafen. Bei dem Sound. Sound, wiederholt Tobias im Kopf. Sound. Zwei fremde in einer Stadt aus zwei verschiedenen Welten eines Landes, dass sie beide nicht mögen.

Ein Hellelfenbein farbiges Fahrzeug fährt auf den Parkplatz des Rasthofes und Motels an der AVUS. Schlichter schreckt aus seinem Sessel auf. Der Mann hinter der Rezeption—so verloren im Flackern des Monitors— bemerkt nicht wie der einzige Gast des Motels, das Haus verlässt. Hätte Schlichter einen Verfolger, würde es nun heißen: die Person verlasst das Gebäude. Ich wiederhole: die Person hat das Gebäude verlassen.

Eine blaue Eingangstür öffnet sich. Er steht auf einer Erhöhung. Minimalen Erhöhung aus roten Steinen. Das Taxi steht halb auf dem Bürgersteig halb auf dem Parkplatz neben Blumenkästen, einer Laterne und in Beton gefasste Sperrungen. Auf einem Schild: Fahrräder anschließen verboten. Die Sonne scheint. Schlichter blinzelt. Reibt sich die Augen. Schlürft unwillig auf das Taxi zu. Kniehohe Barrikaden, als hätte man das Motel befestigen wollen. Er beschwert sich nicht. Die Taxifahrerin hält ihm die Tür auf, als heiße sie Schlichter in eine neue Welt willkommen. Ein fettes Grinsen zieht sich über ihr Gesicht. In Fliegerjacke und Chinohose. Schlichter hat eine Tasse Kaffee aus dem Frühstücksraum entwendet. Niemanden kümmert das. Weder Frau noch Herrn Krüger. Er sitzt mit der gestohlenen Tasse Kaffee, die fast leer ist, im Taxi. Er habe der Frau am Steuer gesagt, sie solle erst Einmal los fahren. Ihm würde später einfallen wo er hin wolle. Udo Krüger sitzt noch immer an der Rezeption und starrt in den Bildschirm. Ab und zu drückt er eine Taste. Ab und zu gibt die ISDN-Anlage ein Geräusch von sich. Dann schaut er wieder in den Bildschirm. Man könnte das ganze Motel ausräumen, Udo Krüger würde es nicht Einmal Stunden später bemerken. Währenddessen Schlichter den Stoffbezug der Taxirückbank streichelt, “denke ich an uns, wie wir in Amsterdam sind.” Wie die vermeintlich Verliebten, ein verkrampfter Schlichter und seine Frau aus Hamburg irgendein ein Mittelklasse ***-Hotelzimmer beziehen. Da wäre zum Beispiel das Ramada Renaissance Hotel, vormals das Sonesta Hotel mit 425 Zimmern, Kostenpunkt 400 Gulden—etwa 355 DM pro Nacht. Kann jemand wie ein Schlichter sich das leisten? Eher nicht. Wie wäre es mit dem Doelen Karena auch ein schönes Haus und nur 45 Zimmer. Eines der ältesten Hotels in Amsterdam. Gerüchten zufolge, soll Rembrandt hier die Nachtwache gemalt haben. Das Hotel verfügt über einen Bootssteg. Ob auch über einen Bootsverleih, dazu ist nichts bekannt. Preis 200 Gulden die Nacht, macht 177 D-Mark. Wenn das immer noch zu teuer ist, dann empfiehlt sich das Linda. Das Linda ist genauso, wie es klingt. 17 Zimmer. Kein Restaurant. Heißt nicht jede holländische Hure Linda. Zimmerpreis die Nacht unter 150 Mark. Muss man als eine Linda in Amsterdam blond sein? Oder geht auch mal schwarze Haare? Was weiß Schlichter überhaupt über niederländische Huren. Er ist kein Reiseführer, hat sich informiert, wollte aber spontan entscheiden. Wer sich zwischen drei Wahlmöglichkeiten entscheiden will, der entscheidet nicht spontan, sondern der entscheidet zwischen drei Möglichkeiten. Schlichter ist so ein Mann, der sagt: überrasche mich, und dann will er doch selbst entscheiden. Der sagt, wir gehen in irgendein Restaurant, obwohl er sich schon informiert hat. Das Port van Cleve, soll ja auch ein wunderbares Haus sein. Aber wird er das je erfahren? Wird er nicht, weil er nicht geflogen ist, sondern mit irgendeiner fremden Taxifahrerin unterwegs ist. Er hat ihr schon auf ‘s Revers geschaut—aber da stand kein Name. Deswegen nennt er sie Fahrerin oder Taxifahrerin, reicht ja auch. Und wohin diese Taxifahrerin will, das weiß er auch nicht. Er schaut aus dem Fenster auf die Stadtautobahn. Es ist jetzt so ungefähr Mittag. Und er denkt an die Frau aus Hamburg und er stellt sich vor, wie es gewesen wäre mit der nach Amsterdam zu fliegen. Das ist der zweite Fehler. Schlichter und sie im Foyer des Hotels. Er den Handgepäckkoffer, der jetzt im Kofferraum liegt, in der Hand, sie an die Lehne eines Rollkoffers angelehnt. Wie ein Stock fragt er nach einem Zimmer. Und nachdem Preis. Und nach Rembrandt. Behaglicher alter Luxus, hatte es geheißen. Er sei nicht altmodisch, aber gebe es ein Zimmer für die Herren? Sonnenlicht am frühen Morgen, durch die Gardinen, der vom Boden abgehenden Fenster, flutet die knarzenden Holzdielen. Rille für Rille. Zentimeter für Zentimeter. Macht den Vorhang zu einer transparenten Schicht einer zweiter Haut. Erst die Flucht und dann sich mit der Vorstellung belohnen, das ist der zweite Fehler. Die Beiden im Bett, auf den Dielen, im Schatten, im Sonnenschein, an der Gardine—mal sehen ob die zwei Menschen halten kann—, gegen die Zimmertür gedrückt—ob man die beiden hören würde im ***-Hotel? Wenn man auf dem Verloursteppich des Flures schleicht. Kann man ein Geräusch machen auf Verlours? Dieses merkwürdige stumme Echo in mit Verlours ausgekleideten Fluren—wie eine stille Krise. Kann man überhaupt etwas sagen, wenn man ein Paar aus dem Zimmer hört, wie es miteinander schläft oder geht man daran vorbei und lacht in sich hinein und denkt an die eigene Frau oder legt man das Ohr ans Zimmer und gibt man dann vor, man wolle hören—ob alles in Ordnung sei oder ist man so frei und gibt zu, dass man es genießt ein fremdes deutsches Stöhnen zu hören. Die Deutschen stöhnen sonst so ordinär. Schlichter im Taxi stellt sich vor, sie würden ficken—er denkt tatsächlich: ficken—und Leute würde draußen die Beiden hören und aufgeschreckt zur Seite springen, als sie aus dem Zimmer kommen. Um am Nachmittag frühstücken zu gehen. Man hätte natürlich ein Hotel gewählt, an dem es den ganzen Tag Frühstück gibt, wie man sich eines hätte ausgesucht hätte, die Zitrusfrüchte auf ‘s Zimmer liefern und keinen Aufstand machen, verlangt man ähnliches. Fünf Menschen im Hotelflur des Amsterdamer ***-Hotels sind an die Wand gesprungen und unterhalten sich plötzlich lautstark über den Teppich und die Raufasertapete und wie schlecht das Frühstück sei. Der vorgestellte Schlichter im Kopf Schlichters sitzt an einem weiß bezogenem Tisch und beißt in die Lippen der Frau, wie in einen Apfel und macht ein Gesicht, als beiße er auf eine Zitrone. Die beiden schleichen wieder auf

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er Berliner Turner A. W. wird Olympiasieger in Atlanta am Reck. Punktezahl: 9,850 Punkte. Damit verweist er K. D. aus Bulgarien auf den zweiten Rang. A.D. stellt sich die Heimreise so vor: Landung TXL schon im Flieger hatte er Interviews gegeben. Was auch tun 14 Stunden im Flieger. Wegen Zwischenstopp in Frankfurt. Auch für Olympiasieger gibt es keinen Direktflug. Und dann kommt er aus dem Flughafen und überall kreischende Fans. Mit Postkarten von ihm turnend auf dem Reck. Endlich Zuhause und er holt den Edding raus und klirrt die Unterschrift aufs eigene Gesicht.

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chlichter ist wieder zurück auf seinem Zimmer und schält die Zitrusfrucht. Gelbe Stücke der Schalen fallen zu Boden. Und er beißt in das nackte Fleisch, wie in eine Orange. Er findet noch zwei Kaugummis unter dem Bett und schmeißt sie bedächtig in seine Kaugummidose aus Plastik—die gibt es jetzt an jeder Tankstelle. Schließt sie und drückt sie an seine Brust, wie einen liebgewonnen Gegenstand. Öffnet die Dose und schluckt die beiden gerade eingeworfenen Kaugummis. Man weiß ja nie. Er verlässt das Zimmer. Seine Klamotten riechen schon. Er geht zur Zimmertür hinaus, den Hotelflur entlang, hält seine Lederschuhe unter eine von diesen halb automatischen Schuhputzmaschinen und fragt sich, wie er das bis zum Ende der Woche aushalten soll. Wieder der Mann an der Rezeption. Schlichter fragt wo denn die liebreizende Kollegin wäre. Angestellte, korrigierte der Mann. Warum er die nicht einfach feuere, fragt Schlichter, der dieses Mal schnell geschaltet hat. Drei Monate. Wie, fragt Schlichter. Drei Monate Kündigungsfrist. Lohnt sich nicht. Dann lässt die sich zwei Monate krankschreiben und er müsse sechs Wochen Gehalt zahlen. Da kann sie auch gleich bleiben. Macht das auch schon ewig. Gerade deswegen, meint Schlichter, der sich gern mit Fremden befreundet. Wie sie heiße. Krüger, sagt der Mann, inzwischen in den Monitor starrend. Haben Sie da auch Internet, fragt Schlichter. Der Mann lacht. Internet. Er habe ISDN. Schweigeminute. Beide Männer starren durch die Lobby des Motels. Gerade neu, sagt der Mann. Dieses Jahr sei ja besonders brisant. Telekommunikationsgesetz, spricht Schlichter nach. Telekommunikationsgesetz. Da kann sich T-Online ihre 5 Pfennig pro Minute in den Arsch schieben, wenn AOL erstmal kommt, meint der Mann und lacht. 10 Pfennig für eine Email, ist doch ein Scherz. Highspeed Internet hat er. 800 Mark hat er für das ISDN gezahlt mit Anschluss und Telefonanlage—ein Schnäppchen. Andere zahlen dafür glatt 1000. Aber es sei die Sache Wert. Das Internet hat Zukunft. Schlichter meint, er glaubt nicht an die Zukunft.

Die Nacht ist nichts für ihn. Johanna und er sind wie zwei Tiere, der selben Gattung, aber unterschiedlicher Art. Er die Tages-, sie die Nachtversion. Jeder seine Nische. Jeder nach seiner Fasson. Aber nicht jedem das Seine. Das sagt man heute nicht mehr. Hatte man ihm gesagt, als eine Frau meinte, dass wäre nicht ihre Lieferung und er: jedem das—. Er ist auch schon vorbei am Friedhof und hat Johanna liegen gelassen—wo sie ist. Sie wird es so oder so nicht wissen. Und sagen wird er es ihr auch nicht, das wäre ja wie Öl ins Feuer kippen. Eigentor. Sprung die Klippe runter. Schuss ins Klo. Griff in den Ofen. Und Feuer gibt es bekanntlich ermaßen schon genug. Er soll in der Firma ihres Vaters anfangen, statt mit dem Fahrrad durch die Stadt rasen. Der hat einen Vertrieb in Stockholm und jetzt eine Fiale in Berlin. Aber daran denkt Tobias nicht und passiert die Utrechter Straße und kommt auf dem Leopoldplatz zum stehen. Holt einen Stadtplan aus der Arschtasche. Faltet den Plan auseinander. Weiße Linien, Risse, dort wo der Plan gefaltet wird. Irgendwo hier muss es sein. Fahrradkurier kein besonders dankbarer Job. Er fragt sich, wie es sich wohl anfühlt in New York Fahrradkurier zu sein. Die Brooklynbridge. Chinatown. In sechs Spuren verschwinden. DJ, denkt er, kann man auch da sein. Vielleicht hört man drüben andere Musik, aber ist das nicht wie ein anderes Fahrrad fahren? Er hat gehört die New Yorker, hätten keine Bremsen an ihren Rädern. Johanna hat sich eine Zahnbürste aus Bambus gekauft und putzt sich die Zähne. Es ist kurz nach zehn. Der Mann im Laden meinte, die Araber hätten das schon vor tausend Jahren erfunden. Sie hat aber vergessen, dass der Zahnbürstenbaum Miswak heißt Sie hat ihre hölzerne Bürste im Mund und schaut aus dem Fenster. Manchmal sieht sie Tobias dort auf den Treppen des Kinos Alhambra Pause machen. Dann ärgert sie sich, dass er nicht hoch kommt. Freut sich aber auch, dass sie ihren Freund ungestört beobachten kann. Nichts besseres auf Erden als das.

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das Zimmer—als wäre der Eingang des Hotel ein Schloss zur Keuschheit—und wieder stellen sich fünf Leute an die Tür und horchen, ob alles in Ordnung ist, nur einer sagt—er hört fremden Menschen gern beim Sex zu. Einmal sich dieses Gefühl einbilden, denkt Schlichter im Taxi. Einmal die Hand eines geliebten Menschen auf der Brust spüren, denkt er auf der Stadtautobahn. Einmal mit den Fingerspitzen diese anderen reiz-empfindlichen Fingerspitzen fühlen und einmal sich eine Zone von Zweisamkeit schaffen. Einmal echt sein, denkt er sich und ist irritiert von Autobahnschildern, die nach Hamburg weisen. Früher Abend im Amsterdamer ***-Hotel, die Beiden geschlaucht und durchgevöglelt stolzieren aus dem Zimmer—vor der Tür Abdrücke im Teppich und zwar von fünf Menschen—lassen sich nicht stören von den neuen Stalkern und treten raus auf die Promenaden laufe die Grachten ab. Ein Paar Hände spielt entweder die Bettszene oder eine Szene aus dem Wrestling nach. Hulk Hogan gegen Mickey Rourke, den heutzutage niemand mehr sehen will. Die Händen spielen überlegen und unterlegen, wie eine Fähre beladen mit Autos und Menschen, vorgibt unterzugehen. Augenscheinlich vermischt Schlichter hier ganz ungewollt die frische Erinnerung an das Motel an der AVUS mit einer Vorstellung über ein Hotel in Amsterdam, in dem er nie gewesen ist. “Hausgemachte Verzweiflung ist das”, meint Ernst Edwin Schlichter. Wie etwas, was man mal hasste—ganz unvermindert und urplötzlich lieben und es die ganze Zeit über wissen, dass man es eigentlich hasst. Und Schlichter sagt: “Diese gott-verdammte scheiß Reaktanz versaut mir das Leben.” Die Fahrerin schaut geradeaus, sieht aus als würde sie die gestrichelten Stücke der Fahrbahnmarkierung zählen. Sie fahren nicht vorbei an der Tribüne. An den Holzsitzen, der Avus-Rennstrecke. Und wenn, Schlichter würde das Fenster des Taxis herunter-kurbeln, seinen gesamten Oberkörper aus dem Vehikel lehnen und klatschen und jubeln—aber sie fahren zunächst auf der 100, bis daraus die 111 wird, vorbei am Flughafen Tegel. Aber Schlichter hat schon vergessen—ist versunken in Gedanken, die schizoide Position—was gewesen ist. Hat vergessen—er hat die Frau aus Hamburg stehen lassen—in Gedanken an die Frau aus Hamburg. Die Beiden in Amsterdam. Als wäre es nur ein Traum, Illusion, nichts was besser ist auf dieser Welt, als Dinge, die er nicht erreichen kann. Und kann er sie erreichen, bringt er sich aus der Schusslinie—zuweilen in notorische, eklatante und blinde Wallfahrten und Kreuzzüge . Im Radio heißt es: Präsident Mubarak aus Ägypten reist diese Woche nach Washington und will mit Bill klären, die neue Israelische Regierung darf den Frieden in Mittelost nicht verzögern. Die Ermittler des FBI‘s sagen, sie hätten begonnen erste Phantombilder Verdächtiger des Olympia-Rohrbomben-Attentats zu erstellen. Atlanta ist besorgt über das Image der Stadt nach den Spielen. Die Nachrichtenreporterin hat Image gesagt. Das ganze Bosnien-Jugoslawien-Problem dominierte seine gesamte Amtszeit. Das Problem, sagt man, seien gar nicht die Passagiere, die etwa einen Anschlag auf die TWA 800 hatten ausüben können, sondern die Angestellten. Der Schwachpunkt jeder Sicherheitskontrolle ist der Sicherheitsbeamte. Richard Jewell, Sicherheitsbeamter und der Retter von Atlanta gibt Interviews. Jeder hätte diesen Rucksack entdecken können. Er war nur wachsam. Es war sein Job. Es war auch schrecklich für ihn. Das Taxi verlässt Berlin. Leute die Bescheid wissen, die Ahnung haben, Experten sagen: das vordere Ende des Flugzeuges (TWA 800) sei weggebrochen und in den Atlantik eingetaucht, während der Rest des Flugvehikels noch durch die Luft brauste, bis das ganze Ding—Sekunden später—in einem enormen Feuerball explodierte, verbrannten—wie ein Weckruf direkt aus der Hölle, spricht eine weibliche Radiostimme im leeren Foyer des AVUS-Motels. Sabine Krüger liegt zwei Stockwerke über dem Foyer im Bett und kann nicht schlafen. Das ist die reinste Ironie, würde sie denken, würde sie solche Worte benutzen. Stattdessen flucht sie und verflucht ihren Körper. Dass sie immer dann müde ist, wenn sie arbeiten muss und dann hellwach ist, wenn sie endlich schlafen darf. Die reinste Ironie, würde sie denken.

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do Krüger steht nicht gern früh auf. Udo Krüger schläft gern aus. Er schläft gern lang. Seine Frau Sabine Krüger ist dann meist schon auf. Meist steht Udo nicht später als um zehn auf, aber auch nicht früher. Vor zehn wäre ja noch halb in der Nacht. Nur Verrückte stehen in der Nacht auf oder die, die es werden wollen. Deswegen nicht vor zehn—damit das schon mal klar ist—wie seine Frau, aber die ist auch eine Getriebene. Hauptsächlich von ihm getrieben. Jede Nacht in einem anderem Zimmer schlafen hatte er ihr gesagt. Udo mag klare Sachen. Wenn er dann um zehn aufgestanden ist, macht er sich einen Tee. Das Bewerbungsgespräch war mehr ein Überreden. Sozusagen Heiratsmitgift. Die Frau verpflichtet sich im Motel des Mannes zu arbeiten. Udo macht sich um zehn nach zehn nicht irgendeinen Tee. Bitte, bitte nur für ein paar Wochen, hatte er ihr gesagt. Er hat ein Geheimrezept. Hauptsächlich ist es aber schwarzer Tee. Das ist jetzt ein paar Jahre her und Sabine sitzt noch immer jeden Tag hinter der Rezeption. Mit einer Tasse Geheimnis-Tee sitz Udo dann vor seinem PC und folgt einem weißen Text auf blauem oder weißem Hintergrund. Das ist der Quellcode hatte er mal zu Sabine gesagt, die aber nur innerlich lachte und auf den alten Katalog schaute und wieder innerlich lachte.

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Das muss schon am Nachmittag gewesen sein. Sabine schläft meist bis zum späten Nachmittag, nach einer Nachtschicht. Wie ein Vampir lebe sie, hatte sie Udo mal vorgeworfen. Udo die Tagesschicht, sie die Nachtschicht. Manchmal drehen sie das auch um. Eigentlich ist es Udo egal, wann er hinter dem Tresen steht. Er macht das selbe wie im Zimmer oben—am PC unten an der Rezeption. Das war ja auch der Hauptgrund, warum er einen PC nach unten gestellt hat. Damit er flexibel ist. Das war so teuer, dass er sich nur Sabine und sich selbst leisten konnte und eine Reinigungskraft, die ist eine Freundin von Sabine und putzt fast kostenlos. Sie heißt Jennifer. Nur für eine kurze Zeit, hatte Udo Jennifer gesagt. Das kann er gut, Menschen hinhalten. Macht sie jetzt seit Jahren. Dafür einmal in der Woche Frühstück kostenlos. Udo ist ein wahrer Mäzen der Putzkünste und so weiter. Manchmal muss er mit Sabine meckern, wenn das Rührei zu buttrig ist. Er war mal Kinder- und Jugendmodel gewesen, im Otto-Katalog, dann wuchsen seine Augen asymmetrisch. Eines etwas höher als das andere. Das hat man auch schon als Kind an ihm gesehen, fand man aber noch süß, wie es heißt. Als Erwachsener suchte er diesen in der Jugend herausgebildete Makel zu kompensieren. Wie das mit Kompensation häufig ist—funktioniert nur auf den ersten Blick. Als er sich einen Bart wachsen lassen konnte, tat er das nicht, aber er ließ sich Koteletten stehen. Asymmetrische Koteletten spiegelbildlich zu den Augen. Für eine Gesamtsymmetrie. Aus der Modellkartei hat man ihn trotzdem rausgeschmissen. Den Katalog bekommt er noch immer zugeschickt. Er ist nicht nachtragend und benutzt ihn als Mousepad. Weil die Maus so oft über sein Gesicht gefahren ist, ist dort eine weiße Fläche, wo mal das Gesicht des 15 Jährigen Udo Krügers den Katalog zierte. Nach ein paar Stunden vor dem Bildschirm—oben oder unten—bekommt er meist Hunger. Er findet, wenn er schon fünf Stunden gesessen hat und seine Augen viereckig geworden waren und er egal wo er hinschaut blaue und weiße Flächen sieht, dann macht er seine Pause. Udo kommt aus Österreich, genauer: Wien. Computer sind die Zukunft hatte er zu Sabine gesagt, die Zukunft und sie lachte innerlich. Er hat aber keinen Dialekt oder Akzent. Seine Pause verbringt er beim Fleischer in der Nähe vom Motel. Die Fleischerei in der Westfälischenstraße gibt es schon seit 1874. 20 Minuten Fußweg oder Elf Minuten mit der Bahn. Ist aber nur eine Station. Von Westkreuz bis Halensee. Da kauft sich Udo meist keine Fahrkarte. Da isst er Bratkartoffeln und Kassler. Wo Udo herkommt heißt das Selchkarree. In Wien hatte er ein Internetcafe, aber niemand wusste was damit anzufangen. Das war in einer guten Gegend in der Nähe der Albertina. Er mag den Fleischer, wegen den derben Gesprächen der Arbeiter, die auch ihre Nachmittagspause dort verbringen. Es könnte so schön sein, denkt Udo die Gabel ins Kassler schiebend, wie in einen alten Autoreifen, wären da nicht die Kinder. Seit einer Weile schon, gibt es eine Bände von drei, zwar liebreizenden, Mädchen aber auch genauso nervigen Bettlerinnen. Wenn man nicht genau aufpasst klauen sie einem das Stück Fleisch von der Gabel. Die Bauarbeiter sagen dann immer Achtung die Jugomädels kommen.

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obias Nyström kommt in einen alten Hinterhof irgendwo im Wedding. Baufällig, unsaniert, bröckelnde Fassade. Er schiebt das Fahrrad durch ein Hoftor. Kein Mensch hat hier Zeit und Geld in baufällige Fassaden zu investieren—wahrscheinlich ist das so, seit der Gründerzeit. Es gibt Einschusslöcher in den Wänden. Einen Moment denkt er, die Lieferung gehe an das Bestattungsinstitut im ersten Stockwerk. Die Einschusslöcher sind aber nicht aus der Gründerzeit, das weiß auch Tobias und der ist aus Stockholm und hat den zweiten Weltkrieg nur mal am Rande im Geschichtsunterricht gehabt. Einen Moment hat er Panik. Er liest im Schaufenster: Kompetent, Fair & Diskret—Bestattungen Franck Thom. Er hatte noch nie eine Nahtoderfahrung. Dann kramt er einen Zettel hervor. Der Stadtplan fällt dabei aus der Tasche. Der Zettel ist zusammengeknüllt. Es riecht nach Kohlebriketts im Hinterhof—Ende Juli. Ein bisschen schwarz sind die Wände des Hinterhofes auch. Er faltet den Zettel auseinander und glättet ihn auf seinem Fahrradsitz und liest Sommerfeld dritte Etage. Er ist erleichtert. Aber in Stockholm hatte er mal einen Fahrradunfall. Bevor er Johanna kennen lernte. Er hat ihr, aber nie was davon erzählt. Die Narbe auf der Schulter, hat er ihr erklärt und sie hat die Lüge geschluckt—White Lies—sei von einem Fenster, dass ihm mitten in der Nacht auf die Schulter gefallen sei. Wer oder was das Fenster aus den Angeln gehoben hat—er wisse es nicht. Wie von Geisterhand. Seitdem diese Narbe. Das Bett war rot am nächsten Morgen. Er hatte getrunken. Soviel zur Nahtod-erfahrung.

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do Krüger macht sich auf den Rückweg. Der Magen voll. Die Laune gut. Braucht man auch, um Sabines Stimmung abzufangen. Seitdem er den Fanklub gegründet hat, ist kaum noch Zeit für Sabine oder das Motel, dafür umso mehr für die AVUS. Geholfen hat es nichts. Die AVUS wird ein normales Stück Autobahn, ob Herr Krüger einen Fanklub gegründet hat oder nicht. Insgeheiem sagt Krüger, ist sein größte Angst, sich mal einen Sache zu widmen die keine Zukunft hat. Deswegen sitzt er Tagein Tagaus an seiner Homepage und bastelt bunte Buttons unter schwarz/weiß Bilder, die den einstigen Ruhm der Rennstrecke beweisen. Im laufe des dreiviertel Jahrhunderts seitdem die AVUS als Rennstrecke in Betrieb ist, haben sich einige Unfälle ereignet und einige davon waren tödlich. Nicht immer sind aber die Fahrer gestorben, einmal hat es auch zwei Studenten erwischt—im Zeitnehmerhäuschen. Das war 1926. Die wären jetzt sowieso fast Tod. Da macht es keinen Unterschied. Trotzdem hat Krüger keine Fotos von Unfällen in seinem Fanklub hochgeladen. Nicht zu vergessen, vor knapp einem Jahr:

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größerer Sprachvergleich

Massenkarambolage. Das DTM musste abgebrochen werden. Nur durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Kritik wurde laut. Man hatte die Strecke bereits aus dem Kalender des DTM gestrichen. Dann wieder rein genommen. Wegen großer Beschwerden. Massenkarambolage und das Wunder. Bei den gelben Engeln hieß es, die Strecke entspreche den Anforderungen. Für Krüger war das kein Wunder. Er saß oben im Zielrichterturm. Im besten Zimmer, welches er mit seiner Frau Sabine immer bezieht, wenn‘s den beiden zu gut geht und sie das Zimmer nicht vermieten müssen. Sie saß unten mit einem Schatten von Leuchten von Röhrenmonitor im Gesicht und er oben, schaute auf sein geliebtes Stück Asphalt und heulte—heimlich und jämmerlich. Später sagte er, er habe zu lange auf weißen Text auf blauem und auf schwarzen auf weißem Hintergrund geschaut.

Sex, sagt Henry. Der Sex ist das Problem. Und das Problem ist, dass er so gut danach ist. er letzte Streit zwischen Cleo und ihm. Er wollte nicht mit ihr zusammen duschen. Eine Lappalie sagt er. Aber manchmal entstehen aus Lappalien ganze Ehekriege. Er und Cleo hatten nicht vor zu heiraten. Das eigentlich Problem: Perianalthrombose. Henry hatte einen Blutgefüllten, angeschwollenen, nahezu mit eigenem Puls ausgestatteten Knoten im After. Beim Sitzen, beim gehen, wenn er mit Cleo schlief—es war egal—der Knoten schmerzte und zwar: höllisch. Als würde er, die um ihn gespannte Haut zerreißen. Er ließ sich nichts anmerken. Nur manchmal aß er sein beliebtes Rührei im stehen. Das wunderte Cleo. Aber sie fragte nicht nach. Sie war jemand, die ein ganzes Regelwerk an inoffiziellen nie ausgesprochenen Verhaltensregeln besaß. So oder so, erfuhr sie dann eher wenig. Ihre Strategie war: ein schlechtes Gewissen erzeugen. Der Perianalthrombose war das egal. Es war ihr auch egal, dass Cleo nicht einmal ahnte, dass sie existierte. Würde sie, sie würde die Händen über dem Kopf zusammen schlagen. Warum erst jetzt. Er hatte gedacht, es ginge von allein weg. Warum kein Arzt. Die Hände über dem Kopf. Es war ihm unangenehm. Ekelhaft. Sie würde es ekelhaft finden. Er kann ihr nichts erzählen, was sie ekelhaft finde. Finde sie etwas, dass sie ekelhaft finden könne—er könnte ihr keinen besseren Grund liefern, ihn zu verlassen. Er muss makellos sein. Er darf ihr keinen Grund geben. Cleo ist jemand, die einen Grund braucht, sich zu trennen. Am liebsten mag sie es, wenn man sich von ihr trennt. Sie ist nicht gut in Trennung. Hat es aber schon ein, zweimal gemacht—nie ohne

Grund. Eine verheimlichte Perianalthrombose wäre so ein Grund. Eine öffentliche aber auch. Der pulsierende und geschwollene Knoten in Henry’s After, war der kleine schmerzende Garant der Beziehung. Vollständig: Perianalvenenthrombose. Risikofaktor: sitzen auf kalten Flächen. Es wird diskutiert ob Hämorrhoiden Thrombosen begünstigen. Wie zur Diskussion steht, ob heftiges drücken zum herauspressen von Stuhlgang in Zusammenhang mit Analthrombosen steht. Es bräuchte dazu experimental Studien. Finde mal tausend Leute, denen du sagst: pressen Sie bitte doppelt so stark wie sie können. Bis es weh tut? Ja bitte, bis es weh tut. Tun Sie es, im Namen der Wissenschaft. Science kommt von, das heißt trennen und das Wort shit kommt auch von trennen, so teilen sich scheiße und Wissenschaft die selben Wurzeln. Aber nicht im Deutschen. Die Analthrombose an sich war aber gar nicht der Grund, warum er nicht mehr zusammen mit Cleo duschen wollte. Der Knoten ließ sich nämlich auch gut verstecken, wenn man nackt war. Man muss nur die Pobacken zusammen kneifen. Oder besser sich nicht den Rücken schrubben lassen. Das Problem hier, je stärker man diese zusammen kneift, desto eher platzt die Thrombose. Und eine geplatzte Perianalvenenthrombose könne man wahrlich schwerlich verheimlichen. Jemand muss schon blind sein, dass er nicht bemerkt, wenn Duschwasser sich rot—blutrot verfärbt. Die beiden stritten über zu heißes und zu kaltes Duschwasser. Irgendwie stand das auch spiegelbildlich für ihre gesamte Beziehung. Spiegelbildlich spiegelverkehrt, denn Cleo bevorzugte heißes—kochendes Wasser, wie Henry meinte. Er selbst war eher der sentimentale Kaltduscher. Stress. Immer wieder diskutiert man in der Wissenschaft, Stress könnte einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung der Thrombose haben. Die Idee: wer unter Stress steht, der presst stärker—aus Zeitdruck. Aber mal ehrlich kommt man da nicht vom Größten ins Kleinste, und umgedreht. Nicht jeder gestresste Mensch hat eine Thrombose im After. Das reichte ihr nicht. Dann duschen sie eben kälter. Ein anderes Problem der Wissenschaft: die Dunkelziffer. Man weiß überhaupt nicht, wie viele Thrombosen im Umlauf sind. Alles zu gefährlich, sagte Henry. Wir sind zu gefährlich. Cleo kam gerade aus der Dusche. Handtuch um die Brust gewickelt und eines als Turban auf dem Kopf. Gefährlich, fragt sie und holt ihre Haare aus dem Handtuch— Strähnen nass und schwer, liegen auf dem Handtuch um die Brust—um einen festeren Turban zu wickeln. Guckt ihn schief fragend an. Bei seinem Vater habe man—. Was denn sein Vater damit zu tun habe. Lässt ihn nicht ausreden. Er nicht. Aber? Der Tumor in seinem Kopf. Der was? Das Handtuch fiel zu Boden. Es war gelogen. Henry sagte, sein Vater wäre an einem Glioblastom—Gehirntumor gestorben. Das ist vererbbar. Was das mit ihnen zu tun habe? Er lässt sich auf das Sofa in der Fabriketage fallen. Hat eine Tasse schwarzen Tee mit Milch und Honig in der Hand. Und verzieht Schmerz verzogen, macht ein Gesicht als beiße er auf einen Zitrone und sagt: der Tee so heiß. Wer in einem Lügentest an einen Detektor angeschlossen wird und dort bescheissen will, der lege sich eine Reißzwecke in den Schuh unter den großen Zeh und wann immer er gefragt wird, trete er auf die Reißzwecke und antworte. Zu gefährlich für uns. Er kann nicht riskieren, dass sie ihn verlieren durch Raumforderung im Hirn. Die Wahrscheinlichkeit zu hoch. Dass er stirbt. Er kann nicht riskieren. Er soll nicht so einen Unsinn reden. Risiko. Zweiter Streit—ein Interessenkonflikt, klassisch. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Tumor. Irgendwann wird er wie ein Keil zwischen den Beiden treiben. Ihr müsste das doch ganz gut passen, jetzt wo sie nach Berlin fliegt. Er verstehe überhaupt nichts. Tränen, wenig Tränen, aber Tränen. Immerhin Tränen. Die Tränen sind das wichtigste. Ein ordentlicher Streit braucht Tränen. Keine Tränen kein Streit, so einfach ist das. Die Semi-Beziehung ist emotional zu risikoreich. Henry dachte, er müsse immerhin so ehrlich sein—wenn er schon die Analthrombose nicht erwähnen kann, dann wenigstens einen anderen Grund, aus dem großen Fundus an Gründen aus der Medizin. Er war der Meinung, das war ein cleverer Schachzug. Inzwischen ist Henry im Badezimmer und duscht oder so etwas ähnliches, was Menschen machen, die in der Dusche sitzen und nicht baden. Er hat mal gehört Sitzbäder helfen ungemein gegen Blut gefüllte Knoten im Afterbereich. Das soll das ganze wohl auflockern. Wie Witze über Sex in stockigen Gesprächen unter verklemmten und wenig gevögelten Männern. Das Blut sei ja geronnen in der Thrombose, zumindest zum Teil. Hatte er in der Bibliothek gelesen. Saß in der Dusche und lachte über sich. Es in die Bibliothek schaffen, aber für den Arzt keine Zeit haben. Da saß er und blätterte, als wäre es verboten, in Büchern über Krankheiten im Anusbereich. Illlustrationen inklusive, die sind alle gemalt und nicht fotografiert. Da fragt sich, wer malt Analthrombosen für Lehrbücher und ist das noch Kunst?

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ofia Sommerfeld liegt in ihrer Lieblingspose: auf der Seite, die Beine angewinkelt, den Kopf auf der Matratze vor dem Fenster und starrt in den Hinterhof. Halbwegs leblos. Gestern Nacht hatte sie es mal wieder versucht. Aber ihr Körper ist wohl inzwischen so etwas wie immun. Sie hat Schuhe an. Pumps. Sie sieht einen Mann, der ein Fahrrad über den Hof schiebt und einen Rucksack auf dem Rücken trägt. In Sichtweite Sofias lethargischen und apathisch Körpers liegt eine Visitenkarte. Sie hat ein Gesicht, wie kein zweites in Berlin. Rund beinahe kreisrund. Sommersprossen. Würde man e^s nicht besser wissen, ihr würde die spartanische Einrichtung einer Junkie-Wohnung reichen. Eher schmale Lippen. Was die Lippen an Volumen einbüßen, kompensieren die überschwängliche Augen, wie die einer Puppe oder der dieser japanischen Comics, die jetzt immer beliebter werden. Sie vergleicht den Namen auf dem Rucksack mit dem auf einer Visitenkarten und stellt fest—der Kurier. ”Das hat lange gedauert“, sagt sie und steht im Türrahmen. ”Lieferung“, sagt der Mann mit dem Fahrrad auf der Schulter. Ob er kein Schloss habe. Er sagt: habe Lieferung. Er kann das Fahrrad im Hof anschließen. Lieferung wohin. Im Hof. Sie lässt sich die Lieferung geben. Er braucht eine Unterschrift in einem kleinen Buch. Sie sagt, sie unterschreibt einen Scheiß, bevor sie nicht in das Paket gesehen hat. Er versteht nicht. Sie trägt keinen BH. Die Brust fällt ihr beim Anziehen der Schuhe, beinahe aus dem Top. Unnützes Verpackungspapier wirft sie zu Boden. Er schaut dem Papier nach, wie einer Feder, die gen Boden gleitet. Sie versucht in das neue Paar Pumps zu schlüpfen. Tobias Nyström schaut betreten über sie hinweg. Sie zieht ihr Hosenbein nach oben. Ihr Bein liegt frei, um ihr Fußgelenk trägt sich ein dünnes Goldkettchen und am Fuss den Stöckelschuh. Er soll mal hinschauen und ertappt sich dabei auf ihre Brust zu starren. Zwei weiche Körper, die ihren Weg aus dem Top suchen, schlackern bei jeder Bewegung. Sommerfelds Blick klebt an ihrem eigenen Fuß. Warum er nicht gucke, fragt sie ohne nach oben zu schauen. Andere Menschen sind für Sofia wie Chimären aus einer anderen Welt. Ob der Schuhe gut aussehe. Und das besonders, wenn sie nicht ihre Sprache sprechen. Tobias schaut auf das nackte Bein und errötet. Sie sagt, die passen nicht und läuft ein Stück, wie auf dem Laufsteg. Als wäre Tobias Modelscout und kein Fahrradkurier. Er ist peinlich berührt. Einmal bei Schiffer, Campbell, Crawford und Moss mitspielen. Einmal ganz oben sein. Ob er sich mal kurz hinknien kann. Sie lehnt wieder im Türrahmen. Tobias kniet vor Sofia. Das Fahrrad hat er gegen eine Wand gelehnt. Der Rucksack hängt am Lenker. Er hat ihren Hacken gegriffen. Ihr Fuß ist kalt. Er rüttelt am Schuh. Sie fällt beinahe um. Ein kleines Stück Schnur zieht Fäden. Sie meckert, er hätte die Schuhe ruiniert. Sofia Sommerfeld tritt den vor sich knienden. Die Tür fällt ins Schloss. Er sitzt im Hausflur. Die Haustür öffnet sich noch einmal und beide Schuhe fliegen aus der Wohnung in den Hausflur. Tobias schämt sich, dass er eine 16 Jährige attraktiv fand und erregt war. Das Gefühl vom kleinen Fuß noch immer in seiner Hand.

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Er denkt sich, er könne genauso gut ein Spiel daraus machen und sehen, ob Cleo sich mit ihm setzen würde. Henry sitzt in der Dusche und stellt sich vor, wie er und Cleo in der Dusche sitzen und seine Perianalthrombose versorgen. Ob sie ihn auch eine Creme zwischen die Backen schmiert, darüber denkt er nicht nach, oder nur wenig, weil es irgendwie unromantisch ist, wenn Paare so etwas machen. Es sei denn sie sind beide über 60, dann darf man sich schon Einmal medizinisch versorgen. “Dass du immer noch in dieser elendigen Fabrik wohnst,” klingt es von nebenan. “Jetzt gehst du erst einmal nach Berlin und dann schaust du mal, wenn du wieder kommst, dass du was vernünftiges machst.” Er hatte vergessen Cleo‘s Mutter hatte sich zum Besuch angemeldet und er war froh, dass er in der Dusche saß und die Thrombose badete und sein Unterbewusstsein ihn vor der Frau gerettet hatte. Henry und sie waren nicht die besten Freude, nicht die treusten Kameraden und nicht verlässlichsten Kollegen—nie miteinander warm geworden, wie man sagt. Hier von Hass zu sprechen, wäre übertrieben. “Und vielleicht einen Mann findest, der auch was Vernünftiges macht und dann könnt ihr euch auch eine bessere Wohnung leisten—überhaupt eine Wohnung”, sagt die Mutter Richtung Badezimmertür. So ist das: survival of the fittest. Und Cleo‘s Mutter hatte ein Gewichtsproblem, nicht zu sagen sie war fett. Survival of the —lassen wir das. Home alone. Henry allein zu Haus. Cleo und ihre Mutter sind gegangen. Er setzt sich nackt auf das Sofa, streckt die Beine aus und legt sich auf den Tisch. Leichter Anflug von Schmerz—auszuhalten. Steht noch einmal auf, öffnet das Fenster, holt einen Ventilator aus einem der Schlafzimmer, stellt ihn vor das Sofa und begibt sich wieder in Position—aber lauter und streckt sich dabei und macht Männer-geräusche, oder was er dafür hält. Lässt sich vom sommerlichen Wind und vom Ventilator trocknen. Die billigste Klimaanlage: duschen, nicht abtrocken, nass vor einen Ventilator setzen und Strom verschwenden. Aber an Strom verschwenden denkt heutzutage keiner. Nur Studenten-Hippies reden über erneuerbare Energien. Und das Zehn Jahre nach Tschernobyl. Ist Atomkraft in aller Munde und aller Steckdose. Ein paar Hundert Kilometer entfernt haben letztes Jahr 4000 solcher Studentenhippies demonstriert. Henry denkt, verrücktes Deutschland mit ihren Demos und Castortransporten. Er hat keine Ahnung wo sein Land sein Atommüll lagert und es ist ihm egal. Wind in sein Gesicht. Augen zu. Wind. Eine Fabriketage wie ein Zuhause. Er denkt an Cleo. Wie der Knoten gewachsen war, war aus einem kleinen Streit ein Krach geworden. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl Cleo könnte ihn verlassen. Zum ersten Mal hatte Cleo das Gefühl, Henry könnte meinen, das zwischen ihnen wäre so eine Langzeitbeziehung, mit Kindern Heiraten und co. Das ist das Problem wenn man unterschiedlich alt ist. Henry‘s Freundin Kate ist zu Besuch. Sie hat Heidelbeerkuchen mitgebracht. Beide sitzen auf dem Sofa in der Fabriketage. Es ist angenehm warm. Der Rotor des Ventilators ruht. Das ist Fenster ist noch immer offen und über den Kuchen fegt eine Brise sommerlicher Wind und verweht aufsteigenden Dunst aus zwei Tassen Tee mit Milch und Honig. Freunde sind die beiden eigentlich nicht. Also je nachdem was Freundschaft ist. Die beiden sind eher so etwas wie Kollegen. Auf dem Weg zum Arzt gesteht Cleo ihrer Mutter, dass sie nicht weiß, ob sie fliegen werde. Und die Mutter sagt, deswegen gehen wir ja zum Arzt. Henry ist Grafiker. Weil ein Grafiker einen PC braucht, sonst wäre er nämlich Künstler—Künstler will Henry nicht sein, die verdienen kein Geld—hat er sich ein Macintosh gekauft. Weil da die Farben soviel besser sind, als auf diesen umständlichen Röhren. Henry‘s Macintosh ist aber nicht irgendein Pc. Es ist ein Laptop. Ein tragbarer Pc. Wie ein Pc, aber zum mitnehmen. Heutzutage nehmen die Wenigsten irgendetwas mit. Man trinkt Kaffee in einem Café und arbeitet man mit dem Pc, dann macht man das an einem Schreibtisch, an dem dieser fest installiert ist. Man hat seine Rituale. Man tut die Dinge an ihren Orten. Man fährt von Ort zu Ort, von Ding zu Ding. Man würde sagen, das Leben ist unpraktisch. Aber frag mal einen Blinden, wie es ist zu sehen. In Amerika gibt es diese Kaffeekette seit den Siebzigern, die jetzt in den neunziger erst richtig durchstartet— aber in England noch keine Fiale eröffnet hat und es sieht auch nicht danach aus. Extern gesehen, was da intern abgeht, weiß man ja nicht. Aber jedenfalls diese Kaffeekette nennen wir sie Starbucks oder wie der Name war, verkauft Kaffee in Bechern—in Pappbechern— zum mitnehmen—to go— an. Eine Unverschämtheit ist das. Barbarentum. Kulturbaunaserei. Da rollt sich einem die Zunge—und zwar nicht weil der Kaffee zu heiß war. Aus Schnabeltassen trinkt der Ami seinen Kaffee, wie ein Kleinkind. Mit der Schnabeltasse geht der Ami ins Büro. Als die Türken vor Wien standen und wieder abgehauen sind und ihren Kaffee vor den Toren der Stadt liegen lassen haben—hat sich der Türke wohl kaum vorstellen können, dass der Ami seinen Kaffee mit Milchschaum—Cappuccino nennen die das, hierzulande und auch in England ist das ein weißes Pulver mit schwarzen oder braunen Punkten—aus einer Pappschnabeltasse trinkt. Der Osmane von damals hatte sich wohl kaum vorstellen können, ein Reich größer als das der Habsburger, trinkt seinen Kaffee aus einer Schnabeltasse. Schnabeltassenkaffee und Atombomben. Hätte der Osmane das gewusst, er hätte seinen Kaffee verbrannt. Den Macintosh, das muss man sagen, hat Henry von einem Kumpel. Dieser Kumpel dreht immer mal wieder krumme Dinger, wie man sagt. Wenn Henry was braucht, dann geht er zu seinem Kumpel Jens. Jens greift dann an den Glasrahmen seines Brillengestells und schiebt die Brille nach oben. Und nicht nur wegen der Vergrößerungs-

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Besser belegen-realistischer!

gläser bekommt er Augen, wie ein Frosch. Appendizitis hatte man zu Jens gesagt. Blinddarmentzündung zu sagen ist falsch, weil es sich nur um den Wurmfortsatz handelt und nicht der ganze Blinddarm handelt. Bei Fleischfressern, Carnivoren kann er ganz fehlen. Bei Pflanzenfressern, Herbivoren, kann er ausgeprägter sein, besonders bei Wiederkäuern. Man vermutet der Blinddarm spielt eine Rolle bei der Verdauung von faserreicher Nahrungsbestandteile, wie Gras. Weiterhin ist er eine Art Resevoir für die bakterielle Besiedlung des Dickdarms, hatte man Jens erklärt. Da war er noch Student aus Deutschland in einem englischen Krankenhaus. Und allen nannten ihn Jeans und dachten er sei Franzose. Jens meinte im Krankenhaus der Name komme von Johannes, seitdem nannte man ihn John. Wegen der Schmerzen schnitt man John, Jeans und Jens auf und stellte fest, der Wurmfortsatz, Blinddarm und Co. waren in bester Ordnung. Also nähte man ihn wieder zu und gab ihm Pflaster mit. Seitdem John, Jeans und Jens jeden Morgen Morphiumpflaster auf die Innenseite seines Oberschenkels klebt, ist er ein bisschen unzuverlässig. Seitdem er weiß, die Schmerzen kommen nicht vom Wurmfortsatz, die chronischen Schmerzen, muss man hier dazu sagen, seit dem jedenfalls hat er sich auch exmatrikuliert und sich auf Hehlerei spezialisiert. Das war einer dieser Zufälle, wie es sie eigentlich gar nicht gibt, denn sein Zimmernachbar im Krankenhaus, arbeitet bei dieser Computerfirma als Logistiker. Innerhalb der Firma rechnet man mit Fünf Prozent Schwund pro Monat. Als Logistiker ist es ihm ein besonderes Anliegen auch diese Fünf Prozent aufzuklären und zu kontrollieren. Und weil der Bekannte von John, Jeans und Jens ein guter Logistiker ist, und er die Kalkulation der Firma nicht in den Dreck ziehen will, weiß er woher die fünf Prozent Schwund kommen, hat sie beseitigt und mit einem inoffiziellen internen Geschäftszweig—ein echter Subunternehmer—ersetzt. John, Jeans und John freute sich, als der Zimmernachbar im Krankenhaus ihn fragte, ob er den Vertrieb übernehmen wolle. Setzt sofort einen Brief an die Uni auf. Man brauche ihn nicht mehr aufzuführen—er ist raus. Ein Glück für Henry, dass er Jens kennt. Natürlich sorgte er dafür, dass Cleo an dem Tag nicht da ist, wo Jens den Macintosh lieferte, das macht er immer: Hausbesuche—er weiß sich einen Kundenstamm aufzubauen. Die fünf Prozent müssen vertrieben werden. Das Ding hat mehr als Dreimonats Mieten gekostet. Die hatte Henry natürlich nicht. Aber Jens ist ein guter Kumpel und hat deswegen einen anderen Deal vorgeschlagen. Und das nur weil er ein so guter Vertriebler ist, fast zu schade um Wahr zu sein, hat er zu Henry gesagt: “besorg mir einfach was im Wert vom Powerbook und gut ist.” Henry überglücklich, weil ein bisschen Sachen zocken, kann er ganz gut. Die Fabrik macht es ihm auch einfach. So hat er, gerade wenn die Leute vom Set für den Tag fertig waren, die Fabrik abschlossen und Nachhause, ins Hotel, saufen oder sonstwo hingingen, die Tür zum Filmset aufgeschlossen und ein paar Sachen unauffällig mitgenommen. So Sachen, wo erst nach Wochen auffällt, dass sie weg sind. Mit Jens hat er eine Art Ratenzahlung in Naturalien ausgemacht. Zuletzt eine über zwei Meter große Schreibtischlampe. Für irgendeinen billigen Abklatsch von: Liebling ich habe die Kinder geschrumpft. Ganz ohne Geld, wie nach dem Krieg. Lustig, wenn man ein paar Jahre zurück denkt, haben sich die Großväter der beiden sicherlich gegenseitig abgeschossen. Aber so ist das im Wandel der Zeit. Das Powerbook in der Hand, die Lampe im Lieferwagen, erzählt John, Jeans und Jens Henry, es gebe jetzt ein Onlineportal, wo man die all die schönen Dinge verhökern kann. Kennt noch kein Schwein. Das Logo eine Reihe bunter Buchstaben. Ein Jahr hat Henry heimlich gesammelt und heimlich versteckt und an seinen Kumpel gegeben. Das war aber nicht so schwierig, weil in der alten Fabrik lässt sich immer irgendwo was verstecken. Der weiße Lieferwagen, die Lampe geladen, fährt davon. Jens Lieblingsspruch: “Ich verkaufe dir nichts, was du nicht brauchst.” All die schönen Dinge. Wie gut, dass es Leute wie John, Jeans und Jens gibt, die zu einem kommen und liefern. Da weiß man nicht so genau, wer fängt die Fliegen, das Netz oder die Spinne. Als John, Jeans und John und Henry sich verkracht haben. Irgendwas mit der Lampe. Die Filmfirma war auf ihn aufmerksam geworden und wollte die Lampe zurück. Verkauft Henry all den Schmott, den er so auf dem Set gezockt hatte, bei diesem Onlineauktionshaus. Irgendetwas mit bunten Buchstaben, was kein Arsch kennt. Deswegen kann man auch Diebesgut dort verzocken. Niemand kommt auf die Idee, Dinge übers Internet zu verkaufen. Es heißt das erste was man über das Auktionshaus verkauft hat, war ein kaputter Laserpointer. Laserpointer sind so eine neue Sache, die jeder haben muss. Manche haben auch Bildchen, Eulen, Delfine und Bäumchen. Manche andere haben nackten Frauen, die sie mit ihrem Laserpointer an die Wand werfen. 14 Dollar hat der kaputte Laserpointer gekostet. Das war in Amerika. Sicher hat das einer gekauft in der Hand ein Pappbecher Kaffee to go—wie man das sagt. Man erzählt sich, der Besitzer des Auktionshauses hat dann persönlich beim Käufer angerufen und gefragt, wieso er einen kaputten Laserpointer gekauft hat. Kurz, trocken und wenig befriedigend hat der gesagt, er sammele kaputte Laserpointer. An diesem Tag ist etwas neues in die Welt gekommen. Ein Portal für all den Schrott und für all die Leute, die gerne Schrott kaufen. Für alle Henry‘s, die gern mal was zocken und irgendwo verzocken müssen. So wandern Objekte aus einem Filmset in einer alten Londoner Fabrik um die ganze Welt. “Das ist mein reizendes Töchterchen Cleo.” “Nachname?”, fragt die Arzthelferin hinter der Rezeption.

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Cleo Arzt “Kidman. Sie heißt Cleo Kidman. Ganz ehrlich, es ist nur eine Routineuntersuchung nötig. Eine Kleinigkeit. Hätten wir eigentlich—”. Sie wird von der Schwester unterbrochen. “Über Untersuchung und Behandlungsindikation entscheidet die Ärztin.” “Ärztin?” “Ärztin.” “Behandlung”, springt die Mutter. “Welche Behandlung? Ich sag‘s Ihnen ganz ehrlich, meine Tochter braucht doch keine Behandlung. Nur einmal durchgecheckt werden muss sie.” “Also?”, fragt die Arzthelferin weniger genervt, als geduldig. “Also? Sie reden schon über Behandlung, aber wissen Sie mein Cleochen ist doch gar nicht krank.” Frau Mutter Kidman gab sich alle Mühe nicht zu sehr über-behütend zu wirken, was auch der Arzthelferin—anders als Cleo— nicht unbemerkt blieb. “Der Grund warum Sie hier sind?” “Also mein Töchterchen leidet schrecklich unter Flugangst”, lehnt sich die Mutter über die Theke flüstert der Arzthelferin zu, die sich auf ihrem Schreibtischstuhl auf Rollen von ihrem Schreibtisch leicht abstößt und nach hinten rollt und die anderen Patienten aufmerksam werden. “Flugangst”, ruft die Arzthelferin. Beide Cleo und ihre Mutter laufen rot an. Klares Machtgefälle. Fühlt sich gut an. Die Leute starren sie an. “Da haben Sie doch sicherlich”, spricht die Mutter und versucht Land und Boden zu gewinnen. Räuspert sich und wiederholt: “da haben Sie doch sicherlich ein Medikament. Wir denken es ist was organisch, ihre Großmutter das selbe Thema. Sicher das waren noch andere Maschinen und der Krieg hat ja auch einiges an Angst geschürt, aber auf jeden Fall organisch. ” Stille im Warteraum. Stille zwischen den Dreien. Cleo steht wie ein Schulmädchen ohne Uniform dazwischen, wie ein parentifiziertes Kind zwischen seinen Eltern. “Medikament?”, wiederholt die Arzthelferin. “Ja Medikament gegen die Flugangst.“ “Das muss Frau Doktor entscheiden.” Pause im Gespräch. Diese Art von Pause, wenn argumentativ aus der Diskussion nichts mehr zu holen war, wie aus einer ausgepressten Zitrone. “Haben Sie eigentlich keinen Arzt? Männlichen Arzt?”, fragt die Mutter überfällig. Cleo schweigt während des Gespräches. Die Arzthelferin hinter dem Tresen ignoriert den letzten Satz und bittet die beiden Platz zu nehmen. “Ich muss Ihnen ja nicht sagen, dass Angst die Organe schädigt. Ich sag‘s Ihnen ganz ehrlich, habe ich erst am Wochenende bei BBC gesehen. Zuviel Stress und Angst erzeugt Stress und Stress ist schlecht für das Immunsystem. Sie wollen meine Tochter nicht krank machen”, hier drohte die Mutter. Die beiden setzen sich in den Wartebereich. Eine Art Flur. Die Anderen Leute tun als ob sie nichts gehört haben. Drei Stühle nebeneinander werden unterbrochen von einem Tisch mit drei bis fünf Illustrierten. Die Mutter schnappt sich eine Ausgabe der Sun. Ein Bild vom Präsidenten mit der Hand im Gesicht. Er verkündet sein Beileid. Ein Bild von Rettungswagen. Ein Bild von einem Security Guard. Darunter steht: Richard Jewell. Held des Tages. Seit Sonntag die selben Bilder in der Presse. Cleo holt aus ihrer Tasche die Face. Schlägt ein Interview auf. Eine Frau steht an der Rezeption und spricht mit der Arzthelferin. Cleo‘s voluminöse Mutter hört aufmerksam zu. Gierig nach Informationen. Ihr Lieblingssatz: Ich sag‘s Ihnen ganz ehrlich.

nicht zwischen ihren Beinen. Hätte sonst auch nichts gebracht. Weißt du Kate, sagt Henry. Das Problem sagt Henry ist der Sex. Es gibt einfach keinen besseren Sex, wie nach einem ordentlichen Streit. Beide liegen nackt auf dem Sofa. Sperma trocknet und hinterlässt Schuppen auf der Oberschenkelhaut. Besonders nach einem gutem Streit. Gut heißt: Tränen, ein bisschen Gewalt, ein bisschen Zoff, ein bisschen rum-schreien, Türen knallen. Vor allem irgendetwas bio-chemisches passiert da und dann ist alles anders. Deine vertraute Freundin, die du quasi von innen und außen in und auswendig kennst, schmeckt anders, fühlt sich anders an. Ihr Speichel ist anders. Auch ihr vaginal Sekret ist anders. Alles salziger, würziger und eben anders, man kann es kaum beschrieben. Irgendetwas bewirken die Tränen und machen alles anders. Das ist das Problem nach einem ordentlich Streit fühlt sich alles so gut an. Dahingehend kann man schon sagen: Henry wäre streitsüchtig. Klassischer Moderatoreffekt, da geht es nicht um den Streit, sondern um das danach. Er hatte Cleo gesagt, wenn er was werden wolle muss er erst Einmal investieren. Wie Samen sähen und später ernten. Pass auf dass du keine Datteln sähst. Die kannst du zu Lebzeiten nicht mehr ernten. Besser du hältst dich an Bambus, statt Oliven. Manchmal glaube ich, sagte Henry, ich bin etwas zwischen Bambus, Dattel und Olive. Absurde Beispiele, Cleo von dem PC mit Apfellogo abzulenken.

Henry stach seine Gabel in das Stück Heidelbeerkuchen und Kate seine Freundin und Kollegin saß neben ihm und hörte zu, wie er zu seinem Macintosh gekommen war. Der Name John, Jens und Jeans fiel kein einziges Mal. Henry weiß wem er was erzählt. Eine schönes Ding, sagt sie zum Schluss. Dann starren beide auf den Bildschirm und reden irgendetwas über ihr Projekt. Auf zwei Papptellern liegen Krümmel. Einige Stellen der Pappe sind blau verfärbt. Unter der Couch Teppichboden, sonst in der Fabriketage Linoleum. Der Computer steht auf dem Couchtisch in der Fabriketage. Sein Bildschirm leuchtet, wie das Lagerfeuer der Moderne. Aber es gibt niemanden, der darum sitzt und sich wärmt. Kate und Henry auf der Couch. Reden nicht mehr miteinander. Penis in Vagina. Kate‘s linkes Bein über Henry‘s rechte Schulter. Über Sex kann man nur schreiben, ohne Genitalien zu erwähnen. Henry‘s stach sein Genital in Kate‘s Genital. Wie ein Mörser, der eine Fleischpampe zerkleinert, wie ein Götterspeise, die nie außer Form gerät. Nichts so unsinnig wie Sex. Nichts so unsinnig und wichtig wie Sex. Herumstochern. Auf der einen Seite Schneebesen auf der anderen Perianalthrombose und dann wieder Kuchenteig. Aufgeblähte Hefe. Sex ein aufgeblähtes Thema. Henry und seine Kollegin Kate, die er ab und zu mal fickt, liegen auf dem Sofa und halb auf dem Teppich. Der Ventilator pflichtbewusst. An Kate‘s Oberschenkel Sperma. Henry kann nicht mit Kondom kommen. Deswegen ficken die beiden erst ein paar Minuten. Dann wenn Kate gekommen ist, zieht Henry raus—aus Vagina und Kondom; two birds one stone—masturbiert und kommt auf Kate. Nichts so aufgeblasen. Er darf überall kommen nur

Cleo kommt aus dem Arztzimmer. Die Mutter vertieft in die Sun, springt auf. Die Zeitung auf dem Boden. Ruft durch die Praxis. Dir Arzthelferin schaut finster auf. Sie hat sich viele unwesentliche Details gemerkt. Auf dem Stethoskop der Ärztin stand ein anderer als ihr Hintername, was sofortig eine Gedankenreise auslöste, am Ende des Journeys war sie sich nicht sicher, ob das Stethoskop von dem Mann der Ärztin war oder von einem Bekannten oder bereits in Praxis gewesen war. Ihre Mutter hätte Angenommen, die Ärztin wäre gar keine Ärztin sondern eine als Ärztin verkleidete Schwester. Sie lachte innerlich. An schlechten Tagen sagt die Mutter solche Dinge auch noch, sie wolle jetzt den Arzt sprechen und ist das Versteckspiel satt. Sie selbst entschied sich für die erste Version, denn sie fand es romantisch wenn Mann und Frau den selben Beruf ausübten und Stethoskope tauschen. Der Drucker ein Epson MX-80, das hat sie sich gemerkt. Fünf Buchstaben schwarz hinterlegt, auf grau-beigen Untergrund. War ausgeschaltet­—indes sie im Zimmer war, Matrixdrucker, hat die Ärztin gesagt—ein Standardmodell, warum sie das interessiere. 15 Jahre alt sagt die Ärztin und klopft auf den Kasten. Habe ich übernommen. Wie das Stethoskop, fragt Cleo? An der Wand hing ein Kalender einer Ärzte-Zeitung. Das rote Quadrat war bereits auf den nächsten Tag gerückt. Notizen machte sich die Ärztin mit einem angestoßenen Kugelschreiber des Londoner Krankenhauses. Der Kittel der Ärztin war makellos. Ihre Mutter hätte hier wieder den Betrug geahnt—Cleo kicherte. In einer Bücherregal standen medizinische Bücher, wobei eines der Bücher auf deutsch war. So würde Cleos erstes Deutsche Wort: dann entdeckte sie noch 25 weitere der Kugelschreiber alle aus dem Krankenhaus. Cleo sagt nichts, zieht sich an und verlässt die Arztpraxis. Ihre Mutter hinterher und ruft der Arzthelferin noch zu: ich sag`s Ihnen ganz ehrlich, ich hoffe Sie haben meiner Tochter geholfen. Auf der Straße wird sie von ihrer Mutter eingeholt, die das selbe, wie in der Praxis, ruft. Ich sag‘s dir ganz ehrlich, ich hoffe das hat dir jetzt geholfen.x “Weißt du am Ende macht er das ganze Theater nur, weil er so einen kleinen Knoten am Po hat, dabei ist mir das egal—scheißegal.” Kein Wort von Flugangst. Kein Wort von Berlin. Keine Medikamente. Cleo lässt sich von ihrer Mutter nachhause nach Fahrrington in die Fabrik fahren. Warum sie das mit Henry schaffen muss. Die Mutter rechts von Cleo blickt auf die Straße. Kate zieht sich an und küsst Henry, der noch nackt breitbeinig auf dem Sofa liegt, zum Abschied auf den Penis. Sie sagt sie muss es einfach. Sie muss schaffen, dass er mit ihr zusammen bleibt. Warum ist ja die Frage, wird sie gefragt. Warum die Frage. Manchmal wenn sie es dann schafft, wenn sie das Gefühl hat sie schafft es. Dann weiß sie überhaupt nicht warum sie das schaffen muss. Aber solange sie es nicht schafft, gibt es die Frage nach dem Warum nicht. In anderen Worte, die Frage ist dann nicht warum muss ich es schaffen, sondern die Frage ist, warum habe ich es noch nicht geschafft. Datteln, Oliven und Bambus. Henry räumt auf. Versteckt Zeichen, die an Kate erinnern. Die Frage was Henry schaffen muss, damit Cleo mit ihm zusammen ist—die stellt sie nicht. Das Auto auf der Beech Street und Cleo schaut verträumt Richtung Barbican Estate. Henry geht noch einmal Duschen, bevor Cleo nach Hause kommt. Die Thrombose schmerzt ihn. Dreitstöckige Häuser in der Long Lane und der alte Meat-Market, das imposante Tor in den Fleischmarkt. Diesen Kondomgeruch abwaschen. Verräterischer Geruch. Irgendwie will sie es unbedingt und wenn sie dann darüber nach denkt, denkt sie: völlig schräg. Im Meatmarket hängen toten Schweine an Fleischerhaken. 800 Jahre steht der Market, wo er steht. Vor circa 130 Jahren 1868 hat man dem Markt ein permanentes Gebäude aufgesetzt. Der Archtitekt Horac Jones hat sich an italienischer Architektur orientiert. Auf sein Konto geht auch die Tower Bridge. Smithfield hinter ihnen die Mutter biegt rechts auf die East Poultry Road (Ost-Geflügel-Straße), rechts in die Charterhouse Street.

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eit zwei Stunden Schweigen im Taxi. Jeder nimmt sein Schicksal hin. Er vermutet inzwischen, dass die Taxifahrerin Richtung Rostock fährt. Er schaut aus dem Taxifenster heraus. Baustellen auf der Landstraße. Die Theorie war mal, man muss eine Sache nur oft genug wiederholen und man wird wie automatisch gut in ihr—das ist ein Trugschluss. Sie kommen nur langsam voran. Kommen ständig alle paar Meter zum Stehen. Draußen gibt es Kühe. Scheint als treten die Bäche und Flüsse über. Vögel auf riesigen Trassen von Strommasten bekommen keinen Stromschlag, weil sie nicht den Boden berühren. Man müsste eine Stange an die Leitungen der Strommasten legen. Einzelne Bauernhöfe beflecken die Landschaft, wie Öl auf Wasser schwimmt. Die Landstraße befreit sich von den Baustellen. Die Taxifahrerin sagt, sie fahre nicht gern Autobahn, selten gern Tempo Hundert oder darüber. Für Ende Juli ist es erstaunlich kalt. Lakonisch und spartanisch. “Meine Knochen fühlen sich an, als würde Säure sich in ihnen ablagern. Vielleicht habe ich den Kampf, um ja und nein, verloren.” Stupide Wälder langweilen. Grün ergraute Wiesen sind trist. Verlassene Ruinen von ehemaligen Nutzbauten öden an. KZ Sachsenhausen und die B96 geht mitten durch Oranienburg. 1646 heiratete der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm Luise Henriette von Oranien in Den Haag, dem damaligen und heutigen Regierungssitz des niederländischen Königshauses. Luise gebar ihm, neben fünf anderen Kindern, die alle jedoch nicht so alt wurden, Friedrich den dritten. 1657 knapp neun Jahre nach der Hochzeit. Der Junge seit 1701 der erste König von Preußen, nahm den Titel Friedrich den ersten an, obgleich er der dritte war, aber die anderen fünf waren so oder so tot und erlebten das Jahr 1700 nicht. Sieben Jahre vor der Geburt Friedrich des dritten ersten, 1650, schenkte Kurfürst Friedrich Wilhelm seiner Gemahlin das Kammergut Bötzow. Zwei Jahre später errichtete man dort ein Schloss im holländischen Stil, welches den Namen Oranienburg erhielt. Oranien war und ist der Name des niederländischen Königshauses. Ihre Anhänger nannte man mal Orangisten. Luise Henriette richtete in ihrem Schloss das erste europäische Porzellankabinett ein. OSRAM ein Kofferwort aus Osmium und Wolfram, beides Metalle die für die Glühfaden, durch ihren hohen Schmelzpunkt, in Frage kamen. Drei Jahrhunderte später wurde 1926 in Oranienburg von der Firma OSRAM ein Werk zu Herstellung von Leuchtfarben errichtet. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 gab es in Oranienburg zweierlei Veränderung die erste betraf die Firma OSRAM, die bis dato die Leuchtfarben herstellte und enteignet wurde. Ihr Nachfolger wurde die Firma Degussa, die heute unter dem Namen Degussa AG bekannt ist und in der Spezialchemie tätig ist. Degussa heißt Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt. Es heißt die Degussa und der Nationalsozialismus wären eng miteinander verwoben gewesen und das vor allem in Sachen Verfolgung und Beraubung der Juden. Weiterhin in der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung und in der Zwangs- und Sklavenarbeit und in der fabrikmäßigen Massenvernichtung der Juden. Anteile besaß die Firma ebenso an der Zyklon B Herstellung, allerdings nur zu circa einem Prozent. 1892 gründete man in Berlin die Deutsche Gasglühgesellschaft-Aktiengesellschaft, welche später einmal die Auergesellschaft wurde. Drei Jahre später wurde das Auerlicht zur Beleuchtung der Berliner Straßen eingeführt. Die Auergesellschaft übernahm 1938 die Werke in Oranienburg. So entstanden die Auer-Glaswerke. Dort stellte die Auergesellschaft auch eine Zahncreme, mit dem Namen Doramad, her. Die Zahncreme enthielt das Radioaktive Thorium-X. Zahnärzte damals bewarben die Zahncreme mit dem Slogan: strahlend weiße Zähne. Das Mittel versprach durch Radioaktive Strahlung unter anderem die Bakterientötung und Aufhellung der Zähne. Nach bekannt-werden der Radioaktiven-Zahncreme-Produktion bombardierten die Alliierten die Werke gezielt. Seitdem ist Oranienburg noch heute bundesweit der Ort mit der höchsten radioaktiven Belastung. Und die zweite Veränderung betraf das bereits erwähnte Konzentrationslager. Drei Jahre nach der Machtergrei-

fung und im Zuge der Auflösung der Lager: Esterwegen, Berlin-Columbia (in der Nähe des Columbiadamms und Flughafen Tempelhofs) und Lichtenburg, sollte im Norden Berlins ein neues KZ gebaut werden. Ziel war es ein, “vollkommen neuzeitliches, modernes und jederzeit erweiterbares” Lager zu errichten, Zitat Himmler. Beauftragt hatte man dafür den Architekten Bernhard Kuiper, der seine Fähigkeiten unter anderem im KZ Esterwegen unter Beweis gestellt hatte. Er plante ein gleichseitiges Dreieck in deren Fläche: das Häftlingslager, die Kommandantur und das SS-Truppenlager Platz fanden. Kuiper war selbst SS-Obersturmführer. Der Clou an der Sache: ein Wachturm mit Maschinengewehr sollte die in Ringen angeordneten Baracken erfassen können. Kuiper orientierte sich dabei an panoptischen Bauten, die auf den britischen Philosophen Jeremy Bentham, ein Angehöriger des klassischen Utilitarismuses, zurückgingen. Bentham beschäftigte sich mit der Frage, wie viele Menschen auf einmal von wenigen, wenn nicht gar einem Menschen, überwacht werden könnten. Seine Ergebnisse fanden Anwendung im Bau von Gefängnissen und Fabriken. Bentham starb 1832. Ob die Auer-Glaswerke einen panoptischen Einschlag hatte, konnte nicht herausgefunden werden. Ein Jahrhundert später bezeichnete Focault das panoptische Ordnungsprinzip als wesentlich für die westlich-liberale Kultur, welche er auch Disziplinierungsgesellschaft nannte. Letztlich war Himmler hellauf begeistert über sein neues Konzentrationslager, auch wenn sich herausstellte, dass Lager war nicht annähernd so erweiterbar, wie erhofft. Man fragt sich, was einer, wie Bernhard Kuiper seinen Kindern und Frau am Abendbrottisch erzählte— gute Nachrichten Familie, ich baue eine KZ, wir müssen nicht einmal umziehen! Dann stehen die Kinder und Frau und reihen sie brav auf und eines nach dem anderem umarmt den Vater, der am Kopf des Tisches sitzt Messer und Gabel in der Hand und zuletzt umarmt die Mutter den Vater, der bis dahin, wie eingefroren die Umarmungen erduldete, sein Besteck ins Aspik sinken lässt und seiner Frau vor den Kinder kräftig auf den Arsch schlägt, dass die gesamte Belegschaft leicht, mehr in sich, erzitterte. Den Arsch, den er Später penetrierte, an Ort und Stelle. Die Mutter sich in der Tischdecke festkrallte, den Schmerz ertrug. Drei Kinder sind genug. Die Produktion der Zahncreme Doramad wurde im Übrigen 1945 eingestellt. Mehr oder minder hatte man erkannt, am Beispiel Hiroshimas und Nagasakis, Radioaktive Stoffe haben nichts im Mund der Menschen zu suchen—mit oder ohne strahlend weißen Zähne. Wieder eine Stunde später im hellelfenbeinfarbigen Benz mit Hufeisen im Kühler, kündigt die Taxifahrerin Schlichter an, sie brauche eine Pause. Irgendwo auf der B96. Keine Menschenseele hier. Er sagt, er wolle das gleich nutzen, um zu schauen, wo sie seien. Schlichter in der Pampa, wie jemand, der noch nie die Großstadt verlassen hat. Landstraße, Bäume säumen die Allee, hinter jeder Baumreihe ein Feld. Ein Traktor auf dem einen, eine Vogelscheuche auf dem anderen Feld. Trostloses Idyll. Monotones Paradies der Mecklenburger. S. steht zwischen Straßen und Feld. Akazienduft, den Schlichter nicht zuordnen kann. Die Taxifahrerin greift zum Glove-compartment und holt ein glänzendes Stück Metall aus dem Fach. Er blinzelt reibt sich die Augen. Seit Stunden kreist über der Landschaft eines dieser alten Flugzeuge drei Propeller, jeweils dreiblättrig. Mindestens zweihundert Meter verzögerte Geräuschentwicklung, zieht das Flugzeug das Dröhnen der alten Kolbenmotoren hinter sich her, wie ein Plakat mit Gruß. Immer wieder zieht der silberbäuchige Vogel Kreise. Schlichters Augen kleben an der Bauchseite. Er dreht sich zur Taxifahrerin um—sie isst ein Käsebrot, halb eingepackt in Alufolie. Das Flugzeug sieht beinahe einer Super Constellation ähnlich und Schlichter hält sich den Bauch. Das Dröhnen, wie ein sanfter Presslufthammer, lässt Schlichtes fragile Magenschleimhaut erzittern. Definitiv Magenschmerz und kein Hunger, denkt er. Nicht nur das Gefühl einen Magen zu haben. Definitiv Schmerzen. Dröhnen. Käsebrot. Er öffnet die Beifahrertür, das Glove-compartment—wird beobachtet hinter dem Käsebrot—holt die Dose Kaugummi heraus. Schaut mehr die Frau mit den rossbraunen Haaren, Wimpern und Brauen und Sprossen und Leberflecke im Gesicht, neben ihm an, als in das Fach. Ein Klacken und sie springt auf. Träufelt sich hinter vorgehaltener Hand ein paar weiße kaugummiartige Gebilde in die Hand und schluckt sie. Wiederholt alles in umgekehrter Reihenfolge—sieht wieder nicht hin, verheimlicht sich das Fach, den Blick in es—und steht wieder vor dem Taxi. Der Stern auf der Motorhaube, wie ein Gewehrvisier fixiert ihn. Das Flugzeug macht einen Bogen, reflektiert Sonnenlicht, blendet Schlichter und er reibt sich die Augen. Eine Geste, die er am Tag nicht nur einmal macht. Wo sie heute Nacht schlafen. Ein Kugel Alufolie neben dem Auto. Ob sie schon einmal hier war. Eine Serviette aus dem Avusmotel wischt letzte Krümmel vom Mund. Ob er auch zahlen müsse, wenn sie schlafe. Und landet neben dem Kügelchen Alufolie. Ob sie im selben Zimmer schlafen. Eine zarte Hand, aus dem ledernen Ärmel einer Fliegerjacke geht ans Glove-compartment, Schlichter drückt sich in den Sitz—er ist ein höflicher Mensch. Schaut gerade aus die Allee entlang. Zwei geschickte Hände drehen binnen Sekunden eine schmale Zigarette. Das Geräusch von Streichholz trifft auf Reibefläche. Sie bläst den ersten Rauch aus dem Fenster—Fahrerseite—und die Antwort lautet ja. Die Taxifahrerin raucht die Zigarette auf und in der Mitte der Zweiten fragt sie, wohin die Beiden als nächstes fahren wollen. Schlichter schlägt vor: sie solle sich die schönste Straße aussuchen, die sie sich vorstellen kann. Sie solle den alten Benz mal richtig ausfahren. Ordentlich einheizen. Ihn auf Herz und Nieren testen und mal sehen, was er alles

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Dann wieder so ein Morgen, wo er nicht mit ihr Duschen will und gar nichts ist mehr schräg. Sie hat das Gefühl sie läuft auf der Zielgeraden und kommt nicht an. Immer ein Stück zu weit entfernt. Immer fühlt es sich nach ein paar Metern an. Die Frage: ob auch andere was schaffen müssen, damit wieder andere Leute mit denen zusammen sind oder bleiben, die stellt sie sich auch nicht. Saint John Street, Cleo steigt aus. Mutter und Tochter sprechen an diesem Nachmittag nicht mehr viel mit einander. Niemand würde hinter den verrammelten Türen der alten Glasmanufaktur und dem angestaubten viktorianischen Gebäude Menschen vermuten, die hier wohnen. Cleo läuft die dunklen Treppen nach oben. Sie öffnet die Tür zur Etage, die ihre Wohnung ist, der sonst unbewohnbaren Fabrik. Ihr Lieblingslied läuft. Ein Geruch von Kuchen, den sie nicht zu ordnen kann. Die Fenster sind geschlossen. Der Ventilator und sein schweigendes Rotorblatt stehen neben dem Sofa. Henry starrt in seinen Computer. Sie steht in Mantel und Schuhen im Türrahmen, als könne sie nicht entscheiden—ankommen oder gehen. Tippen. Henry tippt eifrig in seine Tasten. Als hätte er den Moment vorbereitet, schaut er vom Computer ab, fixiert jäh Cleo, weicht vor ihrem Blick aus, findet sich draußen vor dem Fenster. Niemand da draußen würde ahnen, die beiden wohnen hier. “Ich habe dich an der Hand so vieler Männer gesehen und ich wusste—jedes Mal—es ist eine Illusion.” Cleo im Türrahmen.

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so mitmache. “Heute ist dein Tag!”, ruft Ernst Edwin Schlichter zum Schluss kränklich laut aus, lächelt falsch, schaut zu Bode gen Fußraum und klopft der Fahrerin lachend auf die Schulter, als würden sich die beiden seit Jahren kennen. “Ich bin, ein tanzendes Kind, das Streichhölzer auf einen Benzin überfluteten Boden wirft.” Er muss eingeschlafen sein, sie fahren aber noch. Seine Beine liegen auf der Rückbank ausgestreckt. Das Avusmotel liegt weit hinter ihnen. Auch von der Autobahn keine Spur. Er ist nicht unbedingt müde, aber als Beifahrer im Auto schlafen, ist wie eine grundlegende Müdigkeit ausgleichen. Ein Fluchtversuch aus dem Gefängnis—durch die Gitter schielen, mit dem Unterkiefer auf die Oberlippe beißen und sich von seinem Leben erholen. “Ich fragte meine Fahrerin, wo wir hinfahren. Bekam keine Antwort. Ob es dort schön ist. Keine Antwort. Ob sie dort jemanden kenne. Keine Antwort.” Schlichter kann Stille nicht gut ertragen, er braucht immer ein Geräusch, eine Stimme, die vor sich hin redet, eine Musik, die vor sich hin spielt. Ohne geht es nicht. Geht es einfach nicht, sagt er. Von der Rückbank aus schaltet er das Radio ein. Der älteste Mann Berlins Herr P. aus der Gartenstadt Staaken in Spandau feiert im Kreis der Familie seinen 103. Geburtstag. Mit einer ausgezeichneten Leistung wird der Turner A. W., Olympiasieger am Reck. Er wurde ruhig im Kreise der Familie begrüßt und vermied jegliche Interviews. Noch immer liegt der Schatten von Samstagnacht über den Spielen. Der Radiomoderator spricht von dem Attentat—es war der neunte Tag der Spiele—spricht vom Held Richard Jewell, spricht von den Nägeln gefüllten Rohrbombe, spricht von den zwei toten und über hundert verletzten. Spricht von einem Unglück. Spricht von the games will go on, in schrecklichem deutschem Akzent. Die Angst wächst. Anschlag oder Unglück. Bis heute ist die Absturzursache der TWA 800 nicht geklärt. Ein Herr O‘Reilly war einer der ersten, der mit seinem Boot die Absturzstelle, vor der Küste Long Islands, erreicht hatte. Er kam um zu helfen, dachte er könne jemanden retten. Jeder sein eigener Epos. Jewell und O‘Reilly. Seine Hoffnung erlosch, als er die Flammen aus brennenden Kerosin sah. Der Atlantik spiegelglatt. Die Wellen der Flammen sieben Meter hoch. Fotoalben, Feuerlöscher, Kissen, Stofftiere, Rucksäcke und Brieftaschen trieben ihm entgegen, wie Boten, die sagten hier gibt es nichts mehr zu holen. Er schaffte eine Frau in weißen Kleid ins Boot. Sie war tot wie alle tot waren. Es war wie in einem Kriegsfilm, meint O‘Reilly. Er leide unter Schockzuständen. Müsse immer wieder an den Moment denken. Albträume. Seine Frau sage, er habe sich verändert. Flugzeugabsturz eine Woche vor dem Anschlag in Olympia. Schon vor drei Jahren titelte die New York Times: “Amerika ist besser gerüstet, Bagdad zu bombardieren, als Angriffe auf eigenem Boden abzuwehren.” Schlichter verzieht das Gesicht und schaltet genervt um. Er richtet sich auf und schaut aus dem Fenster. Vorbeiziehende mecklenburgische Landschaft und er denkt an die Frau aus Hamburg und laut in seinem Kopf sagt seine eigene Stimme, nothing compares to you, wie die aus dem Radio. Er ist auch nicht so gut darin, schlechte Nachrichten zu hören. Wenn jemand ihn fragt welche Nachricht er zu erst hören will, lautet die Antwort: die gute und bei der schlechten nimmt er reiß aus. Und alles was man sieht, sind Fußsohlen und Rücken. Zum Glück das Wetter. Kältester Juli seit Anfang der Aufzeichnungen. Die Fahrerin starrt auf die Landstraße. Es ist Nachmittag. Die beiden fahren durch ein dichtes Irgendwo im Nirgendwo. Von Ortschaft zu Ortschaft. Durch Käffer und Siedlungen. Von Nest zu Nest. Die Landstraße zieht sich wie eine müde Hauptschlagader durch die Ortschaften im Norden Berlins. Wie der Hauptversorgungskanal eines Flusses ohne Ufer. Die Arterien eines Greises. Immer noch kein Mensch auf der Straße. Die Ortschaften sehen aus, wie verlassene Filmkulissen. Verrammelte Fenster, geschlossene Türen und abgeplatzte Buchstaben auf rostigen Reklametafeln der Geschäfte Die Straße ist holperig—eine Vermählung, eine Menaé a trois aus Asphalt, Schlaglöchern und Kopfsteinpflaster. Die Häuser sind niedrig, klein und grau. Ab und an vergilbte Gardinen in den Schaufenstern. Mecklenburg Vorpommern, Land der Seen und der Einöde. Schlichter erinnert sich an Hamburg, “wie ich im Taxi ein-nickte, fühlte ich meine kalten Hände, deinen Schweiß nassen Körper…” Wie er als Person an sich überhaupt, wenn dann das, wie er kurzzeitig das Gefühl hatte er existiere—tatsächlich—war es wieder hinweg gewischt. Wie sie lachte, als die Beiden miteinander fertig waren. Hand- und Fußabdrücke von ihr, von ihm, auf ihrer Scheibe. Glücklich und erschöpft. Die Taxifahrerin schweigsam fährt von Dorf zu Dorf. Hier gehen Hand in Hand, Tod und Langeweile. Das spannendste, was hier passieren kann, ist wenn der Dorfpfarrer sich erhängt oder ein Kind ermordet wird. Er denkt an die Frau und denkt an den Mantel. Dunkelblau. Blondes Haar liegt auf dem Stoff. Wie viel Schönheit dieses Bild ergab. Schönheit. Er dachte an die vergeblich Schönheit dieser Frau. Seiner Frau? Nein seine Frau war sie ganz sicher nicht. Ob sie es sein könnte? Ob sie es wollte? Ob er es es wollte? Diese gottverdammte Reaktanz versaut mir das Leben, denkt er wieder. Gott verdammt. Es war zu viel. Irgendwie war es zu viel. Er weiß eigentlich überhaupt nicht was, aber irgendetwas war zu viel. War es der Kontrast blau zu blond. War es, dass Jemand auf ihn wartete? Ertrug er es nicht? War ihm der Flughafen zu viel? Was war es nur? War es das Leben? Und er verneinte sich umbringen zu wollen, daran hatte Ernst Edwin Schlichter noch nie gedacht.

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Die Taxifahrer öffnet das Glove-compartment und holt eine Straßenkarte heraus. Schlichter erhascht einen Blick in das Fach und sieht eine Straßenkarte Schwedens, Deutschlands und Dänemarks. Die Fahrerin studiert den Plan. Die Fenster sind herunter gekurbelt. Er steht vor einer Informationstafel unweit des Ortseingangsschildes. Die Straßenkarte ist voll mit Kritzeleien und Notizen. Das Taxi steht nicht weit von einem eingekreisten Kreuz auf der Karte. Ein Traktor fährt an den beiden vorbei. Schlichter dreht sich um, die Taxifahrerin schaut über die Kante der Straßenkarte, ein Mann, der den Traktor steuert und seine Familie—Frau, drei Kinder— sitzen auf einem Anhänger, der mit Heu gefüllt ist. Bruder und Schwester rammen sich auf dem Heuwagen und kämpfen mit einander. Sie haben Latzhosen an. Der andere Sohn sitzt bei der Mutter, sie reden. Als sich die Blicke der sechs Personen treffen, entsteht eine Spannung. Die Geschwister haben aufgehört zu kämpfen, wie Mutter und Sohn das Gespräch und starren Richtung Informationstafel. Sie haben noch nie im Leben ein Taxi gesehen, denkt Schlichter, der nicht weiß, ob er schon Einmal eine echte Bauernfamilie gesehen hat. Sie starren sich einander an, wie Affe und Mensch im Affenhaus, und man weiß nicht, wer ist wer und wer beobachtet wen. Sie fahren in den Ort, der auf -ow endet, wie so viele Orte in der Gegend der mecklenburgischen Schweiz im Norden Berlins und der mecklenburgischen Seenplatte. Eine Endung auf -ow deutet auf sorbischen Ursprung hin. Im Nordosten Deutschlands relativ häufig. Reizend vor allem, die erhaltene Natur—heißt kein Arsch hier. Die Hügel—wer Hügel erwähnen muss, der—. Ursprünglich gebliebene Dörfer, sozusagen konservative Dörfer, was soll sich verändern?, obwohl man fragt sich schon, was ist mit der Witterung? Schlösser—Schlösser, das kann man sagen, sind einfach schön. Wie Gutshäuser, Kurhäuser oder Villen. Da gibt es nicht viel zu meckern meint Schlichter. 19% Wald, 10% Wasser und 71% nichts. In Deutschland gibt es 67 Ortschaften, Gebiete und Regionen, die, um attraktiver zu scheinen, die Schweiz im Namen tragen. Der Ort, der auf -ow endet, ist so etwas wie eine Stadt, ohne Urbanisierung und Gentrifikation. Obwohl ein paar Bauernhöfe hat man schon dicht gemacht. Seit sechs Jahren zählt der Ort -ow zum neu gegründeten Bundesland Meckpomm. Seit dem Mauerfall, fällt auch die Bevölkerungsdichte—ist in diesem Jahr zum ersten Mal unter das Niveau von 1946 gefallen. Ende der 60er begann man mit dem Bau von Plattenbauten, um die Zerstörung durch den Krieg zu kompensieren und auf einen möglichen Bevölkerungswachstum zu reagieren. Heute steht die Platte leer, wie ein ausgedienter Laborkäfig. Das Kurhaus—heute nicht mehr sichtbar—diente als Lazarett und brannte ab—vollständig. Die Überlebenden wurden in die umliegenden Lazarette verteilt. Seuchen brachen aus. Im Mai 45 rückte die rote Armee ein und vergewaltigte massenhaft die weibliche Bevölkerung—über eine Orgie ist nichts bekannt—des Dorfes auf -ow. Alles was Brüste hat. Männer und Vieh wurden abtransportiert. Plünderungen. 300-600 Selbstmorden unter den -owlern, heißt es je nach Quelle unterschiedlich. Auf den sowjetischen Friedhof liegen die Zwangsarbeiter zahlreich. Die Synagoge hat man nicht wieder aufgebaut. Während des Krieges mussten viele Kriegsgefangene Zwangsarbeit verrichten. 1938 hat man die Synagoge verwüstet. Die Kosten für die Beseitigung des Schutts trug die jüdische Gemeinde. Unfair eigentlich, kommentiert Schlichter. Von 39 bis 46 stieg die Einwohnerzahl von 7800 auf 10500. Heute liegt sie unter 10500, man mag meinen das heiße etwas. Erzählt Schlichter die Geschichte des Ortes auf -ow falsch herum, wie er es sich von der Infotafel gemerkt hat. Es juckt in den Finger. Die Münzen klimpern. Zehn fünf Mark Stücke hat er sich tauschen lassen. Die Melodie der Risikoleiter klingt leise in seinen Ohren. Zehn fünf Mark Stücke hat er dann noch gebraucht. Die Melodie klingt in seinen Ohren, egal ob er vor der Maschine sitzt oder nicht. Ein paar müde Augenlider, liegen auf leeren Augen, wie die eines Blinden. Zum ersten Mal gespielt hat er, als er Automaten noch gar nicht beachtete, das war in einer Kneipen in irgendeinem der Dörfer, die auf -ow enden und er war Billard spielen. Bierchen auf dem Tisch, Queue in der Hand—easy hinterm Rücken, easy durch Daumen und Zeigen Finger, easy an täuschen, easy versenken, dann diese Melodie aus dem Hintergrund, war irgendwie verlockend, sagt er. Da hatte er schon fünf Mark hineingeworfen, nach der Partie, das verschwimmt irgendwie alles an dem Abend. Er weiß noch fünf Mark reingesteckt, 200 raus geholt. Manchmal saß er dann zehn Stunden und mehr am Tag. Besser als sich umbringen, sagt er auch. Man stimmt ihm zu. Michael Nix-Kessin meint die Automaten stehen in den dunklen Ecken, dort wo man in Ruhe Eine rauchen kann, Bierchen trinkt—er sagt tatsächlich Bierchen, passt gar nicht zu ihm, denkt man—und die einzige Sonne die du siehst—wenn die Walzen auf Sonne stehen bleiben. Du nuckelst an den kleinen Siegen, wie ein Baby an der Brust. Und gibt es keine Siege trinkst du. Und gibt es Siege trinkst du. Ruiniert das Spiel dein Leben, spielst du um zu vergessen. Früher hat er mal fünf Automaten gleichzeitig bedient, aggressiver Subunternehmer in der Kneipe. Man stellt ihn sich irgendwie wie einen Kolonialherren vor mit Tropenhelm vor einem Safariautomaten. Es ist nicht nur vergessen. Je mehr Geld du investierst, desto mehr hast du den Sieg verdient. Gewinnst du nicht, hast du zu

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wenig—. Ist klar. Automatenzuflucht in das Unterhaltungsgerät mit Gewinnmöglichkeit. Automatenfluch Lebenverderbungsgerät mit Niederlagenmöglichkeit. Dann denkst du aber wieder: ist das Glas halb voll oder halb leer. Und eines willst du nicht sein: ein scheiß Pessimist. Die meisten Menschen würden jemanden, der versucht sich mit einem Küchenmesser per Stiche in den Hals umzubringen, nicht gerade als Optimisten bezeichnen.

D

Leben zerstört hat, die Bilder zerstört hat mit dem Neffen und dem Sohn und der Schwiegertochter, die haben sie dann auch eingewiesen, schlimme Verletzungen an den Beinen. Sie will jetzt endlich wissen, was mit der Reha ist. Herr Doppelname ist noch immer bei: ein bisschen Leben. Krebserkrankung es ist ja alles so schlimm. Lithium wirft Herr Ragaly ein. Lithium damit hat er auch seine Doktorarbeit geschriebene. Lithium. Er braucht nur ein bisschen Lithium. Kennt er alles schon. Hat er schon mal gesagt. Vor zehn Jahren zum ersten mal. Otti ruft wenn sie will, dass es ihr besser geht dann setzt sie einen Hut auf. Ein bisschen Leben, Nix-Kessin. Aber Achtung ruft ein anderer ein und meint Lithium hat nur eine geringe Therapiebreite. Wirksame Dosis und Überdosis liegen nah beieinander. Wie zwei Seiten eines Flusses, gewinnen und verlieren, zocken und verzocken, flüstert Herr Doppelname. Herr Plöger, der mit dem Therapiebreite-Argument muss es wissen, er ist Leiter klinischer Studien bei Parexel. Oder war. Jetzt weiß er es nicht mehr so genau. Er ist wegen Panikattacken erst Einmal ausgestiegen. Je nachdem wolle er aber auch zurück in den Job. Er hat damit aber nie Probleme gehabt, Ragaly. War jetzt auch nicht so genau mit den Einnahmezeiten, spricht er agitiert und unsicher. Über eine flussbreite Hemmschwelle brechen die Worte aus ihm heraus, wie aus einem Wasserfall und seine schiefe untere Zahnreihe wackelt. Stop, er wolle jetzt wissen was Ergotherapie heißt, Schulze. Ergo ist doch klar, Ragaly, wenn er langsamer reden würde, er würde stotternde. Cogito ergo sum. Quod erat demonstrandum, flüstert Nix-Kessin. Frau Peter setzt einen schwarze Melone auf. Es ist Zeit für einen Hut. Einen schönen Hut. Mein Hut ist der Hit, sagt sie und lacht. Herr Doppelname war das alles ein wenig zu viel. Was für Krebs sie überhaupt habe. Krebs-Krebs Es gibt ja verschiedene Sorten Lungen-, Haut-, Blutkrebs Krebs-Krebs, Tränen in ihren Augen. Das ganze Leben auf dem Boden in Scherben. Drüber laufen. Herr Nix-S. weint mit. Und dann war da noch Frau S. Sozialphobikerin, hat seit drei Jahre nicht die Wohnung verlassen, keine Freunde nur den eigenen Mann, selbst erkrankt an unbekannt, aber irgendwie krank und sie, die pausbackige Frau in Jogginghose, gegenüber Frau Peter in weitem Pulli und Hut Typ Melone. Wie Churchill. An machen Tagen sagte er meide er Bahnsteige aus Angst zu springen. Goldene Schrift auf dem Pulli in XXXL. Frau S. Ist heute nicht mehr akut suizidal. Die dickliche Frau mit roten Wangen und der schwitzenden Stirn. Zitternde Stimme ohne flussbreite Schwelle, aber mit Gewitter. Die großen Augen wie bei einem nachtaktiven Tier, wie dem Uhu. Sie hört die Worte Ergotherapie, kognitive Verhaltenstherapie, Kompetenztraining, Gruppentherapie schnappt nach ihnen, als wären es Fliegen. Insekten, goldene Insekten, sie wirft sich den goldenen Insekten hin wie dem Kalb. Jedes Wort verleiht ihr ein Flügelpaar und am Ende sind ihr die Flügel so schwer, dass sie sich kaum regen kann. Ein bisschen Leben, sagt er. Krebserkrankung. Lithium. Worte wie gute und giftige fliegen. Sie muss alles wissen, sagt Frau Peter, sie muss alles über ihre Erkrankung wissen. Zwanzig Jahre sei sie in Therapie. Zwanzig Jahre, aber niemand habe ihr erklären können, was bipolar ist. Zwanzig Jahre bipolar und alle reden nur davon, Ihnen geht es doch gut. Und das stimmt auch. Manchmal ist die Welt einzigartig rosig, unvergleichlich leicht, ja schön. Das Leben ist schön, sagt Frau Peter. Das Leben ist ein Geschenk. Sie wolle endlich was über ihre Erkrankung wissen. Ein bisschen Leben, flüstert Nix-Kessin.

as Taxi kommt zum stehen. Schlichter soll sein Fenster nach oben kurbeln. Es ist noch hell. Trotzdem leuchten die Fenster im Haus zudem der Parkplatz gehört. Parkplatz das heißt die Stelle vor dem Haus wo ein bis zwei Autos Platz haben. Es steht bereits ein Auto dort. Eine alte Schrottkarre Ford Fiesta, sieht aus wie halb abgebrannt. Die Fenster sind wie von innen angestrahlt. Sattes Gelb. Zur Turnhalle steht, in abgeplatzten Buchstaben, auf einem breitem Balken über der Tür. Die Taxifahrerin geht voran, öffnet die Tür ein Schwall Rauch tritt in den Abend. Schlichter noch in Taxi begreift, aus Geräuschen der Bewegung wurden Geräusche des Stillstandes. Der Fahrtwind gegen den Uhu und die einsame Stille der breiten Ebene gegen das Geräusch des Motors. Er streift sich seine Lederhandschuhe über. Die Tür fällt wieder zu. Schlichter seinerseits vor der Turnhalle und wieder ein Schwall Zigarettenrauch überfällt ihn, übermannt ihn fast—er fühlt sich heimisch. Schaut sich um, wird angestarrt. Ein Mann mit Halskrause am Spielautomaten. Eine Frau umzingelt von zwei Männern an der Theke. Die Taxifahrerin etwas abseits, scheint als sei ihr der Ort nicht unbekannt, neben dem Theken-ende und hinter der Theke ein stämmiger breiter Kerl, wie man sich ihn in einer Dorfkneipe mit Zimmer frei Schild über der Tür, neben Namensschild der Kneipe, vorstellt. Das ist keine Aufzählung. Die Taxifahrerin spricht ihn mit Ulrich an. Schlichter setzt sich neben sie. Inzwischen sind die Blicke von ihm gewichen. So müssen die beiden sich nicht ins Gesicht sehen—außerdem waren sie diese Sitzordnung aus dem Taxi gewohnt. Insofern er vorne saß. Ob Ernst Edwin Schlichter hier auch rechts von der Fahrerin saß—ist unerheblich. Wie es sich mit Erinnerungen ständig verhält—sie kommen und gehen, wann sie es für nötig erachten. Initiationsritus: der stabile Lauf zur Theke. Die meisten kommen ohne Auto. Ansonsten ist man hier ohne Auto aufgeschmissen. Ulrich und die Jungs haben einen Fahrservice gegründet. Das heißt alle trinken bis auf einen. Der trinkt Apfelschorle und nur ab und zu mal einen Korn. Eher so jede dritte Runde. Über der Theke eine Glocke, entweder für die letzte Runde oder die nächste das weiß keiner so genau und Ulrich läutet eher nach Gefühl und Stimmung. Er hat das gut im Griff. Weniger seinen latenten Alkoholismus, aber so genau nimmt das hier niemand. Schließlich ist er ein stämmiger Kerl und das könne man mit so einem halben Hemd aus der Stadt nicht vergleichen—so einem Homo Aspargillus, wobei niemand hier Latein in der Schule hatte, aber russisch immerhin. Was für den Spargeltarzan ein Bierchen ist, ist für Ulrich die volle elf. Macht er ja jeden Abend. Der kennt sich aus, sagt man. Der verträgt was, sagt man. Und wenn es doch mal zu viel ist und er den Glöppel mit der Glocke verwechselt und den Leuten die Sabber im Mund zusammen läuft, ohne dass er geschlagen hat, dann trinkt er einen Kaffee. Und wenn Ulrich einen Kaffee trinkt, dann wissen alle, es ist wieder Zeit, dass einer von ihnen die Glocke übernimmt. Das macht dann manchmal Nix-Kessin, aber meistens irgendjemand anders. Der Nix-Kessin kommt meist nicht weg vom Automaten. Seitdem Ulrich den hier aufgestellt hat, denkt der Nix-Kessin nicht mehr an das Küchenmesser und seinen Hals. Schlichter bestellt sich was die anderen haben ohne zu sagen, was die anderen trinken. Der Mann am Spielautomat nippt am Bier. Die Frau führt eine Art interview und die Männer, deren Wortschatz kein Platz für das Wort Interview bereit hält, erzählen großspurig vom Leben im Dorf. Ihre Nasen groß- und offenporig. Sie schreibe einen Artikel, hört Schlichter und trinkt seinen Korn, für die lokal Zeitung. Eigentlich über ein anderes Dorf, das auf -ow endet, aber die seien so oder so alle gleich. Korn rinnt Schlichter den Mundwinkel hinunter. Sie wollte sich den Fahrweg sparen. Den Männern ist‘s egal, sie erzählen ihre Geschichte egal wer fragt. Der Mann am Spielautomaten trägt eine Halskrause, niemanden außer Schlichter interessiert das—hat er sich eben den Hals verrenkt. Wegen der Halsgeschichte, wie sie unter den Dorfbewohnern gehandelt wird, war der Nix-Kessin auch im Krankenhaus. Niemand sagt hier gern Klapse. Wie alle anderen Patienten musste auch Herr N.S. in das Gruppengespräch, das hieß dort die Bezugsgruppe. Herr Nix-Kessin fühlte sich im Gruppengespräch nicht unwohl aber auch nicht wohl. Er saß im Gruppenraum, wie vor dem Spielautomaten Merkur, nur die Lider sind ihm noch schwerer und sie flackern nicht und sie suchen nichts. Ein bisschen Leben ist noch ihm, Sagt er leise. Frau Peter fällt ihm ins Wort. Ein bisschen Leben. Krebserkrankung, Chemotherapie und das ganze Brimborium. Frau Peter Vorname: Ortrun, möchte Otti genannt werden, hat alles kaputt gemacht was ihr wichtig war. Hat die ganzen Bilder von der Familie genommen und sie von ihrer Schrankwand auf dem Boden zerschellen lassen und ist mit den Füßen darin getreten barfuß, wie über heiße Kohle, über ihr Leben. Otti heult. Da hat sie es gespürt das Leben ganz klar, aber wusste auch, dass sie ihr

Goldene Pilaster hat er in der Kneipe. Pilaster so nennt er die Säulen vom Tresen zur Decke. Dazwischen auf einer Seite des L‘s die Glocke. Ulrich hatte die Kneipe übernommen von einem Typen, den auch nicht so viele im Dorf kannten, der eher das Format Rauschgiftganove hatte. Lieblingsspruch: der Whisky trocken und die Frauen feucht. Oder andersherum. Wir haben Bier so kalt, wie das Herz deiner Freundin, hat dann mal jemand gesagt, der nur an einem Abend da war. So einer auf Durchreise. Die meisten Leute, die ins Dorf kommen sind auf Durchreise. Manchmal sagen die Dorfbewohner in der Turnhalle nur Durchreise und alle wissen was gemeint ist. L, so nennt er seinen L-förmigen Tresen. Marke: Standartmodel. Da hatte er einen praktischen Tag gehabt und von da an hieß es, willst du was, kommst du ans L in die Turnhalle. Er kann schon mal böse werden, wenn jemand einfach an der Glocke spielt. Er sagt dann, bei dir Zuhause würde ich auch nicht einfach umschalten oder an den Kühlschrank oder auf dein Teppich pissen. Letzteres aber nur, wenn er schon einen Kasten getankt hat. Beim zweiten redet er dann vom kacken. Auch wenn es zwei Glocken sind, sagt Ulrich: die Glocke. Stammgäste wissen, nur wenn er seinen Kaffee trinkt und zwar nach zwölf, darf mal jemand anders läuten.

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Dann gibt er so ein Fingerzeichen und nickt bestätigend. Darauf muss man warten, auf das Nicken. Ohne Nicken läuft hier nichts am L. Manche warten sogar auf ein Nicken, wenn sie ein Bier bestellen. Über dem Türrahmen hat Ulrich eine Lichterkette angeklebt. Hat er selbst gemacht. Heimwerker ist er nämlich auch. Mit Silikon aus dem Baumarkt. Der ist in der Stadt. Wenn Ulrich sagt die Stadt, dann meint er Schwerin. An besonderen Tagen schaltet er bei der Lichterkette auf Programm zwei, dann gibt es so ein Blinken und Laufen von Lichtern. Manch einer hat sich schon für Stunden im Blinken verloren. Manch einer weiß, dass der Spielautomat in der Ecke ungefähr zehnmal mehr blinkt, als fünf Lichterketten zusammen. Aber das ist der Platz vom Nix-Kessin. Wer an den Automaten will muss das mit Doppelnamen klären. Keiner setzt sich da ungefragt hin. Auf der Toilette gibt es keinen echten, aber immerhin sieht es so aus wie Marmor. Hat er aus dem Baumarkt in der Stadt. War im Sonderangebot. Schnäppchenjäger ist er nämlich auch. Hat er gleich auch für den Tresen benutzt. Weiße Punkte in schwarzen Steinen. Da stand in der Schlange im Baumarkt auch diese Zeitungstante, die gerade den Jürgen und den Wolfgang ausfragt, als sei sie von der Stasi. Ein bisschen zu neugierig ist sie ja. Geht sie doch nichts an, dass Wolfgang mit der Angelika der Exfrau vom Nix-Kessin—. Aber Ulrich lässt sich nichts anmerken. Er wäre ein guter Doppelagent, denkt schmunzelnd und poliert Gläser. Doppelagent die Zeiten sind natürlich vorbei. In der Baumarktschlange das hat er gleich erkannt. Ein guter Beobachter ist er auch. Aber auf ihre Fragen soll sie aufpassen. Kann ihr doch egal sein, dass der Wolfgang die Angelika immer noch sieht. Will auch der Jürgen nicht wissen. Will eigentlich keiner wissen. Auch nicht der Wolfgang selbst. Was soll man machen eine Frau braucht einen Schwanz, denkt sich Ulrich und steckt das Handtuch mit der Faust ins Glas. Früher ist man ja ganz anders mit Leuten verfahren die zu viel gefragt haben. Eigentlich auch egal. Die Hauptsache ist, dass sie a) nichts verkehrtes schreibt. Soll ja wohl für eine Zeitung sein und b) hier den Abend nicht stört. Ulrich braucht im viel Harmonie. Da kann er schon mal böse werden. Aber nicht so böse, als wenn jemand die Glocke ungefragt schlägt. Geht halt nicht. Versteht er auch nicht, wie jemand so was machen kann. Dann stellt er das Glas ab, schenkt ein Bier für Wolfgang ein und Jürgen trinkt den letzten Schluck, will auch noch gleich eins. Ulrich nickt und schenkt auch Ulrich ein neues ein. Dazu noch für beide einen Korn—aufs Haus. Als Letztes denkt er, die bringt auch immer komische Typen mit wenn sie auf Durchreise ist. Rabenow, Vorname Ulrich. Er hat aber soweit er weiß keinen sorbischen Hintergrund. In Brandenburg soll es ja Schulen geben, die Sorbisch unterrichten. Er ist kein Rassist, aber sollten die Brandenburger nicht erst einmal deutsch lernen? Zur Not Russisch, aber Sorbisch, wozu?, fragt Ulrich Rabenow. In der Kneipe ist es voll—für Dorfverhältnisse, sagt Schlichter und niemand antwortet. Als ein Traktor vor der Tür zum Stehen kommt, schieben Leute vergilbte Gardinen beiseite und schauen düster aus den finsteren Fenstern. Die Fenster sind aber nicht düster und finster, weil in ihnen alte Lampen stehen. Ein Mann schlingt sich schlendernd durch eine Masse von niederträchtigen Blicken und Qualmwolken, von billigen selbst gestopften Zigaretten. Er setzt sich vorne an die Theke. Die Lampen hat er von Jürgen, der hat so wie einen Trödelladen, macht auch Haushaltsauflösungen, davon gab es in letzter Zeit, in den letzten zehn Jahren so einige. Für ein paar Korn aufs Haus. Ob er nun Ulrichs Geld für Schnaps ausgibt oder Ulrich ihm gleich ordentlich einen einschenkt—übers Jahr verteilt, ist eigentlich auch egal. Schlichter solle einige Schnäpse trinken, bevor die beiden schlafen gehen. Ernst Edwin Schlichter schaut in sein leeres Schnapsglas. “Wir trafen uns in einer dieser billigen Spielunken. Jemand stand an einer Jukebox und spielte schlechte Songs. Es roch muffig. Ich saß lange schon am Tresen, da ich allerdings allein, leicht zu verunsichern bin, holte ich Stift und Zettel heraus und begann mir einige Notizen zu machen—nicht über die Kneipe. Dann auf meinem Rücken eine Hand. Ich drehte mich um, war still und wartete. ›Ich habe sonst keine Verabredungen, mit so gut aussehenden Männern.‹ Und ich habe keine sonst Verabredungen mit Frauen, die mich interessieren. Ich war ganz in beige, bis auf meine Schuhe, die waren dunkel braun, sonst beige farbiger Trenchcoat, dicker, grob gestrickter Rollkragenpullover und beige farbige Anzughose. Meine roten Socken, waren auch nicht beige. Wir lachten weil wir beide Trench trugen. Sie sagte, ich sehe aus wie Sherlock Holmes und ich: und du, wie seine Frau.” Nun, aber sitzt Ernst Edwin Schlichter in irgendeiner Dorfkneipe, irgendwo zwischen Niemandsland und Ausgestorben. Wo Schwester und Bruder sich etwas näher kennen. Mutter und Vater gleich aussehen und Großväter gleichzeitig Väter sein können. Die Dorfkinder dementsprechend ausgestattet sind—allgemein also, war die Diversität innerhalb des dörflichen Genpools nicht allzu groß. Irgendwie war ja jeder mit jedem verwandt. “Du, du oder du, eine von euch allen hätte meine Rettung aus der Sinnlosigkeit sein sollen, aber ihr seit gegangen und zurück geblieben, ist ein Charakter aus niederen Bedürfnissen, biederen Affekten, unabhängigen Fragmenten und standardisierten Gestiken.” Schlichter passiert es am Tag nicht nur einmal, dass er in solche alten Gedanken zurück fällt. Flashbacks hat das mal einer genannt. Schlichter hat aber dafür keinen Namen. Flashbacks, wie zwei Schiffe sich in einer Wand, einem Feld aus Nebel begegnen. Herr Nix-Kessin am Spielautomaten und die Frau Lokaljournalistin Ohlhausen. Schlichter hat eine Schwä-

che für Journalistinnen. Und ihre gekräuselten, aber langen offene Haare, sieht aus wie Andie MacDowell in short cuts denkt Schlichter. Nix-Kessin und Ohlhausen saßen Rücken an Rücken, mit einer guten Entfernung von fünf bis acht Metern. Sie am L. Er vor dem Automaten. Sie saßen, wie in verschiedenen Kneipen, wenn nicht gar Welten und hatten doch etwas gemein, wenn auch mindestens 50 Jahre sie von einander trennten. Herr Doppelname hockte da die Lider schwer auf den Augen monoton und träge die drei Walzen im Spielautomaten mit Niederlagemöglichkeit verfolgend, wie Hühner im Winter im Stall auf der Stange. Pessimismus im Spiel, Optimismus im Leben—besser als andersherum. Die Frage ist: freut sich ein Huhn auf den Sommer? Auf seinem Barhocker, das Bier locker in der Hand. Ihm stand der Mund offen, wie einem sedierten Wahn- oder Schwachsinnigen, betäubt von Tavor, Haldol oder anderen typischen oder atyptischen Neuorleptika, wie das neue Zyprexa. Obgleich man augenscheinlich wusste, dass dieser Mann nicht dumm war. Auch klappte Ohlhausen regelmäßig, müde und erschöpft der Unterkiefer herunter, nicht so als sie sei tatsächlich müde, wie auch Nix-Kessin nicht müde war, noch erschöpft, eher wie gelähmt, wie in angenehm leichter Schockstarre. Hat das Huhn ein mentales Konzept für Jahreszeiten? Wenn du einmal Haldol nehmen musstest, verstehst du die Frage: wo unterscheiden sich Mensch und Huhn. Wer von den Ohlhausen und Nix-Kessin träumt, sieht eine strahlend grüne Wiese und zwei schwarze Wesen Rücken an Rücken aufeinander zu gehend. Nicht schwarz, als hätten sie einen besonders dunklen Hautton. Schwarz wie geteert, mit Pech und Öl übergossen. Triefend, mehr Masse, als Flüssigkeit. Ohne den Rasen zu beschmutzen. Das strahlend grüne Gras ohne einen Tropfen der schwarzen geteerten Wesen. Zwei Menschen, zwei Gesten eine Müdigkeit und Paralyse. Einmal hat der Nix-Kessin versucht aus seinem Automaten das A zu machen. Dann hat er sein eigenes Bier mitgebracht. Da ist Ulrich mit ihm rausgegangen und hat ihm die Meinung gesagt, seitdem heißt der Automat wieder Automat. Ulrich läutet die Glocke und ein Johlen geht durch die Kneipe—an Nix-Kessin vorbei. Dann ist es wieder ruhig, jeder findet sich mit seinem Schicksal ab. Der Traktorfahrer klagt über die schlechte Ernte. Der kalte Winter, der kalte Sommer. Es ist einfach zu kalt, sagt er. Zu wenig Sonne, da will nichts wachsen. Die Taxifahrerin und Schlichter, sitzen schweigsam am Tresen und warten darauf, dass Ernst betrunken wird, weil er sonst nicht schlafen kann. Die beiden Männer haben sich um Nix-Kessin versammelt. Ohlhausen sitzt allein am Tresen und geht ihre Notizen durch. Die Männer Bier in der Hand, wollen Doppelname Tipps geben, weil sie solche Asse in Stochastik sind. Beim Skat heißt es, wer nicht sticht, der verliert. Sicher haben sich nicht Stochastik gesagt, eher sie wissen was als nächstes kommt, auf Plattdeutsch. Weil schon redlich besoffen. Mehr als eine stich’n bitch session ist das nicht. Alkoholgeschmack auf der Zunge schlägt—wie Gischt gegen Buhnen—gegen die Zähne. Diese trainierte Fahne oder am Leben stetig erhaltene Fahne. Dreißig Meter gegen den Wind. “Wann ich ihr das Geld gebe? Ich habe die Frau Lokaljournalistin angegraben. Hatte den offenen Mund kommentiert. Derb und obszön.” Es verschwimmt. Die Ereignisse oder die Nicht-Ereignisse der Nacht vermischen sich wie Korn, Alkohol und Magensäure. Ist das auch Ihre Lutschbreite oder geht der Mund noch weiter auf? Die Fahrerin steht in einer Ecke, etwas vom ursprüngliche Platz an der Theken entfernt. Stützt sich an einem der goldenen Pilaster ab. Redet mit dem Wirt Ulrich, das weiß Schlichter noch, der etwa doppelt so breit wie die Taxifahrerin ist und eine blau gelb gemusterte Schürze trägt. Sie aus, als hätte seine Frau, wenn er eine hat, ihm die genäht. Beide gucken oft zu Schlichter rüber. Die Fahrerin wiederholt bestimmte Gesten. Sie legt ihre Hand an die Hüfte des Wirtes und die andere Hand verlässt den Pilaster und führt einen Tanz aus erklärenden Kreisen aus. Das sieht Ernst Ed Schlichter aus dem Augenwinkel. Entschuldigt die Fahrerin sich für Schlichter? Was soll das? Hat er etwas getan, was unangebracht war? Er greift sein Glas, drückt es in die Theke und schabt damit Spuren in das Holz. Schlichter hat einen wunderbar trainierten Augenwinkel, wie andere ihren Alkoholismus. Die Frau Lokaljournalistin Ohlhausen, hat beim reden immer die Hand am Mund und bei manchen Fragen, die sie ihren Zuschauern stellt, sogar davor, dass ihre Stimme, wie Sand, durch ihre Finger rinnt. Die Worte hinterm Zaun. Die Melodie der Risikoleiter in der Kneipe und das Augenpaar vor dem Automaten leuchtet auf und die schwere Lider zittern, erheben sich aber nicht. Die Augen, wie die eines blinden. Da muss man genau hinschauen, will man eine Veränderung sehen. Die Taxifahrerin und Schlichter gehen nach oben auf das Zimmer. Die Taxifahrerin schüttelt den Kopf. Nun hat sie so etwas, wie eine Mission angenommen. Schlichter hat sich ein Wegbier mitgenommen. Er fällt ins Bett. Das letzte, was er sieht: wie seine Gefolgschaft sich die Decke über den Kopf zog, sich umdreht und mit dem Kopf zur Wand einschläft. Wie ein Kokon sah das aus. Und eines Tages wird aus der Taxifahrerin ein wunderschöner Schmetterling. Draußen werfen Laternen Schatten auf die Landstraße, wenn ein Auto an ihnen vorbei fährt—was selten vor-

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kommt, sie selbst sind ausgeschaltet. Im Land der unberührten Natur, der Hügel, Seen und Schlösser muss Strom gespart werden, man kann nicht ewig vom Atomstrom leben. Sie sehen aus wie gebeugte Riesen. Schlichter muss schon einige Stunden geschlafen haben. Es ist vier Uhr morgens in der Nacht. Die Fahrerin ist noch immer in ihre Decke eingehüllt, wie eine fette Raupe nach dem Fressen. Die Dunkelheit der Nacht tut ihr übriges. Windkrafträder sind ja ganz groß in Meckpomm. Neuerdings baut man die sogar an Land. Als er noch ein Kind war, erinnert sich Schlichter, übernachtete er oft, auf dem Dorf im Osten, außerhalb West-Berlins, im Bungalow, seines Großvaters und Onkels, der nur 6 Jahre älter, und wie ein Bruder für ihn war. Der Bungalow, war einer von vielen, in einer Kleingartenanlage. Das Grundstück ließ damals den Blick auf ein Feld frei. Heute endete es Bahnschienen. Der kleine ED rannte gerne von Bungalowterasse bis in den Wald hinter dem Feld. Noch bis nächstes Jahr finden dort die German Masters der European PGA-Tour statt. Dem bedeutendsten Golfturnier Deutschlands. Schlichter war schon lange nicht mehr in Motzen bei seinem Großvater. Eine Nacht ist ihm dabei im Gedächtnis geblieben. Weshalb er sich gerade in dieser Nacht auf dem Zimmer der Dorfkneipe an die Nacht im Bungalow erinnere, weiß er nicht. Was ihm aber klar ist, wie er das Bett im Bungalow wahrnahm und die gesamte Nacht dachte, es wären Haie in dem Bett, die ihn auffressen würden, schlafe er. Wie Kinder eben denken. Genauso dachte er von der Fahrerin sie wäre eine verpuppte Larve, die eines Tages ein Käfer werden würde— aber das wird er schon zu verhindern wissen. Und die Mission lautet: Aus Ernst Edwin Schlichter wieder einen Menschen machen. Es ist vier Uhr morgens, Schlichter steht in seine Decke gewickelt am Fenster. Eine Gestalt von Mensch, im Juli, in einen Mantel gewickelt, stolpert und wankt aus der Kneipe. Steht an der Straße. Ein Auto hält an. Der Schatten einer Straßenlaterne wirft sich auf die Straße. Der Mann in Mantel beugt sich in das Fenster. Das Auto fährt weiter, der Schatten wandert einmal um sich selbst. Der Mann steht noch immer auf der Straße. Die Menschengestalt hat es nicht weit. Er torkelt wie jeden Abend Nachhause. Läuft betrunken über den Acker. Das hat er schon einmal gemacht und dann Ärger mit dem Bauern bekommen. Nicht wegen der Fußspuren im Sand oder abgerissene Pflanzen, platt getretenem Weizen, sondern weil er auf dem Feld eingeschlafen war und der Bauer am nächsten Tag um ein Haar, den Nix-Kessin überfahren hätte. Es ist vier Uhr morgens. Er sollte seiner Frau schreiben, denkt er. Ende Juli es ist kalt in -ow. Manchmal glaubt er, er höre eine Musik, eine andere Melodie, als die der Risikoleiter. Sie läuft im Dorf die ganze Nacht. Er steht mitten auf dem Ackern. Sternenklare Nacht. Nix-Kessin hat keinen Blick solche Umgebungsdetails. Er hat gehört, seine Frau baut jetzt ein kleines Haus in einem anderen Dorf. In dieser Wüste von Dörfern auf -ow in diesem Bundesland. Nix-Kessin sagt, auf dem Feld mitten in der Nacht unter dem klaren Sternenhimmel, zu sich, zu ihr, zum Anderen: “Das letzte Mal, dass ich dich sah, sahst du soviel älter aus.” Was kann er schon sagen? Er glaubt er vermisse sie. Er glaubt er vergebe ihr. Er habe eine Locke von ihrem Haar aufgehoben. Die Locke liegt im Nachtschrank neben dem Bett. Dem Bett, dass zu groß geworden. Nix-Kessin ist die Welt zu groß geworden. Er weiß nicht, was soll aus ihm werden. Früher hatte sie seinen Mantel an. Dort wo er an der Schulter gerissen ist, hat Nix-Kessin ihn selbst genäht. Nix-Kessin steht vor dem Haus, wie so oft in letzter Zeit. Mitten in der Nacht. Vier Uhr morgens. Setzt sich auf die Bank vor dem Haus und schaut zum ersten Mal in dieser Nacht nach oben in den Sternenhimmel. Er glaubt er vergibt ihr—vergibt ihr, dass sie mit der Anderen abgehauen ist. Musste sie auch. Es gibt in -ow keinen Platz für Sodomie, hat Ulrich gesagt. Das kommt ihm alles vor wie ein Song, den er mal vor 20 Jahren mit seiner Angelika rauf und runter gehört hat. Herr Doppelname hat früher mal mit seien Windhunden an Windhundrennen teilgenommen. Acht Pokale hat er Zuhause. Heute ist er so etwas wie depressiv, eher schwer depressiv, suizidal und sozial phobisch—hat Angst seine Wohnung zu verlassen und zu sprechen, vor allem mit anderen Menschen zu sprechen. Soweit, dass er drei Jahre das Haus nicht verlässt, geht es aber bei ihm nicht. SV kurz für Suizidversuch. SVs kurz für Suizidversuche. Der zweite SV. Sein Sohn kam einmal die Woche und versorgte seinen Vater—emotional wie man sagte. Der SV verlief dann so: Vater schickt Sohn zum Bäcker Mohnkuchen kaufen. Und Schrippen. Als Sohn aus dem Haus ist, hat der Vater das Küchenmesser auf den Tisch gelegt. Und gewartet. Gute Viertelstunde nur gewartet. Nichts gemacht, nur das Küchenmesser angeschaut. Die Hausschuhe ausgezogen und die Zehen ins Linoleum gedrückt. Im Regal stehen in der Küche die Pokale von den Windhundrennen. Man könnte sagen sie schauten ihn höhnisch an, aber Pokale haben keine Augen. Sondern im besten Fall ein Emblem, Wappen oder sonstiges. Herr Doppelnamens größter Stolz: ein Becher auf dessen Deckel eine Statuette einer seiner Windhunde draufgeschraubt ist. Extraanfertigung. Für den Erfolg. Eine Art Bildhauer kam vorbei und hat den Hund skizziert. Im Linoleum eingedrückte Spuren. So eine schnelle Skizze war das, kaum fünf Minuten. Kaffee wollte der nicht. Dann das Küchenmesser in den Hals gestochen. Wer nicht sticht verliert. Dabei den Pokal mit Hund obendrauf angeschaut, als würde der Hund aus dem Hundehimmel auf Nix-Kessin schauen. In den Hals gestochen. Man möchte meinen, jemand schneidet sich zum SV die Kehle auf. Nix-Kessin stach sich die Kehle auf, wie einen Apfel auf einen Degen oder einer Pfeilspitze. Sein Sohn hieß nicht Wilhelm, rettete ihn aber trotzdem. Das nennt man Parentifizierung.

Dann die Frage, wollte er gefunden werden oder war es ein Versehen? Der Sohn entschied sich zu denken: das ist überhaupt nicht wichtig. Die Fahrt in die Klinik war ruhig. Der Sohn entschied das Messer an Ort und Stelle zu lassen. Aber nicht um zu dramatisieren. Er hatte Angst, dass wenn er es raus zieht den Vater umzubringen. Angst ist ein großes Thema in der Familie. Herr Doppelname und sein Sohn Doppelname sind keine Hysteriker. Sie wollen alles ruhig angehen. Leise wie in den Linoleumbelag versinken. Leise wie auf dem Boden schleichen. Ein Messer in den Hals zu stechen erzeugt kaum Geräusch. Nix-Kessin wollte sicher gehen und hat sich noch ein paar Mal in den Thorax gestochen. In der Klinik frage man ihn, wenn er etwas ändern könne, was wäre das: dass es ihm besser geht. Eine Standardantwort des Desorientierten—er war so wenig manipulativ, wie hysterisch. Eigentlich ist noch viel Leben in Nix-Kessin. In seiner Akte gibt es eine Grafik, die zeigt einen männlichen und weiblichen Menschen, darüber steht Wunden bei Einlieferung. In Nix-Kessin‘s Akte sind Kreuze auf Brust und Hals der Grafik. Michael Nix-Kessin schläft wie so oft auf der Bank vor seinem Haus ein. Der Sternenhimmel war so klar. Fußspuren im Ackerboden. in Schuhpaar liegt neben ihr. Einer der Schuhe hat Fäden gezogen. Abgestoßen sehen sie auch aus. Kratzer im Lack. Von Sand im Treppenflur. Er war geflohen, wie sie immer alle vor ihr geflohen waren und fliehen. Angst hat er gehabt. Das hat sie in seinen Augen gesehen. Auf ihren Körper hat er geschaut. Dann hat er die Flucht ergriffen. Was ein Teil, was ein Gerät, was ein Körper. Ficken wollte er sie. Der schüchterne Hund. Schüchtern oder eingeschüchtert? Egal, denkt sie. Sofia Lolita Sommerfeld liegt in Lieblingspose auf der Matratze im Wohnzimmer—Beine angewinkelt, Kopf auf dem Kopfkissen, die Brust rutscht ihr fast aus dem Top—und starrt aus dem Fenster in den Hinterhof. Dieser Typ kaum in der Lage einen geraden Satz zu sprechen, war vor ihr geflohen. Nicht einmal seinen Namen hat er ihr gesagt. Gekrochen ist er, wie ein Hund vor ihr gekrochen. Nicht mal sein Fahrrad kann er anschließen. Nur schnell wieder weg. Weg von ihr. Die beiden Jungs stehen auf dem Vordach im Hinterhof. Sie wissen nicht, dass sie beobachtet werden. Die Strecke zwischen Fenster und Dach ist kleiner als man denkt. Die Jungen überlegen und flüstern. Der Leichenwagen steht im Innenhof und diente als Trittbrett. Das Fenster steht sperrangelweit auf. Was wenn jemand Zuhause ist. Was wenn es das Schlafzimmer ist. Drinnen wird man langsam wach. Was wenn sie erwischt werden. Aber man ärgert sich nur über den leisen Lärm aus dem Hinterhof und denkt nicht weiter darüber nach. Dann Springen die Jungen in einem Satz an die Fensterbank. Einer nach dem anderen und ziehen sich wie im Turnunterricht per Klimmzug nach oben in das Fenstern. Brechen über die Fensterbank. Keuchen leise. In der Zeit war man schon erwacht. Die beiden Jungen stehen in der Finsternis. Die Nachwuchseinbrecher hatten nicht bedacht, sie müssten irgendwie Licht machen, aber darum ging es nicht. Man hört jetzt, jemand ist in der Wohnung. Es Ging darum—nur darum einsteigen, irgendwo einsteigen und irgendwas klauen, als Beweis. Da ist es egal ob man irgendwie Licht machen müssen. Da geht es in erster Linie um die Möglichkeit. Es geht um das Wo. Inzwischen, wie die Jungen noch überlegen wie sie die Finsternis besiegen, hat man einen schwarzen Gegenstand gegriffen, der lag auf dem Nachttisch und man hat sich aufgemacht, um zu den beiden ungeladenen Hausgästen vorzudringen. Die ungeahnten Gäste sind inzwischen auf die Idee gekommen; leichter wäre es auf allen Vieren. Also kriechen und krabbeln sie über den Teppichboden. Stoßen immer wieder an Holzdinger oder Holzzeug, irgendetwas aus Holz. Aber es gibt nichts was man mit nehmen könnte. Bis einer der beiden Jungs ein anderes Holzding auf vier Beinen gefunden hat, das muss ein Tisch, vielleicht ein Schreibtisch sein. Er befummelt noch die länglichen Holzdinger, als plötzlich im Raum das Licht angeht und das Problem der Finsternis sofort gelöst ist. In der Tat das Holzding auf vier Beinen war ein Schreibtisch und die anderen Holzdinger—der Junge springt entsetzt davon ab—Särge über Särge. Das ganze Zimmer war voll mit Särgen. Ein Mann, wahrscheinlich der Bewohner, mitten im Raum. Herr über seine Katakomben. Franck Thom der mäßige, große, ruhige und massige Mann hebt die Hand und den schwarzen Gegenstand. Die Jungen bekommen Angst. Todesangst und Springen aus dem Fenster. Es war ja nicht hoch. Franck denkt sich in dem Moment: das alte Brillenetui. Wie praktisch, dass ich vor dem Schalfengehen noch immer lese. Während der eine Junge aus dem Hinterhof auf die Straße rennt, nach Atem ringt, sein Herz im Hals wie einen pulsierenden Kloß spürt und vergisst, dass sie eigentlich als ein Einbrecher-Duo unterwegs waren, da waren sie schon kein Duo mehr, denn für ein Duo braucht man zwei—erliegt der andere seinen Verletzungen. Legt sich Franck zufrieden ins Bett. Er hat natürlich das Fenster geschlossen. Nur ein Idiot tappt zweimal in die selbe Falle. Sofia Sommerfeld kann den Blick nicht von dem frisch-verstorbenen abwenden. Wie ein dunkler Schatten, wie Haie im Bettlaken, unscharf, verschwimmt der Junge mit dem Hinterhof, kann Sofia ihre Augen nicht auf seine

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Tag 03—Dienstag

Umrisse fokussieren.

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er letzte, der sich an diesem Tag zu Wort meldet, bin ich. Haben Sie mich schon vergessen? Vergessen Sie niemals die Offiziellen. Wenn Sie ein Verbrecher sind und es gibt bei Ihnen einen Verdacht auf eine Minderung Ihrer Steuerungsfähigkeit, dann vergessen Sie niemals Ihren psychologischen Gerichtsgutachter. Haben Sie schon vergessen, dass Schlichter jemanden umgebracht hat? Sicherlich erst am Ende der Woche. Also umbringen wird, für Sie. Spielt das eine Rolle für Sie? Denken Sie, innerhalb einer Woche kann sich jemand derartig ändern, dass er am Ende jemanden umbringt, was er am Anfang nicht getan hätte? Kann eine Woche einen Menschen derart verändern, dass wir zwei Personen vor uns haben? Genau das ist es, wonach ich forsche. Das ist der Dreh- und Angelpunkt um den sich mein Gutachten dreht. Daran entscheidet sich die Schuldfrage. Unter welchen Umständen wird ein Mensch zum Mörder. Entscheidend ist auch, hat er die Tat geplant. Hat er nur auf einen günstigen Moment gewartet oder ist ihm das ganze so heraus gerutscht. Es ist immer eine Frage der Daten. Welche Daten habe ich? Eine Entscheidung braucht immer(!) fundiertes Wissen.

Der Fall Möbius

Gutachter

Laura Möbius – das einzige was von laura zu wissen ist, ist das was sie aufschreibt. einen Satz die Stunde.

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abletten. Schlichter sitzt auf dem Fensterbrett und schaut raus. “Es ist Morgen hier und in Amsterdam. In Amsterdam gibt es wohl mehr zu sehen, als drei Bäume und einen Acker. Es scheint aber die selbe Sonne auf uns. Was uns ist trennt, ist ein Wort, das Distanz heißt und ein anderes; Einbildung. Wie es wohl wäre, wenn wir beide jetzt dort wären? Ob ich die selbe Leere und Bodenlosigkeit fühlte?” Aus den Feldern vor dem Haus, der ruhigen Dorflandschaft, entsteigt Nebel und ein orangefarbener Film am Firmament, kündigt den Sonnenaufgang an. Das ist einer dieser Morgen, an dem Schlichter weiß: dies wird ein Tag, an dem seine Stimme nichts denn aus einem sich wiederholenden Räuspern besteht. Ein Hüsteln, Gähnen und Flattern—nichts als ein indifferentes, asynchrones und insuffizientes Klappern seiner Stimmlippe, als ein einziges aufstoßen und sich den Bauch halten. Das sind die Tage, an denen ihn ein unbestimmtes Gefühl so sehr übermannt und in seinen Bann zieht, dass alles, was ihn am Leben erhält, sein beständiger—und an diesen Tagen: rasselnder Atem ist und an dem hat er ebenso wenig Anteil. Nun er könnte sich ersticken, er könnte zum Beispiel die Taxifahrerin fragen, ob sie ihm das Taxi für einen Moment ausleihe, damit in eine Garage fahren und den Motor treten, bis dichter Kohlenstoffmonoxidnebel sich auf den Boden legt, langsam aufsteigt und in die geöffneten Fenster des Fahrzeuges tritt—das jedoch, ist damit nicht gemeint. Das zum Thema noch nie an Selbstmord gedacht. Es vergehen einige Stunden, in denen Schlichter auf der Fensterbank sitzt. Die Bettdecke auf dem Boden davor. Die Taxifahrerin wird von einem Geräusch wach, was so klingt als wenn jemand mit Murmeln spielt, sie macht die Augen auf und sieht wie Schlichter, auf der Fensterbank sitzt und seine Kaugummidose in der Hand ausschüttet und gegen seinen Mund schlägt. Er schüttelt die Dose, kein Ton. Er schaut auf, die Fahrerin blinzelt. Sie ist irritiert, als sie feststellt, dass Schlichter schon wach ist. Lässt sich die Irritation, aber nicht anmerken. Rollt sich aus ihrem Deckenkokon. Setzt sich erst einmal auf die Bettkante. Vergräbt ihr Gesicht in den Händen, stöhnt, gähnt und seufzt morgendlich. ED beobachte jede Bewegung der Fahrerin. Es kommt ihm vor, als beobachtete er sich selbst, wie er dort auf der Bettkante sitze und seine Hände ein Grab für sein Gesicht werden. Aber das ist er nicht. Das ist ein anderer Mensch. Langsam verliert sich der Bezug. Das erste, was sich übrigens verlustigt, sind Wertevorstellung und die Konsistenz der Wirklichkeit. Er muss noch mal in die Stadt und Kaugummi kaufen, sagt er. m nächsten Morgen wacht Franck Thom der Bestatter von lauten Sirenen auf. Er dreht sich noch Einmal um. Kuschelt sich in seine Decke ein. Er ist der Typ, der ewig schlafen kann. Wozu der Geiz, denkt er sich oft und schläft zwölf Stunden. Aber die Sirenen kommen immer näher. Sind nicht zu ignorieren, wie ein Wecker ohne Snoozefunktion. Verschlafen sieht er aus dem Fenster und sieht der gesamten Hinterhof ist voll mit Polizeiwagen und Krankenwagen. Er öffnet das Fenster, wie zum Prager Fenstersturz. Vor drei Jahren hat man die Ermittlungen, in re wie Jan Masaryk zu Tode kam, wieder aufgenommen. Eines Morgens hat man den Außenminister der Tschechoslowakei, Sohn des ersten Präsidenten des Landes, tot vor seinem Fenster gefunden—zehn Jahre nach dem Tod seines Vaters. Nachdem schon ein Attentat auf ihn verübt worden war. Das war zur Zeit des kommunistischen Umsturzes 1948. Die damalige Polizei stellte Selbstmord fest. Knapp 50 Jahre später ist das nicht mehr so klar. Fotografien, die Masaryks Beinstellung zeigen und der Bericht seiner Verletzungen weisen viel mehr daraufhin, dass er gewaltsam in die Tiefe gestürzt worden war—womöglich war er schon vorher exekutiert worden, das allerdings ist eine Mutmaßung. Franck Thom denkt nicht daran, aus dem Fenster zu springen, wenn er auch manchmal den Gedanken verlockend findet. Im selben Moment fragt er sich aber auch, wer soll dann die Leute unter die Erde bringen, wenn er selbst dort liegt. Er findet das Modell: verbrennen und die Asche—von ihm aus—aus einem Fenster des Fernsehturmes schütten, sowieso wesentlich attraktiver. Das mit der Asche über den Himmel der Stadt verteilen, hat er mal in einem Film gesehen, der in Paris spielte. Da haben Leute die Asche ihrer Mütter zusammen in einen Eimer gekippt. Zehn Söhne mit toten Müttern waren das. Die Männer sind dann mit Ascheeimer—sie müssen wie Schornsteinfeger ausgesehen haben—den Eifelturm, über die Treppen, nach oben gestiefelt und haben die Asche ihrer Mütter über Paris verteilt. Da will sich noch jemand über Umweltverschmutzung beschweren, denkt Franck, schaut in seinen Innenhof und muss lachen.

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“Herr Franck Thom?”, ruft einer der Polizisten dem Mann am Fenster entgegen. Er nickt. “Haben sie eine Genehmigung hier mit ihrem Wagen zu stehen?” “Das ist mein Hinterhof ”, ruft Franck zurück. “Ihr Hinterhof?” “Privatgelände, was soll der Lärm am frühen Morgen?” Roter Backstein an drei Wänden. Schwarz von der Stelle, wo man im Herbst und Winter die Kohle zum Heizen ablädt. Bröckelnde Fassade aus Gründerzeit an der Vierten. Auch im Sommer riecht es nach der Kohle. Eine Art Vordach zu Franck‘s Fenster. Das Bestattungsinstitut im Erdgeschoss, seine Wohnung im ersten Stock. Über das Vorderhaus dringt der Straßenlärm, wie eine akustische Flutwelle, eine Gischt aus dem Verkehrsmeer Berlins. Sofia Lolita Sommerfeld ist in ihrer Lieblingsposition auf der Matratze vor dem Fenster eingeschlafen. Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sie wie ihr Vermieter der Bestatter sein Hofseitiges Fenster schließt und ein Polizist sich darüber empört. Sowieso ist sie überrascht über den roten Kastenwagen und die grün weißen Volkswagen im Hinterhof. Der Schlaf muss ihr kurzzeitig die Erinnerung an den Fenstersturz des Jungen verwehrt haben. Sie muss nicht bewegen—was kann es besseres geben—es ist wie im Traum, mit offenen Augen. Bewegung ohne Bewegung. Man muss um zu sehen und zu erfahren, sich bewegen. Sofia liegt regungslos und unbewegt in Lieblingsposition. Sie denkt, sie könnte sterben so. Schaut aus dem Fenster. Die Stelle wo der Junge aufgekommen war, ist leer. Sieht aus wie der restliche Hinterhof. So schnell geht das heutzutage, denkt sie, da stirbst du und innerhalb von Stunden bist du verschwunden, als würde man dich fürs sterben bestrafen. Einsperren ins Leichenschauhaus, weil du einfach gestorben bist. Niemand darf einfach so sterben—wegsterben. Die Polizei sucht Zeugen und bringt im Hausflur gegenüber der Briefkästen Zettel an der Wand an. Sie verteilt auch Zettel in den Briefkästen. Ein Zettel landet in Sofias Briefkasten. Sie denkt nach daran, die Lieblingsposition zu verlassen, wie ein Scharfschütze auf dem Hausdach. Aus den Fenster schauen in den Hof ihre Nachbarn. In Unterhemd mit Spaghettisauce, in Trainingsanzug, Resthaare nach hinten gegelt, billige Kopien einhelliger Mafioso, die Couchmafia, das einzige was die zocken sind die Pornohefte des Nachbarn. Ein Piepen im Hof. Sofia aus den Gedanken gerissen schärft den Blick und sieht den roten Notarztwagen rückwärts fahren. Ein Polizist geleitet den Wagen aus dem Hof. Franck öffnet wieder sein Fenster. “Was wollen Sie eigentlich hier?” Der Polizist abgelenkt vom Mann, der über den Hof brüllt. “Wissen Sie das nicht?”, ruft der Polizist zurück. “Woher soll ich das wissen? Sie haben mich gerade aus dem Schlaf gerissen.” “Es ist um zehn Uhr morgens.” “Ja eben.” Der Notarztwagen kommt dem Leichenwagen gefährlich nah. “Also was soll der ganze Aufriss?” “Sie haben echt keine Ahnung, oder?” Langsam fährt der Notarztwagen in den Leichenwagen, wie in Zeitlupe wölbt sich das Blech nach innen.

angewurzelt, fest gefroren, greift nichtssagend wie in Trance in seine Jackeninnentasche und holt die Kaugummidose hervor. Kein Geräusch. Kein klappern. Die Taxifahrerin schaut auf die leere Kaugummipackung. Er öffnet die Dose. Die Taxifahrerin noch immer neben ihm, hat angefangen im stehen zu essen. Ein Teil des Deckels hat sich in seinen Finger gedrückt und einen Abdruck hinterlassen. Marmelade, spricht er und stellt fest, die Dose ist leer. Woraufhin das Zittern stark zunimmt und auch in seiner Stimme ankommt. Hält sich den Magen. Drückt förmlich seine Elle und Speiche in den Bauch. Ein brennendes Gefühl von einem entfernten Feuer in seiner Magengegend. Er stößt auf. Kneift die Augen zu. Verkrampft das Gesicht. Die Taxifahrerin hat ihren Teller auf dem Buffettisch abgestellt und fehlt neben ihm. Er kneift immer wieder die Augen zu und reißt sie wieder auf. Atmet flachen. Hat die Arme vor der Brust verschränkt. Stößt wieder auf. Aus dem Radio kommt eine Mischung aus Rap und RnB. Er hat ein Geldstück in der rechten Hand und spielt damit. Die Taxifahrerin ist zurück und streckt ihm einen Kaffee entdecken. Toni Braxton singt im Radio: you‘re makin‘ me high. Schlichter sagt, ein Arm verschränkt auf der Brust spielt mit dem Geldstück, der andere führt die Tasse gen Gesicht, das Marmeladenparadoxon ist wenn man sich nicht entscheiden kann. Warum er sich für solche Dinge interessiere. Man hat zwei Gruppe, führt er starr aus ohne sich zu bewegen und starrt auf den Wurstteller auf dem Tisch vor ihm. Der einen Gruppen präsentiert man ein Regal aufgefüllt mit hunderten Marmeladengläsern und der anderen Gruppe zeigt man ein Regal mit nur wenigen Sorten. Sie sollen ein Glas Marmelade kaufen. Und was ist das Ergebnis, fragt die Fahrerin. Das Ergebnis ist, schließt Schlichter an, die Gruppe mit der größeren Auswahl, fand das Marmeladenregal wesentlich attraktiver und anziehender, als die Gruppe mit der kleineren Auswahl. Und ist schnurstracks darauf zu gelaufen. Die Gruppe mit der kleinere Auswahl, ist erst über Umwege am Marmeladenregal angekommen. Allerdings konnten sie sich leichter entscheiden. Die Gruppe mit der größeren Auswahl hatte enorme Entscheidungsschwierigkeiten, bis sich einige letztlich überhaupt nicht entschieden. Und was hat das mit Ihnen zu tun?, fragte die Taxifahrerin. Nichts, sagte er. Ich habe keinen Hunger. Läuft davon, greift sich einen Stuhl, setzt sich wieder an den Tisch, den sie zuerst in Beschlag genommen hatten und stellt die Kaffeetasse ab und schaut aus dem Fenster. You‘re makin‘ me high. Das Marmeladenparadoxon besagt, je größer die Auswahl ähnlich wertiger Optionen, desto schwieriger fällt die Entscheidung.

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.E. Schlichter und seine namenlose Fahrerin gehen stumm die Treppen hinunter. Stumm sitzen sie am Frühstückstisch. Es ist ein Buffet aufgebaut, wo die Kneipe gewesen ist. Das Frühstück ist ganz ordentlich. Es gibt türkisches Rühreier, Menenem, der große Süleyman wäre stolz. Obwohl man das mitten in -ow, nicht Menenem nennt, sondern scharfes Rührei mit Tomate und Wurst. Dazu stehen fast festlich auf den Buffettischen in Kannen, schwarz brauner Kaffee. Den Unterhaltungsautomat mit Gewinn- und Niederlagemöglichkeit hat man unter einer weißen Tischdecke versteckt. Er wird versteckt, wie Frankensteins Monster. In Krügen regionales Wasser aus der mecklenburgischen Schweiz und in wesentlich kleineren Schalen Milch vom Bauern, die noch warm von der Kuh ist und es schwimmen Fettblasen auf der weißen Flüssigkeit. Es gibt auch Joghurt in Gläsern und daneben Honig zum süßen des ungesüßten Joghurts. Zumindest auf dem mecklenburgischen Buffettisch sind Türken und Griechen sich einig. Schlichter steht vor dem Buffettisch und kann sich nicht entscheiden, kann sich nicht entscheiden, welches Geschenk er zuerst auspacken soll. Die Taxifahrerin steht einen Augenblick neben ihm und wartet mit ihm, weiß nicht worauf sie wartet, gibt sich einen Ruck und geht den Tisch einmal von vorne nach hinten ab und steht, mit einem gefüllten Teller, wieder neben Schlichter. Er steht noch immer wie angewurzelt vor dem Tisch. Marmeladenparadoxon, sagt er leise, hüstelt und hat sich augenscheinlich überwinden müssen zu sprechen. Die Taxifahrerin meint, sie esse nicht gern süß früh. Schlichter flüstert gähnend, das ist ein Experiment. Die Taxifahrerin fragt, was untersuchen Sie? Nicht ich, antwortet Ernst und von einem Hüsteln ist nichts mehr zu hören. Wer dann und was ist mit dem Frühstück, haben Sie keinen Hunger?, beinahe Fürsorge in der Stimme. Seine Hände zittern leicht. Sein Mund wird trocken. Also was ist das Marmeladenparadoxon? Schlichter wie

wei bis drei Autostunden—je nachdem ob man die Autobahn benutzt oder nicht—entfernt von der Stadt, die auf -ow endet, in der Rosenthaler Vorstadt des alten wilhelminischen Berlins, machen die meisten Polizisten nur das wofür sie abgestellt sind. Ein Mann, der schon früh seine Haare verloren hat, was man nicht sehen kann, weil er eine Mütze trägt, verlässt das Polizeigebäude in der Brunnenstraße. Kreuzt die Invalidenstraße. Blickt sich um. Hat einen Schlüssel mit Plastikende in der Hand. Schaut die Invalidenstraßen hinunter und die Veteranenstraße hinauf. Holt aus seiner Tasche einen Zettel hervor und liest ihn, einen Augenblick, bevor er ihn wieder einsteckt. Tritt an ein japanisches Auto heran. Der Polizist meint, im Streifenwagen kann man nicht observieren—zu auffällig. Der Motor startet und ein silberner Mazda entfernt sich aus der Parklücke, wendet auf der Brunnenstraße, steht an der Ampel, blinkt und wartet auf grün. Auch als Polizist, sagt Wolf, muss man die Verkehrsregeln beachten. Er sagt das mit einer Art nettem Stolz, als könne er auch anders, ist aber besonders fair. Er hatte sich den Mazda letztes Jahr mit Beendigung der Ausbildung und Einstellung im Revier gekauft. Ein 323er. Man hatte ihn gefragt, warum gerade ein Sportcoupé und er hatte gesagt, er möge die japanische Kultur mit Zen Buddhismus und grünem Tee. Er rollt über die Kreuzung. Ein silbernes Auto bewegt sich die Veteranenstraße nach oben. Ein Gehweg von fünf Minuten. Straßenbahnschienen führen den Berg hinauf und Wolfs Reifen quietschen. Er trägt seine Uniform im Privatauto. Auf der anderen Seite der Straße: Kopfsteinpflaster. Sieht aus wie ein Kompromiss einer Straße. Autos parken am Straßenrand. Er hat aber die Mütze abgesetzt und auf den Beifahrersitz gelegt—ein Kompromiss sagt er. Er ist anders als die meisten Polizisten. Er bekämpft das Verbrechen, wo er es wahrnimmt, egal ob er wegen einer anderen Sache unterwegs ist oder nicht. Als Feuerwehrmann, sagt er, gehst du auch nicht am brennenden Haus vorbei. Manche Kollegen wissen das zu schätzen, andere sagen er sei pedantisch und penibel oder einfach nervig. Auf der Veteranenstraße hat er zwei Fahrzeuge gesichtet, die entgegen der Fahrtrichtung geparkt haben. Er denk sich, so viel Zeit muss sein und steigt aus seinem Wagen. Stellt sich jeweils vor die Autos, notiert sich die Nummernschilder, hebt jeweils den Scheibenwischer an und legt den Strafzettel jeweils darunter. Strafzettel verteilen symmetrisch und ästhetisch wie Eiskunstlauf. Warme Luft weht ihm ins Gesicht. Er hält einen Moment inne und blickt nach rechts und sieht die Statue Heinrich Heines. Die kurzen Ärmel seines Hemdes flattern im Wind. Er bewegt sich zwischen den beiden Autos hindurch und steht vor der Statue. Seinen Wagen hat er in zweiter Reihe geparkt. Andere Fahrer hupen. Er blickt sich um. Bemerkt aber nicht, dass sein Fahrzeug gemeint ist. Zum ersten Mal fällt ihm auf, dass die Statue Heinrich Heines so etwas wie Haare hat und auch, dass sie pausbackiger ist, als er immer dachte. ”Wir ergreifen keine Idee, sondern die Idee ergreift uns und knechtet uns und peitscht uns in die Arena hinein

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dass wir wie gezwungene Gladiatoren für sie kämpfen“, liest er auf dem Sockel der Statue. So hat er darüber noch nicht nachgedacht und schaut zum Teich am Fuße des Volksparks Weinberg. Zurück im silbernen Mazda wird er von hinten angehupt und regt sich darüber auf, während er den Motor startet. Er hat vergessen, dass er nicht in einem Dienstwagen sitzt. Er rollt, in aller Ruhe, den Berg hinauf. Hinter ihm bildet sich eine Autoschlange. Einen Dienstwagen hupt man nämlich für gewöhnlich nicht an. Ein paar Meter weiter, am Ende des Parkes, kommt die Schlange zum stehen. Wie eine la Ola-Welle geht ein Hupkonzert von einem Auto zum anderen. Bis Wolf erneut aus dem Wagen aussteigt. Er hat sich seine Mütze wieder aufgesetzt. Wie die Geräuschswelle die Veteranenstraße von unten nach oben erklang, verstummt sie mit erscheinen Wolfs. Diesmal hat er sogar die Handbremse angezogen. Die Schlange passiert ihn wie ein Fluss um einen Stein fließt. Er genießt den kurzen Moment der Achtung und steigt wieder in sein Fahrzeug. Wolf ist über-engangiert und fühlt sich grob unterfordert, manchmal meint er, die anderen sehen nicht, welche Qualitäten er als Mensch, vor allem aber als Polizist aufweisen kann. Dann denkt er, es ist nur eine Frage der Geduld, die er haben muss, bis er entdeckt wird. Vom Polizeipräsidenten zum Beispiel, um mal ganz oben anzufangen. Er hat die Hände am Lenkrad. Blockiert die zweite Reihe. Leute laufen an ihm vorbei—herrlicher Sommertag —in Kleid und kurzen Hosen. Wolfs Scheibe ist nach unten gekurbelt. Er dreht an den Knöpfen seines Empfängers. Er ist niemand der gern Radio hört. Aber ganz still mag er es auch nicht. Deswegen hört er gern den Polizeifunk der anderen Wachen. Er hat sich dazu einen Empfänger ins Auto bauen lassen. In Neukölln ist ein Junge verunfallt, er ist aus dem ersten Stock gestürzt. Irgendwann kurz vor Morgengrauen. Wahrscheinlich hatte er einen Komplizen. Sie sind in die Wohnung eines Bestatters eingedrungen. Wolf fragt sich, wie die Wohnung eines Bestatters aussieht und stellt sich vor, überall hängen Sprüche, wie: Carpe Diem, an der Wand. Der Junge und sein Komplize waren vom Bestatter überrascht worden, sagen Wolfs entfernte Kollegen im Polizeifunk. Der Junge sei aber nicht gestorben, sondern knapp davon gekommen. Es gehen Gerüchte um, ob das Selbstmord sein sollte und geplant war, von der Wohnung eines Bestatters. Die Jugend von Heute, werde immer morbider. Da wusste Wolf nicht, was ihn mehr enttäuschte. Das Überleben des Jungen oder dass er selbst nicht da war. Er ist neidisch. Er ist nicht neidisch auf den halbtoten, beinahe toten Jungen. Er ist neidisch auf die Kollegen und den Fall. Er sieht sich selbst in der Wohnung des Bestatters, den Bestatter befragen: und haben Sie nicht vielleicht doch den Jungen gestoßen? Sicherlich war es nicht Ihre Absicht ihn zu verletzen, aber los werden wollten Sie ihn, nicht wahr? Sie dachten sich das wäre Selbstschutz? Rechtspsychologisch spricht man hier von Suggestion, ganz klar. Wolf meint ein bisschen Einfluss nehmen, die Aussage ein bisschen lenken, schadet nie und verkürzt die Befragungszeit—ökonomisch denkt er nämlich auch. Wolf ist still. Hört den Polizeifunk. Denkt sich, meine Zeit wird kommen. Er denkt sich, es ist nur eine Frage der Zeit. Wolf denkt in letzter Zeit häufig über Zeit nach. Seitdem er das mit den vier Jahren weiß, denkt er oft daran, wie Zeit einen verändert. Wie man den Lauf der Dinge nicht verändern kann. Wie man die Zeit nicht anhalten kann. Wie man nicht in die Speichen des Rades der Geschichte greifen kann. Wie der, der in die Speichen greift, sich die Finger bricht. Wolf ist kein besonders philosophischer Mensch und er sagt sich, er solle nicht so sentimental sein. Und Neid sei keine gute Eigenschaft. Wolf dreht am Empfänger. Dieses Mal hört er die Stimme einer Kollegin aus dem Abschnitt Elf Bezirk Reinickendorf. Wieder hat jemand Mörder auf den Bürgersteig vor der JVA in Tegel gesprüht. Noch immer hat man keine Ahnung, wer der Mörder-sprüher sei. Das einzige, was man über ihn weiß ist, dass er Sprühdosen von Sparvar benutzt—wie die meisten. Er schaltet um auf Radio und bemerkt zunächst den Unterschied nicht. Gestern am Montag wurde ein VW Polo auf der A2 Berlin-Hannover auf der Raststätte bei Theesen aufgehalten. Der Polizei vor Ort war der Wagen sofort aufgefallen, denn er beherbergte 13 Menschen. Sieben Männer, zwei Frauen und vier Kinder. Zwischen Fünf und 38 Jahren. Später stellte sich heraus, dass der Polo im Raum Berlin gestohlen worden war und dass gegen sieben der 13 ein Haftbefehl, wegen illegaler Einwanderung, vorlag und sie gesucht worden waren. Der Polizist sitzt im silbernen Mazda und fragt sich, warum man ausgerechnet einen Polo klauen muss. Er kommt zu dem Schluss, dass es sich um eine Familie von illegal eingewanderten Zirkusartisten gehandelt haben muss. Vielleicht sollte er auch Profiler werden, denkt er sich. Und die Nummer war in der Manege wohl äußerst beliebt, bei den Polizisten der Raststätte stoß die Sache eher auf wenig Gegenliebe. Als er die Hausnummer 13 der Veteranenstraße passiert—ein Schuhgeschäft auf dem Schild steht zum Schuster—sieht er zwischen den Häusern geradeaus, die Zionskirche hervor staken. Fünf Minuten von der Brunnenstraße entfernt die Straße am Volkspark nach oben, dann siehst du die Zionskirche und bist schon da, am ehemals höchsten Punkt Berlins, wo man vor 120 Jahren diese Kirche gebaut hat. Das Gebäude steht vor ihm, wie auf einem Tempelberg, an dem Wolf vorüber fährt, als würde er auf Schienen gezogen. Die Schienen selbst verlaufen geradeaus, knicken dann nach links in die Kastanienallee ab, wo sie sich in bereits vorhandene Schienen einreihen. Die in einer Richtung nach Norden verlaufen und in der Anderen, Rich-

tung Rosa Luxemburg Platz, den Berg hinunter, auf der gegenüberliegenden Seite des Parkes. Sozusagen im Rücken Heinrich Heines. Muss es dann heißen: wir glauben die Idee ergreife uns—Macht allerdings, ist das was ein Mensch dem Anderem gibt. An der Ecke, wo die Zionskirchstraße auf die Kastanienallee trifft, ist ein Friseur Locke und Glatze, es heißt der Besitzer sei an einer seltenen Immunkrankheit erkrankt—selten oder neu. Die Zionskirchstraße ist wie ein Rahmen um den inoffiziellen Tempelberg Berlins ohne Klagemauer. Wolf verlässt die Schienen an der Ecke der Kirche, biegt nach links ab und folgt dem Kirchengebäude und sein Radio schrammelt. Er verlässt wiederum die Zionskirchstraße im Rücken der Kirche und trifft auf die Griebenowstraße. In dieser sucht er sich sofort einen Parkplatz und findet einen direkt vor dem ersten Haus. Dreht den Schlüssel. Schaltet den Motor aus. Zieht den Schlüssel ab. Lässt sich in den Sitz sinken. Fährt sich in die Hosentasche seiner Uniformshose. Baumwollstoff umschließt seine Hand, die selbst einen Zettel umschließt. Er kramt den Zettel aus der Tasche hervor. Griebenowstraße zwölf steht, in seiner eigenen Handschrift, auf dem Zettel geschrieben. Er faltet den Zettel wieder zusammen und drückt in sich in den Bereich oberhalb des Beines. Schaut auf und liest an einem Hausnummerschild neben dem Aufgang die Nummer: zwölf. Gut, sagt er sich, dann kann die Beobachtung ja beginnen. Ein graues Auto fährt an ihm vorüber. Er hat einen Notizblock auf dem Schoß. Ein Fahrrad folgt dem Auto. Sein Fenster ist noch geöffnet und es riecht nach Gewürzen. Als stände er auf einem Basar. Im Erdgeschoss der Hausnummer zehn/elf ist ein indisches Restaurant, oberhalb der Fenster, die allesamt mit Hindufiguren geschmückt sind, die wiederum lediglich Variation von Ganesha darstellen—der Elefant in einer Muschel, der Elefant liegt, der Elefant als Baby mit seiner Mutter Parvati und seinem Vater Shiva, der Elefant sitzt auf einem Hocker, der Elefant sitzt in einem Thron, der Elefant tanzt auf dem Thron—steht auf einem blauem Schild Ganges Restaurant geschrieben. Aus einem vom Boden bis zur Zimmerdecke reichenden geöffneten Fenster mit einer bis zum Bauch reichenden Vergitterung, knapp oberhalb des Schildes—als würde es auf dem Schriftzug ruhen—steht ein etwa neunjähriger Junge, schaut zu Wolf ins Auto, weint, verschließt das Fenster als der von diesem entdeckt wird—und beobachtet Wolf durch das Fenster. Wird der Beobachter zum… Im Laufe von zwei Stunden, sieht er durch die Frontscheibe vor sich, sind drei Menschen aus dem Gebäude gekommen und fünf in es gegangen. Das ergibt eine Differenz von drei, schreibt er in seinen Notizblock. In den unteren Fensterreihen stehen Balkonkästen, aus denen Blumen ragen. Die Kirche überragt die gesamten restlichen Gebäude. Auch vom Fernsehturm kann man sie sehen. Jemand muss die Fensterrahmen geputzt haben, denn sie strahlen weiß. Er streicht die drei durch. Doppelt. Und schreibt stattdessen eine Zwei. Eine Beobachtung, sagt Wolf, besteht vor allem aus zählen. Zwei rein, einer raus. Zählen und Plus und Minus rechnen, Kindergarten, meint er als müsse er sich verteidigen und schaut auf die Kirchturmspitze. Er wünschte er hätte einen Assistenten, der für ihn die Arbeit mit den Zahlen macht oder ein neuartiges Computersystem, das mit einer sogenannten Lichtschranke Menschen zählen kann. Sowohl Assistent, als auch Computersysteme sind hochgradig fehleranfällig und teuer dazu. Eine sinnlose Verschwendung von Steuergeldern. Da macht er es lieber selbst. Wolf macht die Dinge gern selbst. Ein Mann mit Baskenmützen und buntem Hemd—Typ Hawaii, notiert Wolf—läuft mit zwei Kindern an der Motorhaube vorbei, ganz als wolle er über sie rutschen. Seine Augen erschrecken, als sie Wolf im Auto entdecken. Er zuckt aber nicht zusammen oder zeigt sich sonst erschaudern. Geht ganz gewöhnlich am Auto vorbei. Lächelt, als er entdeckt, der Mann im Auto ist in Uniform. Die Kinder bleiben auf der engen Straße stehen. Wolf ignoriert den Mann und seine Kinder. Ein Gesicht kommt der Scheibe auf der Fahrerseite gefährlich nahe und eine Faust klopft sanft an die Scheibe. Wolf verdeckt seinen Notizblock mit der recht Hand, mit der linken dreht er erst das Radio auf lautlos und kurbelt dann die Scheibe hinunter. Der Mann schaut sich um Auto um. Wolf schaut den Mann an. Das Fahrzeug scheint ganz aufgeräumt zu sein. Aber ein Mann in Uniform in einem japanische Sportcoupé, der dazu noch silbern ist, irritiert den Fremden wohl. Ob alles in Ordnung ist, fragt der Fremde. Alles in Ordnung, antwortet Wolf automatisch und lässt mechanisch den Aufgang der Hausnummer 12 nicht aus den Augen. Wie ein Fabrikarbeiter das Fließband. In bester Ordnung, gehen Sie bitte weiter. Das Fließband seiner Beobachtung ist eine Reihe von zusammenhangslosen Zahlen—die noch in Einen gebracht werden müssen. Der Mann sagt, er wäre selbst mal in so einer Lage gewesen. Ob er eigentlich zu Laura wolle? Wolf beschließt den Mann durch Schweigen zu vertreiben. Er wäre nicht der einzige. Inzwischen liegt der Notizzettel offen. Er war auch mal einer von denen, die dort oben in der Wohnung ihr restliches Leben verbringen wollten, aber er habe es geschafft davon los zu kommen. Wie von einer Sucht. Wie dem auch sei, sagt der Fremde, vor zehn Jahren war er in ähnlicher Lage. Besonders hier zur Zionskirche hat man ihn oft geschickt. Es war nötig einen Pfarrer zu beobachten. Pfarrer S… ihm fällt der Name nicht ein. Er überlegt. Summt lange ein S. Wolf schweigt noch immer. Pfarrer Sim…, er kommt nicht drauf und sagt: „auch egal. Was ich sagen wollte,-“ “Ich bin Polizist und kein Spitzel”, antwortet Wolf und unterbricht ihn. Der Mann und seine Kinder sind gegangen. Plötzlich ein Licht im dunklen Hausflur, dass er durch die Scheiben der Haustür sehen kann. Zum Schluss hatte er Wolf einen giftigen Blick zugeworfen, den Kindern einen Stoß

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versetzt und ist dann in der Wollinerstraße nebenan verschwunden. Ein Mann mit einer Art schüchternem Blick kommt aus dem Haus. Er schließt ein Auto, welches seitlich am Straßenrand steht, auf. Startet den Motor. Sitzt einen Moment und bewegt sich nicht, hat die Hände am Lenkrad und fährt an. Und ist verschwunden. Wolf notiert sich das unter dem Vorkommnis mit dem Mann und seinen Kindern. Er sagt, oft merkt man gar nicht, wie die Dinge zusammenhängen, wenn man sie nicht in Gänze vor sich sieht.

E

rnst Edwin Schlichter wartet draußen, als die Taxifahrerin noch mit einer Frau von der Kneipe spricht. Von Ulrich Rabenow keine Spur. Schlichter ahnt hier das selbe Verhältnis wie im AVUS-Motel. Verzeihung nochmal für gestern Nacht. Schlichter beobachtet aus der Entfernung: die selbe Hand liegt auf der Schulter und die Andere führt wieder den Schwanensee auf. Sie hat ihm ein Brot geschmiert. Er hatte der Fahrerin Gestern all sein Geld gegeben, dass sie sich und alles was die Beiden machen bezahlen kann. Die Fahrerin tat das Geld sorgfältig, im Beisein von Schlichter in einem Umschlag, den sie ihrerseits, an ihm vorbei, im Glovecompartment verstaute. Sie fahren an einem Haus mit Sitzbank vorbei, ein Mann liegt in Fötusstellung auf dem Boden. Sieht aus als hätte er auf der Bank geschlafen und sei runter gefallen. Die Taxifahrerin hat aufgegeben zu fragen, wohin sie fahren sollen. Sie scheint sich ihrer Verantwortung bewusst und fährt. Sie fragt auch nicht mehr, ob sie pausieren darf. Gerade jetzt steht sie vor dem Taxi, pafft eine ihrer selbstgedrehten Kippen, die sie während der Fahrt herstellt, guckt in die Motorhaube, schnaubt und schüttelt den Kopf. Ob etwas nicht in Ordnung ist? Die Fahrerin schaut an der Motorhaube vorbei. Schüttelt den Kopf. Runzelt die Augenbrauen. Hebt eine Hand zur Motorhaube. Lässt Schlichter nicht aus den Augen. Die Zigarette im Mundwinkel. Die Motorhaube kracht in die Vorrichtung und rastet ein. Schlichter fährt in sich zusammen. Das Taxi bewegt sich wieder. Sie fahren. Schlichter presst eine Hand in seinen Bauch. Vor drei Stunden, um fünf ist die Sonne aufgegangen. Er ist etwa zur selben Zeit aufgewacht. Mit Sand im Mund. Wäre Nix-Kessin ein Zähneknirscher, hätte er jetzt Staub im Mund. Gemahlen von zwei Kiefereihen des angespannten Mutes und verkrampften Gemütes. Wer glaubt das hatte Nix-Kessin veranlasst, ins Haus zu gehen um dort weiter zu schlafen, irrt sich. Er schläft nicht gern im Doppelbett. Das hatten wir schon. Straßenschilder bekräftigen Schlichters Vermutung, dass sie nach Rostock fahren. Im Radio läuft Pop. Schlichter sagt, Pop muss man schreiben und man muss es schaffen, dass die Leute fühlen und denken, es wäre nur für sie, für dieses Gefühl geschrieben, ihr eigenes Gefühl beschrieben. Pop vereinfacht den Katalog der menschlichen Emotionen. Pop muss unpersönlich intim sein, austauschbar, relativ proportional und direktiv ein Alltagsgefühl von Selbstverwirklichung reflektieren, dass Menschen. Pop ist das Blashorn der Generation P. Der Unentschlossenen. Der ersten Selbstbestimmten und verzweifelten Generation. Schlichter ist so ein Menschen, der von allem eine Ahnung hat, aber nichts richtig weiß. Die Taxifahrerin nickt, starrt auf die Straße und lässt Schlichters Beitrag eher unkommentiert. Der Chor der Generation P. erklingt im Gleichklang im traurigen und eingeengten Musical ihres Lebens. Man hat uns versprochen, jeder Mensch hat ein Talent. Jeder Mensch besitzt sieben Fähigkeiten, die er wie kein zweiter beherrscht und man hatte uns gesagt, wahre Expertise braucht viel Übung. Etwa 10.000 Stunden. Das sind fünf Jahre. 40 Stunden die Woche. Wir fragen uns, wo sind diese Fähigkeiten? Wo ist unser Talent? Wir müssen üben und wir hinken verdammt weit in der Zeit hinter her. Das Problem: wir wissen nur wer sein Talent und seine Fähigkeiten gefunden hat, der wird glücklich. Nur jemand, der in seinem Job aufgeht, der wird zufrieden. Deswegen suchen wir unablässig nach unserem Talent und unseren Fähigkeiten. Wir wissen, nur dann können wir wahrhaft zufrieden und glücklich sein. Die Generation P steht vor dem Regal und kann sich für keinen Beruf entscheiden und macht noch ein Praktikum. Schlichter, war in seinem Leben oft auf Reisen und ist daher vertraut damit, sich nicht heimisch zu fühlen—das auch genoss—weil er sich so oder so nie und nirgendwo jemals heimisch gefühlt hatte. Daher machte er es sich zu einer peniblen Angewohnheit, wann immer er, den Ort wo er gerade wohnte, verließ—eine Reihe von Büchern, Artikeln, Essays und unfertigen Manuskripten mitzunehmen. Würde man es nicht besser wissen, man würde ihn für einen gebildeten Menschen halten. Was ihm ebenso dazu dient, diese innerliche Leere zu überbrücken. Beziehungsweise, sie zu substituieren und zu sublimieren. Auch in seinen Koffern nach Amsterdam, die jetzt im Kofferraum des Taxis waren, hatte er Stoff mit—Lese- und Schreibstoff sich abzulenken und fernzudenken. “Ich sage mir immer, du musst Schaffen und Schaffen um des Schaffenswillens. Es gibt in meinem Leben nicht all zu viele Momente, in denen ich mich lebendig fühle. Schaffen und geschafft werden sind die Momente, in denen ich mein Herz pulsieren spüre und meinen Atem, als Existenzbeweis, meinen Körper beleben erkenne.” Wie gesagt, von allem eine Ahnung, bisweilen gut klingende Ahnung, aber kein echtes Wissen.

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Schaffen und Schaffen, als ob man wüsste, man sterbe morgen. Auch für die Nachwelt, als Warnung oder Bespaßung. Und wenn jeder Moment des Lebens hassenswert ist, dann soll doch wenigstens etwas davon übrige bleiben—oder nicht? Interviews lesen mit Menschen, die er schätze, hilft zu Weilen auch. Was nicht hilft, ist mit Frauen zu schlafen, die er nicht liebt—er dachte sich das aber mal. Den fremden Körper beben spüren. Küssen, Liebkosen, Schmusen, streicheln und so weiter. Er muss auf Toilette. Die Fahrerin sagt, dann hält sie an der nächsten Raststätte. Schlicht sagt: nein. Nein. Wiederholt die Fahrerin mit Fragezeichen in den Augen. Nein. Sie versteht nicht. Er schaut aus dem Fenster. Eine Viertelstunde vergeht. Was nun ist. Nichts ist. Er macht das nicht. Wie dann. Straßenrand. Sagt er nicht zu ihr, sondern zum Fenster. Sie fahren an einer Raststätte an der Landstraße vorbei. Er guckt aus dem Fenster. Und reckt den Kopf nach dem vorbei fahrenden Gebäude. Die Taxifahrerin bemerkt, er schaut dem Haus nach, wie nichts anderem zuvor. Er schaut sie an. Sie will was sagen. Eine Art Verständnisvolle Miene schaut in sein Gesicht. Er wendet den Kopf gen Straße, seine Pupillen zucken und zittern, er verfolgt die Fahrbahnmarkierung. “Manchmal denke ich, ich habe eine schwere Krankheit, die nur darauf wartet auszubrechen.” Schlichter und die Fahrerin lassen -ow hinter sich und verlassen die mecklenburgische Schweiz das soll auch kein Buch über Mecklenburg Vorpommern werden. Sie erreichen den Rostocker Hafen parallel zur A19 auf der Petersdorfer Straße. Schlichter meint super von der Autobahn direkt aufs Schiff (wenn auch die Fahrerin sich weigerte, Autobahn zu fahren). Er ist sichtlich aufgeregt. Rostock Hamburg des Ostens. Er fragt wie viele Tiere werden bei der Überfahrt eingerechnet werden und freut sich über sich selbst. Die Taxifahrerin und die Frau am Tickethäuschen lassen Schlichters Beitrag unkommentiert. Die Frau in der kleinen Behausung übergibt schweigend das Fährticket. Spur 41 sagt die Frau im Terminal. Eine breite Fläche tut sich vor ihnen auf. Blaue Schiffe. Drei LKW mit Flügeln von Windkrafträder. Die sieht man jetzt immer öfter. Vor allem in Mecklenburg. Ein Schiff wie der technologisierte Blauwal steht am Kai. Festgezurrt mit einem Tau, so breit wie das Taxi. Sie stehen an der dicken weißen Linien vor einem Stoppschild auf Spur 41. 2. Das winzige Taxi. Vor ihnen stehen Volvos mit schwedischen Kennzeichen. Schlichter sagt: “Hupen!” Die Taxifahrerin hupt nicht. Nach einer Weile, winkt ein Mensch mit gelber Weste und weist das Taxi an sich einzureihen und zu warten. Im warten ist Schlichter nicht so gut. Er ist nervös. Die Fahrerin weiß was jetzt kommt, er greift in die Innentasche seines Jacketts und holt die Kaugummidose. Ein klappern geht durch den Fahrzeuginnenraum. Ein Lächeln durch sein Gesicht. Sie rollen auf die Fähre, wie in den Bauch des Blauwals aus Blech. Wieder Aufregung. Die Handbremse ratscht. Ein paar weiße Dinger fliegen in Zeitlupe in den Rachen Schlichters. Die Fahrerin steigt aus. Schlichter sitzt im Fahrzeug. Kommt mit einiger Verzögerung nach. Man könnte meinen er sei ein Verfolger der Fahrerin, der unerkannt bleiben will. Aber der einzige, der hier unter Verfolgungswahn leidet ist er selbst. Sie stehen mit einer indischen Familie vor dem Fahrstuhl. Es tut sich nichts. Der Elevator bleibt in Etage neun. Treppen klingen blechern und hohl. Deck neun. Der Innenraum der Fähre kleidet sich abwechselnd in Teppichboden, der aussieht wie die Schuppen von Dinosaurier, wie man sie sich in den achtzigern vorstellte und einer Art Marmorimitat auf dem Boden und an den Wänden. Dazwischen goldene Leisten. Schlichter denkt, man müsste schon auf dem Gold kauen, um zu sehen ob es echt ist. Er sieht sich sagen, sie soll schon einmal vorgehen, er müsse das Edelmetall prüfen. Wird abgelenkt von Säulen, die aussehen wie Aquarien ohne Fische, aber mit Blubberblasen. Während Ernst Edwin voll Ver- und Bewunderung des Interiors nicht weiß wo er zuerst hingehen, hinsehen und was er zuerst anstellen soll, sucht sich die Fahrerin routiniert und zielsicher einen Platz in der Panaromabar und bis Schlichter sie gefunden hat, vergehen zwischen den Lippen, der Frau mit den roßbraunen Haaren und den vielen Muttermalen, Leberflecken und Sommersprossen im Gesicht, zwei Weingläser und einiges an Nikotin und Qualm. Musik. Songs wechseln zwischen Country für Rentner-Bingo und Fahrstuhl-Blues für fernwehige Sehnsüchtige und in weiten des Meeres Schwelgende. An den Wänden billige Kopien von noch billigeren Gemälden von Wikingern und ihren Schiffen. Rotweiße Segel. Sieht insgesamt aus wie das Mannschaftsboot der Nationalmannschaft in Pastteltönen. Dann aber die Frage wo ist das Blau. Vielleicht das Wasser, denkt sich Schlichter. Leute, Fahrgäste, Touristen und Berufsreisende sitzen auf den Sofas ineinander gekuschelt und blicken aus den Panoramafenstern und sehen aus, als schlürften sie Kakao. Verrauchte und verbrauche Luft. Kissenbezüge riechen nach alten Rauch. Auf Marmorimitaten liegt eine gelbliche Schicht, von sich abgesetztem Tabakrauch.

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ie Sonne scheint in den Hinterhof. Von einem Fenster gegenüber aus flüchtet sich ein Flecken Sonnenstrahl auf die, wieder, eingeschlafene Sofia Sommerfeld. Sie liegt wie sie immer liegt in Lieblingsposition. Ein Hackenschuh ist zu Boden gefallen. Die Polizei ist gegangen, wie sie gekommen war, ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn es ihr nicht gut geht, dann legt sie sich lieber hin—in Lieblingsposition—und träumt und döst und schläft, denn wer weiß, was sonst passiert. Franck Thom sitzt in seinem Büro. Man hatte ihn verhört. Noch in der Wohnungstür. Er wird eine Aussage machen müssen, aber das wird dauern. Franck hat Zeit. Wer mit dem Tod arbeitet, hat generell mehr Zeit als andere Menschen. Er raucht eine Zigarre und telefoniert. Vor ihm liegt ein Kalender. Mit einem Bleistift in der Hand sitzt er im Pfauensessel und notiert sich Termine. Es fasziniert ihn. Er streicht seinen Bart. Die drei grauen Fetzen an seinem Kinn. Er bevorzugt sich die Oberlippe zu rasieren. Wolle man ihn beschimpfen oder mobben, wie das auf Neuhochdeutsch heißt, man würde ihn Mondgesicht nennen. Es klingelt an der Tür. Sofia zu müde um aufzumachen, macht erst einmal die Augen auf. Und sie wieder zu. Es klingelt ein zweites Mal. Mit offenen Augen streicht sie sich über die Stirn und entfernt einige ihr lästige Haare. Sie denkt darüber nach sie abzuschneiden, aber wie sieht sie dann aus?, denkt sie. Das Aussehen, sagt sie, ist das Letzte, was ihr geblieben ist. Es klingelt ein drittes mal. Sie bemerkt, dass ihr ein Hackenschuh fehlt. Sie setzt sich auf die Kante der Matratze im Wohnzimmer und sitzt halb auf dem Polster und halb auf dem Boden und zieht sich ihren Schuh wieder an. Was dem Falschschirmjäger sein auf dem Rücken fest gebundener Schirm ist, ist Sofia ihr über

den Fußrücken geknoteter Stöckelschuh, der ein wenig an römische Sandalen, als eleganter Frauenschuh, erinnert. Ihr erstes Paar Stöckel- oder Hackenschuhe hatte sie sich heimlich gekauft. Das heißt, als sie aus dem Internat ausgebüchst war. Klassisch über das Fenster per Bettlaken. Ihre Zimmernachbarin Greta Krämer half ihr. Das Mädchen mit den knallroten Haaren, ohne sie zu färben. Dann war sie in die Stadt geschlichen und gab ihr gesamtes Erspartes für die Schuhe aus. Da war sie irgendetwas zwischen 14 und 16. So genau weiß man ihr Alter nicht. Das ist eine lange und ätzende Geschichte, sagt sie. Mit einem Jahr hat man sie in einem Gebüsch gefunden. Von den Eltern keine Spur. Ausgesetzt war sie ist in ein Heim gekommen. Das Heim hatte eine christlichen Hintergrund und man nannte sie liebevoll die Schwester Mose. Nach kurzer Zeit hat sich eine Pflegefamilie bereit erklärt, sie aufzunehmen. Niemand wusste ihren Namen noch wie alt sie genau war. Die Pflegeeltern haben ihr dann einen Namen und ein Geburtsdatum gegeben. Sie waren eher weniger religiös und haben der Heimleitung, nachdem sie den Adoptionsvertrag unterschrieben hatten, gesagt, den Quatsch mit der Schwester Mose lassen wir lieber bleiben. Die Eltern waren so religiös, wie zwei Menschen, die sich unbedingt ein Kind wünschen, selbst keines bekommen können und von allen umliegenden Heimen bereits eine Absage erhalten hatten. Wenn ein Kind den Fluss hinunter treibt, ist es reine Glückssache, an welchem Ufer es strandet. Geboren waren sie wahrscheinlich irgendwo bei Saarbrücken. Was die Eltern dem Heim ebenso verschwiegen hatten, wie ihre nicht vorhandene Religiosität, waren ihre Umzugspläne. Vereinbart waren wöchentliche Besuche für das erste Jahr. Aber das solche Leute dann gerade nach Österreich ziehen um genau zu sein, nach Wien, ist schon verwunderlich. Man entschuldigte sich sehr, dass nicht erwähnt zu haben und gelobe Besserung und man gelobe einmal im Monat anzurufen. Dem Heim lag sehr viel an Sofia. Immerhin war sie für viele die Schwester Mose. Die Eltern wussten nicht einmal wer das sein soll. Als sie etwa zwölf war, ist ihre Pflegemutter an Krebs gestorben, hat man ihr gesagt. Ihr Pflegevater hatte verhindert, dass sie die Pflegemutter im Krankenhaus besuchte. Manche Menschen ziehen das Unglück gerade zu an. Dass ihre Pflegemutter an Krebs gestorben ist, hat sie erst Jahre später erfahren. Für sie als zwölfjährige war es so: sie kam aus der Schule, damals das zweite Jahr in der AHS-Unterstufe, einem Gymnasium mit humanistischer Orientierung, und wohnte, wie gesagt in Wien im dritten Stadtbezirk. Fragte ihren Pflegevater, wo ihre Pflegemutter sei und der antwortete, die komme morgen wieder, da saßen sie gemeinsam am Abendbrottisch—selten war es stiller gewesen, als an diesem Abend. Am nächsten Tag fragte sie den Pflegevater wieder nach ihrer Pflegemutter, wieder sagte er, sie komme morgen wieder. Nach einigen Tagen erweiterte der Vater die Geschichte um eine Geschäftsreise der Mutter. So hieß es anfänglich noch sie sei eine Woche in München, dann zwei Wochen, weil sie noch nach Berlin müsse, später sprach er von einer Geschäftsreise nach Buenos Aires in Argentinien, die einen Monat lang gehen sollte. Nach etwa drei Monate war Sofia des Fragens müde und sie beschloss, die Sache einfach hinzunehmen, nach weiteren vier Monaten, sagte ihr Pflegevater, sie müsse jetzt stark sein. Da setzte er sich zu ihr auf die Bettkante und sagte, ihre Pflegemutter käme nie wieder. Sie wohne nun Lima in Peru, sie habe dort einen anderen Mann kennengelernt, einen mexikanischen Botschafter, der in Peru für die Botschaft arbeite. Inzwischen sei ihre Pflegemutter schwanger und im Begriff eine neue Familie zu gründen. Es klingelt zum fünften Mal an der Tür und Sofia sitzt noch immer auf der Matratzenkante und schaut in den leeren Raum. Ein Sonnenflecken unternimmt seine tägliche Wanderung durch das Zimmer. Ihr ist warm. Aber das heiße nicht, dass ihre Pflegemutter sie nicht mehr liebe, sie liebe sogar noch mehr und lassen ausrichten, dass sie ihre Pflegetochter schmerzlich vermisse, jedoch die Flüge von Peru nach Wien so teuer sein. Da war Sofia inzwischen in der siebten Klasse, dem vorletzten Jahr in der Unterstufe und konnte anfänglich ganz brauchbare Noten vorweisen. Jeden Nachmittag wenn Sofia aus der Schule kam, sah sie ihren Pflegevater am Küchentisch sitzen. Er hatte seit Wochen die Wohnung nicht mehr verlassen. Er schlief lange und sobald er ausgeschlafen war, setzte er sich an den Küchentisch, bis es Abend wurde und er zu Bett ging. Das Leben zog an ihm vorbei. Eine für Sofia unbegreifliche Kraft, hatte ihren Pflegevater gelähmt, es war als würde man ihm seine Seele aussagen. Sofia erledigte die Einkäufe, ging zum Waschcenter, schleppte den Wäschekorb mit der feuchten Wäsche nach Hause, hing sie in der Wohnung auf und kochte für ihren Pflegevater. Sie sprach stille Gespräche mit ihm. Sie erzählte ihm, wie es in der Schule war. Dass es eine Jungen gab, den sie ganz gut fand. Brauchbar, hatte sie gesagt. Einen Jungen, der ganz brauchbar war. Die Sache mit dem Seele-aussagen, war für ihren Vater so anstrengend, dachte sie, dass er kaum sprechen konnte. In der Schule fiel sie auf, weil sie selbst im Herbst im T-Shirt kam und einen kurzen Minirock trug, der eigentlich kein Minirock war, sondern ein abgeschnittener knöchellanger Rock. Warum sie den abgeschnitten habe?, fragte sie ein Mitschüler bevor der Unterricht los ging. Weil der von ihrer Pflegemutter war. Im Unterricht redete sie laut mit sich selbst. Wenn die Schüler einen Text lesen sollten, dann erzählte sie lautstark, was sie noch machen müsse. Manchmal leierte sie ihren Einkaufszettel wie ein Gedicht runter. Immer öfter wurde sie des Unterrichts verwiesen. Ihre Leistung nahm ab. Sie schlief im Unterricht ein. Einmal sogar, als eine Klassenarbeit geschrieben wurde. Die Zeit für die Arbeit war rum, ihre Mitschüler verließen den Raum, sie war die

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Wer was trinken will, stellt sich bitte an. Silber gerahmt die Glasvitrine. Alte Brötchen. Die Musik läuft easy. Schlechter Kaffee, Leute starren Schlichter an—denkt er. Er setzt sich dazu. Schaut sich um. Gibt sich unsicher und die Fahrerin sagt: “sechs Stunden.” Er steht auf, geht sich braunes heißes Wasser holen, das Kaffee sein soll, denkt er würde wieder angestarrt, wie er sich für Kaffee anstellt und um einen Pappbecher bittet. Vielleicht braucht er auch einfach eine Brille. A. Lindgren, blonder rausgewachsener Bob und viel blauer Lidschatten, klebt wie eine Schicht Wachs, an den Augen, serviert das Getränk. Er bestellt einen Donut dazu und meint das wäre Beschiss, schmeckt und sieht aus wie ein Berliner mit Loch. Er meint, er will das Loch. Aus einer Plastikschüssel greift er ein paar Pakete Zuckerwürfel, wie Zellhaufen. Er trennt ein Paket von den aneinander klebenden Paketen und wischt sich die Hände an seiner Hose ab. Und denkt an die Weiße rot, beinahe violet gesprenkelte Haut von A. Lindgren. Gitarren klimpern wie bei einem John Wayne oder Terrence Hill Film durch die Panaromabar. Schlichter setzt sich wieder zu seiner Taxifahrerin und bröselt einen Zuckerwürfel in die weiße Tasse. Die hälfte Landet auf dem Tisch. Ein Mann, der aussieht wie die gescheiterte Form eines Fernsehmoderators sitzt am Tisch neben der Fahrerin und Schlichter. Er nippt an einem kurzen Glas mit brauner Flüssigkeit, deren Geruch bis zu den Beiden herüber reicht. Der Mann schaut in den Fernseher belanglos und gelangweilt. Er wirkt wie mit offenen Augen eingeschlafen. In seinem Anzug, könnte man auch vermuten er würde bei der Bank arbeiten. Einzig die bunte Krawatte lässt etwas anderes vermuten. “Wenn dir langweilig wird”, fängt die Fahrerin einen Satz an und beendet ihn mit einer Geste, die auf ein Schild zeigt. Er tunkt den Donut In die Tasse. Wie davon angesprochen, liest Schlichter vor: “Panoramabar, Casino, Kino und Restaurant auf Deck sieben, Sauna und Fitness neun, Kabinen acht und zehn Crew only.” “Shhhht”, wird er von der Fahrerin mit die gespannten Wangen wie nasse Tücher und den roßbraunen Haaren ermahnt. Er lächelt verlegen. Aus ihrer Hosentasche holt sie eine Zettel und schiebt ihn in die Mitte des Tisches. Schlichter schaut sich um. Kabine 42 steht darauf. Schlichter schnippt mit dem Finger, als habe er eine Idee und lässt dann doch ab. 80 Mark kostet die Kabine, erfährt er später. Sie gehen. Ein Tisch übersät mit Zuckerkrümmel bleibt zurück . Als im Fernsehen eine von diesen amerikanischen Shows, wie sie inzwischen immer mehr auch vom europäischen Fernsehen imitiert werden, auf schwedisch in den Fernsehern der Panaromabar läuft, verlässt auch der Mann mit der bunten Krawatte zügig die Bar überholt die Beiden und im vorbeigehen meint Schlichter, der Mann und der im Fernsehen sehen sich ungemein ähnlich. Woraufhin die Taxifahrerin nur abwinkt. Musik. Country. Schlechte Coverversionen von Johnny Cash. In einer Ecke der Panoramabar sitzen LKW-Fahrer und unterhalten sich über enge Kabinen und enge duschen. “Einmal hatte ich first class. Vier Betten und eine Dusche für Behinderten—für mich allein.” Der eine wirkt wie der typische Sozialphobiker, Tremor, wie auf dem Sprung, scheint zu klug um einfach Fernfahrer sein, norddeutscher Akzent, dennoch scheint er unter seines gleichen. Im Bauch des Schiffes ruht in Dunkelheit der hellelfenbein farbige Benz mit Hufeisen im Kühlergitter.

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letzte im Raum. Mit dem Kopf auf dem Tisch. Auf dem weißen Papier, wo man Ergebnisse von ihr erwartete, zogen sich Worte in Schlieren über das gesamte Blatt. Wie ein Seismograph. Ein Lehrer wartete bis sie aufwachte. Hast du wieder nicht geschlafen, hörte sie eine vorwurfsvolle Stimme in ihren Traum rufen. Man lud den Pflegevater zum Gespräch ein. Das Gespräch fand ohne ihn statt. Ein Erzieher aus dem christlichen Kinderheim, arbeitete inzwischen im österreichischen Jugendamt und erinnerte sich an Sofia, die Schwester Mose. Schließlich kam sie auf ein evangelisches Internat in Potsdam. Das war zwei Jahre nachdem ihre Mutter verschwunden war. Im Aufnahmegespräch, sagte man ihr, man bedaure den Tod ihrer Pflegemutter, Krebs sei eine ganz schlimme Krankheit. Aber meine Mutter ist in Südamerika, hat sie geschrien. In Südamerika, hallte es durch den Internatsflur. Da wusste man, man hatte ihr etwas neues erzählt. Und Sofia wusste, dass ihre Pflegemutter nie in Argentinien noch in Peru war. Sie war schlichtweg im Krankenhaus an Krebs gestorben. Inzwischen ist sie aufgestanden und blickt aus dem Fenster. Im Hof steht ein Mann. Ein unbekannter Mann. Letzte Woche ist ihre Mitbewohnerin ausgezogen und hat eine Announce in der Zeitung geschaltet. Zimmer frei. Suche Mitbewohner vorrangig Frauen, hatte sie in die zweite Hand geschrieben. Seit vorigem Jahr stellt die zweite Hand auch Anzeigen ins Internet. Sofia hat keinen Internetanschluss. Deswegen gibt es ihre Anzeige nur in der Zeitung. Das reicht aber, hatte ihre alte Mitbewohnerin gesagt. Da gucken wöchentlich hunderte Menschen auf Wohnungssuche rein. Berlin wird ja immer beliebter. Vor allem bei jungen Leute, die in Mitte feiern wollen, hatte sie gesagt. Im Brief zur Aufnahme hatte gestanden, bitte um sofortige Aufnahme wegen akuter Vernachlässigung und Verwahrlosung. Den Rest hat das Jugendamt geklärt. Man ist auch zu ihr und ihrem Pflegevater Nachhause gekommen. Da stand sie vor der Haustür und rauchte. Im nachhinein sagte sie, sie wollte den richtigen Eindruck machen. Als man den Vater fragte, ob er wisse, dass seine Pflegetochter vor der Tür stehe und rauche, in dem Alter, sagte er: “sie lebt ihr Leben und ich lebe meine Leben.” Dieser Satz wanderte dann auch so in den Bericht vom Jugendamt und hat allgemein den ganzen Prozess, wie man das in Jugendamts und Sozialsprache sagt, ungemein verkürzt Als man den Pflegevater fragte, warum er seiner Pflegetochter diese Geschichte von Lima und Buenos Aires erzählte, sagte er, er wollte es nicht wahr haben. Er dachte, wenn Sofia denke ihre Pflegemutter—und er sagte nicht Pflegemutter sondern Mutter—sei auf einer Reise, dann sei die Chance, dass sie überlebe größer, als wenn er die Wahrheit sage, dass sie wegen Leukämie im Krankenhaus liege. Im Internat hat sie lange gebraucht um Freunde zu finden—allgemein sich einzuleben. Lange hatte sie ein zweier Zimmer für sich, weil es Einzelzimmer nicht gab. Irgendwann war Greta Krämer bei ihr eingezogen. Die beiden Mädchen, verstanden sich sofort. Greta mit den feuerroten Haaren, Sofia mit dem schussweg, wie Greta in einem Wort Sofia beschrieb und dabei griente. Insgeheim bewunderte Sofia ihre neue Freundin Greta. Greta war eine dieser frühreifen Mädchen, die sich schon mit 14 nichts mehr gefallen ließen. Deren Körper mit ihrer charakterlichen Reife schnell nachgezogen war. In Form mit eines fast ausgewachsenen Busens. Sie war eine, die immer eine Spruch wusste, immer auf die Gelegenheit zu kontern wartete. Greta liebte Sprüche. Und ihr Lieblingsspruch war der, den selbst Woody Allen von den Marx Brothers ausgeliehen hatte. Der mit dem Club. Die beiden wussten eigentlich nie so genau, was ihre Sprüche bedeuten. Sie hatten keine Ahnung warum sie in dem Club, der sie Mitglieder aufnimmt, niemals beitreten würde. Es war nebensächlich und egal, was sich hinter den Sprüchen verbarg. Einzig die Reaktion der Erwachsenen zählte. Manche lachten, mancher schaute sie sorgenvoll an, manch eine verstand genauso wenig was von der Bedeutung. Und andere wiederum reagierte überhaupt nicht. Das war es, was Greta faszinierte, eine Sache und viele unterschiedliche Reaktionen. Greta sagte, das habe etwas magisches und sie hatte gerade eine Buch über Magie gelesen. Schwarze Magie um genau zu sein. Das selbe Maß an Reaktionen der Erwachsenen wegen ihrem Buch. Manch einer beschimpfte und verteufelte—was sie gut fand—sie für die Literatur, der sie sich hingab. Manch einer konnte überhaupt mit schwarzer Magie nichts anfangen. Manch einer tat interessiert und tat es als Jugendspielerei ab. Was meist die sogenannte Jugendspielerei enorm verstärkte. Einzig die Reaktion des Rektors des evangelischen Internats, verblüffte, wenn nicht irritierte sie. Er hörte vom Buch und sprach Greta darauf an. Sie hatte sich schon ihre Antworten parat. Provokation für die, die es abtaten. Verunglimpfung für die, die sie beschimpften. “Na immerhin beschäftigst du dich mit der Religion”, hatte der Rektor gesagt. “Mit der dunklen und finsteren Seite”, provozierte sie. “Hell und dunkel liegen manchmal näher als man denkt. Und manchmal ist gar nicht so klar, was was ist.” “Aber”, rief sie. “Das Buch ist von Luzifer persönlich geschrieben.” “Das ist genauso wenig wahr, wie das Gott die Bibel persönlich geschrieben hat”, konterte der Rektor und betonte das Wort persönlich, beinahe ins lächerliche. Sie hatte das Gefühl sie würde sich verteidigen müssen, dass sie das Buch lese. “Auf mich machst du den Eindruck einer jungen Frau, die sich genau das Gegenteil von dem was sie täglich sieht, heraus gesucht hat. Um sich abzusetzen, um zu provozieren und um Aufmerksamkeit zu gewinnen und das ist in Ordnung. Jeder Mensch sucht nach Aufmerksamkeit, wie jeder Mensch nach seiner Nische sucht und jeder Mensch sich im Leben einen Sinn bilden muss. Manche finden ihren Sinn in Gott und der Religion, andere nicht

und sie sind trotzdem nicht weniger gläubig. Jeder muss nach seiner Fasson glücklich werden”, sprach der Rektor des Potsdamer Internats. Pubertät und Humanismus sind keine gute Kombination. Es spielte keine Rolle, was Greta‘s Sprüche bedeuteten, die Hauptsache war, dass sie gut klangen, verschiedene Reaktionen hervorriefen und irgendwie richtig waren. So richtig wusste Greta nicht, was sie mit irgendwie richtig meinte. Es war mehr ein Gefühl. Wäre sie älter gewesen sie hätte gesagt, wichtig ist das die Sprüche nicht falsifizierbar sind, aber Logik hatte sie in der Schule noch nicht gehabt. Im Internat, wie anderen Schulen, waren die Schüler dazu angeregt, einen Vortrag über ein Thema ihrer Wahl zu halten, gern auch in Gruppen. Sofia hielt nicht viel von Gruppenarbeiten. Sie stand vor der Klasse und der erste Satz ihres Vortrags lautet: Leukämie, ein zusammengesetztes Wort aus leukós, das heißt weiß und haima, das heißt Blut. Leukämie. Meine Mutter starb an ihrem weißen Blut. Sie legte eine Folie auf den Polylux und erklärte, wie die weißen Blutkörperchen immer mehr werden. Wie ihre funktionsuntüchtigen Vorformen sich im Knochenmark einlagern, die übliche Blutbildung durch Verdrängung, blockieren. Die Klasse war still. Sofia legte eine Folie nach der anderen auf. Zeigte wie durch die Verdrängung langsam eine Anämie entsteht, eine Blutarmut, wie sie für ihre Klasse übersetzte. Wie die Anämie durch einen Mangel an roten Blutkörperchen, die Sauerstoff transportieren und durch einen Mangel an blutungsstillenden Blutplättchen, den Thrombozyten, übersetzte sie, und einen Mangel an funktionstüchtigen weißen Blutzellen, entsteht. Wie der Mangel das eigentliche Problem ist. Wie man den Mangel ausgleichen muss. Und trotz dessen, dass sie in ihrem Vortrag abschweifte und über Fehlen und Mangel redete, den man ausgleichen muss, bekam sie ihre eins. Es klingelt ein sechsten Mal. Sofia steht noch immer am Fenster. Die Haustürklingel ist Kaputt, deswegen hat sie die Tür zum Hof aufgemacht, bevor der erste potentielle Interessent für das Zimmer in der Wohnung, kam. Der Seitenflügel in dem die Wohnung mit dem freien Zimmer mit Blick auf den Hof gelegen ist, hat eine extra Klingel. Was es für Sofia relativ angenehm macht, so kann sie von ihrer Matratze aus in den Hof schauen, wer sich das Zimmer anschauen will und sich überlegen, macht sie der oder dem auf oder nicht—zumal in der Anzeige auch noch einmal extra steht, dass Frauen gesucht werden. Für die Dinge, die in Sofias Leben fehlen, hat sie sich ein paar extra Dingen erfunden. Die Pumps sind so eine extra Sache. Die Matratze im Wohnzimmer zur Hinterhofbeobachtung eine andere extra Sache. Manchmal denkt sie aber auch, sie muss aufpassen, Mauern allein schützen nicht, das weiß man spätestens seit der Sache mit dem Pferd in Troja—da nützen auch extra starke Mauern nichts. Was die beiden Mädchen teilten, war ihr schwieriges Verhältnis zu ihren Vätern. Sofia, die ihren Pflegevater seitdem Tag sie im Potsdamer Internat aufgenommen wurde, nicht mehr gesehen hatte. Für Greta‘s Vater war Ordnung extrem wichtig. Man könnte auch sagen, der Vater war ein besonders liturgischer Mensch oder einer, für den Rituale, die Liturgie des Alltags immens wichtig war. Wenn er am Sonntag mit seiner Tochter Frühstück essen wollte, folgte das einem ziemlich exakte Deckritual, wie Greta meint. Sie hatte dabei eine festen Platz und zwar kurz über der Schwelle zur Küche. Als erstes reißt Uz Krämer die alte Tischdecke vom Tisch—zum Spaß. Als zweites nimmt er einen neuen roten Lappen aus einer Plastikverpackung, feuchtet ihn an, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Danach faltet er den Lappen auseinander, um ihn anschließend zu einem Quadrat zu falten und zwar genau durch zweimal umschlagen. Als drittes nimmt er den quadratischen Lappen, er darf aber nicht vor Wasser triefen und legt ihn ziemlich genau in die Mitte, des runden Küchentisches. Greta darf sich in dieser Zeit nicht rühren, sondern muss wie ein Messdiener, dem Ritual beiwohnen. Als viertes legt der Vater Uz beide Hände an den Lappen in der Mitte des Tisches und wischt ein Kreuz auf den Tisch—aber kein Jesus-kreuz, sagt er, weil er nicht religiös ist. Ist der Tisch, wie eine Pizza, in vier gerechte Stücke geteilt, wischt der Vater von Greta, von links nach rechts, im Uhrzeigersinn die noch ungewischten Teile. Als fünftes, wenn der Tisch ordnungsgemäß gewischt ist—was Uz Krämer überprüft, in dem er die Augen auf Höhe der Tischkante legt, so sieht er jedes Staubkorn, sagt er—stellt er den Brotkorb auf den Tisch. Aber natürlich nicht irgendwohin, sondern genau in die Mitte, wo er vorher das Lappenquadrat hingelegt hatte. Für Krämer ist die Mitte sehr wichtig. Zu Greta, sagte er immer, du muss deine Mitte finden. Er selbst habe seine Mitte noch nicht gefunden, daher hat er sich mit der Mitte des Tisches abgefunden. Steht der Brotkorb ordnungsgemäß auf dem Tisch und hat er keine Krümmel über Bord geworfen, ist es an der Zeit für Schritt sechs: können Teller, Tassen, Servietten, Besteck, Messer, Gabel und Löffel auf dem Tisch angeordnet werden—alles äquidistant. Augenmaß ausreichend. Als siebentes kommt auf den Tisch, was die beiden sonst noch brauchen. Das war Greta‘s Aufgabe. Dasselbe jedes Wochenende. Wird einer der sieben Schritte unterbrochen, muss der Vater von vorne anfangen. Einmal hat Greta sich schon im fünften Schritt an den Tisch gesetzt und sich ein Brot aus dem Korb genommen, welches dann einige Krümmel auf der weißen Tischdecke hinterließ. Sofia liegt wieder auf ihrer Matratze, die Sonne scheint ihr ins Gesicht, sie blinzelnd und beobachtet durch die dünnen Schlitze ihrer Augen, wie durch Schießscharten, den fremden Mann, wie er durch das Tor, den Hof verlässt. Franck sitzt zwei Stockwerke tiefer im Vorderhaus noch immer im Büro und Wohnzimmer. In welchem er gestern

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as zehn Deck hohe Passagierschiffe mit Laderaum für LKW und PKW schippert gen Horizont und es sieht aus, als würde es gleich, wie aus einem Planschbecken hintenüber überrascht fallen. Schlichter du Mensch aus dem Mittelalter. Der Mann mit bunter Krawatte ist auf seinem Zimmer angekommen und schaut in einen kleinen tragbaren Röhrenfernseher mit zwei Antennen, der in einem grauem Gehäuse, wie ein Rentner in Anzug auf einer ü60 Party, steckt. Er sieht die Show, vor der er augenscheinlich aus der Panaromabar geflüchtet war. Eine Band spielt. Das Intro der Show läuft. Ein Mann unter Wasser bläst Blubberblasen aus. Ein Publikum klatscht im Takt der Musik. Der Mann spielt Trompete Unterwasser—klingt in etwa so: wie jemand der ertrinkt und nicht ohnehin kommt, ohne letzte Worte zu gehen. Die Band spielt eine aufregende Form von Fahrstuhlmusik. Der Mann aus dem Intro, kommt durch einen Graben zwischen den Zuschauerbänken gerannt und wird von den Händen des Publikums gestreift—man fragt sich ob sie dazu angeleitet wurden oder ob sie ihn davon abhalten wollen im Studio an zu

kommen. Ein Meer aus Händen klebt an seinem Oberkörper, wie Spinnweben aus einem Kellergewölbe. Der Mann in der Kabine sieht sein alter Ego im Fernsehen herum springen. In der Panaromabar haben die LKW-Fahrer ihr Gespräch über den Komfort von Zimmer für Behinderte aufgegeben und verfolgen die Show. Er kann es nicht ertragen, wenn andere Leute ihn in seinem Beisein im Fernsehen sehen. Anfang des Jahrzehnts hat man in Schweden eine groß angekündigte Reform des Gesundheitswesen durchsetzen wollen. Was von staatlicher Seite scheinbar gut anlief, wurde von der Bevölkerung des Landes leidlich angenommen, sodass sich kurzerhand der schwedische Nationalsender SVT2 dazu entschloss innerhalb einer bekannten Talkshow Themen aus dem Gesundheitswesen mit ins Programm einfließen zu lassen. Diese Idee fand ihre Beachtung in Form einer Sendung über die Wirksamkeit und den Ablauf einer Psychotherapie. Man hatte das Ganze aber nicht aufgefahren wie einen Vortrag aus der Schule, sondern man orientierte sich dabei an den erfolgreichen Sendungen aus den Vereinigten Staaten. Man saß zusammen in der Redaktion und schwitzte über den amerikanischen Sendungen, zog sich eine Kassette nach der anderen rein bis der Videorekorder quietschte und versuchte den Grund ihres Erfolges herauszufinden. Als man schließlich aufgab das Geheimnis zu ergründen, beschloss man die Shows nicht eins zu eins aber doch nahezu zu kopieren. So entstand eine Show mit einem aufgedrehten Moderator, der sich für keinen Spruch zu schade schien und einem flavoring agent, was meinst in irgendeiner Form eine Gefahrensituation war. An der Mitwirkung bereit erklärt hatte sich dazu eine in Schweden, mehr in Stockholm, mäßig bekannte Psychotherapeutin, die im Übrigen Verhaltenstherapeutin war—man wollte ja etwas sehen, einen schnellen Erfolg, einen Effekt irgendwas um die Leute zu beeindrucken. Die Bildschirme flackern, die Passagiere starren gebannt in den Fernseher, der Mann in bunter Krawatte begrüßt sein Publikum im Studio und Zuhause und sonstwo, wo sich ein Fernseher auftreiben ließ. In den ersten zwei Minuten musst du eine Landung vollziehen und beim Publikum ankommen. Nach seinem Lauf bleibt er vor der Kamera stehen, kaut Kaugummi und zieht einmal gewaltsam die Augenbrauen hoch—wie ein Cowboy aus der schwedischen Pampa, keine Kühe sondern Elche muss dieser Mann besitzen. Er hat sich eine größere Kabine gemietet und sitzt allein vor seinem winzigen Fernseher. Ein flimmerndes Bild flackert auf seiner Brille. Er hat die Beine auf den Tisch gelegt und schaut sich selbst beim moderieren zu. Hinter ihm im Fernseher im Studio eine Sitzreihe von drei drehbaren Sesseln, die mit einer Art grünem Flokatiteppich überzogen sind. Vor den Sesseln ein kniehoher Tisch, daneben der Schreibtisch des Moderators, wie in den großen Vorbildern aus Übersee. Die ganze Konstruktion steht auf einem weißen kurz-geschorenen Teppich. Knapp vor den Zuschauerbänken sitzt der Moderator mit bunter Krawatte auf einem Barhocker. Er erzählt eine kurze Geschichte über seine letzte Geschwindigkeitsübertretung und das man sich vom Bußgeld ein neues Auto kaufen kann—um das Publikum aufzulockern. Die Leute schmunzeln, sie finden ihn erfrischend frech. Wie ein Spritzer Zitrone in ihren Augen. Vor allem die jungen Leute will man mit dem Format anlocken. Agitiert und wie angestochen pendelt er zwischen Barhocker und Zuschauern. Schüttelt einigen der Zuschauern die Hand, die Kamera folgt ihm und fängt ein Bild von Menschen ein, die tendenziell zu ihm aufschauen. In der Schiffskabine macht er sich eine Flasche des Getränkes von brauner Farbe auf und schüttet etwas der Flüssigkeit in sein kurzes Glas aus der Panoramabar, indes sein Moderator-Ego sich auf den Barhocker gesetzt hat und von ihm selbst und einigen tausend anderen beobachtet wird. Jede Geste, jede Mimik, das halbe Sitzen auf dem Hocker, das eine Bein angewinkelt im Holzgestell, das Andere zum Boden ausgestreckt. Wer kennt nicht Jemanden, spricht er, wer hat nicht eine Freundin oder einen Freund, jemand in der Familie oder im Bekanntenkreis oder vielleicht sogar—Spannungspause, die Kamera richtet sich auf ihn, Uncle-Sam-Perspektive—Sie selbst haben schreckliche Angst vor Spinnen. Stellen Sie sich vor und hüpft von seinem Barhocker auf und geht prüfend die Reihen der Zuschauer ab, stellen Sie sich vor, sie hätten panische Angst vor diesen Krabbeltieren, vor diesen Insekten, vor diesen sechs Beinchen und manchmal haben Sie sogar Flügel. Wenn ich Sie mir so ansehe, dann sehe ich viele irritierte, wenn nicht ängstliche Gesichter, sagt er verständnisvoll und konspiratov. Nun stellen Sie sich vor, Ihre Angst vor diesen Viechern wäre so groß, dass Sie ihr Haus nicht mehr verlassen würden. Ihre Angst ist so groß, dass Sie alle ihre Zimmer in weiße Tücher gehüllt haben, damit Sie noch so jeden kleinen schwarzen Krümmel auf sechs bis acht Beinen verfolgen können. Manuel unser heutiger Gast, ist so ein Mensch. Ein Scheinwerferlicht springt an mit einem Geräusch, das später im Fernsehen nicht zu hören ist und leuchtet auf ein kleines Podest mit Holzstuhl am Rand des Kamerawinkels. “Ich begrüße dich Manuel.” Der Mann auf dem Stuhl schaut widerwillig in die Kamera und muss sich erst an das grelle Licht gewöhnen. Sie haben eine Spinnenphobie, Manuel. Haben Sie schon welche hier im Studio entdecken können, macht sich der Moderator über den Mann auf dem Holzstuhl lustig und einige Leute aus dem Publikum lachen und schließen sich der künstlichen Lache des Moderators an. Künstlich weil sie kein Anfang und kein Ende hat. Die Lache des Moderators ist wie der Ausschnitt eines Lachens, ohne Steigerung und Fall. Nein bisher noch nicht, spricht er ängstlich. Glauben Sie denn, Sie haben hier Spinnen? Man weiß ja nie Manuel. Ich bin kein Kammerjäger.

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Nacht die beiden Jungen überrascht hatte, sie darauf aus dem Fenster sprangen und er wieder zurück ins Bett ging. Inzwischen aufgestanden war, weil er bei dem Lärm im Hof nicht schlafen konnte und telefoniert. Das erste Paar Stöckelschuhe hatte sich Sofia während ihrer Zeit im Internat gekauft. Sie sparte über ein halbes das Internatstaschengeld, ließ sich von Greta einige Laken zusammen binden und flüchtete für einen Nachmittag aus dem Internat in die Potsdamer Innenstadt. Als sie zurück kam, sagte Greta, war sie irgendwie ein anderer Mensch. Unter einem Tisch haben sich zwei Beine überschlagen. Die Beine tragen eine ausgewaschene Jeans. Zwei Füße staken aus der Hose, wie ein paar Storchenbeine in flachem Wasser oder Sumpf, nur andersherum. Stöckelschuhe wippen unter dem Tisch. Gegenüber das selbe Bild—wie also zwei Störche—nur in Turnschuhen. “Ich weiß es ist komisch.” “Sag’s ruhig.” Sommerfeld gibt sich entspannt und ist angespannt. Diese Interviews liegen ihr nicht. Nicht dass sie es als Interview bezeichnen würde. Auf die Annonce in der zweiten Hand hatten sich weit aus mehr Menschen gemeldet, als erhofft. Und das obwohl, sie die Männer schon aussortiert hat. Ständig klingelt das Telefon und Sofia steht im Flur, wo der Apparat mit Wählscheibe auf einem Tisch steht und sie mit einem Hocker davor sitzt. “Wir alle machen komische Sachen.” “Komische Sachen?”, fragt Sofia. “Ja du weißt schon. Sachen, die du jetzt nicht gleich jedem erzählen würdest.” “Also?”, fragt Sommerfeld erneut und die Stöckelschuhe unter dem Tisch erstarren. “Ja also: jeder hat doch so seine Marotte.” Sie schauen sich unverstanden an. Dieser unangenehme Moment, wenn zwei Fremde irgendwie über Intimes reden. “Okay”, sagt die Frau, die sich auf die Annonce für das Zimmer bewirbt. “Ich pisse gern in die Badewanne.” Sofia’s Augenbrauen lüften sich. Geht man ganz nah an sie heran, kann man auch sehen, auch ihre Pupillen verengen sich. Aus der Wippbewegung ist ein unangenehmes Zittern, eher ein Treten geworden. “Du pisst gern in die Badewanne”, wiederholt Lo. “Ja.” Zwei Augenpaare blicken nach links und rechts. “Ich sage das lieber gleich, als das es irgendwie unangenehm wird.” “Unangenehm?” “Du weißt schon”, druckst die Frau gegenüber. “Unangenehmer als jetzt?” “Ich bin der Meinung, es sind nicht die Dinge, die man so macht, sondern die Wahrheit darüber.” Fragende Blicke. “Verstehst du? Nicht, dass ich gern in die Badewanne pisse, ist so unangenehm…” “Sondern?” “Sondern, die Wahrheit darüber. Wir alle machen doch komische Sachen. Aber das darüber sprechen empfinden wir als unangenehm.” “Ich mache keine komischen Sachen”, sagt Sofia und geleitet die Bewerberin zur Tür und sagt ihr zum Abschluss: “ich melde mich bei dir.” Beide wissen, dass das nicht passieren wird. Die Tür fällt ins Schloss und auf ihren Stöckelschuhen watschelt der Storch Sofia Sommerfeld zurück gen Matratze im Wohnzimmer, lässt sich darauf fallen und verzieht sich in ihre Lieblingsposition. Ihre Hände liegen zwischen ihren Beinen, die sie zusammen presst. Scheint als habe sie Angst ihre Hände zu verlieren. Sie sieht aus dem Fenster auf dem Hinterhof. In den Fenster des Pietäts brennt kein Licht, wie in der Wohnung darüber.

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Manuels Augen blitzen auf und er krallt sich in den Stuhl. Meine Damen und Herren dieser Mann hat eine Scheißangst vor Spinnen, dieser Mann hat eine solche Scheißangst vor Spinnen, dass er selten seine Wohnung verlässt und wenn nur in einem Ganzkörperanzug. Einen Applaus für Manuel, der sich unter Angstkrämpfen hier zu uns ins Studio in die Show getraut hat. Noch während das Publikum sich dem Wunsch des Moderators unterwirft, wird ein Film über Manuels Alltag eingeblendet—wieder ein Import. Für die Kameras unsichtbar geht der Moderator zu Manuel hinüber und bespricht einige Details. Das Publikum im Studio schaut gespannt auf die beiden und hört kein Wort. Der Moderator in der Kabine des Schiffes hat sich ein Bier aufgemacht und trinkt abwechselnd die braune Flüssigkeit und das Bier. In der Panoramabar schaut man sich den Film von Manuels Alltag an. Ein Mann in weißem Ganzkörperanzug, wie in kontaminierten Gebieten üblich, steht im Supermarkt und kauft Obst ein, als lebe er in Tschernobyl. Manuel unter dem Anzug meint, er hätte gehört, wie Taranteln und Vogelspinnen in Bananenkisten gefunden worden seien. Seine Hand zittert, als er in die Kiste der gelben Früchte greift. Die Männer im Studio sprechen den Verlauf der Sendung ab. Der Moderator scheint dem Mann auf dem Stuhl ein Maß geben zu wollen. Er macht eine Abstandsgeste mit beiden Händen und zeigt den Weg zwischen dem Stuhl und dem Podest auf dem die Couch steht. Der Film ist zu ende, sowohl Manuel, als auch der Moderator sitzen wieder auf ihren Plätzen. Letzterer hinter dem Schreibtisch in der Hand ein Glas mit brauner Flüssigkeit und er sagt, er schwöre(,) das ist Apfelsaft. Lachen. Manuel wie kommt es, dass du heute deinen nicht Anzug trägst? Man hat mir versprochen, es gebe keine Spinnen, spricht der eingeschüchterte Mann. Ein kleiner Kasten mit leuchtendem Applausezeichen leuchte erneut auf. Die Leute erst irritiert, klatschen im Takt des Leuchtens. Meine Damen und Herren, liebe Zuschauer ich begrüße Margarete Lindkvist. Der Moderator sitzt auf seinem Schreibtisch und lässt die Beine, wie ein kleiner Junge, baumeln—was allgemein dem jovialen Konzept geschuldet ist. Eine Frau mit einem abgeschlossenen Marmeladenglas auf dem Arm, kommt durch den Graben der Zuschauer gelaufen und setzt sich auf einen der drei Flokatisessel und stellt das Glas auf dem Tisch ab. Die Kamera fängt die erschrockenen, wie gespannten Gesichter des Publikums ein. Der Moderator in der Schiffskabine geht duschen und lässt den Fernseher und seine Show laufen. Margarethe Lindkvist, schallt es aus der Kabine ins Badezimmer, ich begrüße Sie. Was für einen schönen und seltenen Namen Sie doch haben, den haben Sie sich doch nicht gekauft, oder? Sein eigenes schallendes Lachen hört er selbst unter der Dusche. Lindkvist stellten Sie sich einmal vor, empfiehlt der Moderator. Also zunächst Spinnen haben egal welche Sorte immer acht Beine und niemals Flügel. Aus der Band spielt eine Trompete und der Moderator lässt gekonnt die Schultern abfallen. Das Publikum lacht. Über ihren Köpfen leuchtet das Applausezeichen. Lindkvist nutzt die Pause und schlägt ihre langen Beine um und schaut direkt in die Kamera. Wahrscheinlich hat man ihr gesagt, sie solle nicht in die Kamera schauen. Frau Lindkvist was führt Sie heute zu uns?, und die Frau erzählt, dass Sie Psychotherapeutin ist und ein Glas voller Spinnen mitgebracht hat. Die Duschbrause erzeugt ein gleichsames Rauschen. In der Panoramabar ist es leerer geworden. Der Mann am Ende des Kamerawinkels zittert und erschreckt sich jedes Mal bei dem Wort Spinne. Die Therapeutin Lindkvist, die selbst aussieht wie ein Insekt mit langen knochigen Spinnenfingern, proportional ebenbürtigen Beinen, die an Störche erinnern, die durch eine nasse Wiese zärtlich stapfen, liest ihm eine Art Anleitung vor, so frei, dass man denken könnte, ihre kleinen Kärtchen seien leer. Wichtig Manuel ist, dass du in der Angst und im Moment bleibst. Lenk dich nicht ab und denke nicht an Morgen. Das Publikum ist still und wirkt, als wäre es bei einer Vorführung von Copperfield, wo er seine Frau Schiffer zersägt. Manuel, beschwört die Psychotherapeutin ihren angestrengten Zuhörer, du musst solange in der Angst bleiben, bis sie von selbst weggeht. Der Moderator ist fertig mit Duschen und steht noch einen Moment unter der stillen Brausen im tropfenden Raum. Er hat die Badezimmertür verschlossen. Nur ein indifferentes Gebrabbel zeugt vom laufenden Fernseher in der Kabine. In der Panoramabar sind einige der LKW-Fahrern auf den Sesseln und den runden Couches eingeschlafen. Wie eine Gottesanbeterin zischt die Therapeuten den Moderator an und beschwört Manuel und ihr Spinnenglas.

Gewissheit darüber. Nur der Stoff der kurzen Hose trennt die Beiden. Er ist jemand, der partout verneinen würde, einen Talisman zu besitzen. Er würde das albern finden. Er ist jemand, der absolut verneinen würde, irgendwelche Rituale zu brauchen. Er würde das albern finden. Schlichter und sein ich, sind wie Inches und Zentimeter. Man kann Inches nicht mit Zentimeter messen und andersherum. Man würde sagen, Schlichter ist nicht besonders mit seinem Ich verbunden. Er würde allein das albern finden. Er steht im Gang. Oft hat man den Eindruck, der Mann mit den ausgeprägte Gesichtszügen stehe irgendwo verloren in der Gegend rum. Sei es am Flughafen Tegel, in -ow oder auf einem zehn Deck hohen Schiff. Er sieht einen Film im Schiffskino. Sitzt aber nicht in den Reihen. Steht im Gang. Schaut durch den türlosen Rahmen. Es ist auch sonst niemand im Kino. Der Film läuft für sich. Er meint es ist ein schwedischer Film. Er versteht kein Wort. Er holt seine Kaugummidose aus der Tasche und wirft ein paar Kaugummi ein. Ist in die Sauna gegangen und langweilt sich dort. Ausgeprägte Gesichtszüge, als wäre ihm die Haut, wie ein nasses Tuch auf die Knochen geworfen oder wie als ob er unter Mangelerscheinungen litte. Draußen entfernt ein Leuchtturm. Gelbe Häuser. Ein Segelboot kommt gefährlich Nahe. Einmal was riskieren, sagt Schlichter, schaut zur eingehüllten Taxifahrerin und erwartet ein Lachen—sie lächelt aber nicht. Dass er gerade nur Minuten in Casino und Sauna war—man würde es nicht denken. Es laufen zwei schwedische Stewardess vorbei und schieben einen Wagen—draußen auf Deck. Schlichter schaut gierig dem Wagen hinter her, blickt zur Taxifahrerin und sucht sie im Liegestuhl. Untersucht die rote Decke. Dreht den Stuhl. Die Fahrerin bleibt verschwunden. Soll mir recht sein, meint er zu sich. Und setzt sich selbst auf den Stuhl. Genießt den Fahrtwind. Fühlt sich geküsst vom Salz der Ostseeluft. Er streckt die Beine lang. Hört dem Gespräch der Leute zu. Den Möwen. Dem Fahrtwind. Dem Rauschen der Ostsee. Denkt nicht an Amsterdam. Denkt nicht an Spaziergänge an den Grachten entlang. Denkt nicht an das Hotel. Das Zimmer. Das Bett. Denkt nicht an sie. Entspannt sich und lässt sich gehen. “Nein, nein, richtig alt muss sie sein. Ich will eine richtig alte.” “Ja achso, das ist was besonderes.” Zwei Männer, die an der Reling stehen. Um die 40. Hinter ihnen an einem Tisch ihre Frauen und jeweils ein Kind. “So eine wie es die früher mal gegeben hat. Früher vor ein paar Jahren als ich noch jünger war.” “Aber wird die Rose duften?”, fragt der andere Mann. “Ich hatte mal eine Kletterrose, die ist mir aber eingegangen”, mischt sich ein Fremder ein. “Die musst du im Herbst anziehen”, sagt die Rosenexpertin am Tisch und schaukelt eines der Kinder auf ihrem Schoß.

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ie Taxifahrerin liegt auf dem Deck in eine dünne rote Decke gehüllt. Das roßbraune Haar liegt auf der Decke und in ihrem Gesicht, wie eine zusätzliche Patina wie von Efeu im Winter auf Statuen. Sonne bricht durch das Haar. Das einzige was man von ihr sehen kann, ist ein Mund und eine Zigarette. Sind Rauchschwaden über ihrem Kopf, die vom Wind davon getragen werden, wie die dunklen Wolken aus den Schloten des Schiffes. Schlichter sitzt in kurzer Hose und Panama-Hut im Casino. Er raucht. Das ist wie die arme Version von einer Luxuslinerszene. Die Dose mit den Kaugummis steht auf einer Ablage neben dem Spielautomaten. Er starrt in den Automaten wie ein Affe das Fernsehprogramm und verliert am laufenden Band, bis er keine Lust mehr hat. Der Trick hinter den Spielautomaten ist der Fastgewinn. Es heißt fast zu gewinnen ist für das Gehirn aufregender als an sich zu gewinnen. Ist der Menschen aus Lehm gemacht, sind Abhängigkeiten aus Zement. Schlichter hat das Casino verlassen. Mit jedem Schritt klappert die Dose in seiner Tasche. Liegt seine Hand mit

ahrscheinlich macht es dir allein schon Angst, dass wir überhaupt über Spinnen reden, richtig Manuel?, sagt die Therapeutin Lindkvist. Der Mann nickt. Wahrscheinlich hast du nie von deiner Spinnenphobie erzählt, weil es dir peinlich war. Der Mann nickt. Wahrscheinlich hast du es auch vor dir selbst geleugnet. Der Mann nickt. Für ihn nicht sichtbar läuft am unteren Rand des Fernsehbildschirmes: in einer Psychotherapie steht am Anfang der Beziehungsaufbau. Hierbei ist es wichtig, dass eine stabile und vertrauensvolle Arbeitsbeziehung entsteht. Wahrscheinlich hat man dir schon Einmal gesagt, dass du dich an jemandes Professionelles wenden sollst. Der Mann nickt. Was man dir aber nicht gesagt hat, hier steht die Therapeutin von der Couch auf, ist wahrscheinlich— man vermutet ihr Lieblingswort—wie Angst funktioniert, wie deine Angst funktioniert. Manuel was machen Sie denn, wenn Sie vor einer Spinne Angst haben? Er erklärt lang und breit, wie er seinen weißen Anzug anzieht, oder nicht das Haus verlässt, schon Einmal beinahe an Insektiziden gestorben wäre, als er seine Wohnung damit, wie eine alte Dame sich parfümiert, überzog und aus der Wohnung kroch und im Hausflur bewusstlos wurde und noch dabei Angst hatte, würde er bewusstlos, würde er von Spinnen überzogen, wie er die Wohnung überzogen hatte, aus einem Racheakt wurde ein Racheakt, würde ein Racheakt schwor er sich und wurde ohnmächtig. Manuel in der Psychotherapie nennen wir das Kontroll- und Vermeidungsverhalten. Das musst du ablegen. Du musst dich der Angst stellen. Das Publikum war noch immer still. In der Schiffskabine trank der Moderator sein Bier aus und aß ein paar Chips dazu und sah seine eigene Show. Analysen nennt er das. Auch sein alter Ego hinter dem Schreibtisch war still und verglich gespannt zwischen Manuel und Margarete Lindkvist, die so kam es ihm vor, ziemlich oft von müssen sprach. Frau Dr. Gottesanbeterin und das Wörtchen Muss. Die große, spindeldürre blonde Frau, wirkte wie eine dieser geläuterten Menschen, die vorher selbst in die Kategorie fielen, was sie zu behandeln suchen und nun, fragt man sie danach, lang und breit ihre Geschichte erzählen und man den Eindruck hat, also eigentlich bist du kein Schritt weiter. In der Analyse nennt man so etwas Reaktionsbildung, aber Margarete war Verhaltenstherapeutin. Wir müssen auch gar nicht über das ganze oder andere Probleme reden, sondern können uns nur auf deine

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Spinnenphobie konzentrieren. Worüber wir sprechen Manuel das entscheidest ganz allein du. Die Kamera auf Lindkvist. In so etwas wie Aunt-Sam-Perspektive. Es war wie in einem Raum in dem ein riesiger Elefant steht, alle sehen ihn, aber niemand darf über ihn sprechen. Stell dir vor, sagte Frau Lindkvist das Insekt, das Problem wäre ein riesiger Elefant über den wir nicht reden dürfen. Das ist okay. Man muss nicht immer alles thematisieren. Man kann auch über eine Sache sprechen, ohne sie zu benennen. Ist denn dieser Elefant, in den letzten Monaten, großer geworden? Ja. Was hat ihn größer gemacht? Weiß ich nicht, sagte Manuel und sackte dabei immer weiter in seinen Stuhl. Er ist so groß inzwischen, dass er den ganzen Raum einnimmt und auf mir drauf sitz. Auf dir drauf sitzt? Wiederholt Lindkvist. Das muss ein außerordentlich großer Elefant sein. Dem Moderator am Schreibtisch und in der Schiffskabine wird langsam langweilig und er macht keinen Hehl mehr daraus in der Sendung zu trinken und hat die Flasche auf den Schreibtisch gestellt—wie als mahnendes Zeichen seiner cholerischen Ungeduld. Er beobachtet eine Fliege ins Glas gleiten und denkt: arme Socke im Schnaps ersoffen—besser als von einer Spinnen gefressen zu werden und lacht innerlich und äußerlich, indes er das Glas anstarrt. Freilich kann man weder vom Publikum aus, noch im Fernseher die kleine Fliege sehen. Was man sieht ist, wie ein Mann mit bunter Krawatte in seiner eigenen Show an seinem Schreibtisch sitzt und ein Glas mit brauner Flüssigkeit anlacht. Von dem er behauptete es sei Apfelsaft. Manuel ich werde dich jetzt bitten, spricht Margarete noch nicht müde von ihren Beschwörungsformeln, dich langsam in Richtung des Glases, auf dem Tisch vor mir, zu rücken. Lass dir die Zeit die du brauchst. Unterhalb des Bilds lief im Fernseher, wichtig ist, dass der Therapeut nicht drängend auftritt und keinen Druck aufbaut. Soll ich mit meinem Stuhl nach vorne rücken?, fragte der Mann auf dem Stuhl, als wäre die Nummer abgesprochen, gekünstelt mit einem Stück Rest-Unsicherheit. Ich bitte dich darum. Langsam schaltet die Kamera in einen anderen Winkel und die Entfernung zwischen Manuel auf dem Stuhl und dem Spinnenglas scheint immer größer zu werden. Die Band spielt, klingt als wolle sie Spannung erzeugen. Er kauert dort, wie auf einer einsamen Bühne. Das Publikum erwartet eine Reaktion. Seine Stirn wird feucht. Sein Bein fängt zu wackeln an. Er fährt sich durch die Haare und putzt seine Brille, als hätte es ihm die Sicht verschlagen—könnte er sich die Zähne putzen, er würde es tun. Er stößt sich mit seinem Stuhl vom Boden ab und rutscht ein kleines Stück. Die Stuhlbeine scharren auf dem Boden. Durch das Publikum fährt ein Aufschrei. Sengende Gitarrentöne der Band fliegen durch das Studio. Ein Grinsen sitzt auf dem Moderator hinter dem Schreibtisch. Die Therapeutin nickt eifrig. Und in der Panoramabar schaut inzwischen niemand mehr die Show. Schweißperlen bilden sich auf Manuels Stirn. Er greift den Stuhl unter sich und der Stuhl zittert. Die Spinnen laufen wild durch das Glas. Es riecht nach Angst. Wieder geht das scharrende Geräusch vom zweiten Rücken der Stuhlbeine auf dem Studioboden durch den Raum. Dr. Gottesanbeterin Margarete Lindkvist pustet ins Mikrofon, das ihr an den Kragen geklemmt ist, Rückkopplung, Quitschen, die Zuschauer halten sich die Ohren zu und schauen verstört und gebannt auf den Weg zwischen Spinnenglas und Manuel. Schweiß rinnt ihm die Stirn hinunter. Die Bewegungen seiner Hände, lassen sich nicht mehr als Zittern beschreiben. Nun ergreift der Moderator von seinem Amt Gebrauch und feuert Manuel an. Fordert das Publikum auf, Manuels zu rufen. Die Therapeutin spricht, nein nein er muss es von sich aus schaffen. Seien Sie ruhig, sagt der Moderator und donnert das Glas auf den Tisch und ruft weiter den Namen seines Gastes. Gefolgt vom Publikum. Der sich den Schweiß von der Stirn abwischt. Lindkvist ist still und schaut leer in das Glas mit den Spinnen und abwechselnd zu Manuel, als wäre sie die stille Vermittlerin zwischen den Tieren und Manuel. Er ist zum dritten Mal gerückt und steht inzwischen an der Kante zum Teppich, auf dem Tisch mit Glas, Flokatisitzreihe und Schreibtisch stehen—in Sichtweite der Spinnen—wie vor dem Start eines Hürdenlaufs. Die Therapeutin wacht aus ihrer Trance auf. Bleib in der Angst, sagt sie ihm. Konfrontiere dich. Erinnere dich daran. Quatsch nicht so einen Mist, beleidigt der Moderator Lindkvist. Man muss die Angst aushalten, sagt die Therapeutin leise. Der Stuhl Manuels lehnt nach vorne über und kippt dann wieder zurück. Lenk dich nicht ab. Bleib in der Angst. Die Zuschauer wissen nicht, auf wen sie schauen sollen. Jeder der drei ist wie eine brennende Zündschnur. Ja, ruft der Moderator, reiß dich zusammen. Der Mann in der Schiffskabine hat inzwischen seine Sachen gepackt. Die Bierflasche entsorgt und seine Flasche mit der braunen Flüssigkeit in seiner Tasche verstaut. Da springt Manuel vom Stuhl auf. Die Therapeutin springt hinter die Flokatiesitzreihe und schaut aus dem Fell, wie hinter einer Böschung hervor. Der Moderator wirft sein Glas um. Braune Flüssigkeit auf dem Studioschreibtisch. Und stürmt zu dem Spinnenglas hinüber. Im Publikum schlagen sich einige der Zuschauer die Hand auf den Mund. Der Moderator hat noch nicht bemerkt, dass er sein Glas umgestoßen hat. Er steht im Türrahmen der Schiffskabine. Er lässt den Fernseher laufen und schließt die Tür hinter sich. Und er reißt das Spinnenglas

vom Tisch und wirft es zu Boden. Die Therapeutin kreischt. Der Moderator in der Sendung lacht lauthals und nimmt Abstand. Über den Studioboden krabbeln dutzende Spinnen, sofern sie Manuels Fußtritten entkommen. Glasscherben bohren sich in seine Schuhe. Er merkt nichts. Zertritt das Glas mit den Spinnen—dem allmächtigen Feind. So etwas hat sie noch nicht erlebt, sagt Dr. Gottesanbeterin. Bravo ruft der Moderator. Dann spielt die Band und in den Fernsehern der Panaroambar der Fähre auf dem Weg nach Trelleborg läuft ein dem Intro sehr ähnliches Outro. Mit dem Unterschied, dass der Moderator auf einer Luftmatratze auf dem Pool liegt und nicht unter Wasser schwimmt. Er bläst auch keine Unterwasserblasen, sondern trinkt einen Cocktail aus einer Kokosnuss. uf dem Zettel steht eine durchgestrichene drei, daneben eine zwei und darunter wieder eine drei. Der Stift geht ihm leicht von der Hand. drei r, fünf rr. Ein r steht für rein und zwei r stehen für raus. Er hat sich ein System geschaffen. Man muss sich damit abfinden, sagt er. Man muss ankommen, meint er. Ein Mensch kann alles machen, er muss sich nur daran gewöhnen. Das besondere am Menschen sei ja eben seine Anpassungsfähigkeit, denkt er nur noch, denn er hat sich selbst unterbrochen. Zuviel rumdenken sei nicht gut. Er ist kein Freund der Philosophie. Er meint die Philosophen drehen einem das Wort im Mund herum, bevor du es ausgesprochen hast. Schlimmer noch sind diese Psychologe, die drehen dir sogar deine Gedanken um, bevor du sie gedacht hast. Die fünf Leute sind in einer Gruppe herausgekommen das fand er verdächtig. Noch verdächtiger war ihm dabei, dass sie sich, sobald sie das Haus verlassen hatten, in alle Winde verstreut hatten. Das muss aber kein Hinweis sein, bringt er sich selbst zur Raison. Zusammenhänge sind oft dort im verborgenen, wo man sie nicht vermutet. Vier Stunden sitzt er inzwischen im Auto. Er hat mal gehört, es gibt jetzt Autos mit Sitzheizung. Die braucht er gar nicht. Er hat auch gehört Sitzheizungen machen unfruchtbar. Weil sie die Temperatur im Hoden ansteigen lässt und die Spermien wie der Hummer im Kochtopf den Löffel abgibt. Er hat aber auch gehört, dass das nur ein Gerücht ist. Insgesamt haben elf Leute das Haus verlassen und zehn sind in es hinein gegangen. Ziemlich ausgewogen denkt er auf seinem Sitz auf Fahrerseite, den er etwas nach hinten geschoben hat, dass er, hinter dem Lenkrad, besser schreiben kann. In den ersten zwei Stunden, resümiert er, sind vier Leute aus dem Haus gekommen und sieben in es hineingegangen. Ziemlich konstant diese Hausbeobachtung. Seine Mütze liegt auf dem Beifahrersitz. Er fährt sich durch seine verbliebenen Haare und denkt sich, man wolle ihn prüfen. Nur wer eine augenscheinlich einfache Aufgabe meistert, eignet sich für den speziellen Typus. Ihm fällt, anhand der Zahlen, auf die fünf Leute, die er sich anfänglich notiert hat, sind wahrscheinlich die selben, die geschlossen in einer Gruppe das Haus zuletzt verließen. So genau weiß er das nicht, weil er nur Strichliste führt. Er ärgert sich. Vier Stunden verschenkt. Dann sagt er sich, er entwickle die Beobachtung im Prozess und er fühlt sich augenblicklich besser. Ab sofort notiert er sich das Geschlecht, die Klamotte in Klammern, weil man die im Haus wechseln kann, die Haarfarbe und ein besonderes Merkmal. Dafür schreibt er das Wort Psychologie über die Spalte und streicht es kopfschüttelnd wieder durch—lässt schließlich besonderes Merkmal stehen. Seit 20 Jahren gibt es dieses Magazin über Psychologie seine Frau liest die ab und zu mal und schneidet ihm Artikel aus, die sie ihm auf den Küchentisch legt. Manchmal bringen die sogar etwas über die Polizei. Er hat das Radio wieder lauter gedreht. Wieder läuft ein Bericht über das Attentat auf die olympischen Spiele am vergangen Samstag. Wolf hört dem Radio halb zu. Informationsfetzen dringen, wie Stichpunkte zu ihm durch. - Richard Jewell war ein Sicherheitsmann einer privaten Sicherheitsfirma - Richard Jewell hatte ein einfaches und beschauliches Leben - Er war ein guter Amerikaner - Billy Payne seinerseits Chef der Sicherheitsfirma. Unter ihm 10.000 Sicherheitsfrauen und -männer hatte großspurig und notorisch ins Horn geblasen: Atlanta sei der sicherste Ort des gesamten Planeten. Dann kannte er -ow sicherlich nicht. - Der Spiegel sagt Sicherheitsmann in Atlanta zu werden ist etwa so schwierig, wie einen Hamburger zu bestellen. Jeder sein eigener Epos denkt Wolf, woran er noch denkt: Heldentum. - Man musste nicht einmal eine gefälschte Social Securitynumber besorgen, die Nummer Reisepass reicht. Man hatte von Seiten des Spiegels einen Mann in die Sicherheitsfirma eingeschleust. - In der drei stündigen Ausbildung ging es vor allem um den höflichen Umgangston. Man solle darauf achten “Sir” und “Ma‘am”zu sagen. Man solle auf keinen Fall nein sagen oder “ich weiß nicht”. Darüber kann Wolf nur lachen. Drei Stunden Ausbildung. Kein Wunder. Da kann man von Glück reden, dass es nur eine Rohrbombe und zwei Toten waren. - Am Ende der Ausbildung wurde ein Fragebogen gereicht. 50% Fehlerquote und du bist dabei. Wer über 95% richtig hatte war verdächtig. Bei 40 Grad und 90% Luftfeuchtigkeit soll man da lieber etwas trinken oder fettreiches Essen zu sich nehmen? - Billy Payne meint niemand sei im Test durchgefallen. Aber manche brauchen schon vier Stunden. Allein wer vier Stunden Test über sich ergehen lässt und lesen kann, ist als Sicherheitsmann geeignet. - Richard Jewell, der Sicherheitsmann, der die Rohrbombe entdeckte und als Held gefeiert wurde sagt, wer sich verdächtig benimmt, der ist wahrscheinlich auch. Wer sich nicht verdächtig benimmt, ist es wahrscheinlich nicht.

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- Im Radio sagt die Stimme der Nachrichtensprecherin, 30 Minuten vor der Detonation hätte ein Unbekannter 911, die Polizei angerufen. Eine Bombe wird hochgehen im Centennial Olympia Park Sie haben 30 Minuten. Man hatte den Anruf nicht aufgezeichnet, aber die diensthabenden Beamten sagte, das könne schon Jewells Stimme gewesen sein. - Es war schon auffällig, dass ein Sicherheitsmann die Bombe gefunden habe. - Die Atlanta Journal-Constitution, das Lokalmedium in Atlanta, benennt Jewell als Hauptverdächtigen - Jewell bestreitet jegliche Zusammenhang seiner Person mit dem Attentat - Die NBC mutmaßt muslimische Gruppen könnten für das Attentat verantwortlich sein. - Es begann mit einer Hetzjagd nach dem Täter - Am Ende der Jagd stand Jewell, sozusagen allein auf der Flur -Der CNN meint es könnten auch Skindheads gewesen sein - Ein Schwarzer wäre festgenommen und wieder frei gelassen worden - Präsident Clinton fordert die Todesstrafe - D. Gaveline, Direktor des örtlichen Kongresszentrum, regt an den Schuldigen am Tatort aufzuhängen - Das FBI habe R. Jewell vernommen Das Profil des einsamen Bombers passt auf Jewell, hört Wolf im Radio, sagt Atlantas größte Zeitung im Extrablatt. Er wird als fetter, gescheiterter Ex-Sheriff und als Dorf-Rambo beschimpft. Wolf will sich etwas Luft machen und steigt aus. Schließt die Tür und öffnet sie wieder. Streckt sich über den Fahrersitz und setzt seine Mütze auf. Er will sich den Hauseingang mal aus nächster Nähe anschauen. Schlendert über die Straße. Eine Frau verlässt das Haus und Wolf ärgert sich seinen Notizblock im Auto vergessen zu haben. Sie fragt ihn, ob alles in Ordnung ist. Alles in bester Ordnung, sagt er ihr. Gehen Sie bitte weiter. Es gibt hier nichts zu sehen. Den Satz hat er mal in einer Fernsehessendung aus Amerika gehört und wollte ihn schon immer mal ausprobieren. Die Frau folgt Wolfs Order gewissenhaft. Immerhin handelt es sich um einen Befehl von ganz oben, denkt er sich. Nämlich vom Vater Staat. Er entfernt sich einige Meter von der Haustür und gibt vor in die, am Straßenrand seitwärts, parkenden Autos zu schauen. Er geht jedes einzelne ab, bis zur Lücke, die der Mann hinterlassen hat. Ein Frau nähert sich dem Hauseingang Hausnummer Zwölf. Wolf beobachtet sie aus dem Augenwinkel. Als sie die Tür aufschließt schaut sie reflexhaft nach links. An den knietiefen Kellerfenstern lehnt schief ein Fahrrad unangeschlossen, dessen Reifen platt sind. Wolf und die Frau schauen sich einen Moment an. Sie verschwindet im Haus und Wolf im Torbogen zwischen Hausnummer zehn/elf und zwölf. Uringeruch und Kindergeschrei dringt aus dem Hinterhof. In der Mitte des Hofes ein Stromhäusschen, auf das die Kinder über einen Baum klettern. Als sie den Polizisten sehen, nehmen sie reiß aus und Wolf setzt seine Mütze ab. Eher ein Haus, als ein Häusschen, denkt er sich. Wäscheleinen hängen auf einer Wiese. Er schaut an der Rückseite des Hauses nach oben, welches die Nummer zwölf sein sollte. Er kann nichts auffälliges entdecken. Er läuft einmal den Hof ab. Er läuft ihn bis zum ende ab, auch wenn er weiß, das hat nichts mit dem Fall zu tun. Auf der anderen Seite des Hofes steht vor ihm eine gräuliche Hauswand, mit nur einer vertikalen Fensterreihe. Neben dieser ist die Hauswand bemalt. Eine alte Frau schaut aus einem gemalten Fenster, wo kein Fenster ist, man aber eines vermuten würde. Die Farben wirken alt. Er verlässt den Hinterhof, den die Granseer Straßen, die Swinemünderstraße, die Zionkirchstraße, die Griebenowstr und die Wollinerstraße umschließen, über einen schmalen Torbogen, an dem zwar Einfahrt freihalten steht, aber niemals ein PKW durchpassen würde und überquert die Straße, obwohl das noch weniger mit dem Fall zu tun hat, als den Hinterhofhof abzulaufen. Wie der Polizist den Hof verlässt, kommen die Kinder aus ihren Verstecken. Früh übt sich, würde man sagen. Er denkt an Richard Jewell, den Sicherheitsmann, der die Bombe in Altanta fand. Er denkt daran, wie schnell ein Held fallen kann. Wie schnell es geht, einen Menschen zu demontieren. Eine Menge aufzuheizen. Was mal die Steinigung war, erledigen heute Medien wie Zeitung, Fernsehen und Radio. Die elektronischen Steine der Informationsgiganten. Geheime Monopolisten der Gegenwart. Wolf steht vor einem kleinem Lebensmittelladen. Ein Schild weißt ihn als Konsum aus. Ein Mann in Uniform betritt den Konsum und die Verkäuferin grüßt künstlich höflich. Wolf geht das Regal ab und landet vor einem Kühlschrank. Er verlässt den Laden mit einer Cola in der Hand. Einen Moment lehnt er gegen die Hauswand des Konsum. Vor ihm der Gehweg mit seinen für die Gegend üblichen großen Steinplatten, begrenzt von zahlreichen Gehwegsteinen, wie Pflastersteine in klein und er beobachtet die Gegend, obwohl das nichts mit dem Fall zu tun hat. Das hatte alles nichts mit dem Fall Möbius zu tun, aber er tat es, weil es sich gut anfühlte. Aus einer Entfernung von guten hundert Meter schaut er zu seinem Auto und wundert sich, wie ihm erst jetzt auffällt, dass er vor dem einzigen Backsteingebäude in der Straße geparkt hat und dass dieses Haus, keine fünf Stockwerke, wie die umliegenden Häusern, sondern zwei Stockwerke hoch ist. Er wundert sich, wie ihm das nicht aufgefallen ist. Sucht seinen Blick zur Kirche zu wenden und stellt fest, dass sie von den Häuserreihen verdeckt wird. Ändert seine Position. Überkreuzt mit der Flasche in der Hand die Wollinerstraße und liest auf einem Schild des Backsteinhauses: evangelische Zionskirchgemeinde. Vergleicht aus der Position hinter seinem Mazda den Backstein

s war 21:18, als die Sonne im Meer verschwand, was der Beweis ist, dass die Kante des Horizontes noch weit entfernt ist. Schweißgebadet erscheint Schlichter auf Deck acht in Kabine 42. Mit einem Knall ist die Tür aufgesprungen. Steht er mitten im Raum, als hätte er draußen gedacht, das Zimmer wäre größer Die Taxi Fahrerin sitzt am Fenster und raucht und starrt auf das pechschwarze Wasser, das kaum vom Nachthimmel zu unterscheiden ist. Hat das Bullauge ein bisschen geöffnet. Größtenteils wird der Rauch aus dem Fenster in die Schwärze gesogen. Sie hat ein Bein auf dem Bett abgestellt, das ganz in der Nähe der Zimmertür steht. Sie legt die Hand mit Zigarette auf dem Knie ab und schaut skeptisch zu Schlichter, der ins Zimmer gestürzt war, als hätte er einen Verfolger abschütteln müssen. Angst vor der Angst, ruft er. Alles ok. Angst davor seekrank zu werden. Er war noch nie seekrank, sagt er, fixiert von seiner Reisebegleitung. Manchmal hat er Gedanken, die sich ihm aufdrängen. Alle werden sterben. Ein Loch in der Ostsee. Meistens bestehen diese Gedanken aus Bildern. Von der Welt ausgesogen, wie eine vertrocknete Zitrusfrucht. Alte Schale, toter Kern. Das aufzerren der Tür irritierte den Rauch, der unentschlossen sich im Zimmer verteilte. Keinen Feueralarm auslöste, weil es zu der Zeit auf den Kabinen noch keine Rauchmelder gab und auch kein Rauchverbot. Die Fahrerin bewegt sich nicht. Allein ihre Zigarette wandelt sich in Asche. Fällt und zerfällt auf dem Bettlaken. Von einem Windhauch zwischen offener Tür und Bullauge, aufgeklappt wie das eines mechanischen Wales. Ist ihm unangenehm, sagt er und macht so eine Art Lächeln, sieht aber eher wie ein Breitmaulfrosch aus. Ist ihm peinlich, meint er und verzieht das Gesicht, wie unter einem kitzelnden Schmerz. Ist auch schon ein paar Jahre her. Hat sich inzwischen auf die Bettkante gesetzt. Blickrichtung zur Tür—Vermeidung von Blickkontakt, kann er gut. Er war pissen. Auf einer Raststätte. Das Klo war ok. Nicht so sauber, wie man‘s sich erhofft, aber auch nicht so dreckig, wie man jetzt denkt. Normal, sagt Schlichter. Der bisher eher keinen Normalitätsbegriff zu haben schien. Er lief an dem Typen mit dem Teller vorbei und hat sogar noch ein paar Mark drauf gelegt. Das war der Fehler, folgert Sonderkommissar Schlichter. Die Fahrerin, was er nicht sehen kann, hat sich inzwischen von ihm abgewendet, raucht die letzten Züge der Zigarette und schaut in die Dunkelheit. Von außen sieht das Fenster aus, wie jedes andere. Aus der Frauentoilette kam ein Husten und er fragte sich, kann man aus einem Husten, die Stimme, aus der Stimme, die Gestalt, aus der Gestalt den Charakter, aus dem Charakter die Persönlichkeit—kann man, darum geht‘s eigentlich, aus einem Husten auf die Attraktivität einer Frau schließen?, fragte er sich, als er am Pissoir stand und in selbiges Urinierte. Fast schleichend schleppt sich die Fähre über die Ostsee. Nur wenn man steil nach unten schaut, sieht man die Bewegung. Er sagt der Fehler war, dass er die Mark aus dem Portmonee geholt hat. Schweigen. Er wartet ab. Er stellt gern Rätsel. Will gern Spannung aufbauen. Das größte Rätsel ist er selbst. Die Taxifahrerin kommt nicht drauf. Sie sagt, sie versteht nicht. Spricht mehr desinteressiert mit dem Stummel in ihrer Hand, als mit dem Mann auf der Bettkante. Draußen im Flur liegt Teppich aus—Saurierhaut. Dann wusste der Mann von der Reinigungsfirma, dass er Kohle hatte. Er muss die Scheine gesehen haben. Ein glühender Punkt fliegt aus einem der Bullaugen der Fähre zwischen Rostock und Trelleborg, stürzt steil nach unten gen unsichtbare Gischt und erlischt irgendwo in einer dunklen Fläche. Schlichter dachte noch über das Husten nach, als sein Kopf gegen die Wand geschlagen wurde. Jemand stand hinter ihm und drückte ihn gegen das Pissoir. Drückte ihn in das Pissoir. Eine zweite Hand griff nach seinen Ho-

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der Kirche und des Hauses und stellt fest: es ist der selbe. Ein Haus der Gemeinde. Er bleibt neben seinem Auto stehen. Passt auf. Schaut, dass er nichts verpasst. Und entdeckt wieder den Jungen im Fenster der Hausnummer zehn/elf. Fühlt sich beobachtet und schüttelt den Gedanken ab. Er läuft die Griebenowstraße in entgegengesetzter Richtung zur Kirche entlang und findet auf der rechten Seite eine kleine Bibliothek. Durch die Lücke zweier Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite sieht er einen Supermarkt. Am Ende der Straße angekommen sieht er auf die Kastanienallee und dort ein Backsteinhaus. Als er wieder im Auto sitzt macht er sich einige Notizen über die Frau, die reflexhaft nach links schaute und die Frau, die ihn fragte, ob alles in Ordnung sei. Sein Radio läuft, aber kein Wort mehr von Atlanta. Die Innenund Außenminister der sieben wichtigsten Industrieländer sowie Russlands billigen einen 25-Punkte-Katalog zur Bekämpfung des Terrorismus. Die Forderung der USA, Staaten wie Libyen, Iran, Irak und Sudan, die Terroristen unterstützen, mit Sanktionen zu belegen, wird von den Europäern abgelehnt. Das Wort Terrorismus findet seinen Weg inzwischen immer häufiger in die Nachrichten. Der Geruch von Gewürzen dringt durch sein offenes Fenster. Er heftet den Quittungszettel der Cola an seine Notizen, startet den Motor, und verlässt den ehemals höchsten Berlins auf dem selben Weg auf dem er gekommen war. Richard Jewell liest die Schlagzeile im Journal-Constitution. FBI vermutet, Wachmann-Held könnte die Bombe gelegt haben. Und acht Wörter verändern sein Leben.

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den. Sie hatte Handschuhe an. Schwarze Handschuhe. Geld, war das einzige Wort, was der Fremde sagte. Irgendein Akzent. Irgendwas aus dem Osten, würde er sagen, weiß aber das in so einem Moment, die Erinnerung trügerisch sein kann. Dann eine dritte Hand durchsucht seine Taschen, da wusste er es sind zwei. Quetschen. Wimmern. Er hat das Gefühl seine Hoden laufen blau an. Sie hatten das Portmonee gefunden. Der Typ an Eiern und Kopf, zieht Schlichter von der Wand weg und stößt ihn dann mit aller Kraft dagegen. Als er fällt, hört er noch, wie auch sein Portmonee mit ihm zu Boden geht—wie eine sterbende Motte mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Boden landet. Der Mann von der Reinigungsfirma weckte ihn. Eine Platzwunde wird notorisch und oberflächlich versorgt. Als Schlichter am Teller vorbei taumelt, ist dieser leer. So machen die das immer, meint er und sitzt auf der Bettkante. Diese Scheißwichser. Ich gebe nie wieder so einem Tellertypen Geld. Das haben sie nun davon. Vor dem Bullauge tut sich eine Fläche Neuland auf.

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Der Schlichtereffekt—Ein Bericht von Richard Mihver Aufzeichnungen aus den Gesprächen mit Herrn Ernst Edwin Schlichter

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err Schlichter, schildern Sie uns wie es zu dem Mord kam.” “Welcher Mord? Ich habe keinen Mord begangen.” “Herr S., so kommen wir nicht weiter. Wenn Sie nicht kooperativ sind, bleiben wir ewig an diesem Punkt.” “Und Sie wollen mir einen Mord anhängen, den ich nicht begangen habe. Das ist doch die Wahrheit und klar ein Fall von Justizwillkür. Sie haben einen Mord, sind unfähig den Mörder zu finden, also nehmen Sie den Erstbesten daher gelaufenen Mann, der einigermaßen in ihr Schema passt. In das Profil eines Mörders. Aber ich bin kein Mörder. Das ist nichts als eine Hetze gegen mich.“ ”Sie denken Sie waren der Erstbeste?“ ”Ich kann es mir nicht anders erklären. Ich meine Herr Mihver—sofern das Ihr richtiger Name ist—Sie sind in Ordnung. Ja schwer in Ordnung. Es ist das System, das schlecht ist. Sie dienen einem schlechten System. Das macht Sie nicht automatisch zu einem schlechten Menschen, aber zweifeln wird man an Ihnen schon.” “Herr Schlichter, können Sie mir schildern wie Sie hier her gekommen sind?” Der Gefangene schaut sich um. Die Räume der JVA Tegel sind herunter gekommen. Man hat mir und Schlichter einen extra Raum zur Verfügung gestellt. Seine Augen wandern durch den Raum, dann fixiert er mich. “Nein das kann ich nicht. Beim besten Willen. Ich weiß es nicht.” “Haben Sie eine Vermutung?” “Ich weiß es nicht. Irgendwie müssen Sie mich bewusstlos geschlagen oder betäubt haben. Das muss in Wien gewesen sein. Als ich gerade in Wien war.” “Herr Schlichter, wie erklären Sie sich, dass sie nun aber in Berlin, genauer in der JVA Tegel sind?“ “Dann haben Sie mich eben in Wien k.o. geschlagen, mir ein Betäubungsmittel gegeben und mich nach Berlin verfrachtet. Weiß ich, wozu Sie im Stande sind?” “Herr Schlichter, Sie haben sich letzten Montag den fünften August gestellt und das in Berlin”, sage ich und versuche ruhig zu bleiben. “Das Problem ist doch gerade, dass sie sich nicht umgebracht hat. Sie hätte uns allen etwas bewiesen. Dann wäre es aber immer noch Selbstmord und kein Mord gewesen, auch wenn ich sie in diesen Selbstmord getrieben hätte—es ist kein Mord!”, schreit Schlichter. “Herr Schlichter, wovon—zum Teufel—reden Sie?” “Sie hat es nicht getan. Sie hätte es tun sollen, aber sie hat es nicht getan. Nicht getan. Nichts getan. Nichts hat sie getan. Nichts.” “Ich denke mir, das bringt heute nichts mehr. Der Zug ist abgefahren. Die Situation, wie ich gerne sage, hat sich überdauert. Herr Schlichter sie dürfen nun gehen. Auf Ihre Zelle.” Aber immerhin, denke ich mir, bestreitet er nicht Herr Schlichter zu sein. Ich bin nicht Schlichter, höre ich ihn schon sagen. Aber davon keine Spur. Dass er nun aber sich an die Tat, die Tatzeit noch daran erinnern kann überhaupt in Berlin gewesen zu sein, spricht wieder für eine psychiatrisch begründete Unzurechnungsfähigkeit und verminderte oder gar nicht vorhandene Steuerungsfähigkeit. Es bleibt zu prüfen, ob seine Behauptung: er glaube zur Tatzeit in Wien gewesen zu sein, konsistent und konstant ist. Wo waren wir stehen geblieben? Richtig bei Scheißleben, du hast ein Scheißleben wenn du keinen Sinn im Leben hast. Man kann es den Kriminellen nicht verdenken, wenn sie krumme Dinger drehen, Drogen handeln, nicht zu ihren Gerichtsterminen erscheinen und allerhand Scheiß bauen der Mensch sucht immer sein äquivalent. Ein Scheißleben bedeutet dass du eine Menge Scheiß baust. In meinem Fach heißt das auch Homöostase. Der Mensch braucht ein Gleichgewicht. Ein befreundeter Psychoanalytiker hat mir mal folgenden Witz erzählt: du hast zwei potentielle Verbrecher, Mörder, Hehler, Diebe oder was auch immer. Du weißt es kann nur einer gewesen sein. Beide sind verdächtig und haben keine Alibi. Du sperrst also beide, in getrennten, Gefängniszellen ein. Der Eine wird rumoren, der wird schreien, rufen, er ist der Falsche, er will seinen Anwalt sprechen, wenn man ihn nicht sofort entlässt und all solches Gerede. Dann Sie, Sie denken haben Ihren Mann. Doch warten Sie, was ist mit dem Anderen? Sie schauen in seine Zelle und er liegt dort auf der Pritsche und schläft seelenruhig und Sie hören die ganze Zeit nicht einen Mucks. Am nächsten Morgen gehen Sie in beide Zellen und fragen, wie die Nacht war. Der aufgebrachte Mann wird sich noch immer echauffieren. Eine bodenlose Frechheit. Ein Desaster. Den lassen Sie gehen. Sie gehen zum zweiten in die Zelle und fragen, die selbe Frage. Er wird antworten: gut. Das ist ihr Mann! Was aber macht man mit einem Mann, der erst geständig ist, selbst sogar sich des Mordes bezichtigt hat und nun das Ganze abstreitet und behauptet von nichts zu wissen und am Tag des Mordes in Wien gewesen zu sein und dazu nicht einmal weiß, wie er die 680 Kilometer überbrückt hat. Was machen Sie mit diesen Kerl? Nicht zu sagen, dass es natürlich diesen Mord tatsächlich gibt.

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Was kann man über einen Menschen sagen? Wer kann einen Menschen beschreiben? Kann ein Mensch abschließend beschrieben werden? Ist eine Beschreibung zweckgebunden und wo verbirgt sie ihren prognostischen Wert? Wo die inhärente Aufgabe? Wer beschreibt überhaupt wen? Wissen Sie ich bin Gutachter, ich schreibe psychologische Gerichtsgutachten. Anhand meiner Gutachten wird entschieden, ob ein Delinquent in den Maßregelvollzug, also die forensische Psychiatrie kommt oder in eine Justiz Vollzugs Anstalt. Manchmal, wie in Schlichters Fall beauftragt man mich ein zweites Gutachten zu schreiben, wird am Ersteren gezweifelt oder ist es nötig den Rat einer zweiter Fachkraft einzuholen. Mein Name ist Robert Mhiver und ich kann Ihnen diese Fragen auch mit fünfzehn Jahren Berufserfahrung nicht beantworten. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, ob eine Person lügt oder sich nur dumm anstellt die Wahrheit zu sagen. Ich weiß ja nicht einmal was das sein soll: Wahrheit. Im ersten Gutachten, lese ich den Satz: Es hat sich kein Motiv für die Tat ergeben und nach Ansicht des Gutachters ist auch unklar, in welchem Maße die Tat geplant war. Das heißt, er hat aus dem Affekt gehandelt. Ein Affekt, den er nicht voraussehen konnte. Der ihn gewissermaßen überrascht und überwältigt hat. Das ist sonderbar. Ich erlebe Herrn Schlichter als einen durchaus planvollen und kontrollierten Menschen. Das einzige was ich ab und an sehe ist, dass sein Affekt einstürzt. Er ist wie eine Maschine. Manchmal gibt es einen Systemausfall. Er ist ein Computer, der gut funktioniert und selten aber dann und wann einen blauen Bildschirm zeigt. Alles was beständig sein muss, sucht er wie umher treibenden Samenkapseln, Fallschirmspringer, nach zu jagen, aufzufangen und in seine Faust einzuschließen, fest zu zu drücken, dass die Idee der schwirrenden Flieger beständig in seiner Hand liegen bleibt und nur im Moment, wo er nachzuschauen bereit ist, sich vergewissern will, ist der Wert von Wahrheit noch fest verschlossen, stellt er fest: ohne seine Kenntnis, sein Wissen und Bewusstsein, ist aus der beständigen Idee eine flüchtige Ahnung geworden. Scheinbar ohne sein Zutun, aus der fest verschlossenen Fast entkommen und seien Finger geschlichen, wie eine Entzündung sich in geronnenem Blut ergeben. Manchmal wissen Sie, würde ich am liebsten aus der Tür gehen und schreien: die Psychologie ist tot! All ihre Behauptungen sind haltlos und beruhen nur auf Spezialwissen, das mehr oder minder schlecht auf die Allgemeinheit anzuwenden ist—nämlich gar nicht. Und auf dem Grabstein steht: hier ruht die Psychologie, eine Wissenschaft die leider zu einer klaren Aussage nicht fähig ist, und ich würde in mich hinein lachen, eine Wissenschaft die es nicht schaffte in hundert Jahren etwas sinnvolles über den Menschen zu sagen. Dabei erfährt die Psychologe gerade so etwas wie einen großen Anlauf. Das aber erklärt sich durch das Interesse am individuellen. Die Psychologie ist vor allem eine Wissenschaft in der das Ich existiert. Und sie erklärt sich dabei selbst, sprich sogar rückbezüglich, denn in unserer Welt gibt es nichts wichtigeres als das ich. Wie das in kollektivistischen Gesellschaften ist kann ich Ihnen nicht sagen. Wir schaukeln in eine Zeit In der das individuelle eine größere Rolle als das Kollektive haben wird. Und Schlichter ist nichts als ein Gefangener seines Glaubens an seine Unschuld, den er über sein Erinnerungsvermögen beziehungsweise dem nicht Vorhandensein einer Erinnerung bildet, das muss ein sekundären Krankheitsgewinns sein. So eben wurde mir auf dem kurzen Amtsweg das Tagebuch der Taxifahrerin zugänglich gemacht. Es lässt sich nicht vermeiden einige Tagebucheinträge, die im Bezug auf Geschehnisse im Bericht geschrieben sind, nicht auch mit diesen zu verknüpfen. Es handelt sich dabei um eine selektive Auswahl meinerseits, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit noch Korrektheit erhebt. Doch scheinen die Einträge der Fahrerin eine nützliche Erweiterung der Perspektive zu sein. Man sagte mir, man habe das Tagebuch schon eine Woche nach den Ereignissen gefunden und zwar im Handschuhfach—was Schlichter Glovecompartment nennt. Schnell stellte sich heraus, dass sich dabei um das Tagebuch der Taxifahrerin handeln muss. Weshalb es dann erst jetzt bei mir ankommt, kann ich nicht sagen. Ferner konnte der Name der Taxifahrerin noch nicht ermittelt werden. Was mich wundert ist diese Sache mit Wien. Wie kommt Schlichter auf einmal mitten im Gespräch auf Wien? Das hat mich irritiert. Ich kann damit noch immer nichts anfangen. Allerdings denke ich auch, Schlichter ist ein Charakter, der, ich sage mal, einfach was erzählt. Das kommt manchmal ohne jeglichen Zusammenhang. So wie er manchmal zwischen den Themen springt, ist es unmöglich dem zu folgen. So hat er mir, auch ohne jeden Zusammenhang, eine Geschichte seiner Familie erzählt. Als Ernst ED mit dem Vater, seine Mutter, die seine Schwester vor kurzem entbunden hatte, im Krankenhaus besuchen fuhr, hielt der weiße Ford Fiesta des Vaters vor einem steinernen Tor, das zum Krankenhaus führte. Auf einmal verlässt Schlichters Vater, hastig das Fahrzeug und plötzlich schlugen ganz unverhofft Flammen aus der Motorhaube. Es waren Sekunden, die der kleine ED alleine im Auto saß. “Ich weiß nicht, ob es gefährlich war.” Er saß auf der Rückbank in einem Kindersitz, ließ die Beine baumeln, war angeschnallt und spielte mit seinen Fingern, als ein Feuerwehrmann die Tür aufbrach und ihn aus dem Auto zerrte. “Als ich dort auf der Rückbank beinahe regungslos saß und spürte wie es hitziger und heißer wurde. Gespannt, wie gefesselt, paralysiert und gebannt—beobachtete, wie die Flammen aus der Motorhaube wuchsen und sich wie Wurzeln eines Baumes durch Asphalt, auf den Rest des Vehikels ausbreiteten—hatte ich dabei, ein sonderbares Gefühl von Lust und Glück. Ich weiß heute, wie die Freude am Destruktiven, mir wie ein düsteres Geschenk, in die

Wiege gelegt wurde, so brach sie Bahnen in dem flüchtigen Moment, als ich dort vom Vater im brennenden Auto gelassen wurde. Rückblickend auf mein Leben, muss ich sagen; daraus ist eine lebenslange Romanze geworden. Als meine Schwester geboren wurde, da wurde auch etwas subversives und tückisches in mich hinein geboren. Hätte ich gewusst, dass mich diese Geburt eines Tages, an den Rand meines Lebens bringen wird—ich hätte an Abtreibung gedacht. Wie ich, das schon oft sagte, das Fatale ist der Genuss am Endzeitlichen und sich für das dafür belohnen, sich in die tiefen zu schmeißen, sich diesen Teufeln hinzugeben, aber ich hätte mir wohl trotz Wissen, die Nadel unter die Haut geschoben und das korrosive, wenn ich mal nicht naiv auf wutentbrannte Autoaggression sann, injiziert. Diese Urszene (verzeihen Sie das Wort) hat schon viel Bildgewalt. Eine verschobene Art meinen Selbstwert zu schützen. Was soll ein unerwünschtes Kind, auch anderes tun, als sich zu hassen?” Zweifelsohne und das ist auch das Problem, die Geschichten, die er erzählt sind nicht gänzlich langweilig. Deswegen höre ich überhaupt zu beziehungsweise lasse ihn seine Sache erzählen. Normalerweise grätsche ich bei so etwas immer sofort rein. Sage: kommen Sie bitte zur Ursprungsfragestellung zurück. Aber bei ihm ist es anders, da habe ich das Gefühl ihn auszureden zu lassen, bringt mich vielleicht weiter. Wenn es auch unendlich viele Stunden Arbeit kostet. Als er mir seine Auto-Geschichte mit dem Feuer erzählte, kam mir ständig ein Satz—wenn Existenz sich durch Negation ergibt—in den Kopf.

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Tag 04—Mittwoch r steht auf der Friedrichstraße. Er scheint etwas zu suchen. Er schiebt ein Fahrrad. Er hat es am Sattel gepackt. Er sieht überall Baustellen. Auf dem Boden liegt ein Flugblatt. Ein Satz Heideggers steht auf dem Blatt. Sein Deutsch ist noch ausbaufähig. Eher brüchig, aber funktional. Nachdem Weg fragen kann er zum Beispiel. Man bedeutet ihm, er müsse Richtung Bahnhof Friedrichstraße. Er solle nicht über unter den Linden fahren. Wenn er vor der Baustelle des Dussmann-Hauses steht, ist er zu weit gefahren. Aus dem Boden ragt ein Kran, beinahe so hoch wie das Internationale Handelszentrum. Ecke Leipziger Straße, sagt man ihm zweimal. Neue Zeit, steht gegenüber an einer Hausfassade. Darunter: der christlich demokratischen Union Deutschlands. Wiederum darunter steht einer der letzte Wachtürme dieses ehemaligen Kontrollpunktes und Grenzübergangs. Ansonsten hat man vom Checkpoint Charlie nicht viel übrig gelassen. Ein toter Flecken, einer toten Vergangenheit auf dem Streifen des Todes. An diesem Sommertag ist nicht viel von Tod und Sterben zu sehen. Tobias hat sich auf sein Fahrrad gesetzt und bewegt sich in Richtung Stadtmitte. Er sieht über die Häuser ragende Baukräne. Hört Baustellengeräusche. Es riecht nach Teer. Der Tag ist ein kalter Tag. An der Kreuzung Leipziger Straße und Friedrichstraße bleibt er stehen. Dort wo sich mal das Kaufhaus Wertheim befand, nichts als Brache. Es heißt, das Wertheim sei das schönste Kaufhaus Deutschlands gewesen. Die Gründer hatten die Idee von einem großen Warenhaus um 1850 aus Amerika importiert. Jäh stand das Wertheim mit dem Tietz am Alex und dem KaDeWe am Wittenbergplatz in harscher, wie liebevoller Konkurrenz. 44 hat ein Luftangriff das Gebäude stark beschädigt. Nach dem Krieg entschied sich die Regierung der DDR das alte Kaufhaus nicht wieder aufzubauen. Nachdem sich das mit dem Sozialismus erledigt hatte, zog in die alten Tresorräume ein Club, in dem man die Musik des Berliner Untergrund hört: Techno. Soundtrack in die Moderne. Inoffizielle Hymnen der Wiedervereinigung und was passiert, wenn ein Staat versinkt und die übernehmende Regierung überfordert ist, mit all der Bürokratie, den neuen Bürgern, dem alten Mief—wer soll da illegale Parties überhaupt für illegal erklären? Mach mal einen illegalen Rave in einem Keller in München. Wahrscheinlich findest du in München nicht einmal einen Keller. Was in Berlin passiert ist seit der, ein paar Jahre zurück liegenden, Wende einzigartig und wird die Stadt noch für Jahrzehnte prägen—wenn wohl auch eher ihren Ruf und den damit verbundenen jetzt schon aufkeimenden Tourismus in die ehemalige Mauerstadt. Tobias erinnert sich, dass er auch schon einmal hier gewesen ist. Es ist verrückt, denkt er sich, wie die Familie Svensson so unterschiedliche Dinge macht und trotzdem so nah beieinander ist. Da hat er auch schon den Firmensitz der Baufirma von Johannas Vater entdeckt. Ein Bauwagen, der unweit der Abrissstelle des ersten staatlich lizenzierten, aber nie in Betrieb genommenen Casinos des ehemaligen Ost-Berlins, steht. Tobias schließt sein Fahrrad an und wirft noch Einmal einen Blick auf sein Rad, als er schon die Klinke zum Bauwagen in der Hand hält. Er betritt den Bauwagen und man sieht ihm aus Hundert Metern Entfernung an, wie wenig Lust er dazu eigentlich hat. Es riecht nach Kaffee und Kippen. Das ist die Bauerarbeiterversion zu Coffee and Cigarettes. Könnte man sagen, wäre dieser Film schon erschienen. Im Bauwagen läuft ein Fernseher. Ein Ableger der beliebten Pannenshows läuft. Der Ton ist aus. Es werden kurze Clips gezeigt, wie Menschen hinfallen. Man hat das aus Amerika geholt. Dort gelten Menschen, die hinfallen als witzig. Auch hierzulande funktioniert das Konzept. Der Vater Johannas begrüßt Tobias, schön, dass er es mal geschafft hat. Er soll sich wie Zuhause fühlen. Vor einem L-Förmigen Schreibtisch haben Vater und Sohn jeweils an den Flanken ihren Arbeitsplatz eingerichtet. In erschreckender Symmetrie. Jeweils einen Stapel Papier in einer grauen Ablage. Drei Stifte. Ein Bleistift, ein Kugelschreiber und ein Filzstift liegen neben dem Stapel auf einer weichen Schreibtischunterlage, an dessen Kante ein Visitenkartenständer aus durchsichtigem Plastik, der jeweils—auch das in vollständiger Symmetrie—mit fünf Karten befüllt ist. Tobias setzt sich auf einen Stuhl und fühlt sich wie im Kreuzverhör. Schaut sich an, wie Menschen fallen. Der Bruder macht so etwas wie beraterische Tätigkeiten in der Firma und hat schon früh den Mief eines Alteingesessenen angenommen, wie ein zusammengeknülltes feuchtes Handtuch und dabei ist er nicht älter als Tobias. Früh schon hat er sich um den Posten einen Festungsgraben gezogen und sitzt seither, wie ein alter verbitterter Mann hinter den Mauern seiner sicheren Position. Dem man die Verbitterung nur in sarkastischen und anzüglichen Kommentaren anmerkt. Die Verbitterung eines Menschen, der niemals frei war, weil er es niemals wollte. Tobias und er hatten nie ein gutes Verhältnis. Eigentlich waren sie wie alle Menschen, sie liebten und wollten die Freiheit. Doch waren ihre Versuche so etwas wie frei zu sein, gänzlich verschieden. So verschieden, dass sie es sich

einander nicht ansahen und Tobias in Johannas Bruder diesen jungen Alteingesessenen sah, langweilig und gehorsam und der Bruder in Tobias einen Taugenichts, einen Clochard mit Fahrrad. Einen der nichts erreichen will. Der in den Tag hinein leben will und damit zufrieden ist. Der nichts verändern will und sich nur um sich schert. Einen Egoisten in seiner schlimmsten Manier. Dabei ist Johannas Bruder einer von diesen Menschen, die selbst durchaus schwierig sind, aber es immer besser wissen. Immer einen Ratschlag parat haben und diesen Ratschlag immer mit einer bitteren Bemerkung schmücken. Sein Lieblingssatz: habe ich dir doch gesagt. Selbstgefällig saß er auf seinem Drehstuhl aus Leder—Chefsessel für Sohn und Vater—neben dem Vater und wie es nach dem Mief der alteingesessen, Ressentiment-anfälligen Bauunternehmer roch, so stank es nach Coffee and Cigarettes, was sich in allen Fasern des Bauwagens breit gemacht hatte, Stühle und Polstermöbel und die Gardine gelblich färbte. Auf dem Tisch zwischen den beiden eine große Packung Marlboro—auf Firmenkosten. Sie unterhalten sich auf schwedisch. Der Vater Johannas erzählt Tobias eine Menge Dinge, die er nicht wissen will und sich trotzdem anhören muss. Es sei ein Risiko in diese marode Straße zu investieren. Fast ein halbes Jahrhundert war Berlin diese geteilte Stadt. Der Fall der Mauer liegt nicht gerade lange zurück, das weißt du doch Tobias oder nicht? Tobias fragt sich, ob er hier ist um abgefragt zu werden, wie zum Einbürgerungstest. Die DDR hat das alte Image der einst prächtigen Straße vollständig ruiniert. Der Bruder sitzt an seiner Position am Schreibtisch und hört angeregt zu, als würde er die Geschichte der Friedrichstraße aus Sicht seines Vaters zum ersten Mal hören. Er sah dabei aus, als würde der Vater aus der Bibel vorlesen. Jedes Wort des Vaters war ihm heilig. Man habe sich engagiert beim Abriss des Casinos. Ist doch Wahnsinn, sagt der Vater. Da hat man dieses Casino im Osten gebaut, keine zehn Jahre ist das her und dann hat man es wieder eingerissen. Verrückt diese Deutschen. Die ganze Straße ist eine einzige Baustelle. Ecke Franzöische Straße Baustelle, Ecke Leipziger Straße Baustelle und der Bahnhof, den man vor zehn Jahren noch als Grenzübergang nutzte, sowieso eine Baustelle. Er soll es sich überlegen. Er kann jederzeit anfangen. Zu tun gibt es genug. Im Bauwagen unweit der Brache, wo das Wertheim mal stand, das Spielkasino zu einem Trümmerhaufen wurde und seine Tochter ab und an ihre Nächte verbringt—was der Vater natürlich nicht ahnt, sahen sie aus wie Besatzer der schwedischen Armee. Sogar eine kleine blau-gelbe Fahne wehte auf dem Dach des Bauwagens. Der Vater arbeitete für eine Düsseldorfer Versicherungsgesellschaft, die dort, wo das Casino stand ein Geschäfts- und Bürohaus errichten will, nach den Entwürfen eines Kölner Architekten. Von Seiten der Versicherer heißt es: steht dem Neubau nichts mehr im Wege. Bei der Begehung des Casinos hat man auffällig viele Saunen gefunden. Ein türkisches Hamam, eine finnische Sauna und eine römische. Dazu viele Duschen und Schlafmöglichkeiten. Auf dem Boden rustikales Eichenparkett. Die Fenster halb-verspiegelt. Unmöglich in das Gebäude von außen zu sehen. Zu sehen was drinnen vorgeht. Die beiden Männer grinsen. Tobias lacht nicht. Er lässt den Vater erzählen und den Bruder zu hören und schaut selbst wie Menschen fallen. Vielleicht wollte man ja keinen Ort des Glücksspiels machen, sondern eher der Lust. Man weiß nichts genaues, aber sah schon aus wie ein Puff. Der schwarze Glasklumpen an der Ecke zur Leipziger Straße war das letzte Zeugnis der DDR-Pläne, die Friedrichstraße in eine Vergnügungsmeile zu verwandeln. Ein verspiegeltes Casino im Herzen der Hauptstadt, das hatte Ende der 80er Jahre in einem Land, wo man um Zehntel-Pfennige Skat spielte, schon was ziemlich Schlüpfriges, schreibt die Berliner Zeitung. Eine schwedische Baufirma im kaputten Herzen Berlins zu gründen, ist fast so clever wie ein schwedisches Möbelhaus erfinden, was heutzutage in Berlin und Deutschland noch niemand kennt. Er kommt aus dem Bauwagen. Am Bauwagen prangt ein Schild: Svensson Industries. Er geht zu seinem Fahrrad und stellt fest, dass jemand das Ventil seines Hinterrades geklaut hat und er jetzt einen Platten hat. In seinen Speichen hängt eines der Flugblätter. Er hält es in der Hand und liest: “eine solche Luft künstlich hochgezüchteter, gemeinster und raffiniertester Sexualität hätte ich nicht für möglich gehalten, ich verstehe aber jetzt Berlin schon besser - der Charakter der Friedrichstraße hat auf die ganze Stadt abgefärbt. Die Menschen hier haben die Seele verloren.” Darunter ein Name: Heidegger. Kennt er aus der Oberstufe. Die Menschen recken ihren Hälse gen Himmel und können sich nicht satt sehen an den glänzenden neuen Häusern, die hier wie Pilze über Nacht aus dem Boden schossen. Manch einer reibt sich seine Augen und meint sich an ein in den Häuserreihen klaffendes Loch zu erinnern. Und jetzt das. Berlin wird eine Großstadt. Der Ku‘damm stirbt. Der Ku‘damm lebt. Eine komische Straße. Wir versprechen uns viel vom Lafayette-Kaufhaus, sagt Katrin, die Chefin des berlin-cosmetik-Ladens in der Friedrichstraße. Man hofft hier auf eine Belebung der Friedrichstraße. Sicher hat man auch Angst vor der Konkurrenz. Belebt aber das Geschäft. Ein Satz, der hier noch nicht so lange zu hören ist. Als der B 1 Einmal einen Bericht über sie gebracht hat, da haben sie ein ganzes Jahr von gelebt. Die Friedrichstraße mit ihren Baustellen, Brachen und Löchern in den Häuserreihen schaut aus, wie eine Theaterbühne oder Filmkulisse von der Seite betrachtet. Tobias steht in einer gelben Telefonbox. Dieser Geruch. Spezieller Geruch. Von ausgehauchtem Atem. Hörer-Geruch. Er hat den Hörer in der Hand und ruft Zuhause an. Er will Johanna sagen, er war in der Firma ihres Vaters. Man kann sich vorstellen ihn einzustellen. Wenn auch, muss er ihr sagen, er es sich nicht vorstellen kann.

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Die stille Krise Würden böse Zungen behaupten, aber auch eine gute Zunge irrt sich mal - das hat augenscheinlich nicht mit einander zu tun.

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as Glovecompartment ist für Schlichter was für Kinder die Baumhöhle ist. Ein buntes Loch vielseitiger Versteckmöglichkeiten—in dieser klappernden Kiste von vergangenen Glanz, verwehtem und anmutigen Gefühl von Geschwindigkeitt und sich verflüchtigender Freiheit. Das Polster der Rückbank befindet sich an der Reißgrenze. Die Bremsen klingen, als brechen sie. Vorne auf dem Kühlergitter prangt ein Hufeisen. Der Stern auf der Motorhaube schief. Der Motor röhrt, dass man Angst vor ihm bekommt und man insgeheim hofft, dass er noch hundert Kilometer macht. Das Taxischild auf dem Dach des Vehikels flackert, wird es angeschaltet. Am besten, behauptet Schlichter, lernt man die Landsleute über ihr Radio kennen und er schaltet auf schwedischen Pop. Zwei Lieder vergehen bis die Taxifahrer auf 69er stellt und Hey Joe durch den Fahrzeuginnenraum klingt. Ernst Edwin Schlichter sagt: “einmal, als ich noch ein Kind war, besuchte uns Zuhause eine Freundin meiner Mutter. Die Freundin der Mutter war mit ihrem etwa fünf jährigen Sohn aus Österreich aus Linz angereist. Mein kindliches Gedächtnis von damals, hat es nicht für notwendig erachtet, sich die Namen der beiden Besucher einzuprägen. Was mir jedoch noch klar vor Augen ist, nicht als wäre es geschehen, sondern; als würde es noch geschehen, ich hatte eine ganz gute Verbindung zu dem zwei bis drei Jahre jüngeren Jungen aufgebaut und abends, als die Beiden die Wohnung meiner Eltern verlassen hatten, stand mein Vater an meinem Hochbett und wollte mich zum Schlafen anregen, da fragte ich meinen Vater, wo der Junge unbekannten Namens jetzt wohne und in welcher Richtung, das von dort aus—meinem Hochbett—etwa sein würde.” Was unterscheidet nun jemanden, der sich Erwachsen nennt, von dem, was Kind genannt wird? Ist Erwachsen-sein nicht schlicht, der Versuch seine Neigungen einer Analyse zu unterziehen und ökonomische Überlegungen anzustellen? Ist es nicht lediglich festzustellen: lohnt es sich, wie will ich sein und was wird es mir bringen? Ist Erwachsensein nichts anderes als das Wissen, was man zu sein glaubt und daran fest zu halten? Verhaltensrepertoire abklopfen, Stereotypen aufrechterhalten, Sinn suchen und Zeit-überbrücken. “So habe ich mir das als Kind nicht vorgestellt”, scherzt Schlichter. “Wie ich in meinem Hochbett kniete, ausgerichtet zur Wohnung des Jungen, wie Gläubige nach Mekka, begann ich kümmerlich zu Weinen und ich genoss den regen Gefühlssturm in meiner Brust und weinte, heulte und schluchzte die gesamte Nacht, aus Freude am Tristen, Tragischen und Traurigen”. Man hatte in einem Motel in Trelleborg an der Südspitze Schwedens in Hafennähe geschlafen, wo man Nachts zuvor von Rostock übergesetzt hatte. Das Motel gehörte einem Typen namens Stetson—der hieß wie die Hutfirma, dachte Schlichter—und über diesen Stetson ist weiter nichts bekannt. Als Schlichter an diesem Mittwochmorgen aufwacht, ist das Bett der Taxifahrerin leer. Wenn diese Woche vorbei ist, wird er sich denken (das schwört er sich), er war in Amsterdam mit dieser Frau und sie hatten eine wunderbare Zeit. Gibt es einen Unterschied zwischen fantasierter Vergangenheit und vermeintlich erlebter Vergangenheit? Ist das Erwachsensein? Sich an eine Realität anzupassen. Hinzunehmen es gebe nur eine Realität? Was wäre in Amsterdam, fragt er sich. Was würden wir unternehmen, fragt sich Schlichter. Liefen wir gerade in der Spiegelgracht spazieren und schautest du in den Porzellanladen und meintest so ein Teeservices wäre auch etwas für uns? Ertränkten wir uns dann im Café Heuvel in Koffein und rauchte ich dabei? Und würden wir nach unserem Kaffeestündchen den Grachten überqueren und in die Nieuwu Spiegelstraat einbiegen? Hielt ich deine Hand, drücktest du dann meine fester, blickten wir in die Fenster von Kramers Antiquitäten– und Kunsthandels? Sähen wir Opiumbesteck und Opiumpfeifen? Würde ich dann scherzend sagen, ja Betäubung könnte ich schon vertragen. Würden unsere Blicke aus dem Geschäft, aus den Konsumbestecken, Holzrahmen, Verglasungen und Ornamenten wandern? Starrten wir uns, auf der Nieuwu Spiegelstraat stehend, in die Augen, würde dein blondes Haar sich über deinen dunkel blauen Mantel werfen, flackerte dein Überwurf im Winde Amsterdams? Würde mich das irgendwann langweilen? Wie würde ich dich dann finden? Gingen wir Schokolade im Café Pompadour kaufen und anschließend Ecke Keizers Gracht und Nieuwe Spiegelstraat in dem ganz und gar schwarzen Café oder Restaurant, dass Restaurant Red heißt, zu Mittag essen? Würde ich mich echt fühlen? Würde ich überhaupt etwas außer Abscheu fühlen? Hätte ich dich lieben können? Hätte ich dich lieben wollen? In einem kleinen Motelzimmer mit zwei Betten und einem Fenster in Trelleborg an der Südspitze Schwedens in Hafennähe sagt ein Mann zu sich: “ich bin dieser lieblosen Zeit so müde. Die Liebe in dir, ist das Gift in mir.” Ernst Edwin Schlichter stolpert die Hoteltreppe hinunter. Bleibt vor der Glastür stehen, ist irritiert. Sieht aus, als

wüsste er nicht wo er ist. Sieht aus als wäre er überfordert. Mit der Gesamtsituation überfordert. Wie es ist, wenn du nur abhauen willst und auf einmal bist du in Schweden. Ist irritiert, wie seine Gedanken, sich in einer Schleife verlieren. Der Frühstücksraum ist leer. Hunger. Das hellelfenbein farbige Taxi steht bereits vor dem Motel und die Fahrerin hupt. Schlichter setzt sich, die Hände den Bauch haltend, auf die Rückbank und bekommt eine Papiertüte von vorne nach hinten zugeworfen. Tagebuch der Fahrerin erster Eintrag: Wir sind auf dem Weg nach Malmö. Eigentlich eine Strecke von einer halben Stunde. Herr Schlichter setzt sich nach hinten, deutlich ist, er will nicht reden—wie gestern. Er kann meinem Blick nicht standhalten. Sobald sich Augenkontakt zwischen uns aufgebaut hat und er bemerkt, dass ich zu ihm blicke, flüchtet er sich reflexartig irgendwohin. Dabei gibt er vor—abgelenkt worden zu sein. Er schaut also zum Beispiel auf sein Mobiltelefon, das er dann und wann aus dem Handschuhfach holt und wieder versteckt und dann schützt er vor eine Nachricht zu schreiben. Dazu beugt er sich dann von hinten nach vorne—was mich ungemein nervt. Aber die Lautsprecher meines Autos, reagieren auf das Versenden immer allergisch. Das weiß ich daher, weil ich Einmal einen Geschäftsmann vom Flughafen nach Hause fuhr und der auch ein Handy hatte und mich die ganze Fahrt über wunderte, warum die Lautsprecher immer so knistern, wenn er dieses Telefon in der Hand hielt und ich ihn darauf ansprach. Schlichter versendet, also keine Nachrichten. Zu einer solchen Persönlichkeit, gehört eben ein ganzes Repertoire und Potpourri an sonderbaren Verhalten. Aber immerhin, ein Mobiltelefon hat er. Schlichter sitzt auf der Rückbank und schaut aus dem Fenster. Er meint, dass ist einer dieser Tage, an dem er schon am Morgen wisse, er werde heute an diesem Tag Mittwoch dem 31. Juli nicht ein Wort sprechen—nicht aus Unwillen oder weil er gerade keine Lust auf Konversation habe—er hat selbst so oder so keinen großen Anteil am eigenen Gemütszustand—weil es ihm schlichtweg, die Sprache verschlagen hat. Die Leere ihn so sehr übermannt und in ihren Bann gezogen hat, dass alles, was ihn am Leben erhält, sein beständiger—und an diesen Tagen: rasselnder Atem ist und an dem hat er ebenso wenig Anteil. Manchmal, sagt Schlichter, erschien sie ihm besonders mürrisch. Er glaube, sie war ein Morgenmuffel. So etwas soll es ja geben. Nachdem sie ihm sein Frühstück, wie man es im besten Falle nennen kann, zugeworfen hatte, murmelte sie noch angestrengt—es ist nicht mehr weit. Wohin sie auch immer fuhren, denn davon hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt, noch nicht ein Wort gesagt— nicht dass ich gefragt hätte, meint Schlichter und klingt bewusst vernünftig. Das kann er also auch—angepasst sein. Wer begriffen hat, dass es keine Opfer geben kann, sondern jeder Täter ist, sein eigener Täter ist und stellt er sich noch so leidend und vom Leben gebeutelt dar—es kann nur Täter geben. Alles ist Entscheidung. Die Frage nach Zurechnungsfähigkeit ist eine Frage danach, wo der Delinquent, den Rest seines Lebens verbringen soll. Bei grausamen Taten, bei unverständlich bestialischen Taten, wer ist da nicht geneigt, Straftäter für krank zu erklären? Die grundlegende Intention von Krankheit und Störung ist, die Gesunden zu schützen und die Fremden, Diffusen und Verwirrten zu isolieren—ist die Anpassungsstrategien, derer für falsch zu erklären, derer sich nur schwerlich einfühlen lässt und die ein unkalkulierbares Risiko darstellen. So kann man Kriminalität und Krankheit oder Veroder Gestörtheit oder Neurose sogar animalisch nennen—natürlich aus der Außenperspektive. Ich kann mich in ein Tier genauso wenig einfühlen, sein Verhalten voraussagen, diagnostizieren und prognostizieren, wie das eines Kriminellen und Kranken, solange ich kein ausreichend vorausschauendes Modell für eine mögliche Innenperspektive habe. Wer einmal begriffen hat, alles ist Entscheidung, Aufrechterhaltung von persönlichen Konstrukten und wer einmal weiß, er kann nur Täter sein, der freut sich, wenn er eine Woche, wie Ernst Edwin Schlichter, in den Urlaub fährt und eine Woche Opfer sein darf. Am Ende ist die Frage nach kriminell oder krank eine Frage nach der Maßnahme zur Resozialisierung. Den Kriminellen bringt man zur Vernunft. Den Kranken heilt man. Es raschelt und knistert auf der Polsterrückbank. Edwin isst aus der Papiertüte. Aus einer Styroporschüssel Gurkensuppe und Hefebrot. Es ist ein widerliches Gefühl, wenn der Metalllöffel das Styropor berührt. Seine Chauffeurin meint, er solle sich die Suppe einteilen, es gebe bis heute Abend nichts mehr. “Ich bin ein Trittbrettfahrer, der Leichen im Keller hat.” Tagebuch der Fahrerin zweiter Eintrag: Der arme Kerl schlief noch, als ich aufstand. Das Motelfrühstück war beinahe zu ende und ich nahm ihm etwas Suppe mit, die er hinten auf der Rückbank, in sich hinein schlang, als wolle er damit etwas Fehlendes ausgleichen. Wir hatten es nicht mehr unbedingt weit—zumindest bis Malmö. Ab und an bemitleide ich diese arme Kreatur. Dann wieder erschreckt mich ein Blick seiner Augen. Manchmal ändert sich die Art und Weise, wie er mich anschaut; von verzweifelt und hilflos zu wutentbrannt und hasserfüllt, von einem auf den anderen Augenblick—als wechselten seine Pupillen die Farbe. Und immer wieder hat Schlichter diesen Gedanken, er habe sich eine bakterielle oder virale Infektion eingefangen. Mit der Suppe gegessen. Putschen oder nicht putschen? Schlichter ist ein Hypochonder—erster Sorte. Ein Scheinkranker, der sich die Krankheit wünscht und eine Riesenangst davor hat. Das Aufbegehren, ist kein Aufbegehren gegen sich selbst—diese krampfhafte Suche nach einem Grund für Glück—sondern gegen einen Virus, Bakterium, eine neurologisch Störung seiner Neurotransmitter und Hormone und wenn ED so müde und lustlos

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Was er nicht gesagt hat—im Bauwagen. Er wird erst später Nachhause kommen. Hat noch zwei Jobs auszuliefern. Ein Paket geht in die Nähe der Schönhauser Allee und eines nach Schöneberg oder Charlottenburg. So genau wisse er das nicht. Johanna ging nicht ans Telefon, aber der gemeinsame Anurfbeantworter. Nyström und Svensson. Keiner da auf: Deutsch, Schwedisch und Englisch. Es wird später. Er habe einen Platten und muss Bahn fahren. Er ist jetzt irgendwo beim Checkpoint Charlie, oder wie das heißt. Er kennt sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht aus. Das Letzte was man von ihm sieht: wie er das Fahrrad auf der Schulter in den U-Bahnhof Kochstraße, der dieses Jahr den Namenzusatz: Checkpoint Charlie erhalten hat, trottet.

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ist, dann ist er nur geschafft von dem Kampf gegen diese, noch unbekannte und nicht ausgebrochene Krankheit, meint er. Er muss ein wenig an den Mann aus der Wiener Berggasse 19 denken. An das Es, das Ich und das Überich denken. Wie das böse Es, dem armen Ich mit seinen schlechten Triebenergien und Bedürfnissen zusetzt und das Über-Ich, dem gemarterten Ich in der Mitte, noch etwas von gesellschaftlichen Werten erzählt—nein man darf nicht mit Frauen schlafen, die man nicht liebt—armes Sandwichkind Ich. Inständig, vehement und aufrichtig wünschte Schlichter, er könne diesen Kampf austragen und am Ende steht dort ein starkes Ich und es braucht diese Abwehrmechanismen, es braucht die Projektionen, die Intrusionen, die Regressionen, die Vermeidungen, die Verschiebungen, Sublimierungen und Abspaltungen und Schlichter, ja er braucht das alles nicht mehr. Weil er nämlich ein toller Typ geworden ist. Dafür allerdings, ist er über hundert Jahre zu spät. Diesen Schlichtereffekt vergessen, wenn Reize ausbleiben, wenn Realität nicht liefern kann, was er sich wünscht und erwartet—müssen Reize vorgestellt werden und sich an den Vorstellungen aufgehangen werden, die Weichen der Schienen von Wirklichkeit umstellen und ein Nebengleis von Realität leben. Das ist der Traum. Das ist Schlichters Fiktion. So oder so stellt Ernst Edwin Schlichter sich das vor, wie er aus dem Taxifenster schaut, auf der E22 zwischen Trelleborg und Malmö und er wieder an Amsterdam denken muss: “würden wir, nachdem Essen im schwarzen Restaurant Red, auf der Grachtenbrücke zu Keizersgracht stehen in den Kanal gucken und das Wasser verfolgen? Würde ich uns, aus Quittungen und Fahrkarten Papierschiffe bauen und auf jedes einen Wunsch notieren und würden wir unsere Konstruktionen in das Wasser schmeißen und sehen, wie sie sich Kanal abwärts von uns entfernen? Wie Ideale, die ich mal hatte? Wie Blätter und Samen von Bäumen in die Mitte des Gewässers fallen, sich sammeln und an die Rändern des Kanals treiben, einige sich zwischen echten Booten verbergen und andere mit den Papierbooten den Grachten hinunter schwimmen. Hätte das Grachtenwasser die schwarze Tinte unserer Wünsche abgewaschen? Würden wir die Dachgiebel der Häuser bewundern, die verschiedenen Töne der Backstein Häuserfassaden bestaunen und durch die Stein in Stein gehauen Gassen schlendernd flanieren und würden wir später, vom Magna Plaza, rüber zum Koninklijk Paleis spazieren und nachdem Besuch, in eine schmale Gasse Namens Eggertstraat, die davon abgeht, flüchten—würden wir so etwas oder etwas ähnliches unternehmen? Hätten wir Lust darauf? Würden wir uns im Rücken der Kirche küssen und würde mich die schmale Gasse an die engen Straßen der Bremer Altstadt erinnern? Ich war von den drei übereinander gestapelten Figürchen enttäuscht. Stiefmütterlich hinter einer Kirche versteckt, wer will den da noch die Hufe berühren? Aber das Rathaus ist sehr schön. Da lässt‘s sich sicher gut Kaffee trinken”, erzählt Schlichter unermüdlich und eigentlich spricht was er erzählt nur eine Sprache. Eine Sprache, die von Verlust erzählt. “Würden wir dann aus dem Rücken des Gotteshauses hervortreten, über die Gravenstraat links in die Nieuwendijk einbiegen, nach 89 Metern auf eine Kreuzung treffen, rechts in die Beurspassage laufen, nach etwa 69 Metern wieder rechts, dieses Mal in den Damrak und würden wir nach 160 Metern, aus der Ferne, abermals das Koninklijk Paleis erspähen—lachten wir über uns, wie wir im Kreis gelaufen wären? Ist das Leben, mehr als eine Routenplanung? Würden wir lachen? Sagtest du dann verdrossen, wenn wir in Richtung Magna Plaza liefen und nicht vorbei an dem phallusförmigen Nationaal Monument op de Dam, kämen wir, abermals zu einem der Grachten. Antwortete ich darauf, das wäre aber ein Rückschritt und Eingeständnis, aber für dich gestehe ich mir ein… Wenn ich nur so flüssig, wie diese Stadt wäre. Und überall in den Schaufenstern der Häuserzeile, die sich anbiedernden Huren, wie sie halb verdeckt im dunklen sitzend, sich ihre Haare kämmen. Wünschte ich, wir würden eines der Boote ausleihen und eine kleine Tour unternehmen? Oder vorbei am Toren Steeg auf der Brücke sitzen und wieder—Kaffee trinken, was soll man auch sonst machen? Was wäre das geworden? Hätte ich diesen Urlaub genießen könne? Was wäre da aus meinem Hass geworden?”, er pausiert. “Aber wir waren nicht in Amsterdam, weil ich mich für die Flucht entschied.” Ein Traum von der blonden Frau rüttelt den müden Schlichter wach. Seine Pupillen weiten sich. Das Taxi steht, er weiß nicht wo sie sind. Er wischt sich eine Sabberspur, wie Schneckenschleim von seinen Mundwinkeln, rümpft über die unerwartete Konsistenz dieser Spur die Nase, reibt sich die Augen und greift blinzelnd die Schlaufe einer der Griffe über der Tür und zieht sich daran hoch. Tagebuch Eintrag dritter Eintrag: Edwin Schlichter sitzt wie ein unmündiger Zeuge seines Lebens, hinten auf der Stoffrückbank meines Autos. Wir haben eine Panne. Dieser Mensch wird mir zusehends suspekter. Tagebuch der Fahrerin vierter Eintrag: Ich ärgerte mich. Ich dachte mir, verlässt ein deutsches Auto das Land, fangen die Probleme an, aber ich dachte mir auch: sei es drum und holte einen Kanister destilliertes Wasser aus dem Kofferraum. Wie ich an den Hintertüren vorbeilief, fährt dieser Sonderling von Mensch in einem Stoß zusammen, als würde er den Tod selbst sehen und in einem Satz schmeißt er sich, wie ein schockiertes und beleidigtes Insekt gegen die Scheibe auf der anderen Seite, kratzt gewaltig an der Scheiben, statt sie herunter zu kurbeln und hockt wie erfroren in einer Art Schneidersitz in der Ecke der Rückbank und starrt mich zusammen gekauert mit

riesigen Augen an.” “Herr Schlichter”, beginne ich den Delinquenten zu fragen. “Was denken Sie über folgende Aussage?” Ich las ihm den vierten Eintrag vor und ließ ihm einen Moment Zeit sich eine Antwort zu überlegen, aber er schoss sofort drauf los: “ich dachte, diese Frau will mich mitten im Nirgendwo umbringen, will mitten in der Pampa einen Mord begehen. Mord an mir. Läuft da an mir vorbei, mit einem Kanister voll mit wahrscheinlich Benzin oder schlimmerem. Sie hatte doch nur darauf gewartet, mit einer Panne vorzutäuschen, dass wir halten müssen und mich dann irgendwo um die Ecke zu bringen. Ich fragte mich, wie will sie dann Nachhause kommen? Es gibt hier doch weit und breit keine Menschenseele. Will sie nach Hause trampen? Oder hat sie bereits ein zweites Taxi irgendwo untergestellt? Immerhin kannte sie sich bestens im Land aus. Vielleicht war das ihre Schliche. Einen verloren Typen, wie mich aufzugabeln, im Sinne seiner Freiheit gefangen nehmen und dann ermorden. Oh Amsterdam ich habe dich vermisst.” Einmal einen Mord begehen und sehen, wie das Leben danach ist. Einmal jemanden Umbringen. Einmal dem Tod ins Gesicht schauen. Einmal mit jemandem Sterben. Einmal dem Ende nachfühlen. Einmal der Angst vor Endlichkeit in die Visage schauen. Einmal über dieser Angst stehen. Die Taxifahrerin sitzt wieder am Steuer, erzählt etwas von Kühlwasser. Sie müssen halten an der nächsten Tankstelle. Ein Schlauch hätte Risse. Ernst Schlichter vertritt sich ungeduldig die Beine, starrt dabei in den, von einem gräulichen Schleier bedeckten Himmel über der Dorftankstelle bei Vellinge und macht dabei Geräusche mit seinem Mund, währenddessen die Fahrerin den Schlauch kaufen ist. Er fühlt sich wie er sich jeden Morgen fühlt: müde, leer und abgekämpft. Unfähig zu sprechen. Unfähig anderen in die Augen zu schauen. Beinahe unfähig zu atmen und zu sein. Immer noch nichts. Immer noch Leer. Meist geht die Leere, wie sie gekommen ist. Aber es scheint, als hätte sie beschlossen zu bleiben. Edwin hatte erwartet, es wäre schon Nachmittag, es ist aber noch Morgen oder Vormittag. Langsam merkt er, wie seine Stimme zurück kommt—wie ein weit entferntes Echo. Der Schlauch passt nicht. Die Fahrerin flucht und schmeißt die Plastikröhre auf den Boden. Hebt sie wieder auf. Flucht wieder, und läuft zurück in die Tankstelle. Es vergeht einige Zeit, bis ein Mechaniker kommt. Fahrerin und Mechaniker stehen vor der offenen Motorhaube. Schlichter hat ein Fenster geöffnet und seine Beinen baumeln aus dem Taxi. Der Kaffee der Tankstelle ist widerlich, genauso ekelhaft sind die Sandwichs. Smørrebrød, aber wir sind ja auch nicht in Dänemark. In Schweden bei dem Dorf Vellinge ist es etwa genauso kalt wie in Berlin, für einen Hochsommer. Mit irgendwas muss er sich aber die Zeit vertreiben. Hinter der Tankstelle ist ein Maisfeld. Ein Paar Maiskolben liegen auf dem Feldboden. Die meisten hängen an den Stauden. Am sinnlosesten erscheint das Leben von Mittags bis vier. Um acht geht es dann meist wieder. Man muss sich seine kleine Welt aufrecht erhalten und mit allen Mitteln verteidigen—immerhin es geht um Leben und Tod. Noch immer hat Schlichter kein Wort gesprochen. “Wenn ich den ganzen Tag nicht rede, kommt es mir vor, als hätte ich das Sprechen verlernt”, meint er und klingt dabei selten Vorwurfsvoll. Man müsse ihn am Reden halten. Mit Elektroschocks zum Quasseln animieren, dass er seine Stimme nicht verliert— Er läuft auf dem Gelände der Tankstelle umher und tapst zwischen den Tanksäulen herum. Prüft die Pistolen. Vergewissert sich, das alles seinen richtigen Platz hat. Entdeckt hie und da ein paar Asymmetrien und bessert die Schönheitsfehler der Rwät aus. Schon lange hat er sich nicht so sinnlos und dabei so echt gefühlt. Noch nie war er so leer und hat sich dabei so authentisch gefühlt. Nie ging es ihm schlechter und noch nie, fühlte er sich dabei so wohl. Der, wer weiß; die Leere lässt sich behelfsmäßig mit Verderben füllen, den erwartet eine spaßige Zeit. Mittlerweile tollt Schlichter rings im Maisfeld herum. Weiß nicht, wie weit die da vorne bei der Tankstelle sind, ob der Schlauch passt oder nicht. Reißt ein paar Stauden raus und lässt sie über das Feld fliegen. Es ist auch einerlei, ob die beiden nun weiterfahren oder in der Pampa versacken. ED ist, wie ein Schatten und wie die Sonne ihn wirft, so ist er. Tagebuch der Fahrerin fünfter Eintrag: nachdem es schon Ewigkeiten gedauert hatte, einen passenden Schlauch zu finden (es gab nur Teile für Saab und Volvo) und dann noch einmal Ewigkeiten, bis wir alles erledigt war. War ich überrascht nicht mit Kreditkarte bezahlen zu können. Schweden befindet sich immer noch in der Vergangenheit. Gut, dass mir Schlichter Kohle gegeben hat, sonst hätten wir in dieser Trostlosigkeit noch einen Geldautomat suchen müssen. Und gut, dass der Tankstellenwart DMark akzeptierte. In unserer Notlage. Jedenfalls, als wir dann fertig waren, tollte dieser verrückte Typ in dem Maisfeld herum, das einzige, was von ihm zu sehen war, waren an einigen Stellen aus dem Feld fliegende Maiskolben und es dauerte noch einmal eine halbe Stunde, bis er sich gnädig zeigte und nach einem Hupkonzert meinerseits, zum Taxi, wie ein Rehkitz, angesprungen kam. Nächstes Ziel Malmö, zum Geld tauschen.” Was auffällt die Stadt ist unheimlich sauber, keine alten Billet, Papierfetzen, Flaschen noch Dreck oder herumlungernde Leute. Während die Taxifahrerin im Hauptbahnhof Geld umtauschen ist, läuft Schlichter durch die Innenstadt Malmös. Er sieht überall schwedische Autos und freut sich über den Benz und er beobachtet eine Gruppe Schwedinnen eine sitzt breitbeinig und sucht etwas in einem Rucksack. Sie hat einen kurzen Schwarzen

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rock an. Was ein Slip sein soll, sieht aus wie ein engmaschiges Netz zum Fische fangen, während sie im Rucksack verschwindet, sieht Schlichter im Vorübergehen, wie Schamlippen ohne Haare sich wie ein Delfingesicht an die Netzstruktur pressen. Als beide sich wieder am Taxi treffen, ist aus Schlichters dünnem Umschlag ein fettest Paket geworden. Eine Krone sind 0,23 DM. Tagebuch der Fahrern sechster Eintrag: wir befanden uns auf der E22. Ich war froh, wieder am Steuer zu sitzen. Jetzt sollten es nicht mehr als drei Stunden Fahrt sein. Wenn wir erst einmal da sind, wird sich die Lage hoffentlich entspannen. Was ich sehr interessant finde, Herr Schlichter hatte in seinem Koffer weniger Kleidung als Literatur und was ich daran bemerkenswert finde, wann immer ich, nur für einen kurzen Moment, das Fahrzeug verlasse, mich noch einmal umdrehen oder ein Gespräch zwischen uns, sich im beiderseitigen Schweigen verliert, springt Herr Schlichter sofort an seinen Koffer, kramt ein Buch hervor und fängt zu lesen an—als könne er sich selbst, ohne Menschen oder ohne Gespräch, nicht ertragen. Schlichter hatte sich wieder nach vorne gesetzt. Anfänglich machte mich diese Wechselhafte, ja fast ambivalente Art Schlichters nervös. Inzwischen aber, weiß ich Schlichters Ambivalenz zu deuten. Das Taxi verlässt Malmö in Richtung Kalmar. Auf der linken Seite ein Wasserbecken, eine Bahntrasse, Graffiti unter einer Brücke, geradezu ein Einkaufszentrum im Bau. Burlövs kommun steht auf einem grünem Schild auf der rechten Seite. Flachland. Stromnetze. Vorbei an Lund der kleinen Stadt (immerhin die elfgrößte) im Norden Malmös. Vor 13 Jahren begann man hier Schwedens erstes Gewerbegebiet zu errichten. Das Ideon. Lila Blumen säumen die Straße. Schneller als Hundert, geht es hier nicht. In diesem Jahr hat man zum ersten Mal was von Vision Zero gehört. Damit versucht die schwedische Regierung Null Verkehrstote auf Schwedens Straßen zu erreichen. Das will man innerhalb von 20 Jahren schaffen. Die Prämisse der Regierung: Menschen bauen Fehler. Man muss das Straßennetz so bauen, dass menschliche Fehler nicht mehr tödlich sind oder tödliche Fehler unmöglich. Ein tollkühnes Ziel. Gerüchteweise heißt das, die Regierung wolle auf allen Landstraßen und den Straßen, wo man schneller fahren darf, zwischen den entgegensetzten Spuren Stahlseile spannen. Denn die meisten Toten auf Schwedens Straßen gebe es, wenn zwei Autos mit Tempo Hundert auf einander prallen. Birkenwälder am Straßenrand. Schilder warnen vor Elchen. Die Autobahn geht direkt in den Ort ohne Abfahrt, führt durch den Ort und wird wieder zur Autobahn. Im Radio läuft: it‘s just another manic monday. Es ist aber Mittwoch, kommentiert Schlichter. Schlichter setzt sich auf den Beifahrersitz. Er hat sich ferner dazu durchgerungen, wieder zu sprechen und so dringt ihm über die Lippen nichts als ein zusammenhangsloser Wortschwall. Ab und an reden sie über Autos. Man könne einen porösen Kühlwasserschlauch ganz wunderbar mit Verbandszeug flicken. Eine Müdigkeit überfällt ED. Er schläft im Reden ein und wacht redend auf. Erzählt irgend etwas von New York. An der Kent Avenue unter einer Brücke stehen. Er gähnt inmitten seiner Erzählung. Die Metro rattert über den Kopf hinweg. Weiter gehen. Nicht wissen wohin. Schon eine Art Zuhause haben. Augenlider hängen schlafsuchend über Augäpfeln und verhindern Sonnenlicht. Sein Kopf kippt gegen das Taxifenster und schmiert daran ab. Auf einem Hausdach in Brooklyn sitzen und den Brooklyn-Queens Expressway 278 beobachten. Den Stand der Sonne beobachten. Sich an Dachpappe verbrennen. Vorgeben zu arbeiten. Was er dort gemacht hat? Er arbeitete an einem Reisebericht. Schlichter hält sich am Gurt fest, als fürchte er durch den Sitz zu rutschen. Da fahren sie gerade bei Karlshamm vorbei. Es sollte eine Abhandlung über die Trivialität von Freiheit werden. Er wusste zu viel bevor er anfing zu schreiben. Er wollte auch seismologisches Wissen mit einfließen lassen. Einen Vergleich über Großstädte. Man warte nur darauf bis die Stadt am Bosporus einem Erdbeben erliege. Wissenschaft sei ihm immer ein Schild gewesen. Hypothesen bilden, operationalisieren und überprüfen. Der Vorteil der Wissenschaft; sie ist fast wie Religion eine absolute Angelegenheit—nicht ganz so konsistent und stabil. Heftig schüttelt es ihn—es hilft nichts. Nur an manchen Stellen schimmert die farblose Haut, braun und rot, und dann tut sie es nur kurz, wenn Schlichter von etwas berichtet, was ihn mal erregte, wie als würden fluoreszierende Bakterienkulturen unter seiner Haut wohnen. Dieses gescheiterte Schreibexperiment in Brooklyn, ist wie ein blinder Fleck. Wie ein peinliches Stück Leben. Als er merkte, er würde an diesen Versuch von Schaffen scheitern, als er die Einzelteile, wie einen zerbrochenen Krug sah—Quollen neue Techniken aus ihm heraus. Das heißt: jeden Morgen nahm er den Stapel Blätter. Holte dazu einen Hammer und kleine Nägel. In stundenlanger Arbeit hämmerte er Seite für Seite mit jeweils zwei Nägel in zweier Reihen zu jeweils 10 Seiten den Reisebericht in die Dachpappe. So dass er sein Geschriebenes durchlaufen konnte und wenn der Wind vom Hafen her über das Haus wehte, schreckten die fixierten Blätter auf. Wie Gespensterschrecken, die sich nicht bewegen können. Manchmal verbrachte er mehr Zeit damit, die Blätter in die Dachpappe zu pinnen, als am Text selbst zu arbeiten. Ein Rascheln und Stürmen ist geblieben, wo Schaffen sein sollte. Schlichter ist seiner Müdigkeit ergeben. Scheitern heißt: mit einer Sache aufzuhören. “Sich frei fühlen, ist eine Ortsunabhängige Sache”, meint er sukzessiv verzweifelter lachend. “Wissen Sie, ich kann mich in einem Gefängnis freier fühlen, als in einer Großstadt. In der ich tun und lassen

kann, wonach mir der Sinn steht. Glück braucht einen Grund.” Die Taxifahrerin lässt Schlichtes Ausführungen weitestgehend unkommentiert. Ab und zu rutscht ihr ein mhh durch geschlossenen Lippen. Drehungen auf dem Hausdach in Brooklyn—er wird nicht fertig. Wo ist überhaupt dieses Canossa? Wanderer kommst du nach Spa? Demut ist eine falsche Geste. Er hat sich in Einzelheiten verloren, die unmöglich zu einem Reisebericht zusammengefasst werden können—diese Peinlichkeit von Literatur und dann hat er doch veröffentlicht. “Ich glaube der Mensch, soll gar nicht glücklich sein. Denn der glückliche Mensch, Homo Fortuna, ist ein faules Tier.” Sie fahren. Starr sitzt die Fahrerin am Steuer, als hätte sie ihr gesamtes Leben nichts anderes gemacht. Ernst liegt inzwischen wieder auf der Rückbank und betrachtet den Himmel des Taxis. Er zeichnet mit seinen Fingern, Bilder von Kolibris, Reihern, Pelikanen, Kondore, Spinnen, Hunden, Affen, Giganten und Händen, Linien, Dreiecke und riesige trapezförmige Flächen—riesigen Geoglyphen, als wäre der Himmel des Automobils eine peruanische Wüstenfläche. Er war kurz davor Inhalt zu sein—ist nun mehr denn je in dilettantische Einzelteile diffundiert. Zweifel töten Konzentration. Vielleicht kann er großes Schaffen. Vielleicht Bewegendes. Wenn er nur diesen Teufel Distraktion los wird. Aber Alle wissen: Neigungen Teufel nennen, ist Verneinung. Was ein Mensch sein kann, muss er sein—unweigerlich geht er Zugrunde, wird er nicht, was er ist. Er hätte Amsterdam mit ihr nicht genossen, man kann sich zum Fühlen weder anregen noch zwingen. Wie man nicht gewaltsam einschlafen kann. Man lässt den Körper arbeiten—man lässt los. Man lässt Tausendfüßler laufen. Wie Schatten und Sonne. Wie Samen und Wind. Man muss sich von der Brise tragen lassen. Wie man sich bettet, so liegt man. Der ausgestoßene, beschimpfte und ausgelachte dänische Philosoph sagt, die Tür zum Glück geht nach außen auf—wer sie einzurennen versucht, der verschließt sie nur unweigerlich. Tagebuch der Fahrerin siebter Eintrag: Pinkelpause am Lyckebyån. Schlichter bettelt auf Toilette zu müssen. Schön soll es auch sein. Muss man sich mal vorstellen. Er will eine Pinkelpause im Schönen. Wir fahren die E22 bis zum nächsten Autobahnkreuz. Was dann, Europaväg 22 trifft Riksväg 28 war. In der Nähe des Lyckebyån. Eine Weile fahren wir die Straße entlang. Ich kannte zufällig eine gute Stelle in der Gegend, wo wir mal Rast machen konnten. Ich stellte das Auto auf einer kleinen und kurzen Brücke unweit des Flusses ab. Schlichter sprang wie angestochen auf und stürmte aus dem Auto. Da waren wir etwa auf Höhe Karlskrona hatten also noch—etwa—eine Stunde bis Kalmar. Schlichter im Wald. Das Taxi steht in Flussnähe. Herrliches Wetter, ruft Schlichter aus dem Wald. Rauscht der Fluss. Raucht die Taxifahrerin ungerührt im Fahrzeug und blickt gerade aus. Ein grüner Teppich aus Gräsern verschiedener Halme liegt wie absichtlich gepflanzt auf dem Waldboden. Und Bäume: Birken, Fichten, Ahorn herrlicher Mischwald, sagt Schlichter. Während er den Wald Richtung Taxi verlässt und den Reißverschluss seines Hosenstalls nach oben zieht. Überall summt und zwitschert es. Die Autotür fällt ins Schloss. Der Motor startet, schnurrt und im Rückwärtsgang verlassen die beiden das Waldstück und fahren zurück auf die E22 Richtung Kalmar und Öland. Es gab schon Frauen, mit denen Ernst in einer Art Verhältnis oder Beziehung stand. Diese eine Brünette, er lernte sie auf einem Kongress kennen, auf dem er als Übersetzer arbeitete. Es war schon einiges an Wein geflossen und er fand sich Stunden später wieder, wie alle Kollegen gegangen waren, er mit der Frau noch weitergezogen ist, sie in einer Bar waren und es fünf wurde. “Es gibt zwei Regeln. Erstens, du lernst eine Frau kennen. Dann du musst deinen Absichten verschleiern. Sie darf nicht merken, dass du sie ins Bett kriegen willst”, erzählt Schlichter großspurig und unglaubwürdig. “Was machst du? Richtig, du muss sie in Sicherheit wiegen. Erzähle ihr von anderen Frauen. Wie du dich ärgerst, die eine oder andere nicht mehr aus deinem Kopf zu bekommen. Wie du von einer lang verflossenen Liebschaft träumst und sie dich nicht loslässt. Wie du darunter leidest. Dann sagst du ihr, oft würden Frauen deine Gesten missverstehen. Erkläre ihr, du liebst es am nächsten Morgen, Blumen zu kaufen, gekräuselte Tulpen beispielsweise, Frühstückseier zu kochen, ans Bett zu bringen und gemeinsam mit ihr zu essen. Erläutere ihr, Frauen missverstehen das als Liebe, dabei findest du das nur höflich und ein gutes Bild”, Schlichter lacht verzweifelt und fährt in seinen absurden Bindungsgeschwafel weiter fort: ”aber, das wichtigste, also wirklich das Essentielle ist, wenn dir eine Frau gefällt, dann musst du sie, gleichwie, du musst sie zu dir nach Hause locken—und mit ihr Schlafen. Wiege sie, die Beute, in Sicherheit dann schlage zu. Nicht nur ein einziges und schüchternes Mal und denken die ist Sache erledigt. Nein du musst so oft mit ihr schlafen, wie es dir deine Manneskraft auch nur irgend erlaubt, über Unlust und Schmerz hinaus. Das mag dir sonderlich erscheinen. Diese Erkenntnis ist irritierend. Was meinst du? Es hat Jahre gekostet, bis ich es akzeptieren konnte, aber das Geheimnis ist ganz einfach; Sex bindet. Es gibt dieses Hormon Oxytocin, man sagt es ist für Bindung zuständig. Es heißt auch, während der Paarung schütten Frauen besonders viel Oxytocin aus. Jeder Koitus ist ein Zweig für das Vogelnest. Oxytocin ist aus dem griechischen Wort Okytokos entlehnt und bedeutet soviel wie: leicht gebärend.” Diese Brünette, er hatte es geschafft sie in ein tiefes Gespräch zu verwickeln. Die Kollegen verabschiedeten sich

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eitdem der Vater von Cleo Kidman an Parkinson erkrankt ist und seitdem er diese Diagnose hat, ist ihre Mutter noch anstrengender geworden. Sie liegt auf der Couch in der Fabriketage. Wo Henry ist, weiß sie nicht. Er sagte, er treffe sich mit einem Freund. Manchmal hat sie das Gefühl die drehen krumme Dinger, aber so genau

weiß sie das nicht. Cleo ist eine Frau, die ihren Partner ihren Mann niemals etwas unterstellen würde. Fast schon zwanghaft niemals Verdacht schöpfen würde. Das kann man nun Vertrauen oder Anpassung nennen. Sie liegt auf ihrer Couch. Wieder hört sie das Lied. London Ortszeit Zwölf Uhr Mittags und Cleo Kidman liegt in der Fabrik auf der Couch, die man von Außen nicht als Wohnung deklarieren würde und sie träumt. Eine andere Cleo-typische Sache ist das wegträumen oder Tagträume. Meist macht sie das vor einer Herausforderung. Vor ihren Prüfungen in der Schule beispielsweise das war eine Zeit voller Träume. Manchmal schreibt sie ihre Träume auf. Dass sie am Sonntag nach Berlin fliegt ist gleich eine doppelte Herausforderung. Träumen heißt sich vorbereiten. Eigentlich träumt sie nicht. Das ist etwas anderes. Sie hatte etwas geträumt und sie wachte auf. Henry war verschwunden. Sie fand einen Zettel auf dem Couchtisch. Im Traum war sie auch auf der Suche nach Henry und fand ihn nicht. So konnte sie sich dieses Ende nicht denken, deswegen liegt sie auf der Couch versucht zu träumen, dass sie Henry findet. Es hat drei Detonation mitten in London gegeben. Man feierte Silvester. Sie war sauer auf ihre Mutter. Richtig sauer. So sauer dass sich beide gegenseitig schlugen. Henry feierte in einem Gebäude aus Glas. Was er feierte weiß sie nicht. Vielleicht Silvester, dachte sie im Traum. Die erste Detonation, im Traum sah sie einen Atompilz, der über London aufstieg. Oder etwas weiter weg. Wenn ein Atompilz über London aufstieg, dachte sie sich im Traum, dann wäre von der Stadt nicht mehr viel übrig und sie könnte nicht zu Henry rennen. Dass sie rennt ist der Beweis, dass London noch steht. Sie kommt im Glasgebäude an. Es ist nichts. Man feiert einigermaßen ausgelassen. Sie geht durch eine Glastür und fragt nach der Bombe. Sie solle sich hinsetzen und was trinken. Springt wieder auf und sagt, sie kommt später. Sieht wieder sich und ihre Mutter. Sich gegenseitig mit den Armen von vorn nach hinten und zurück drängen—ein bisschen wie Sumoringer und dabei heftig laut und schlimm streiten. Die Cleo, die dabei im Bett liegt, muss sich gewunden haben. Im Badezimmer. Die zweite Detonation sprengt die Fenster im Badezimmer. Wieder rennt sie zu Henry in das Gebäude aus Glas, das inzwischen weitestgehend vom Glas befreit ist. Fühlt sich wie in einem Film. Das Glas ist aus den Fenstern gespritzt, wie eine dünne Eisschicht auf einer Pfütze bricht. Die Feier ist noch im Gange, aber sie kann nicht mehr durch eine Tür gehen. Überall hängen Planen und Absperrband. Sie geht auf die Knie und schaut unter der Plane in den Raum wo Henry und seine Freunde sein sollten und sieht sie, wie sie noch immer feiern und denkt sich, so schlimm war es nicht. Ist wieder bei der Mutter. Sieht in Traumperspektive, wie sie sich gegenseitig an den Hals springen und würgen. Als der dritte Pilz nahe London aufsteigt, steht sie vor der Tür und sieht den Teil des Gebäudes aus Glas in sich zusammen fallen in dem sie Henry und seine Freunde vermutet. Als sie dort zum dritten Mal ankommt, findet sie einen Trümmerhaufen vor. Einige Menschen suchen andere Menschen in den Trümmern. Sie geht geistesabwesend den Schutt und die Asche ab. Schließlich findet sie die Freunde Henrys. Ein bisschen kämpft sie mit den Tränen, dann weint sie. Auch im Bett weint sie. Die Freunde wollen Cleo zu einem Essen mitnehmen. Sie sagt sie komme später nach und sucht nach ihrem Freund in den Resten des eingestürzten Gebäudes und kann ihn nicht finden. Am Ende ihres Traumes sitzt sie am Tisch eines fremdes Mannes mit den Freunden Henrys. Das Ganze ist aufgebaut wie das letzte Abendmahl, nur das Cleo sich auf dem Bild nicht zurecht finden kann. Der Herr, der das Mahl gibt, sagt zum Schluss ihres Traumes: nun müssen wir uns eine neue Zeit schaffen. Wie winzige Mikroben von Glasscherben spritzen, wie ihre Hände am Hals der Mutter kleben, wie die Hände der Mutter an ihrem Hals haften, wie sie die Freunde Henrys findet, wie sie in den Trümmer sucht, wie Schutt und Asche an ihren Händen kleben, wie sie abseits des Mahls sitzt—sie wacht auf und kann die Bilder ihres Traumes nicht vergessen. Als sie aus der Kabine kommt, die mal ein Büro war und jetzt ihr Schlafzimmer ist, findet sie auf dem Couchtisch einen Zettel. Auf dem geschrieben steht, komme später wieder, iss schonmal ohne mich. Cleo liegt auf der Couch, ihr Lied läuft wieder und wieder und sie ist nicht mit der Art des Endes ihres Traumes zufrieden und denkt sich, also muss sie sich ein neues züchten. Sie liegt auf der Couch. Manchmal fühlt sie sich, wie eine Fliege eingesperrt in der Doppelverglasung eines Fensters. Sie liegt auf der Couch. Schläfrig. Erschlagen von Müdigkeit, obwohl sie gerade aus dem Bett kommt. Gestern hatte ihre Mutter sie Zuhause abgesetzt. Müdigkeit. Sie muss ein alternatives Ende für den Film ihres Traumes erfinden. Macht den Augen zu und stellt sich vor, sie steht auf einen Berg aus Schutt und Trümmern und da ragt die Hand Henrys schwach, geschwächt und schwächlich aus dem eingestürzten Gebäude, wo man noch eine Party feierte und eine Atombombe die Party beendete. In ihrer Vorstellung zu ihrem Traum wandelt sich das Gebäude aus Glas in die Fabriketage. Sie steht auf den Trümmern der Fabriketage und hat Schutt und Asche an den Händen. In einer Vorstellung, die zum Traum wird, schnappt sie nach der Hand Henrys und zieht ihn aus den Trümmern hervor. In einer anderen Vorstellung—und sie erschreckt, schreckt vom Sofa auf—als ihr Alter Ego, die Hand Henrys schnappt, heraus ziehen will und es nicht kann. Nicht gegen die Trümmer standhalten kann. Und eine Andere, wo sie selbst die Hand los lässt und ihren Henry in den Trümmern begräbt, wohl aber vorgibt ihn retten zu wollen. Diese ganze Berlin-Sache, kommt ihr jetzt unheimlich unüberlegt vor. Schlecht geplant. Und sie hat Angst sich zu verrechnen, zu verkalkulieren und zu scheitern. Zu scheitern. Scheitern ist ein großes Wort in Cleo‘s Welt. Wenn sie an das Wort Scheitern denkt, dann wird auch die Flugangst größer. Eigentlich wird dann jede Angst größer. Die Angst sich zu bewegen. Die Angst den Fuß vor die Fabrik zu setzen. Die Angst zu atmen. Die Angst zu essen. Die Angst eine schlimme Krankheit zu haben. Das hat sie von ihrer Mutter. Aber ihre Mutter hat gegen die Angst ein

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und machten Andeutungen. Es war so offensichtlich, dass er es abstritt. Sie diskutierten und stritten über Psychologie, was er mal einige Semester lang studiert hatte. Sie war psychoanalytisch und er (wer‘s glaubt) humanistisch orientiert. Es vergingen Stunden, bis sie sich darauf einigen konnten, dass der Mensch nicht nur ein schlechtes Tier sei. Sie ging davon aus, der Mensch sei, wie die Tiere (und auch das bestritt er) seinen Trieben ausgeliefert und müsse stetig einen Ausgleich für seine Triebenergie und Bedürfnisanspannung finden. Der Unterschied sei jedoch; der Mensch wisse um seine Existenz und seine Verantwortung—Tiere nicht (auch hier fand er die Unterscheidung ein Scheinargument). Ferner sei der Mensch ständig in einem inneren Konflikt zwischen Ich, Es und Über-ich. Subversiv sucht das Unbewusste Raum zu gewinnen. Schlichter fand das albern und sagte ihr das auch. Am Ende saßen sie zu zweit am Tresen, standen zu zweit vor der Tür, stiegen zu zweit in ein Taxi und fuhren zu zweit zu ihm. Wie er, der ewig zweifelnde das geschafft hatte, kann er schwerlich sagen. Vielleicht hatte sie sein Humanismus, dass der Mensch von Grunde auf Gut ist und sich selbst verwirklichen will, von seinen Beweggründen (Goodwill!) überzeugt. Vielleicht waren es auch Geschichten über andere Frauen. Sie war ein klassisches Beispiel. Er schlief noch in der Nacht vier Mal mit ihr. Sie wachten sich küssend auf und schliefen noch Zweimal miteinander. Dann Flohmarkt, Kaffee und Buchladen, wieder zu ihm und so ging das ein ganzes Wochenende. Sie lagen im Bett. Waren wie zwei Tennisspieler, deren Kosmos, nur noch aus dem Tennisplatz bestand. Sie spielten ein bis zwei Partien, lehnten sich ausruhend einen Moment gegen das Netz, rauchten an die Rückenlehne des Bettes gelegt, standen auf und spielten erneut eine Partie. Zwischendurch verließ er das Bett, wankelte rüber zu seiner Plattensammlung, legte eine neue Scheibe auf und wie die Nadel die stummen Stellen der Platte überquert hatte, lag er wieder im Bett und sie standen sich gegenüber—spielten den Ball hin und her. Das war Verführung erster Klasse—alles richtig gemacht. Sie hatten schöne drei Monate, bis er sich nicht mehr verstellen konnte—nicht vor ihr, nicht vor ihm, nicht vor Niemanden. Bis er sich selbst nicht mehr vorgaukeln konnte, diese Frau zu lieben. Denn das tat er von Anfang an nicht. Was ihn dennoch, dazu bewog, mit ihr drei Monate seines Lebens zu verbringen? Nun ja er dachte, einmal so tun—als wäre alles normal und in Ordnung. Sie aber war ein exzellentes Exemplar und Exempel, seiner voran gegangen Hypothese. Er behauptet: “nur weil ich mit ihr geschlafen hatte und zwar nicht nur einmal: nur deswegen blieb sie.” Einmal Ja sagen und dem Nein trotzen. Einmal leben, nicht überleben und verfluchen, sein Chauvinismus ist nichts Verleumdung seiner selbst. Ernst Edwin Schlichter ist das traurige Beispiel eines intellektuellen Machos. Tyger, Tyger, in nächtlichen Wäldern, verbrennt dein Licht mein Augenschein. Welche Hand und welches Auge, hat erschaffen deine erschreckende Symmetrie? Tagebuch der Taxifahrerin achter Eintrag: auf der Fahrt Richtung Kalmar, überraschte uns ein Sommergewitter. Es goss aus Eimern. In einem Augenblick wurde der Himmel schwarz und bestand aus einer fest verwobenen Wolkendecke. Herrn Schlichter schien das nicht zu stören, nachdem er sich anfänglich—wollte er sein Schweigen brechen?—nach vorne gesetzt hatte, schwang er sich mitten in der Fahrt auf die Rückbank. Denkt er das Taxi wäre eine Hüpfburg? Währenddessen wir kurz vor Karlskrona waren, auf der E22 fuhren, fängt der Kerl an mir seine Theorien über den Zusammenhang zwischen Bindung und Sex brabbelnd zu unterbreiten. Es ist doch lachhaft, aber manche neigen eben dazu ganz induktiv von sich auf andere zu schließen. Frauen bleiben bei mir, wenn ich mit ihnen geschlafen habe. Frauen verlassen mich, wenn ich nicht mit ihnen schlief. Sex hat also einen medierenden Einfluss auf die Bindung. Dass die Frauen, auch mit dir schliefen, weil sie sich binden wollten und die Frauen, nicht mit dir schliefen, weil sie vornherein keine Lust auf dich hatten, kommt dir nicht in den Sinn? Dieser Mann macht alles von sich selbst abhängig. Typisch für ihn, er verstummt nachdem er fertig ist einer seiner kleinen Ideen zu erzählen. Es ist also augenscheinlich davon auszugehen, was er so daher spricht sind fest internalisierte Reden von oft repetierten Inhalten—um es populärer auszudrücken; er ist zu einem stereotypen Phrasendrescher verkommen und ist eine seiner Phrasendomänen erschöpft—hält er seine Fresse. So herrscht, Gott sei dank, Stille im Auto. Das Gewitter ist schnell in Richtung Ostsee weitergezogen und ich habe wieder so etwas wie eine Sicht. Ständig nervt er, ich solle schneller fahren. Ich weise ihn auf die strengen Verkehrskontrollen im Land hin und tue ihm dann doch den Gefallen und gebe Gas und das Fahrzeug legt sich in eine Kurve. Auf der rechten Seiten, tat sich eine Leitplanke auf und irgendwie schien es, als flüstere Schlichter der Leitplanke etwas zu. Ich weiß nicht, ob ich mich vor diesem Menschen fürchten oder ihn bemitleiden soll. Es gibt schlechte Graffiti an den Wänden einer Bahnüberbrückung—ähnlich wie dem als wir Malmö verließen. Das Land ist flach, wie ich es in Erinnerung habe. Ab und an kommt uns ein Auto entgegen. Parieren uns gelbes Scheinwerfer, die in der Helligkeit kaum wahrzunehmen sind. Schwedische Kennzeichen. In weiter Ferne liegen graue Wolken, wie Rauch über einem Dorf. Aus einem Schornstein flieht weißer Dampf.

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n den Wänden verkleiden blaue Metallplatten einen unsichtbaren weißen Untergrund. Rote Bahnhofsschilder prangen auf den Platten. In der Mitte des Bahnhofs steht ein oranges Aufsichtshäuschen im Komplimentärkontrast zum Blau. Ratternd rauscht der gelbe Zug der U-Bahn in den Bahnhof und verdeckt Teile der blauen Platten und scheucht einiges an altem Laub, Billets und Papier auf, die zwischen Zug und Bahnsteigkante hervor wirbeln. Eine Frau lässt sich von einem Mann einen Kinderwagen nach unten tragen helfen. Der Mann seinerseits sprintet in die Bahn, wie zum Staffellauf. Einen Moment später, ertönt ein Signal. Über den Türen leuchtete ein rotes Licht, als die Frau mit Kind auf dem Arm, an der U-Bahn ankommt und den Kinderwagen zwischen die sich schließenden Türen quetscht. Ein Mann in Mantel und Hut macht ihr Platz. Sie schiebt den Wagen auf die gegenüberliegende Seite. Wegen des anfänglich in den Türen verkeilten Kinderwagens hielt die Bahn noch einige Sekunden in der Station, indes die Frau das Kind auf ihrem Arm beruhigt. Ihre Stimme machte einen Sprung und die Bahn fährt los. Eine andere Frau war in letzter Sekunde aufgesprungen und ausgestiegen. Den Wagen hat sie quer zur Tür gestellt und sich selbst, mit dem Kind auf dem Arm, hingesetzt. In einem der Vierer, in dem vier Leute in einer Art Block nebeneinander und sich gegenüber sitzen, spielt das Kind mit den umliegenden Menschen und bekommt ihre Aufmerksamkeit. Es kneift einen Mann in den Arm. Er lacht erkältet und schaut von einem Buch auf. Die Frau sagt: “sei froh, dass du so süß bist.” Wovon sich das Kind nicht beirren lässt. Gegenüber in den Vierer hat sich der Mann mit Hut und Mantel gesetzt, nennen wir ihn Robert. Er lächelte zwar, hielt es aber nicht für notwendig, den Kontaktangeboten des kleinen Kindes Aufmerksamkeit zu schenken. Der Mann mit dem Buch, nennen wir ihn Justus, ließ sich weiter in den Arm kneifen und kniff das kleine Kind selbst in den Arm. Das ist mein Arm. Das ist dein Arm, sagt Justus der Gerechte. Die Mutter, nennen wir sie Martina, lacht. Ein Piercing presst Martina‘s Unterlippe zusammen. Der Fahrer spricht ihn sein Mikrofon und ruft Kochstraße Checkpoint Charlie—in starkem deutschen Akzent—einsteigen bitte, Kochstraße Checkpoint Charlie Richtung Friedrichstraße einsteigen bitte. Ein Mann mit einem Rennrad auf der Schulter steigt in die Bahn. Er hat blondes, lockiges, aber struppiges, fast strohiges Haar und dazu steigen eine Frau und zwei Kinder etwa vier und fünf Jahre alt ein. Die beiden Kinder

scheinen aufgeweckt und frech. Das Mädchen fragt den Mann mit dem Fahrrad, ob das Fahrrad sein Fahrrad sei und er bejaht und man hört einen Akzent aus seiner Antwort heraus. Zwischendurch ruft der Fahrer der U-bahn, zurück bleiben bitte. Sie sagt, sie hat auch ein Fahrrad und einen Freund hat sie auch, der ist letztens vom Fahrrad gefallen und dann hat er sich kräftig in den Popo getreten. Beide Kind halten sich die Hand auf den Mund und lachen. Noch lauter, als sie es ohne Hand vor ihrem Mund täten. Das ist wie zu sagen, Jemand wird nicht bestraft und dann fällt die Strafe doppelt so hart aus. Zurück bleiben bitte, klingt es aus den Lautsprechern, etwas lustlos. Wie heißt du?, fragt das Mädchen den Mann mit Fahrrad und er antwortet: Tobias. Wie heißt du?, bemüht er sich einen ganzen Satz zu sprechen. Paula. Martina, die selbst noch relativ jung scheint, mit dem Kind auf dem Arm grinst den jungen Mann Justus mit dem Buch an, wie er mit ihrem Kind schäkert. Das Kleinkind inzwischen weniger am Arm interessiert, wie sich eine Elternszene zwischen Fremden anbahnt, schiebt sich ein wenig nach vorne zu dem Mann mit Hut und versucht die Kopfbedeckung zu greifen. Es ist zu weit entfernt. Mutter und der Mann mit Buch beginnen eine Unterhaltung. Die U-Bahn rattert durch den Untergrund. Robert erbarmt sich und rückt ein Stück nach vorn. Bis das Kind den Hut befühlen kann. Du bist gar nicht aus Deutschland oder?, fragt Paula mit der Liebe für Fahrräder. Tobias antwortet mit Akzent er sei aus Stockholm, das ist in Schweden. Inzwischen hat das Kleinkind den Hut des Mannes mit ganzer Hand gepackt. Mutter und Sitznachbar mit Buch haben sich einander bekannt gemacht. Justus, angenehm. Martina, erfreut. Quatschen. Robert nimmt seinem Hut ab. Reicht ihm den Kind. Aus dem Augenwinkel sieht Martina, eine große eitrige Wunde, wo Geheimratsecken für gewöhnlich frei liegen und sie reißt dem Kind den Hut aus der Hand und gibt dem Mann seinen Hut wieder. Die Bahn fährt in die Station. Stadtmitte einsteigen bitte. Mutter Kind und Kinderwagen steigen aus. Stadtmitte, einsteigen bitte. Tobias schiebt sein Fahrrad aus der Bahn. Das Mädchen bemerkt erst jetzt, du hast einen Platten. Deswegen fahre ich mit der Bahn. Robert schlägt sein Bein um, legt seinen Mantel auf das Bein und klebt den Hut zurück auf die Wunde und wird vom Buchmann, den wir Justus genannt haben, angestarrt. Die Türen schließen sich. Ein salalami Brot. Ich will ein… wie heißt das Brot? Slalami Brot?, fragt die kleine Paula. Man weiß nicht was es ist. Man kann schauen, gucken und von mir aus kann man analysieren, aber man wird es nicht herausfinden. Die beiden stehen in der Menge. Man hat das sonderbare Gefühl irgendetwas ist mit denen anders. Man weiß nicht was es ist. Äußerlich sehen sie aus wie jeder andere und innerlich, das weiß man nicht. Selbst wenn man einen Menschen aufschneidet, weiß man nichts. Man weiß dann man wie seine Organe aussehen, aber sonst nichts. Die beiden stehen im Bahnwagon und stechen heraus, soviel steht fest. Robert und Justus schauen. Der eine klein rund bis rundlich trägt einen Anzug. Der Lange irgendetwas das irgendeinen Hinweis gibt, dass er in einer indischen Gruppe oder Yoga-Sekte ist. Irgendwas mit Hare-Krishna. Vielleicht ist es eine unsichtbare Gemeinsamkeit, die sie von den anderen trennt. Irgendetwas muss es sein. Vielleicht weil sie beide rot unterlaufene Augen haben. Vielleicht ist es nur Zufall. Vielleicht wie so oft, spielt hier dem Menschen seine Wahrnehmung einen Streich oder Strich durch die Rechnung und ob man die beiden nun sieht oder nicht, ist eigentlich egal. Salalamalis Brötchen ruft die kleine Paula und wird korrigiert und bekommt als Belohnung das Brötchen. Vielleicht auch weil sie Mitglieder der Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein sind. Tobias sitzt in der U2 Richtung Alexanderplatz. Er hat sich hinter seinem Fahrrad verbarrikadiert und steht mit dem Rücken zur Tür. Der Grund dafür ist ein Kerl, der ein bis zwei Meter von ihm entfernt an der anderen Tür steht. Als wäre er ein Türsteher. Breit beinig und mit dem Rücken gegen die Rückseite der Sitze gelehnt. Kurze Hose und kurz geschorene Haare oder keine Haare. Aufgesetzt skeptischer Blick verfolgt jedes weibliche Wesen, das die Bahn betritt oder verlässt—lieber verlässt. Die Rückansicht ist länger zu genießen, weil kein Gegenblick. Gelbes Shirt und in der linken hängt ein Rucksack. Seine Turnschuhe sehen aus wie ein Rasierapparat. Er überragt die meisten Fahrgäste um zwei Köpfe und sieht aus wie eines dieser Erdmännchen, die auf dem Hügel stehen. Während der beiden Stationen, die der Türstehertyp und Tobias zusammen mit der Bahn fahren, ändert sich an Mimik, Gestik und Körperhaltung des Ersteren wenig bis gar nichts. Nur der Kopf schwenkt hin und her, je nachdem was Weibliches da rein kommt oder geht. Auf seinem gelben Shirt steht in alt-deutscher Schrift: Ich brauche kein Kokain… Er fühlt sich beobachtet und sein skeptischer überbetont männlicher Blick starrt Tobias an, wollen Tobias auffressen. Tobias lehnt sein Fahrrad mit dem Platten gegen die Tür und setzt sich in ein Vierer-Sitzpaket, in dem er von Frauen umringt ist. Kluger Schachzug, mag der Kokainmann denken. Und verlässt die Bahn, genauso stockig wie er in ihr gestanden hat. Schlichter blickt aus dem Fenster und auf einem krampfhaft durch-gedrückten Rücken steht: …ich brauche ein Gegenmittel. Das soll er mal Diego Maradona, dem argentinischen Fußballstar erzählen. Es heißt D. Maradona sei in einer Entzugsklinik in der Schweiz. Es heißt er sei dorthin geflohen. Der Weltbeste Fussballspieler in einer Psychiatrie in der Schweiz. Was für eine Blamage. Spittelmarkt, einsteigen bitte. Spittelmarkt zurück bleiben bitte. Karlsson, Beruf U-bahn-Fahrer. Rauscht durch den dunklen Tunnel. Das Kinderspiel von zählen der Ein- und Ausgänge zwischen den Stationen macht er sich nicht mehr. Seit geraumer Zeit erscheint er müde an seinem Ar-

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Mittel gefunden: saufen. Als die Mutter noch arbeiten ging. Da arbeitete sie auf einer Raststätte in der Nähe des Bauernhofs. Damit sie auch was Unabhängiges macht und nicht nur auf dem Hof ist. Auf der Raststätte hatte es ihr nicht gefallen. Zwei Jahre hat sie auf die Frühberentung gewartet. Das war gleichzeitig wie ein Befreiungsschlag und Sargnagel zu gleich. Cleos Vater war an Parkinson erkrankt. Er war Bauer. Seine Frau und Mutter Cleos sahen sich gezwungen, Teile des Landes zu verkaufen und auch einen Teil der Traktoren- und der Hutsammlung des Vaters, was er ihr sehr übel nahm. Sich aber später nur noch sehr diffus daran erinnern konnte. Fünf Mitarbeiter, hatte der Vater auch. Cleo entließ sie. Man wusste dass er krank war. Es hatte auf dem Hof geheißen: seelisches Leiden. Das war besser als Parkinson. Das war in einem Dorf in der Nähe von Cambridge im Norden Londons. Im Zuge des Fortschritts der Erkrankung hatte Cleo vollständig den Briefverkehr übernommen. Ihre Mutter konnte das nicht erledigen und meinte es sei nur fair, dass sie sich die Pflege teilten. Das Schwierigste, sagte sie. War das fälschen der Unterschrift—war sie doch zunehmend krakeliger geworden, im Nachhinein würde man sagen: verräterischer. Ab und an, war sie nach Cambridge gefahren für Shopping und Party. Irgendwann hatte sie Henry kennen gelernt, der auch nach London wollte. Dann kam der Umzug. Sie meint, ihre Mutter hatte ihr nie verziehen. Cleo kontrolliert ihr essen. Sie meint sie wäre laktoseintolerant und gegen Gluten allergisch. Die Krankheit des Vaters. Der bevorstehende Umzug nach Berlin. Schlafstörungen. Schwierigkeiten mit Henry, machten sie insgesamt unheimlich hilflos nicht zu sagen: depressiv. Sie erinnere sich an einen Eklat Zuhause, als Papa noch kein Parkinson hatte, sagt sie. Auffällig ist, wenn sie von ihrem Vater redet, spricht sie mit der Stimme eines kleinen Mädchens. Vielleicht die Stimme des Mädchens, das noch einen Vater hatte. Es hatte sehr früh angefangen. Familienszene. Sie hatten eine Nachzahlung für den Wasserverbrauch bekommen. Wie ein Zehn Personen Haushalt. Dabei waren sie zu dritt plus die Tiere und der Hof, aber das lief extra. Die Wohnung wurde extra abgerechnet. Es ging hin und her. Der Vater schüttelte sich vor Wut und stritt mit der Wasserfirma. Aber die Werte schienen richtig und er war wie gelähmt. Irgendwann fragte der Vater seine Tochter, sag mal Cleo wie oft duschst du am Tag? Später reduzierte sie es, aber immer wenn sie sich unwohl fühlt, dann duscht sie. Da hatte ihr Papa gezittert als er ihr eine Ansprache hielt. Gezittert. Niemand dachte an Parkinson. Irgendwie seltsam sich geschüttelt und wirkte dabei wie erstarrt. Als würde ein Teil sich schütteln und der andere wäre gelähmt. So hin und her. Im Körper hin und her. Als der Landwirt, der Bauer sich schüttelte und gelähmt war, auf dem Feld stand und Pestizide auf ihn regneten. Cleo ist inzwischen von der Couch aufgestanden. Frustriert ihren Traum nicht glaubhaft zu Ende ändern zu können, steht sie draußen vor der Fabrik in einer roten Telefonzelle und ruft ihre Uroma an, die wird nämlich 89 kurz bevor sie nach Berlin fliegt.

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beitsplatz. Sich nicht ablenken können und müde sein ist eine schlechte Kombination. Besonders auf den längeren Strecken zwischen zwei Stationen. Da kann es schon einmal passieren, dass er mit offenen Augen träumt. Da ist es auch schon einmal passiert, dass er eine Station verpasst hat. Das Problem Online Sportwetten. So heißt sein neues Ding. Eigentlich nur was für Nerds. Bilder oder dergleichen sieht man auf den Bildschirmen nicht. Sich im Internet Bilder angucken ist entweder eine sehr teure oder sehr langsame Angelegenheit oder beides. Aber Zahlen und Namen sieht er, wenn er vor seinem Bildschirm sitzt. Daneben ist er noch in einem Onlinecasino angemeldet. Auch so eine neuartige Sache. Da spielt er Blackjack oder manchmal auch so etwas wie Poker. Namen sind das. Nichts als Namen. Letztlich sitzen fünf Leute vor einem weißem Bildschirm und schicken sich Zahlen hin und her. Nebenher kann man sich mit den Leuten Nachrichten schicken. Das klappt meist ganz gut. Es sei denn man fliegt aus dem Internet oder es ruckelt. Einmal dachte er, er würde eine Frau über den Chat kennen lernen. Sie schrieben Nachrichten. Es war aufregend. Dass er U-Bahnfahrer ist, hat er nicht erzählt. Gesagt hat er: Höhlenforscher. Eine halbe Lüge. Im Internet kann man alles sein. Und wenn man erwischt wird, sozusagen als vermeintlicher Forscher aufgeflogen ist und sich als ordinärer U-Bahnfahrer entpuppt hat, dann logt man sich ganz einfach aus. Das Ende des Internet ist der Log-out. Im Leben kann man sich nicht ausloggen und wenn doch, dann nennt man das Suizid oder Freitod oder Selbstmord—das ist eine Geschmacksfrage. Die Frau entpuppte sich als Mann, der seinerseits ebenso auf der Suche nach einer Frau über das Internet war. Wie er sich das vorstelle, als Mann, der sich als Frau ausgibt eine Frau, die nach einem Mann sucht, kennen zu lernen, hatte Karlsson ihn gefragt. Woraufhin der oder die Andere sich ausloggte. Kein Mensch sucht heutzutage Frauen über das Internet. Wenn dann schon in der Zweiten Hand per Anzeige, aber im Internet, da denken die meisten an Prostitution. Karlsson sitzt in seinem Führerhäusschen und steuert im Halbschlaf 253 Menschen und Tobias durch den Untergrund Berlins. Er hasst es wenn Leute sich über ihn lustig machen. Einmal als er die Station verpasst hatte, klopfte es an seiner Tür. Er machte auf. Und davor stand eine Schar lachender aber auch wütender Fahrgäste. Schließlich müsse man sich auf die Öffentlichen verlassen können. Er bat um Entschuldigung, versprach: es komme nie wieder vor und bettelte fast darum, den Fall nicht zu melden und trat mit Schatten unter den Augen zurück an das Steuerpult des Untergrundwagens. Vergaß die Tür zu schließen und ließ den Blick frei auf sein zitterndes Bein und nicht nur eine, sondern gleich drei Thermoskannen Kaffee, wobei eine auf dem Boden lag und in jeder Kurve ein bisschen auslief. Die Suppe schreckte hin und her in jeder neuen Station, wie Karlsson die Bahn bremste und beschleunigte. Kurz: die offene Tür ließ den Blick frei in eine Kammer der Verwahrlosung eines Mannes. Hatten sich die Leute anfänglich darüber lustig gemacht. Waren sie jetzt besorgt. Schließlich wurde der Fall gemeldet und Karlsson versprach sich zu bessern. Insgeheim schwor er sich in Zukunft immer die Tür zur Fahrerkabine zu schließen. Märkisches Museum zurück bleiben bitte, hörte Tobias, wie er noch im Vierer-Sitzpaket saß und zwei der Frauen gegangen waren und Platz gemacht hatte für einen Mann und eine andere Frau, die sich etwa Zwanzig Kugelschreiber mit einem Gummi auf ihren Handrücken band und damit den Leuten am dahin gehenden Bahnhof Märkisches Museum winkte. Der Mann gegenüber fragt, was das soll. “Bitte?” “Was das soll?” “Was was soll?” “Die Stifte.” “Kugelschreiber”, korrigierte sie. “Kugelschreiber.” “Was ist mit denen?” “Was das soll?” “Achso, die habe ich gefunden.” In der Klosterstraße stieg ein Mann ein, der Tobias auffiel, weil er so unterwürfig blickte. Er lief etwas gebückt, war aber nicht sonderlich groß und schien alle Gegenstände schon etwa fünf Zentimeter bevor er sie berührte zu spüren, was ihn aussehen ließ, als hätte er ein Kostüm aus Watte an oder eine Verlängerung seines Nervenkostüms. Diese besondere Form der Vorsicht, schien aber nicht aus einer Angst zu rühren, sondern aus etwas Anderem. Vielleicht etwas Gewalttätiges, dachte Tobias. Etwas Gewalttätiges in der Gebärde und Geste des Mannes mit dem unterwürfigen Blick. Neben dem Mann mit dem unterwürfigen Blick, sieht vielmehr hört Tobias einem Gespräch zu. Man unterhält sich über Prinzessin Diana. Es heißt sie leide unter Bulimie. Seitdem vor ein paar Jahren bekannt wurde, dass Prinzessin Diana an Bulimie leide, erhöhte sich der Zahl der Bulimikerinnen. Man sprach über das Interview, das die Prinzessin letztes Jahr in ihrem Wohnzimmer im Kensington Palace gab. Das auch irgendwie widersinnig klingt, Wohnzimmer und Kensington Palace. Der Versuch Diana‘s ihre Reputation zu retten. Sie hat das Interview selbst nicht gesehen. 92% der Bevölkerung zeigten sich von ihrer zu Kreuze kriechenden Prinzessin Di angetan, das Königshaus war alles anders als das. Von Lady Di kamen die zwei Fremden, wie Tobias ihnen zu hörte, zu Richard Jewell, dem Sicherheitsbeamten, der wahrscheinlich die Bombe gelegt hat, sagte der eine. Eigent-

lich weiß man nichts, sagt der Andere. Das FBI hat ihn als Hauptverdächtigen bezeichnet, das heißt schon was. Der Flugzeugabsturz vor der Küste New Yorks hat damit nichts zu tun. Tobias hört das Wort Terror immer öfter. Während der Weihnachtsfeier für die Angestellten des St. James Palace, beleidigte und bezichtigte Lady Di eine Assistentin ihres Ehemannes Charles, mit ihm eine Affäre und darüber ein Kind von ihm abgetrieben zu haben. Weder für die Affäre, noch für die Abtreibung gibt es Belege. Aber Königin Elisabeth die zweite fasste den Entschluss die Ehe ihres Sohnes zu annullieren. Wie man bereits seit geraumer Zeit versucht sich mit ihr ins Benehmen zu setzen. Wie sie bereits von Diana und Charles darum gebeten wurde. Die Entscheidung wurde von der Regierung akzeptiert—einstimmig. Man rechnete aus, 17 Millionen Pfund Sterling sind notwendig um Dianas Sicherheit und Status zu erhalten. Die Königin entschied, die Lady habe sich im selben Umfang wie zuvor um ihre beiden Söhne Harry und William zu kümmern und dafür dürfe sie ihr Büro im St. James Palace behalten und weiterhin im Kensington Palace wohnen. Den Titel Prinzessin von Wales dürfte sie noch immer führen. Aber mit Her Royal Highness war sie nicht mehr anzureden. Schließlich wurden die Scheidungsvereinbarungen dieses Jahr vor ein paar Wochen unterschrieben und die Scheidung ist für August diesen Jahres angesetzt. Man darf gespannt sein, was diese Frau noch aus dem Ärmel schüttelt um sich selbst zu inszenieren. Klosterstraße zurück bleiben bitte. Die U-Bahn Baureihe GI/1. Im Volksmund auch Gisela ist die einzige in der DDR konstruierte U-Bahn, die noch immer fährt. Die Berliner U-Bahn teilt sich in Klein- und Großprofil, wobei hierbei die Größe der Wagenkästen das entscheidende Kriterium ist. Die Vorgängerversion der GI/1 nennt der Volksmund Gustav. Beides Kleinprofilwagen. Ein Problem der Gisela sind häufige Störungen. Öfters bleibt der Zug mitten auf der Strecke stehen oder fährt gar nicht erst los. Als sich mehr und mehr herausstellte, dass diese Zustände nicht mehr hingenommen werden können, verkauften die Berliner Verkehrsbetriebe die Wägen klammheimlich und peu à peu. Abnehmer wurde die Nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang. Kastenförmig wie ein Brot, mit Rillen wie Nadelstreifen längst der Wagen. Hellgelbe Griffstangen. Kunstleder Sitze. Man muss sich mal vorstellen wie Ost- oder Westberliner BVG-Angestellte Verkaufsgespräche mit der Nordkoreanischen Regierung führen. Die Gisela im Auslandssemester in Pjöngjang erhielt eine rot/cremefarbene Lackierung, was man als Lachsig zusammenfassen kann. Die Werbeanzeigen hat man entfernt. Auf den Leerflächen hängen Heutzutage Portraits des Führers, des vor zwei Jahren verstorbene Kim Il-Sung, und eines seines Sohn Kim Jong-il, dem faktischen, aber nicht vereidigten Staatsoberhaupt. Zum Teil weisen die Fensterscheiben noch Scratchings aus Berlin auf. Wenn von Scratchings—zerkratzen Bahnfensterscheiben die Rede ist, dann geht es meistens um zwei Buchstaben. X plus Y und meist kommt dabei kein dritter Buchstabe raus, sondern ein Herz-Symbol. X plus Y ist gleich das Symbol eines Herzens. Manchmal steht aber doch ein dritter Buchstabe da und der ist meistens ein L. Wahrscheinlich für Liebe. So steht, als Scratching, in der nordkoreanischen Metro in Pjöngjang auf der Fensterscheibe X plus Y ist gleich Liebe. Ein lachsfarbener Bahnwagon, Portraits der Führer Nordkoreas, zerkratzte Fensterscheiben, Scratchings und Liebesbotschaften aus Berlin. Es heißt seitdem sein Vater, die monumentale Figur in Nordkorea, verstorben ist, gibt Kim Jong-il etwa zweihundert Millionen US-Dollar im Jahr für sich aus. Trotzdem trägt er beige Anzüge aus Vinalon. Eine Kunstfaser aus Anthrazit und Kalkstein. Man ist Stolz in Nordkorea auf die im Land erfundene Faser. Außerhalb Nordkoreas wird Vinalon weder hergestellt noch benützt. In der Produktion ist das Material billig. Man fragt sich also wohin das ganze Geld geht. Es heißt Kim Jong-il leide an Diabetes und wie sein Vater an Flugangst. Was der Grund für—mehr oder minder—exorbitante Zugreisen ist. Der faktische Herrscher Nordkoreas liebt zudem Filme mit Sean Connery und Elizabeth Tailor. Er sagt, sie seien seine Lieblingsschauspieler. Posthum hat man seinem Vater den höchsten militärischen Titel verliehen. So wurde er zum Monsun. Ein Monsun ist dem Marschall gleichzusetzen. Man fragt sich, ob Pjöngjang mit der posthumen Verleihung versuchte den alten Herrn wieder zum Leben zu erwecken. In der NVA gab es den Titel: Marschall der DDR. Die Bundeswehr in der Bundesrepublik kennt keinen Marschall. Das Vorbild für den DDR-Marschall war der Marschall der Sowjetunion. In der Geschichte der Marschälle der UDSSR, gab es nur einen Marschall, der wegen Versagen degradiert wurde. Das war Grigori Kulik. Kulik hatte im ersten Weltkrieg unter dem Zaren gedient und man hatte ihn für einen Schwächling gehalten. Woraufhin er sich—wahrscheinlich beleidigt—den Bolschewiki anschloss und der roten Armee beitrat. Im Bürgerkrieg wurde er Kommandeur der Artillerie. Der Schwächling als Kommandeur. Er soll ein gutes Verhältnis zur Nummer eins gehabt haben. Was ihm zu Gute kam: er war konservativ und konformistisch. K plus K ist gleich Kulik. So stellte er sich entschieden gegen jede Form der Neuerung, wie einer Reform des Militärapparates, entgegen. Minenfelder seien Waffe des Schwachen. Täuschung und Schliche, Manöver und Taktik seien die Instrumente der Schwachen. Automatische Maschinengewehre, eine Art Eklat, eine reine Polizeiwaffe. Am besten sitzt der sowjetische Soldat auf einem Pferd mit einem Gewehr um die Schultern. Seine Attitüde hatte ernsthafte Folgen für die Kampfkraft der Sowjets. Beim Deutschen Überfall auf Russland im Juni 41 übernahm der konservative und konformistische Kulik das Kommando (K plus K ist gleich K plus K) über die 54. Armee. Die Unfähigkeit Kuliks brachte der Armee ihre größte Niederlage ein und ihn vor das Kriegsgericht, dass Grigori Iwanowitsch Kulik zum Generalmajor degradierte. Da fragt man sich, ob Kulik sich dabei gefühlt hat, wie damals als er in der Armee des Zaren als Schwächling gehandelt wurde. Zum Marschall war er überhaupt erst ein

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Jahr zuvor ernannt worden. Trotz weithin man von seiner Unfähigkeit überzeugt war. Bei einer erneuten schweren Niederlage muss sich sein Verhältnis zur Nummer eins getrübt und verdüstert haben, denn man verurteilte ihn zum Tod. In der Tauwetter-Periode einige Jahre nach seinem Tod und nach dem Tod der Nummer eins, wurde Kulik Posthum wieder zu Marschall der Sowjetunion ernannt—aber davon auch nicht wieder lebendig. So bleibt Politik keine abstrakte Idee, sondern ein personengebundenes Konstrukt. Stirbt die Person, stirbt das politische Konstrukt. Was zu erwarten war: am Alexander Platz herrscht ein reger Austausch an Aussteigern und Einsteigern. Der Mann, der Tobias aufgefallen war, mit dem unterwürfigen Blick hat sich, neben dem jetzt sehr störenden Fahrrad, gegen die geschlossene Tür gedrückt und schaut gegenüber zur geöffneten Tür wie zu einem brechenden Staudamm. Als sich im Tohuwabohu von Ein- und Aussteigen eine Ordnung findet, hat sich ein Mann in Anzug, in halbem Anzug—weil er schwarze Jeans mit Jackett trug—der aussah wie eine düpierte Gans aus einem Comic, in die quere Sitzreihe des Wagons gesetzt. Zu seinem halbem Anzug trug er einen Haarschnitt, der nach Wirtschaft aussah, mit einer leichten Welle. Eine Brille, aber vor allem unter einer zurück haltenden Hakennase ein schwindendes Kinn, das aussah als heule gleich—vielleicht zitterte es auch. Sozusagen das Gegenteil zum Neandertaler mit fliehender Stirn. Die Neandertaler waren gar nicht so dumm, wie man das immer denkt. Heißt das unser Mann, war gar nicht so weinerlich? Er las ein dickes Buch, eines das nach Tausend Seiten aussah. Es war gebunden und hatte ein Lesezeichen aus Stoff. Die Gans hatte die letzten vielleicht 50 Seiten vor sich. Eine Gruppe von Jugendlichen in typischer Klamotte: ausgeblichene Hosen, aber ohne Loch und weißen Hemden von Boss oder einer anderen eher teuren Marke, unterhält sich lautstark im Wagon. Ein Mann, der augenscheinlich obdachlos ist mit zotteligen langen Haaren, einer abgerissenen Weste über einem ebenso abgerissene Hemd und einer zerlotterten Hose, verfolgt das Gespräch. An einer Stelle sagt einer der Jugendlichen: ich war Bahn. Daraufhin lacht der Obdachlose laut los und eine Reihe schwarzer Zähne und einige Leerstellen blecken hervor und er wiederholt in dreifacher Lautstärke der Gruppe: “ich war Bahn”, und lacht weiter. Die Gruppe der Jugendlichen unterhält sich weiter ungestört des alten Obdachlosen, der seine Bierflasche nach oben hält, als wolle er damit drohen. “Ich war U-Bahn, habe ich gesagt. Und er so ja kein Bock auf den Scheiß. Was sollte ich machen, ich war U-Bahn“, erklärt sich einer der drei Jugendlichen den Anderen, die ihn an-nicken und dabei in die verdunkelten Fenster schauen. “Du warst U-Bahn”, ruft der Obdachlose und ringt um Aufmerksamkeit. “Du warst U-Bahn. Ich bin Junkie.” Lachen. Lautes kauziges Lachen. “Hörst du nicht?”, schreit der Alte und spuckt dabei die Jugendlichen an. Versehentlich an. “Du solltest vielleicht weniger Bier trinken Alter”, antwortet einer der drei. “Und du solltest Deutsch lernen. Das kann ja keiner mit anhören.” “Ey”, sagt der Jugendliche. “War ja nur ein Tipp. Ein Ratschlag. Weniger Bier Alter.” “Kein Respekt vor dem Alter. Null Respekt. Leute,” spricht er die anderen Fahrgäste an, wovon sich niemand geneigt zeigt, dem alten Obdachlosen und den drei Jugendliche nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Weshalb der Alte sich wieder den Jungen zu wendet: “du bist ja noch grün hinter den Ohren und willst mir was erzählen. Und eine Zahnspange hast du auch. Ey Leute”, zweiter Versuch die anderen Fahrgäste mit in den Streit zu ziehen. “Leute habt ihr gesehen, der hat ne‘ Zahnspange. Eine Zahnspange und will mir was erzählen mit Zahnspange. Das ist doch ein Witz. Zahnspange.” “Und deine Zähne, wenn du noch welche hast, sind schwarz.” Die U-Bahn hält im Bahnhof Rosa-Luxemburg-Platz und der alte Obdachlose steigt aus. Er dreht sich noch einmal, lacht mit breitem Grinsen und fletscht seine schwarzen Zähnen: “die wollte mir der Gefängnis-Zahnarzt nicht ziehen. Was kann ich dafür?” Neben dem Mann der aussah wie eine düpierte Gans und sein Buch las, hat sich in die Querreihe der U-Bahnsitze ein Man gesetzt, der 24 Stunden zuvor noch Sand zu Pulver verarbeitete und nachts auf einer Bank vor seinem Haus einschlief, was die anderen Fahrgäste und Tobias naturgemäß nicht ahnen konnte. Nicht weil er Schwede ist, sondern weil er noch nie in -ow war. Die drei Jugendlichen verärgert oder verstört über oder von dem Obdachlosen, suchten ihren Frust anderweitig unterzubringen, sich abzureagieren und fanden, als mehr oder minder williges Opfer Herrn Nix-Kessin. Ob er ohne die Brille überhaupt was sehe. Colaflaschenböden, nennen sie die Gläser. Einer zieht ihm die Brille ab, wie nur Leute anderen Leuten die Brille klauen, die selbst keine tragen. Nämlich über einen Bügel und nicht über beide. Zaghaft versucht der Mann mit der Frisur einer ergrauten und umgestürzten Palme, sich zu helfen. Es hilft nichts. Die Jugendlichen probieren jeder die Brille aus und wanken damit, als wären sie betrunken durch die Bahn. Sie sagen, das ist besser als jede Pille. Der Mann weiß nicht, was sie meinen. Ob er schon einmal eine Pille genommen hätte? Inzwischen ist der Mann mit dem unterwürfigen Blick aus seinem Versteck gekommen und stellt sich zu den Jugendlichen. Ob es denn nötig sei, noch mehr Ärger zu machen? Ob sie noch mehr drauf hätten als ein paar Sprüche? Ob sie sich auch allein trauen würden, wildfremde Menschen anzumachen? Der Mann mit dem unterwürfi-

gen Blick steht den Jugendlichen so nahe, dass sie seinen Atem fühlen können. Was das heißen soll, fragt einer der drei. Ob er sich mit ihnen anlegen wolle. Wer er denke er sei. Dass er besser mal seine Schnauze halten sollte. Ein leichtes und zittriges Grinsen fliegt dem Mann mit dem unterwürfigen Blick über die Lippen. Wie es wäre, wenn sie das mal draußen klären gingen, schlägt er vor. In der Bahn geht das immer nicht so gut. Auch zu viele Zeugen, wenn sie wissen, was er meint. Die Bahn fährt in den Senefelderplatz ein. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick und die drei Jugendlichen steigen aus. Senefelderplatz Richtung Schönhauser Allee einsteigen bitte. Das imaginäre Drehkreuz der U-Bahn dreht sich und Leute steigen aus und ein. Wie unter osmotischen Druck. Wie in Natriumkanälen. Als wäre die Gesellschaft ein riesiges Gehirn–Aktions- und Ruhepotentiale im öffentlichen Nahverkehr. Wie ein Ameisenhaufen. Herr Nix-Kessin ist auf dem Weg zu einer Therapie, wegen pathologischen Spielen. Wie man Spielsucht heutzutage oder in professionellen Kreisen nennt. In -ow, wer hätte es erwartet, gibt es keinen Psychotherapeuten, der Spielsucht behandeln kann. Deswegen war der Herr Nix-Kessin aufgestanden. Hätte sich den Staub abgeputzt. War in das Haus gegangen, aber nicht ins Schlafzimmer und hätte einige Unterlagen zusammen gesucht. Hätte sich an eine Bushaltestelle gestellt. Hätte auf den Bus gewartet, der ihn zum Bahnhof brachte. Von dort sei er dann nach Berlin gefahren. Senefelderplatz zurück bleiben bitte. Zurückbleiben bitte, wiederholt der U-Bahnfahrer Karlsson. Es passiert nichts. Die Türen bleiben geöffnet. Vier Menschen stehen auf dem Bahnsteig und warten außerhalb der Bahn, dass die Bahn los fährt. Ein Knistern ist das letzte was aus den Lautsprechern dringt. Die Fahrertür springt auf. Ein Mann mit Augenringen und etwas verschließender Kleidung mit einer Thermoskanne Kaffee in der Hand steht neben dem ersten gelben Wagon und flucht. Die ersten Fahrgäste stecken die Köpfe aus den Wagons und schauen nach links, nach rechts und schauen zu dem Mann in blauer Uniform. “Einmal alle aussteigen. Alle Aussteigen. Die Bahn fährt nicht mehr. Der Zug muss ausgetauscht werden”, ruft er in jeden Wagon. Trinkt zwischendurch Kaffee. Auch die Lautsprecher sind ausgefallen. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick und die drei Jugendlichen stehen vor der Bahn und schauen sich an. Etwas hilflos insgesamt. Warten das irgendwas passiert, bis einer drei Jugendlich sagt: “na das hat sich dann wohl erledigt”. Woraufhin alle drei gehen. Tobias schnappt sein Fahrrad und steigt aus. Auf der gekachelten Wand gegenüber ist mit Sprühfarbe Mörder geschrieben. Er lacht in sich hinein. Ein Haufen Menschen steht unwillkürlich und unbeholfen auf dem Bahnsteig. Wie ein Haufen führungsloser Schafe oder Hühner. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick verlässt den Bahnsteig. Im Zug gehen die Lichter aus. Karlsson steigt wieder in die Fahrerkabine ein. Langsam, wie in Zeitlupe, bewegt sich der Zug aus dem Bahnhof—ohne einen Fahrgast. Es vergehen etwa zehn Minuten bis ein neuer Zug erscheint. Ein Typ stand im U-Bahnhof und hielt aufgeschlagen ein Buch in der Hand und las auch in dem Buch, soweit es möglich war, denn immer wieder fielen ihm die Kopfhörer auf die Buchseiten, die er mit den Zähnen versuchte zu entwirren und dann auf das Buch spuckte und sich anschaute in wie weit der Knoten gelöst war. Die Kopfhörer wieder mit den Zähnen aufpickte und weiter entwirrte während er las. Er schlug nicht eine Seite um, also nahm ich an, sagte Tobias, er tue nur so und das war alles eine Maskerade. Senfelderplatz einsteigen bitte, ruft es aus dem Lautsprecher der nächsten Gisela. Und Tobias erkennt den selben Schriftzug, der auch an der gekachelten Wand gegenüber geschrieben steht, in einem der Fenster, als Scratching, und lacht innerlich und grinst ein wenig. Andere erschrecken sich vor dem, in die Scheibe geritzten Wort: Mörder. Als die U-Bahn, den der Teil Strecke erreicht, wo sie aus dem Untergrund in den Sonne fährt, sieht sie aus wie ein auftauchender Buckelwal, blinzelte der Mann, der die düpierte Gans genannte wurde und wandte seine Blick von seinem Buch, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Es schien als wolle er sich die Sonnenstrahlen aus dem Gesicht wischen. Als er merkte, das er das nicht vermochte, kniff er seine Augen stark zusammen als blende ihn die Sonne. Sie schien aber an ihm vorbei. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick hatte kurz nach der Gruppe Jugendlichen und mit Herrn Nix-Kessin, dessen Namen er nicht kannte und einigen anderen den Bahnhof verlassen. Herr Nix-Kessin ärgerte sich ausgestiegen zu sein. Er hatte den Mann, der aussah wie eine Gans und ein dickes Buch las, beobachtet und hoffte zu sehen, wie der Mann das Buch ausliest. Er sagt, manchmal bleibe er sitzen und schaue sich das an. Weil es so ein besonderes Moment ist, wenn ein Mensch Buch, dazu noch ein dickes, ausliest. Wie er dann guckt. Für eine Sekunden. Die Hand auf das Buch legt. Wie einen lang-gekannten Freund verabschieden, sagt Nix-Kessin und stottert ein wenig, spricht schwerfällig wie gewohnt. Als er den U-Bahnhof verlassen hatte, schaute der Mann mit dem unterwürfigen Blick sich einen Moment um. Die Anderen verließen ihn, wie Wellen nach einem Steinwurf ins Wasser. Wie Geier wenn das Aas verzehrt ist. In alle Himmelsrichtungen. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick war einen Moment, wie gesagt, stehen geblieben und hatte den anderen nachgeschaut, bis er selbst in eine der vier Himmelsrichtungen gegangen war, nämlich nach Südosten zur Kollwitzstraßen. Was sich schnell als Irrtum herausstellte, den er korrigierte, über die Schönhauser Allee schritt und über die Fehrbellinerstraße in die Zionskirchstraße gelangte. Die Templiner- und die Chorinerstraße überquerte bis er an der Kreuzung Zionskirchstraße Ecke Kastanien Allee stand. Und überall

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ielweiberei, Rauschgifthandel, Grössenwahn und Prositution—Sie wissen schon Straftaten im engeren und weiteren Sinne. Sie war eine Frau, die im Grunde genommen, noch nie das Haus verlassen hat. Ihr Leben spielte sich ausschließlich in den eigenen vier Wänden ab. Das heißt aber nicht, dass sie besonders einsam war—ganz im Gegenteil. Dunkel war‘s, der Mond schien helle. Irgendwie hatte die Wohnung was von einer Arzt Praxis. Die Haustür ging, stand sie nicht bereits offen, durch klingeln automatisch durch ein Summen auf. Im Flur saßen Leute wie im Warteraum und irgendwo in den hinteren Räumen war Laura. Schneebedeckt die grüne Flur. Die Leute begrüßten Marvin Wolf, wie man jemanden in einer Arztpraxis begrüßt—mit einem leisen, bitteren Hallo ohne einander anzuschauen. Das erste was der Fremde in Uniform bei Laura machte, war sein Portemonnaie sortieren, schreibt Laura auf. Als ein Wagen blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr. Laura Möbius war eine Spinne mit besonders schönen Netz. Ständig hatte sie Besuch von Bewunderern. Nicht nur Männer kamen in ihre Wohnung, auch Verehrerinnen hatte sie. All der ganze Besuch Tag ein Tag aus und dabei war sie weder irgendeine Form von Konkubine, Prostituierte oder sonstige Frau, die ihren Körper als Ware auf den Tisch legte, sich feil bot, noch verkaufte oder baute sie irgendeine Art von Substanzmittel an. Sie war keine verkappte 69erin, die dreißig Jahre zu spät dran war. Da fragt man sich—wieder—wer fängt die Fliege die Spinne oder das Netz? Die Menschen kamen zu Laura Möbius, wie in ein Museum, das etwas Lebendiges ausstellte, aber nicht wie Beuys darstellte und den Kunstbegriff erweitern wollte. Was Möbius passiert war, wäre der Glücksfall für die vielen unzufrieden Suchende und für die Vielen, die noch gar nicht wussten, dass sie auf der Suche sind. Die ein Gros ihrer Zeit in der jungen Berliner Nachtszene in Mitte verbrachten. Die zwischen dem Tresor in der Leipzigerstraße, in der Chausseestraße dem Rio, der Friedrichstraße 103 und dem Cookies in der Auguststraße pendeln. Sehnsucht suchen, sie kondensiert an modrigen Kellerwänden finden und in nach Caipirinha riechende Hausflure stehen, schmatzen, schwatzen und Sehnsucht ein sehr dehnbarer Begriff geworden ist. Jeder denkt, er wäre bei etwas großem einzigartigen dabei. Jahrzehnte später wird man das behaupten, dabei stand man nur in alten Kellern rum, wo jemand Musik abspielt und ein anderer Cocktails mixt—obwohl das ist wohl etwas besonderes und einzigartiges. In einem Berlin, das sich von der Teilung noch nicht annähernd erholt hat. Überall Ruinen. Überall Löcher in den Gebäudereihen. Überall totes Land. Der Potsdamer Platz eine einzige Brachfläche, es heißt dort sollen Bürogebäude entstehen. Viele sind dagegen. Die Sache mit dem Kaninchen war auch schon 30 Jahre her. Möbius Wohnung am Zionskirchplatz war so etwas wie ein Zoo für Intellektuelle oder die, die sich dafür hielten. Ein Affenhaus für Verlorene, für Menschen, die sich selbst aufgegeben hatten. Ein Aquarium für gescheiterte Persönlichkeiten, die es so noch nicht recht einsehen wollten oder konnten. Lang wartende verlorene Potentiale. Lauras Wohnung war so etwas wie eine Petrischale, die Menschen kamen zu ihr um zu beobachten, zu lernen und natürlich um zu experimentieren—manchen von Ihnen war bewusst, warum sie da jeden Tag bei Laura erschienen. Wie Abhängige jeden Tag in die Spielhalle gehen, Stoff kaufen, Methadon in der Apotheke abholen oder sich besaufen. Anderen wieder war es völlig unklar, gar unbewusst, warum sie jeden Tag zu Laura in die Wohnung gingen, wie eine Pflanze auf zwei Beinen, mit Mund zum reden von gequirlter Scheiße und Augen, die nichts sahen, außer einem Vier-Felder-Schema von gefährlich, ungefährlich und brauchbar, unbrauchbar. Menschen also die generell auch eine minderwertigen Fähigkeit zum Aufschieben von Belohnungen aufweisen und eine geringe Frustrationstoleranzgrenze. Es war wie in Rahel Varnhagens oder Henriette Herz‘ Salon transportiert in die Moderne. Ohne jedoch, dass Laura Möbius auch nur einen Finger krümmte, noch ihre vielen Gäste bewirtschaftete. Keine Badewanne voll Bier. Keine Tisch kaltes Buffet. Vor allem keine Häppchen. Keine Einladung. Keine Vorträge. Kein Austausch. Laura Möbius war im strengen Sinne weder eine gute, noch eine schlechte, im Grunde genommen war sie überhaupt keine Gastgeberin. Anfänglich machte Laura sich noch die Mühe bei Klopfen und Klingeln einen der fremden Gäste zur Tür zu schicken—zu sehen wer da ist. Zu überlegen: lassen sich Menschen typologisieren wie sie Klingeln und Klopfen

und egal was ist aufzumachen—passiv-aggressiv. Manchmal stellte sie sich dahinter und schaute, wie die beiden, der Fremde aus der Wohnung den Fremden im Hausflur, sich begrüßten. Manchmal wenn sie sich vom Schreibtisch erhob, den unerwünschten Besuch befremdlich in die Höhle der Möbius zu holen. Und sie sprach dabei kein Wort. Keiner der Anwesenden wusste, wie ihre Stimme klang. Sie hatte sich nicht einmal geräuspert. Sie war still. Für Laura waren alle Menschen irgendwie fremd. Schon immer fremd gewesen. Hätte man Laura in einem psychiatrischen Krankenhaus und sie würde bedeuten, da ist eine Reihe fremder Menschen in ihrer Wohnung, die sie nicht bei Namen kenne, nicht wisse wieso sie da sein, aber wisse, dass sie jeden Tag wieder kommen—man hätte sie für verrückt, im schlimmsten Fall für paranoid schizophren gehalten und diagnostiziert. Diese Mühe, einen fremden Gast stumm anschicken und unerwünschten Besuch in die Wohnung zu holen, machte sie sich nicht mehr. Ihre Tür stand Tag und Nacht einen Spalt offen. Ob sie keine Angst vor Einbrechern hatte. Hatte sie schon, dann aber dachte sie, sie wäre nun ein öffentliches Gut und das kann man nicht stehlen. Mehr eine abstrakte Idee. Sie hielt sich selbst für ein Menschenrecht. Ein silberner Wagen steht in der Griebenowstraße vor dem Haus der Möbius, wo Laura, wie man sagt, mit ihrer Wohnung situiert ist. Im Hausflur Einschlusslöcher, aber kein Stück Fassade auf dem Hausflurboden. Niemand hat die Wohnung, als einen Salon bezeichnet. Wer Salon hört, denkt an Saloon und May lesen heutzutage nur noch Freaks. Indianerfreaks. Marvin Wolf sitzt an seinem mobilem unmöblierten Schreibtisch und macht sich Notizen. Verdacht auf: Vielweiberei, Rauschgifthandel, Größenwahn und Prostitution. Angesetzt ist die Observation noch für die nächsten 72 Stunden. In der Zeit soll Wolf heraus bekommen, ob am Verdacht etwas dran sei. Als jemand plötzlich und unverhofft die Tür zum Einsatzwagen öffnet. Wie lange er diese Frau noch überwachen müsse. Ob er sie attraktiv finde. Er habe gerade angefangen. Guten Abend Wolf, erst einmal. “Du kannst hier nicht einfach einsteigen. Das ist Staatsgebiet. Rollendes Staatsgebiet”, sagt Wolf zu seiner Frau, die wie zu ihm ins Büro gekommen ist. “Du weißt, Mutter ist Krank”, viel mehr sagte sie nicht. Sie will, dass er jetzt schon zum Bestatter geht. Da hat er zwei Stunden erneute Observation hinter sich. Ohne Ergebnisse. Er hatte das Gefühl seine Frau achte ihn nicht und er hatte Angst, dass sich diese Nichtachtung auf seinen Sohn übertrug und er wollte nicht, dass er vom eigenen Sohn im Teenageralter angespuckt wird. Das ist Beamtenbeleidung Familie hin oder her. Er wolle nicht angespuckt werden. In der Bravo einem Magazin für Teenager, klärt ein Dr. Sommer die Jugendlichen auf. Regelmäßig beantwortet er Frage, wie: woher weiß ich, dass meine Freundin gekommen ist? Die Freundin meiner Freundin schaut mich immer so komisch an, soll ich sie darauf ansprechen? Wenn mein Turnlehrerin mich im Unterricht anfasst, mir zum Beispiel über den Bock hilft, bekomme ich eine Erektion, was soll ich tun? Mein Freund und ich sind jetzt ein Jahr zusammen und planen unser erster Mal. Von einer Freundin habe ich gehört, dass es passieren kann, dass man als Frau nicht feucht wird und dann es nicht klappt. Lieber Dr. Sommer, was mache ich wenn ich nicht feucht werde? Wenn es nach Wolf geht, sollte es auch einen Dr. Winter geben, der den Jugendlichen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben. 1972 schrieb Dr. Jochen Sommer, der eigentlich Martin Goldstein hieß und sogar mal im KZ war, in die Bravo, Masturbation mache weder krank, noch schwul, noch unfruchtbar und brachte die Zeitung damit auf den deutschen Index. Er war 1927 in Bielefeld geboren und seit 20 Jahren als Psychotherapeut in eigener Praxis in Düsseldorf tätig. In einem Interview sagte Goldstein einmal: er hatte in seiner Jugend Angst vor der Gestapo nicht vor dem Geschlechtsverkehr. Warum er nicht mal zu dieser Möbius nach oben gehe, fragt Wolf ‘s Frau. Warum er denn diese Observation, sie zieht das Wort ins lächerlich—er fühlt sich nicht ernst genommen—warum er denn diese Observation aus dem Auto führe. Ob es nicht viel effektiver wäre, mal persönlich sich ein Bild von dieser Möbius und ihren Verhältnissen zu machen. Sie verstehe das nicht, sagt Wolf. Sie habe keine Ahnung, wie so eine Observation funktioniere. Man müsse das Ganze subtil angehen. Es nützt nichts in der Wohnung einzurücken. Man können nicht gleich die Tür einschlagen. So eine Beobachtung braucht Raffinesse. Raffinesse, wiederholt er. Aha, sagt seine Frau. Wolf läuft entlang der Einschusslöcher, wie durch einen Schützengraben den Hausflur, das Treppenhaus nach oben, bis er die dritte Etage erreicht und eine der drei Wohnungstüren einen Spalt offen steht. Der erste Blick, notiert er später im mobilen Mazda-Büro auf einem Block mit Notizzetteln und es roch muffig, als würden müffelige Menschen im Coupé wohnen und sich nicht waschen. Der erste Blick fällt geradeaus durch einen langen Flur, eine Bank an jeder Seite bietet Platz für Menschen, wie auf der Hühnerstange. Weiterhin ist die Wohnung zeitgemäß eingerichtet. Im Badezimmer Fliesen. Im Flur Teppichboden Farbe: türkis. Grün—Grasgrün im Wohn- und Arbeitszimmer, welches ein Raum ist. In der Küche Linoleum Muster: Kacheln. An den Wänden Raufaser. Einige Streifen der Raufaser sind mit einer Tapete beklebt. Muster: rote Backsteine. Im Bad fehlt ein Streifen Raufaser und weiß gestrichenes Mauerwerk liegt frei. Wolf wechselt von türkisem zu grasgrünem Untergrund und gibt vor sein Portemonnaie zu sortieren. Ein Trick aus der Polizeischule um unerkannt zu bleiben, eine gewöhnliche Tätigkeit ausführen, das geht auch in Uniform. Er trägt die Polizeimütze, um zu irritieren, zwischen Arm und Rippen. Ein Kopf, der schnell seine Haare verloren hat und noch verliert, wie Fleisch in der Metzgertheke. Mitten im Raum vor zwei Fenstern, deren Scheiben jeweils

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graue Fassaden an denen der Putz abbröckelt, wie von einer Skulptur aus Sand. An der Ecke schaut der Mann mit dem unterwürfigen Blick in ein Geschäft. Es ist der Friseur Locke und Glatze. Berlin ist eine Stadt aus Sand. Nach einer Minute steht er vor der Zionskirche, die er schon sehen konnte, seitdem er die Fehrbellinerstraße hinter sich gelassen hatte. Sein Ziel liegt in der Griebenowstraße Hausnummer Zwölf, welches er ohne weitere Umwege und Hindernisse erreicht. Einzig ein Mann in Polizei Uniform in einem silbernen Mazda Sport Coupe fällt ihm auf. Er klingelt, aber die Tür ist bereits geöffnet. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick geht durch die Haustür der Hausnummer Zwölf. Die Tür fällt wieder—leer—ins Schloss und stößt sich einige Zentimeter vom Schloss ab, als würde ein Abrisskugel ein Gebäude einreißen und danach einen Moment schalingern. Der Mann im Hausflur dreht sich noch einmal um und schaut durch das Fenster in der Haustür. Er sieht wie eine Frau sich dem silberner Mazda nährt, wovon der Insasse des Fahrzeugs noch keine Ahnung hat, weil er den Mann mit dem unterwürfigen Blick fixiert. Hitchcock nannte das: Suspense. Wir wollen hier bei Chronologie nachgeordneter Ereignisse bleiben.

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mit einer Decke verdunkelt sind, steht Lauras Schreibtisch, sitzt sie und schreibt in den Raum hinein. Sieht ab und an auf. Schreibt hauptsächlich. Laura‘s Pupillen verfolgen, wie sich das weiße Blatt Papier von selbst fühlt. Schaut auf und sieht eine Gruppe von Menschen, die sie beobachten. Sie muss weiter schreiben. Man wird sie nur in Ruhe lassen, wenn sie aufgeschrieben hat. Wenn sie die Fremden zu bekannten Schriftstücken gemacht hat, wird man sie in Ruhe lassen. Neuester Fang ein Mann in Polizei Uniform. Laura schreibt auf: Menschen vermehren sich in meinem Beisein, wie Zellen sich teilen. Insgeheim fragt sie sich ob die Uniform des einen Fremden echt ist. Meistens hält sie sich selbst für verrückt. Der Fremde mit dem unterwürfigen Blick war zuerst bei der Nationalen Volksarmee. Das war schon nicht schlecht. Dann wurden die besten zwanzig ausgewählt. Von den zwanzig Besten, haben sich ein Paar umgebracht, ein Paar sind abgehauen und ein paar waren einfach nicht geeignet. Übrigen geblieben sind fünf, die der Chef der Landstreikkräfte nach Usbekistan zur Ausbildung geschickt hat. Da gab es so eine Verabschiedungszeremonie. Fünf Soldaten und ihre Frauen, fünfzig andere unbekannte Soldaten, zum Schmuck, der Chef der Landstreikkräfte seinerseits Minister und natürlich dürfte der Generalsekretär des Zentralkomitees nicht fehlen. Im kleinen Kreis, hatte man gesagt. Da gab es russischen Wodka und Schaumwein, Kaviar, Blini mit Lachs, Soljanka, Borschtsch, Hering im Pelzmantel und viele andere Sachen. Er hatte noch nie mit dem Generalsekretär gesprochen und er ließ es auch an diesem Abend. Das alles war so ein Eliteding, sagt er und wurde Scharfschütze und Minenleger. Man erinnere sich an den alten Kulik, und man muss sagen, die Ausbildung war erst der Anfang. Die eigentliche Arbeit begann in Afghanistan, wo er drei Monate stationiert war. Drei Monate Afghanistan. Nur drei Monate. Niemand weiß davon, weder seine Frau, noch sein Bruder, noch seine Mutter, die da noch lebte, seine Kinder noch die Presse oder die BRD, die die Bestände der NVA übernahm. Niemand weiß bis heute, dass er dort in Afghanistan damals, Leute umgebracht und gefoltert hat. Dabei war es für ihn selbst die reinste Folter, am Ende der Zeit in Afghanistan sind er und seine vier Kameraden in einen Hinterhalt geraten, mussten in ein Haus flüchten. Das Haus war vermint, wie sie die Tür eintraten und sie von innen verrammeln wollten, stürzte das Haus in sich zusammen. Stürzte das Haus schwächlich in sich zusammen. Minen sind eine Waffe der Schwächlinge. Das war irgendwo bei Kabul. So genau weiß er das nicht. Ortsnamen wurden ihnen nicht genannt. Je weniger Leute, etwas wissen, desto besser ist das für ein Regime. Zwei Tage hat er in dem Haus verbracht. In Trümmern und dem Wimmern seiner Kameraden. Dabei weiß er nicht, was schwerer zu ertragen war. Trümmer oder Wimmern. Danach folgten drei Jahre Grenzarbeit, auf dem Todesstreifen, Bernauerstraße. Er war froh, dass der Schießbefehl inzwischen seit vier Jahren offiziell und legitim war. Den einen oder anderen Flüchtling musste er erschießen. Wie hieß es noch, wer unsere Grenzen nicht akzeptiert, der bekommt die Kugel zu spüren. Er meint, als sich irgendein Depp versprochen hatte, war die Mauer offen, fiel und war wie nie da gewesen und er hatte Schwierigkeiten sich zu integrieren. Da kann es schon einmal vorkommen, dass es ernster wird. Heute in der U2 Richtung Schönhauser Allee, gab es ein paar Jugendliche, Halbwüchsige, die die Leute anpöbelten. In mehr oder minder Ruhe, innerlich kochte er, schaute er sich die Szene an. Außerdem anwesend war ein blonder mit einem Fahrrad mit Platten, sah aus wie nicht von hier dachte der Fremde mit dem unterwürfigen Blick, ehemaliger NVA Elitesoldat in Afghanistan. Wo Einen das Leben hin trägt. Die U-Bahn fuhr unterirdisch in den Rosa-Luxemburg-Platz ein. Die Jugendlichen bedrängten einen alten Mann. Der Typ mit Fahrrad und den blonden Haaren, schaute aus dem Fenster. Er weiß das so genau, weil er jeden Moment in der Öffentlichkeit observiert und abspeichert. Das erste, was er macht, wenn er in ein Gebäude kommt, ist die Fluchtwege checken. Wenn er in ein Hotel eingecheckt ist und ein paar Tage bleiben wird, schläft er die ersten davon im Dunkeln, um sich zu vergewissern, dass er auch bei einem Stromausfall wichtige Gegenstände und den Ausgang findet. Wie in jedem Raum, hat er auch in U-Bahn die Tür im Blick. Er schaut sich um, niemand half. Er sagt, er gehe lieber raus, als in der Bahn vor den Leuten zu diskutieren. Er diskutiert das gern in Ruhe aus. Am liebsten ohne Beisein von Anderen. Bei seiner Rückkehr in die Gesellschaft hatte er Schwierigkeiten einen Konflikt gewaltfrei zu lösen, wie er sagte. Wie es geheißen hat auf so einem Seminar, dass er mal besucht hat. Da hat ein Polizist erzählt, man müsse Konflikte Gewaltfrei lösen. Er hätte auch mal Polizist werden sollen. Das hat man ihm angeboten. Man hat gesagt, drei Monate Afghanistan und drei Jahre Grenzarbeit, du bist prädestiniert dafür Polizist zu werden. Geradezu wie für die Polizeiarbeit erschaffen. Der Polizist vom Seminar hieß irgendetwas mit W. Wehrmann, Wittig, Walter, Winter, Weber, Werner oder Wolf, überlegt der alte Mann mit dem unterwürfigen Blick und hat die ganze Zeit über vier Seiten einer Nachricht geredet, gelangweilt, dass man den Eindruck hatte, er selbst, war davon nicht allzu begeistert. Die U-bahn musste am Senefelderplatz ausgetauscht werden. Der U-Bahnfahrer hatte in jedes Wagon gebrüllt, fahrunfähig. So mussten dann alle aussteigen. Seine Frau sorgt sich um seine aggressiven Aussetzer. Er sagt, er hätte keine Aussetzer, die anderen provozieren ihn und außerdem schlagen die anderen immer zu erst zu. Er wollte es ihr beweisen und ist mit ihr zum Alex gefahren, mit der S-Bahn kamen sie aus Richtung Friedrichstraße und er hat ihr bewiesen es sind die Anderen. Warum

die anderen immer nur ihn angreifen und die anderen Anderen in Ruhe lassen, kann er sich auch nicht erklären. Er versucht gewaltlos zu sein. Er weiß, wie man den Anderen anfangen lässt. Als er mit den Anderen am Senefelderplatz stand, konnte er den Konflikt nicht lösen. Seitdem er bei Möbius ist—jeden Tag—seitdem will er immer weniger raus gehen und Konflikte klären. Seine Frau, die nicht mehr seine Frau ist, er aber noch seine Frau nennt, weiß nichts von Möbius. Weiß nicht, dass er jeden Tag zu Laura in die Wohnung geht. Wenigstens eine kleine Lüge will er sich erhalten. Wenn es auch eine Lüge um nichts ist. Honigbrot. Vielleicht ein Titel für ein avantgardistisches oder mindestens ambitioniertes Buch. Es war das Honigbrot. Sie sagt sie esse gern Honig. Aber seitdem sie das Honigbrot gegessen habe, fühle sie sich, als ob etwas ihr den Hals zuschnürt und das vor allem, wenn sie etwas trinken will. Sie sagt, es sei eine Sünde sich etwas anzutun. Seitdem Honigbrot habe sie angefangen auch andere Sachen zu probieren. Sachen, die Andere nicht essen—essen würden. Sie hat auch bestimmte Sachen kombiniert. Sie hat festgestellt, dass Papier und Seife, ähnlich wie Chicken Nuggets schmecken. Ihre Schwester sei krank sie müssen zurück nach Griechenland. Ihr Name ist Olympia. Laura‘s Gäste haben keine Namen. Im Flugzeug gibt es oft Honigbrot. Sie fürchtet, dass sie das Honigbrot nicht essen kann und es ihr den Hals zuschnürt. Es gibt keine Arbeit. Sie hat es erst vor fünf Monaten gemeldet. Sie bekommt inzwischen Arbeitslosengeld. In der Firma wusste man bescheid. Eigentlich arbeitete sie bis letzten Februar letzten Jahres und dann nicht mehr. Auf der Arbeit gab es nie Honigbrote. Sie arbeite trotzdem noch ein wenig. Ihrem Chef gefällt das, sagt sie. An den Honigbroten lag es nicht. Sie flüstert. Man muss sich zu ihr beugen, damit man sie versteht. Flüstert, wie ein Windhauch der ihre Worte von den Lippen abliest, sie auf seinen Rücken nimmt und davon trägt. In den Raum. Leise. Nämlich so leise, dass man sich zu ihr beugen muss. Schwarze Haare, dazwischen einige weiße Haare. Wie die Wohnung Möbius und ihre Stimme. Ihre Stimme, die in der Wohnung Möbius verloren geht. Immer noch besser, als das Honigbrot. Wenn sie jetzt ein Honigbrot sieht, fängt sie an zu zittern. Was sie davon abhält nach Kreta zurück zu gehen? Geld, flüstert sie. Sie brauche die Rente. Frau Orkan ist arm. Sie stellt sich vor, die Flügel des Flugzeuges wären mit Honig zusammen geleimt und der Honig würde schmelzen, weil das Flugzeug weit oben, weit über dem Meer, entgegen der Sonne fliege. Dann meint sie, das war doch aber Wachs und lacht. Trotzdem hat sie Angst ins kretische Meer zu stürzen. Wenn Frau Orkan lacht, ist das kein Lachen, sondern höchstens ein Schmunzeln. Sie sei jetzt seit drei Wochen bei Laura. Ihre Schwester sei krank, wiederholt sie. Als ob man ihr nicht zu hört. Sie wolle zurück auf die Insel ihrer Herkunft. Ins Krankenhaus und sich untersuchen lassen. Sie muss sich untersuchen lassen, sagt sie. Wegen Allergie auf Honig. Ob das nicht auch in einem Krankenhaus in Berlin ginge oder beim Hausarzt. Nein, sagt sie, es muss auf Kreta sein, wo ihre Schwester sei und krank ist. Sie könne nicht mehr lachen. Ihre Stimme ist wie ein Bleistift. Wie eine weiche, fast nicht sichtbare Bleistiftspur. Hier und da unterbrochen. Als könne man ihre Stimme einfach wegwischen. Sie hat Schmerzen in der Brust. Wenn sie die Arme nach vorne streckt, dann knacke es in ihrer Brust. Sie soll sich einmal zurück lehnen und tief durch atmen. Und das einmal am Tag machen. Tief durch atmen. Sie sei sehr unaufmerksam, meint sie. Sie schaue Fernsehen, sehe die Bilder und höre die Stimmen. Sie sagt, sie höre weit mehr Geräusche als früher, nehme weit mehr Tiefe der Bilder im Fernsehen wahr, Kontraste, die sie vorher nicht kannte und manchmal kommt es ihr vor, als könne sie den Fernseher riechen, aber es kommt nichts an. Sie meint, sie sehe wie durch Milchglas in die Welt. Sie ist müde. Sie denke an das Honigbrot. Sie will nach Kreta. Für die Untersuchung. Ihre Schwester. Schwarze Haare, ein paar weiße dazwischen. Ihr Name ist Olympia Orkan, an Lauras Türschwelle verliert man seinen Namen und wird ein Fremder unter Fremden. In der Wohnung Möbius, in die jeder gehen und solange bleiben kann, sie oder er es für gut und richtig erachtet. Laura beobachten kann, wie Laura ihren Tag verlebt. Irgendwann hatte jemand angefangen Lauras Kühlschrank zu füllen. Etwas zu Essen hinzustellen für die Anderen. Ihre Wäsche zu waschen. Seitdem verlässt Laura nur noch selten den Schreibtisch. Honigbrote hat man bisher noch nicht finden können. Ein Glück auch. Laura liest wieder und wieder den Satz und streicht den zweiten Teil. Menschen vermehren sich in meinem Beisein, wie Zellen sich teilen. Er stimmt noch nicht. Man muss Sätze solange formulieren, bis sie stimmen. Besonders gewissenhafte Menschen verbringen Stunden um einen Satz zu schreiben. Joyce war so ein Mensch. Laura und Joyce haben sonst nicht viel gemein. Wenn überhaupt bedient sich Laura nur einer Form der Literatur, dem Satz. Wer generös ist, sagt: sie schreibe Notizen. Menschen vermehren sich in meinem Beisein, wie Krebszellen. Und streicht den letzten Teil—erneut. Sie überlegt: wie sich teilende Zellen. Menschen vermehren sich in meinem Beisein, wie sich teilende Zellen. Setzt eine Zeile tiefer an. Menschen mehren sich ohne mein zu tun, wie Larven in Bienenwaben. Fliegen im Müll. Sie legt den Stift ab und ein gläserner Blick geht durch die Reihe fremder Menschen, die vor einem Schreibtisch sitzen, an dem eine Frau in Kimono sitzt, einen Stift beiseite legte und angestrengt die Wand anstarrt. Ein Lineal nimmt und durchstreicht. Sie gibt auf und schreibt einen neuen auf. Menschen sind wie Insekten, alle irgendwie verschieden und doch haben sie alle sechs Beine.

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Frau O.O. war eine Frau, wie mit dem Picasnydrom, die ständig versucht irgendwelche Sachen zu essen, die andere Menschen nicht essen —essen würden. Seitdem sie den Kühlschrank füllt, gibt es manchmal eisgekühltes Klopapier. Long Bob weiss/grau. Rosa Adidas Trainingsanzug. Mitte Siebzig. Bevor Littke nach Berlin gekommen war, war sie in Bonn leitende Sekretärin einer Versicherungsgesellschaft, sagt sie und schiebt die Brille nach oben. Dann kam der Mauerfall. Sie dachte, sie kommen nie wieder zurück nach Berlin. Man kann sagen, sie sieht augenscheinlich ganz gut situiert aus. In ihrem Trainingsanzug. Sieht aus wie die Loungevariante. Sie besuchte zu Weihnachten den Sohn und die Schwiegertochter. Es kam zum Streit. Littke stand in der Küche gegen das Fenster in die Ecke gedrängt. Sie wollte ihre Enkeltochter mehr sehen. Die Enkeltochter wolle sie mehr sehen. Die Schwiegertochter beschimpfte sie. Besitzergreifen. Einmischend. Raumgreifend. Grenzüberschreitend. Beschneidend. Nie hat man so etwas zu ihr gesagt, echauffiert sie sich und der grauweiße Bob schüttelt sich, wie ein feiner Pinsel mit Pferdehaaren in Wischmopgröße. Der Sohn hat das nur ertragen und nichts gesagt. Die Schwiegertochter war Sozialarbeiterin. Genau am Weihnachtsabend. Besitzergreifend. Dann eskalierte die Situation ein wenig, sagt Littke. Ein bisschen heißt, sie habe ein heißes Stück Fleisch aus dem Fonduetopf genommen und mit einer katapultartigen Bewegung vom Spieß Richtung Schwiegertochter geschnipst. Der das Stück Fleisch im Gesicht landete, daran herunter kroch—wie eine Nacktschnecke—auf der weißen Bluse landete und einen hässlichen Fettflecken hinterließ. Was nochmal schwieriger war—weil Vegetarierin. Was Littke so oder so albern findet. Vegetarierin, der Tiere wegen—albern. Sie riecht wie alte Frauen riechen, da denkt man: alle benutzen das selbe Parfum. Eine alte Hexe hat man sie genannt. An Weihnachten eine alte Hexe. Sie hat ihrem Sohn gesagt, der den Streit über besonders ruhig geblieben ist, er solle sie zu einem Hotel fahren. Am Ende hat sie den Sohn umarmt und der Schwiegertochter gesagt, sie verabschiede sich nicht von ihr, weil man da wo sie herkommt, auf wiedersehen sagt, aber sie wolle sie nicht wieder sehen. Die Schwiegertochter fand das albern. Irgendwie fanden die beiden sich albern. Unter anderem Bedingungen hätten sie sicher herzlich gelacht. Die Schwiegertochter war eine leidenschaftliche Fitnessgängerin. Einmal im folgenden Frühjahr, schwappte ihr ihre Leidenschaft fürs Fitnessstudio auf ihren Fitnesstrainer über. Um ehrlich zu sein, sagt Littke nicht direkt auf den Fitnesstrainer, sondern auf seinen Vater. Beides Griechen vom Festland. Der Vater war eher in Littkes Alter und hätte der Vater der Schwiegertochter sein können. Das war so eine Techtelmechtel. Über ein paar Monate, sie wusste es, ihr Sohn wusste es nicht. Sie wusste vor allem nicht, wie damit umgehen. Es dem Sohn sagen, deine Frau betrügt dich oder auf die Frau warten, bis sie geständig wird. Woher Littke das überhaupt wusste? Nur eine wahre Beleidigung tut weh. Sie war der Schwiegertochter gefolgt, hatte wie eine Agentin im Auto gewartet—Brigitte gelesen, weil es so lange gedauert hat, Parfüms aus der Illustrierten ausprobiert, dass ihr Wagen, wie ein Puff von innen rochen—und dann hatte sie beobachtet wie die Schwiegertochter, in der Mitte eingehakt, flankiert von zwei eher dunkelhäutigen—sie sagte: exotischen Männer—davon getragen wurde. Aber nicht wie auf Wolken, sondern wie auf bösen Höllenschwingen und garstigen Fledermaushäuten. Littke hat es lange geheimgehalten, wie ihre Schwiegertochter es geheim hielt, obgleich die beiden sich nicht miteinander absprachen, weil sie überhaupt nicht mehr miteinander sprachen seit dem Weihnachtsstreit Die. Geheimhaltung hielt so lange, bis die Schwiegertochter Anfang des Sommers mit den beiden, Alexandros und seinem Sohn durchgebrannt ist. Seitdem kein Wort mehr und die Enkelin fragt nach ihrer Mutter, wie nach ihrer Oma. Littke hat Schuldgefühle, die sie nicht zeigt. Sie will ihrem Sohn helfen. Sie ruft ihn jeden Tag an. An manchen Tagen nimmt er ab. Er ist nicht gut drauf. Sie hat ihm gesagt, er solle aufpassen, dass er nicht depressiv wird. Da hat er gesagt: “dir ist es doch sowieso recht. Konntest sie nie leiden. Bist du nicht froh, dass sie weg ist?” Das hat sie verletzt. Wie sie an Weihnachten verletzt wurde. Aber sie sagt sich: “Anne-Liese, das ist jetzt nicht die Zeit beleidigt zu sein. Du musst deinem Sohn helfen, wenn auch er deine Hilfe noch nicht zu schätzen weiß.” Wenn Littke ihre Enkeltochter sprechen will, heißt es sie habe keine Zeit und rufe später zurück. Das hat sie schon insgesamt etwas verstimmt. Anne-Liese Littke, der Mann mit dem unterwürfigen Blick und Olympia Orkan, die alle bei Möbius keinen Namen haben, sitzen vor Laura und beobachten sie, wie all die anderen Fremden sie beobachten. Wenn sie es denn tun und nicht irgendwo in der Wohnung sitzen, wie Obdachlose in der Mission. Ein Mann in Uniform huscht, flüchtet und herrscht sich an wie ein Geist zwischen den Leuten. Tummelt sich unter ihnen mit einem Notizblock, als wäre er ein Journalist. Vielleicht hat er seinen Beruf verfehlt, mag man meinen. Er fragt die Leute, was sie bei Möbius machen und erhält Antworten, die er nicht versteht und stellt Fragen, welche die Fremden nicht verstehen. Einmal hat eine Frau gefragt, ob sie seinen Notizblock kosten dürfe. Er gab ihr ein Blatt. Sie sei daraufhin ins Bade-

zimmer gegangen und wäre mit einem Stück Seife zurück gekommen und hätte beides—zu seinem Ekel und seiner Verwunderung—in den Mund gestopft und gemeint: “schmeckt wie…” Aber da war der Fremde in Uniform schon weiter gegangen—auf der Suche nach einem Verbrechen, wo keines ist. Wenigstens auf der Suche nach einem Sinn, wo keiner ist. Dieses indelinquente Konglomerat von Menschen bei Möbius. Das einzige was von Laura zu wissen ist, ist das was sie aufschreibt. Einen Satz die Stunde. Ihr ist nichts besseres eingefallen. Die Schönheit der Menschen ergibt sich aus dem was sie einander antun.

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enry hatte sich raus geschlichen. War Cleo entkommen, ohne dass sie ahnte, er wolle vor ihr flüchten und vielleicht floh er auch vor sich selbst oder vor dem gemeinsamen Ding, genannt: Beziehung. Er traf sich mit John, Jeans und Jens seinem Freund, der ihm den Computer verkauft hatte. Mit dem er ab und an ein krummes Ding dreht. Der aus Deutschland stammende Jens. Jens die Kurzform von Johannes. Die man im englische Krankenhaus zu John machte, die er korrigierte und sagte nein er heiße Jens, was dann zu Jean wurde, weil man dachte er wäre Franzose und sich im Verlauf seines Aufenthaltes zu Jeans wandelte. John, Jeans und Jens mit der Brille und dem Glasrahmengestell. Lieblingsspruch: “ich verkaufe dir nichts, was du nicht brauchst.” Als die beiden sich das letzte mal getroffen hatten, gab es ein bisschen Krach wegen der Lampe. Die hatte man der Filmfirma wieder zurück gegeben über Umwegen und es als gute Tat deklariert—sie nämlich gefunden zu haben. Seitdem das mit der Lampe aufgeflogen war, gab es in den unteren Fabriketagen einen Sicherheitsmann, der das Filmset bewachte. Das war einerseits eine Erleichterung, weil Henry und Cleo so eine Art Personenschutz genossen und andererseits konnte Henry nicht mehr einfach nach unten gehen und sich mehr oder minder unauffällig hie und da kleinere oder größere Objekte schnappen und sie an John, Jeans und Jens verkaufen. Henry selbst nannte John, Jeans und Jens meistens nur J. Auch Henry spielte mit dem Namen von J. Die beiden trafen sich in der Underground-Station Farringdon unweit der Fabrik, in der Henry und Cleo wohnten. Zumindest eine Etage bewohnten oder besser: warm hielten. Meistens, wenn die beiden sich treffen, sitzen sie entweder unten unter der Erde auf den Bänke der Station oder fahren ein bisschen durch die Stadt mit der Bahn. Wahllos und ohne Ziel. Bis sie letztlich zu ihrem Versteck fahren. Während der Fahrt erzählte Henry J. von seiner Freundin Kate und sein Freund klopfte ihn wuchtig und übertrieben auf die Schulter. Dass Henry beinahe vom Sitz im Wagon der Londoner U-Bahn fiel. “Henry du bist clever”, sprach J. mit deutlich deutschen Akzent. “Richtig clever! Wenn du so arbeiten würdest, wie du mit Frauen umgehst, wärst du reich. Hast du gehört?”, rief J. und hallte es durch den Wagon. Mate you‘re clever. Two birds one stone. If you‘d make business, like you‘re treating woman. Well mate I tell you, you‘de be rich by now. Aber Henry verstand nicht. J. hatte sich getönte Scheiben in seine Brille einfassen lassen und ein Baseballcape auf. Er meint, die getönten Scheiben, helfen ihm. Wenn die Welt ein bisschen orange aussieht, dann tue ihm das gut, aber manchmal hilft es nicht und seine orangen Gläser nerven ihn. Dann setzt er die Brille ab und sieht nichts. Was ihn in etwa genauso nervt und ihn veranlasst die Brille wieder aufzusetzen. Wovon er genervt ist, weil er es hasst die Welt durch seine Rosa-rote Brille, die orange Gläser hat, zu sehen. Wobei ohne geht es auch nicht. Besonders nicht an tristen Tagen. Wenn die Stadt grau in grau gefärbt oder sollte man sagen: entfärbt ist. Als würden Wolken am Himmel die Farbe der Stadt aufsaugen, absorbieren und eliminieren und erst wenn die Wolken sich vom Wasser entlasten, ist es als komme mit dem Regen die Farbe zurück. Als spüle das Regenwasser wieder Farbe in diese 2000 Jahre alte Stadt Londinium. Und Regen erleichtert die Wolken und sie ziehen davon. So hat jeder seins. J. seine Brille und Henry seine Sache. Und mit seiner Sache ist ein Hörgerät gemeint, das er lieber verschweigt, unter den Tisch fallen lässt und unter den Teppich kehrt. Clever richtig clever, hat J. gesagt und Henry schaute in die orangen Augen J‘s und hatte keine Ahnung, was daran clever ist seine Freundin zu betrügen. Er sagt, Fremd-gehen lohnt sich nicht, wenn man nicht verheiratet ist. Einfache Verneinung und trotzdem hat er—womöglich aus Schwäche—die Doppelte gewählt. Seine Regel ist: wenn er schon fremd geht, dann wenigstens küsst er seine Liebelei nicht. Manchmal ist das mitunter komisch, wenn nicht merkwürdig, aber diese Sache Fremd-gehen ist an schon etwas skurril und irreal. Die Vagina einer anderen Frau hat etwas organisches, meint er. Die Muschi einer Fremden, wobei er sich auf das Bekannte festgesetzt hat, ist weniger etwas wie ein verbotener Ort, eine Verbotene Stadt, es ist etwas organisches gefühlloses, funktionales, benutzbares, Popcorn, Beiwerk, Beilage, krude stumme Unerfüllung. Das ist es, die Muschi einer anderen Frau zu vögeln ist die Unerfüllung. Immer öfter hört man aus der Physik oder Astrophysik von negativer Energie, schwarzen Löchern, Antimaterie eine Art Gegenteil-Welt, sagt er. Eine fremde bekannte Welt. Ein Eintauchen in eine Welt, die man kennt, aber neu ist. Das alles beschreibt das Gefühl fremd zu gehen hinreichend, aber nicht ausreichend. Dem Irrealen und Skurrilen, dem muss Henry etwas entgegensetzen. Dem Wind musst du ein Segel vorsetzen. If you can‘t beat them, join them. Dazu gehören für Henry geradezu abstruse und absurde Regelwerke. Dazu gehört das Nicht-Küssen. Dazu gehört auch eine andere eher flexible Regel, die besagt, dass Anfassen auf das geringste reduziert werden sollte. Da fragt man sich, setzt er der Beobachtung des Absurden etwas entgegen oder sorgt er selbst für das Absurde? Die Spinne, das Netz und die Fliege.


Eine andere Regel besagt, dass er eine Frau mit der er Cleo betrügt, nie länger als zwei Stunden sieht, denn alles was über zwei Stunden hinaus ginge, über eine reine Fickbeziehung, fuck friends, wie er sagt. Würde in eine Freundschaft münden, weil man zwangsläufig Dinge täte die Freunde täten und wenn man miteinander schläft und befreundet ist, dann hat man, sagt Henry, eine waschechte Liebesbeziehung und man könne nur eine Liebesbeziehung haben, fügt er noch hinzu. Bei Kate hat er eine Ausnahme gemacht, aber nicht aus Gefühl, sondern weil sie auch zusammen arbeiten. Und das heißt, die Zeit, die sie für die Arbeit verwenden, geht nicht von den zwei Stunden ab. Als J. das hört, sagt er: “Henry du spinnst. Fick die andere doch einfach und gut ist. Wozu diese Regeln?” Da waren sie gerade in der Station Barbican Richtung Liverpool Street. Aber das hört Henry nicht. Manchmal wenn er Dinge nicht hören will, dann dreht er das hautfarbene Hörgerät in seinen Ohren einfach auf eine andere Frequenz oder leiser. Als Kind hatte er eines dieser ersten Echtzeit-Hörgeräte, die das gehörte in Echtzeit übertrugen und keine merkbare Verzögerung verursachten. Auch wenn das eine echte Innovation vor etwa 15 Jahren war, war es doch so, dass man einen Transmitter am Körper tragen musste, der a) sehr schwer war, kann man vielleicht mit dem Gewicht von drei Walkmens beschreiben und b) dass die Hörqualität unter Bewegungen litt, heißt Bewegen gar Laufen, war eher nicht drin. Aber immerhin. Denn als Henry sein erstes Hörgerät bekam, das muss etwa zehn Jahre her sein, sagt er, gab es die digitalen Hörgeräte noch gar nicht frei-verkäuflich. Er konnte seiner Mutter dankbar sein, dass sie Connections hatte zu einer Firma, die die Dinger herstellte. Manchmal litt der Vater Henry‘s unter diesen Connections. Manchmal denkt Henry, er hat da ein Muster seiner Mutter übernommen, die stetig ihr Vitamin B versorgen musste, körperlich versorgen musste, wie ein Morbus Addison mit Kortison. Als Thomas Addison, der britische Arzt, der Morbus Addison zum ersten Mal beschrieb, nach London zog und Chirurg in einer öffentlichen Ambulanz wurde, damals war die Medizin noch ein wenig anders, lenkten seine Vorgesetzten seine Aufmerksamkeit auf Hautkrankheiten, wahrscheinlich wurde er so aufmerksam auf die Hyperpegmentierung, die oft unter Morbus Addison auftritt. Die Mutter Henry‘s litt weder unter Morbus Addison noch unter Hyperpegmentierung—sie war sogar sehr hellhäutig. Aber Henry‘s Familie litt unter der mütterlichen Versorgung von Vitamin B in Richtung des Herstellers des Hörgeräts. Sie tat ihrem Sohn einen ähnlichen Dienst, wie die Mutter dieses behinderten Jungen in diesem Film von vor zwei Jahren: Forrest Gump oder wie der hieß. Zu seinem Hörgerät trug er als Kind eine Brille mit sehr starken Gläsern, die ständig beschlagen waren. Er hatte nie diese Realität akzeptiert. Nie akzeptiert, dass ihn damals die Leute anschauten, wie sie ein behindertes Kind anschauen. Er hatte nie den Nachteil, der sich daraus ergab erduldet. Und als er alt genug war, kaufte er sich eine BTE-Hörgerät mit einer hautfarbigen Oberfläche. BTE heißt behind-the-ear. Und die Augen ließ er sich lasern. Die britische U-Bahn die London Underground oder Tube ist die älteste U-Bahn der Welt. Sie verfügt über die größte Netzlänge. Der erste Streckenabschnitt wurde am Zehnten Januar 1863 eröffnet. Metropolitan Railway, heißt heute Metropolitan Line. Die Strecke verlief von Paddington nach Farringdon. 1864 erweiterte man bis Hammersmith, 1877 bis Richmond, 1884 entstand zusammen mit der District Railway eine innere Ringstrecke. Die wichtigste Strecken jedoch, waren die im ländlichen Raum in Middlesex. Dort förderte die Tube die urbane Entwicklung gleich mehrerer Vorstädte. Bis 1905 fuhren die unterirdischen Züge dampfbetrieben. Dampf unter London, was eine ziemliche Sauerei gewesen sein muss. 35-40 Jahre später dienten die tief liegenden Stationen als Luftschutzbunker. Eine Station zwischen Redbridge und Gants Hill der Central Line wurde eine Fabrik für Flugzeugteile. Die heute geschlossene Downstreet fungierte als Kommandantenräumlichkeiten für Churchill, der sagte an manchen Tagen gehe er an kein Bahngleis, aus Angst zu springen. In der Zeit 40 Jahre nach 1905 hatte er sicherlich andere Sorgen. In der heute ebenfalls geschlossenen Brompton Road wurde Englands Flugabwehr koordiniert. In der vor zwei Jahren geschlossenen Adwych Station lagerten besondere wertvolle Kunstwerke, welche das British Museum vor den Deutschen versuchte zu schützen. Zur Eröffnung der Station 1907 bekam sie den Namen: Strand, man denke an Mackie Messer. Das Vorhängeschloss hatte J. irgendwann einmal geknackt. Er meint, es wäre ein billiges Bügelschloss gewesen, dass er mit einem Bolzenschneider aus dem Baumarkt aufgebrochen hätte. Kaum ein Widerstand. Hat sich quasi bereitwillig öffnen lassen. Liegt seitdem auf dem Boden vor dem Eingang. Dann geht es eine schmale Treppe hinunter, in der Henry nichts sieht und sich an der Wand entlang tastet. Es roch muffig und man hörte Tropfgeräusche. Irgendetwas sagte J., aber Henry hörte ihm nicht zu. Den Weg in die geschlossene U-Bahn Station laufen beide zusammen nicht das erste Mal. Trotzdem erfüllten die verlassenen Räumlichkeiten, wenn er auch wenig sah, Henry mit einer Art Anmut, die ihn stumm macht. Taubstumm. Bis sie bei ihrem Platz angekommen sind. Gegenüber dem alten Gleis auf einer Bank. Ein ähnliches Szenario wie in Farringdon—nur in verlassen. Irgendjemand musste vergessen haben, den Strom abzustellen. In einem aufgebrochen Schrank gab es ein paar Schalter. Große Umlegeschalter. Wie in einem Sicherungskasten für Riesen. Dicht gefolgt von Henry öffnet J. den Sicherungsschrank und tastet sich an den alten Schaltern entlang. Bis er einen etwa Schaltknüppel großen Schalter findet, ihn umlegt, ein Zischen durch die alten Hallen geht und ein paar alte Neonröhren aufflackern. Henry‘s und J.‘s Business Meeting fängt meist mit einer einfachen Rechnung an: zwei mal zwei. Zwei Stouts meist ist das Guinness und dann nehmen sie jeder einen Schluck von einem Flachmann, indem irgendeine fürch-

terliche Plörre ist, irgendein deutsches Zeug was J. mitbringt. Henry dachte zuerst irgendwas mit Mais. Dann hat ihm Henry geklärt, dass Korn auch anderes Getreide oder Gemüse sein kann. Jeder einen Schluck Korn und ein Bier. Zwei mal Zwei und ein Radio mit Kassettenfach. Henry‘s Job. J. bringt Bier und Schnaps. Henry Musik. 17 Jahre nach der letzten Platte hat Patti Smith in diesem Jahr wieder eine CD raus gebracht, die es auch auf Kassette gibt, die Henry besorgt hat. Sie schweigen und der alte U-Bahnhof schweigt mit ihnen. Gone Again heißt das neue Album. Patti und ihr Mann hatten geplant, damit die Haushaltskasse aufzufüllen. Das Rockstar-leben lag hinter ihr. Sie wollte nicht mehr berühmt sein. Das Album wurde zu Pattis Lamento und zur Obituary ihres Mannes. Manchmal lesen die Beiden auch in ihrem konspirativen Geheimversteck die Zeitung. J. weiß gern was in Deutschland passiert. Die verlassene Tube-Station ist für J. und Henry, was für Kinder das Baumhaus ist. Ein Ort von magischer Qualität, in dem Dinge passieren, die sonst nirgends passieren—passieren können. An dem die beiden jungen Männer sich noch einmal auf Kindesalter verjüngen. Nicht nur zu ihrem Vorteil entgegengesetzt altern im Zeitraffer. Der Nachteil eines Kindes ist die Naivität—wie es auch sein Vorteil ist. Bevor sie zum Geschäftlichen kommen, sagen sie, reden sie erst einmal über alles Mögliche. Um warm zu werden. Sie reden über Kate. Henry sagt manchmal ist das wie im Porno. Mit schlagen, kratzen, beißen und Sperma im Gesicht. Sie findet das gut, wenn es ihr über den Körper läuft. Mit Cleo würde er so etwas nie machen. Findet er irgendwie schmutzig. Mit der eigenen Freundin. Da geht auch Anal nicht. Aber mit Kate alles kein Problem, sagt Henry und dreht sein Hörgerät leiser. Es hallt ganz schön im alten Gewölbe. J. wiederholt sich und schlägt Henry auf die Schulter und sagt wie clever er sei. Henry versteht—noch immer—nicht. Ist doch ganz einfach, sagt J. Cleo fliegt am Montag nach Berlin und bleibt für ein paar Monate und du hast dir gleich einen Ersatz organisiert, das ist clever. Organisiert, denkt Henry, typisch Deutsch. Der Hass auf Deutsche ist in England immer noch relativ hoch, weshalb J. meist verschweigt, dass er aus Deutschland komme. Ein bis zweimal sei es schon vorgekommen, dass man ihn als Nazi beschimpft hat—ohne Anlass, wie er meint, nur wegen seiner Herkunft, wovon er überzeugt ist. Nachdem J. Henry noch einmal auf die Schulter gehauen hat, reden sie über AIDS, die immer mehr erforschte Krankheit, die tausenden das Leben kostet. Das muss aber nicht mehr lange so sein, sagt J. Er habe eine Bericht gelesen in einem deutschen Magazin, dass mal für politische Furore sorgte. Seit Bekanntwerden der Krankheit vor 15 Jahren war nichts als Frust von Forschungskongressen zu hören. Nichts als Enttäuschung, sagt er begeistert und man fragt sich, was er mit AIDS zu tun hat. Noch vor zwei Jahren hieß es, die Krankheit sei unheilbar. Eine moderne Seuche, der die Medizin nicht gewachsen ist. Man fühle sich wie im Mittelalter, nur das man von Viren wusste. Aber—Schrecken der Neuzeit—das Wissen war unnütz und es machte keinen Unterschied, ob man von dem Virus wusste oder nicht. Tödlich ist es nahezu in jedem Fall. Aktuelle Studien zeigen ein anderes Bild. Der Fehler war, nur ein Medikament zu benutzen. Heutzutage muss ein HIV-infizierter bis zu 26 Präparate am Tag nehmen. In einem festem Plan. Wahnsinn, sagt Henry. Ja, stimmt J. ihm zu. Aber was willst du machen? Das Virus mutiert so schnell, sagt J., dem musst du ein ganzes Arsenal an Tabletten entgegensetzen, dass es keine Chance hat. Ein New Yorker Arzt entlässt bereits Patienten als geheilt. Andere sagen, dass sei zu früh. Manche sagen, Gott habe die Krankheit als Bestrafung den Menschen geschickt. Wie damals in Sodom und Gomorrah nur subversiver. Gott sei eben nicht mehr der alte Haudegen. Manche sind ganz schön benebelt meint J. und beide lachen. BSE, J. sagt England verweigere eine gemeinsame Lösung in Europa. Eine europäische Lösung. Eine europäische Lösung, äfft ihn Henry nach. Ihr nehmt die Sache nicht ernst, spricht J. Henry als Volksvertreter Englands an. England benimmt sich wie ein verkapptes Inselvolk. Henry meint, man muss auch locker lassen können. In zehn Jahren redet kein Arsch mehr über BSE. Die beiden schweigen. An der Wand blättert und bröckelt das alte rot-blaue Logo der Station. Das ist Smalltalk und keine politische Diskussion. In der U-Bahnstation singt Patti Smith. Sonst ist es ruhig. Geradezu gespenstisch still. Henry und J. starren ins Gleisbett. Die Neonröhren zucken und zischen. “Also hier ist der Deal”, sagt J. und beide blicken unverändert geradeaus. “Es gibt eine deutsche Firma, die Sprühdosen herstellt und die heißt Spray-Color und die Dose heißt Sparvar”, bemüht er sich das deutsche Namensgebilde englisch auszusprechen. Der Deal ist: wir importieren die Dosen zu einem guten Preis. Ich habe einen Kumpel, der heißt Sven, der hat Kontakte zur Firma und kann uns die Dosen zu einem guten Preis verscheuern. Fabrikpreis, nennt J. das. Henry unterbricht und fragt woher er diesen Sven kennt. Alte Kontakte, erwidert J. süffisant augenzwinkernd und grinsend. Mit einem Deut von: du weißt schon und frag besser nicht nach. “Wir verkaufen sie weiter”, setzt er fort. “Abnehmer habe ich auch. Du siehst alles ist geregelt. Der Kauf aus Deutschland und der Verkauf in England alles easy. Aber ich habe eine Problem mit dem Startkapital, als deutscher Staatsbürger bekomme ich kein Geld hier in England. Ich bekomme weder einen Kredit noch ein Konto. Aber du bist Brite, du hast ein Konto und könntest sicherlich bei der Bank nachfragen. Die Sache ist die, es lohnt sich nicht für 500 Pfund Dosen zu kaufen, wir müssten mindestens für Zehntausend Pfund einkaufen. Damit wir, für sagen wir Zwanzig verkaufen. Verstehst du? Für Zehn kaufen wir ein und für Zwanzig verkaufen wir. Dadurch dass du den Kredit holst und ich den Rest mache, machen wir fity-fity. Jeder Fünftausend. Wenn wir clever sind legen wir

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die sofort wieder an und machen aus ihnen erneut Zwanzigtausend, die wir wiederum anlegen und deinen Kredit bedienen, natürlich nicht alles auf einmal. Am Ende bauen wir uns so ein kleines wachsendes Geschäft auf und es ist noch nicht einmal geklaute Ware. Wir sind so etwas wie eine Importfirma. Was denkst du Henry?” Henry dachte nach. Sagte erst einmal nichts. Öffnete sich ein neues Bier und schnippte den Deckel in das tote Gleisbett. Das Ganze klang plausible. Er würde Cleo nichts erzählen. Am Montag geht ihr Flieger nach Berlin und wenn sie wieder kommt, hat er Geld. Endlich Geld. Endlich nicht mehr klauen gehen müssen und sich mit schlecht bezahlten Grafikerjobs rumschlagen. Ab und an mal Kate vögeln, das hat mit den Jobs nichts zu tun. Klar. Aber endlich Geld und er kann mit Cleo besser leben. Vielleicht eine richtige Wohnung mieten. Raus aus der Fabrik. Es klingt plausible, denkt er nicht mehr, sondern sagt es zu J., der neben ihm sitzt auf der einzigen Bank weit und breit. Eine Frage hat er aber noch, warum englische Sprayer so auf das deutsche Zeug abfahren. “Keine Ahnung, antwortet J. und fasst sich an die Glasrahmen Brille mit den orangen Gläsern. Keine Ahnung Henry, vielleicht hält das Zeug ja gut auf Aluminum. Ist das wichtig?” “Nein, sagt Henry.

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s gibt einen Anschlag. Menschen sterben. Werden verletzt. Seelisch, körperlich und so weiter. Furchtbares Ereignis schrecklich. Denunziant von Menschenrecht und Verräter von Menschenwürde. Der Mensch, der dem anderen etwas antut, der verrät sich selbst und seine Würde. Wenn ein Mensch angegriffen wird, dann verringert sich nicht der Wert des Angegriffenen, aber womöglich des Angreifers. Ich denke da sind wir ganz bei Fromm und Buber und Meister Eckhart. Die gesamte Menschheit findet sich versammelt in einem Menschen. Bringst du einen Menschen um, löscht du die gesamte Menschheit aus. Rettest du aber einen Menschen, rettest du die ganze Menschheit. Die Theologen unter uns, freuen sich sicher über diese Paraphrase. Da sind wir d‘accord denke ich. Aber was ich nicht verstehe ist, warum man es nicht dabei belassen kann. Trauerrede, Trauermarsch und Trauerjahr oder zwei oder drei oder fünfzig oder hundert. Stattdessen man der Opfer gedenkt und deren Hinterbliebenen. Schließlich ist eigentlich egal warum jemand gestorben ist. Tot ist tot. Jemand der bei einem Orkan, Tsunami, Erdbeben bei der Kernschmelze in einem Atomkraftwerk wie vor einer Dekade, umkam ist genauso so tot, für immer weg, wie jemand der erschossen wurde. Aber nein es finden Debatten statt. All die Zwanghaften, Gewissenhaften und Herrschsüchtigen unter uns spüren endlich Aufwind, denn die Zauberworte der Stunde heißen Kontrolle und Prävention. Man muss mehr kontrollieren. Mehr vorbeugen. Mehr überwachen. Mehr spionieren. Mehr durchleuchten. Einen Teufel muss man. Aber der anankastische Charakterzug eines Menschen sagt ihm, wenn du nur mehr kontrollierst, passiert dir nichts. Aber das ist Bullshit. Wenn ich mehr kontrolliere heißt das nicht unbedingt, das weniger passiert. Und ein anderer Punkt, natürlich aus meiner Sicht dieser professionellen Sicht, man verkauft sich selbst, den Anderen und dem Wir, dass mehr Kontrolle als ein Geschenk, eine wunderbare Intervention, als ein Medikament ohne Nebenwirkung funktioniert. Das ist der Haken, die Krux und der Denkfehler, mehr Kontrolle erkauft sich der Mensch über mehr Angst. Je mehr ich kontrolliere, desto eher erhält sich meine Angst und je eher wird sie stärker. Das klingt erst Einmal paradox. Das menschliche Gehirn ist plastisch, und es funktioniert nicht allein. Soll heißen es immer auf unser Urteil angewiesen. Im Fall von Angst funktioniert es etwa so: mein Gehirn signalisiert mir Achtung Gefahr und richtet meinen Körper darauf ein und ich nehme das wahr. Was ich nicht wahrnehme ist ein kleines Wort. Das Wort heißt oder?. Gefahr oder Fragezeichen. Mein Gehirn fragt mich, ob dieses und jenes eine Gefahr ist. Nun kann ich schlecht meinem Gehirn tatsächliche sagen Gefahr oder keine Gefahr. Sondern unser Gehirn beobachtet unsere Reaktion. In Schaltkreisen, Neuronen, Zellen, Verknüpfungen, oder in einer Vernetzung gibt es ein Beobachtungssystem, das sich anschaut, wie der Mensch reagiert. Körper und Geist sind keine Entitäten, sondern eine Beobachtung aus zwei Perspektiven. Und sieht das Gehirn a) ein Mensch kontrolliert eine Sache, dann weiß das Gehirn zwei Dinge: erstens die Angst ist richtig und zweitens: Kontrolle ist das Rezept dagegen und b) ein Mensch vermeidet eine Sache, habe ich Angst vor dem Bahn fahren und vermeide ich deswegen die Fahrt mit dem Zug, weiß und speichert mein Gehirn wieder beides. Das Gehirn ist ein williger Schwamm, der jede vermeintlich signifikante Beobachtung aufsaugt, abspeichert und unter Lernen verbucht. Die Angst ist gut und das ist das Rezept. Und nichts anderes passiert in der Gesellschaft. Kontrolle ist nicht kostenlos. Sie hat einen Preis. Worauf ich hinaus will: der Mensch braucht immer eine adäquate Verursacher-Hypothese. Es reicht nicht der Toten zu gedenken und den verbliebenen beizustehen, nein es braucht einen schuldigen, den ich dingfest machen kann. Ich lese in der Zeitung: CNN vermutet Islamisten hinter dem Anschlag auf Olympia. Und ich lese islamistischer Terror. Aber das erste was ich mich frage: korreliert Islamismus überhaupt mit Terror? Gibt es einen signifikanten unterschied zwischen Terror und islamistischen Terror? Und was ist das überhaupt islamistisch? Ist das wie christlich, jüdisch, hinduistisch, buddhistisch oder ist das was eigenes. Was wenn drei Hebräer einen Anschlag verüben, ist das dann jüdischer Terror? Manchmal wurde ich gern die Zeitung nehmen, einen Artikel der vor islamistischen Terror warnt. Und die Worte muslimisch, Moslem, Islam, islamistisch, in die Worte

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christlich oder jüdisch, Christen oder Juden, Christentum oder Judentum verwandeln und an die Zeitung zurück schicken oder selbst veröffentlichen. Um zu zeigen was für eine Farce das ist. Besser noch nur Juden, Judentum und jüdisch. Nicht weil ich irgend antisemitisch wäre, die Juden, sind mir genauso egal wie Christen und Moslems, aber um zu zeigen was für eine Farce das ist und manchmal erreicht man nur etwas durch die Übertreibung. Man denke an Bernhard und seine Auslöschung. Ein Vor- und gleichzeitig eine Nachteil ist heute die mediale Verbreitung. Vor Fünf Jahren hat ja noch kein Mensch von Internet gesprochen. Heute kann ich dort alles nachlesen, egal was ich wissen will, wo wann was passiert ist. Das wird in den nächsten Jahren sicherlich noch wichtiger. Ein Problem was ich sehe, wenn Terrormeldungen mitunter verebbt sind, können im Internet ganze Angst-Wellen ausgelöst werden. Reine Spekulation ist das, man wird das wohl erst in zwanzig Jahren sehen, wozu der Mensch im Internet fähig ist. Ein anderes Problem oder eine andere Herausforderung mit dem Internet, es wird das Individuelle auffressen. Oder sagen wir die Illusion des Individuellen. Im Internet, ich weiß nicht wie, werden Menschen sich irgendwann mitteilen können und das können sie per Email schon heute, aber die Email ist so etwas wie der Brief, es bleibt mehr oder minder privat. Der Mensch, so denke ich, braucht den Vergleich. Er sucht zu jeder Gelegenheit den Vergleich und das nicht um sich zu messen. Zu denken er sei besser als der Andere oder schlechter, sondern vor allem um sich in der Gruppe zu verorten. Passt mein Denken, wie ich mein Denken kleide, die Sprache schriftlich, zum Denken der anderen? So wird es eines Tages eine Plattform geben—vielleicht irre ich auch—eine Plattform wo der Mensch schreiben kann was in seinem Kopf vor geht und wie er sich fühlt und er wird sehen können, wie das beim Anderen ist und andersherum und so werden: das ich und das du sich einsortieren in die Gemeinschaft. Der Mensch wird am Du zum Ich, Buber. Und das wird sich gut anfühlen. Das wird umgehen wie ein Lauffeuer. Es wird von nahezu allen Menschen Besitz ergreifen. Der Mensch wird seine Gedanken und Gefühle, wie nie zuvor auf eine gleiche Ebene, einen selben Ton, eine exakte Art adjustieren können und das nicht nur mit zufälligen Nachbarn, sondern mit Menschen aus aller Welt, mit denen er ein Thema teilt. So wird er die Religion verloren haben und etwas neues gewonnen haben. Die Gleichschaltung des kollektiven Gefühls. Wie im Rausch, werden Ereignisse gefeiert und verteufelt werden. In Sekunden wird jemand ein bekannter und geliebter Mensch und in Sekunden von Tausenden verbrannt. Die Steine der modernen Steinigung bestehen aus Bits und Bytes und sie werden treffen, schneller treffen als jedes Stück Lehm und Ton. Es wird eine Verschleiß an Menschen geben. Hetzkampagnen und demagogische Agitation. Die Moral wird wieder Aufwind. Das Problem ist, die Wände des Glashauses sind naturgemäß durchsichtig. Im fortschreitenden Prozess, wird dem Mensch der Gesellschaft etwas abhanden kommen, von dem er nicht wusste, dass er es hat und schätzt. Ihm wird das individuelle abhanden kommen. Unter ausgemachten Codes, festen Onlineregeln wird alles etwa gleich sein. Durch immer leichtere Bedienung wird immer weniger Sein, zu immer mehr Haben und am Ende wird der Mensch feststellen: er unterscheidet sich nicht und am Tag wo er sich nicht mehr unterscheidet, wird er sich nicht mehr im Spiegel erkennen. Die emotionale Gleichschaltung und die Gleichsetzung, durch dankbar leichte Bedienung und Steuerung, der Gedanken wird in eine unheimliche leere führen. Aber noch schreiben wir Emails, als wären es Briefe und vielleicht irre ich mich auch. Ihr Robert Mhiver.

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ie S-Bahn, Typ 485D mit hochroter Lackierung­—wie direkt aus dem Geburtskanal, fährt parallel zur Straße in den Bahnhof Ostkreuz ein, der zu einer Art Nadelöhr der öffentlichen Verkehrsmittel geworden ist. Bereits vor acht Jahren hatte die Deutsche Reichsbahn, die inzwischen in der DB aufgegangen ist, Pläne zur Umgestaltung des Bahnhofs. Tobias sitzt in den queren Sitzreihen hat die Hände auf seiner Fahrradstange vor sich und sein Rucksack, um eine Lieferung leichter, liegt neben ihm auf dem Nachbarsitz. Er muss umsteigen, wenn er durch die Stadtmitte will und mit ihm steigt ein Mann aus, der die Miniform eines Komodowarans, in ein Handtuch gewickelt, trägt. Er presst das Reptil dicht an seine Brust. Es ist ein weißes Handtuch. Der Zug verlässt den Bahnsteig. Gegenüber die Straße. Ab und an sieht man noch einen, von aussterben bedrohten, Trabanten. Der Echsenmann presst das Reptil dicht an seine Brust, als müsse er denn Kaltblüter wärmen. Tobias das Fahrrad auf der Schulter noch immer ohne Luft und der Echsenmann, das Reptil auf dem Arm, laufen eine Treppe hinunter und stehen am Bahngleis. Alte Stahlpfeiler geben der Station ein Dach über dem Kopf und sind mit Graffiti besprüht. Tobias tritt an die Pfeiler heran und begutachtet das Graffiti. Lehnt gegen sein Fahrrad. Das Reptil auf dem Arm des Mannes schaut wie ein Baby über die Schulter des Mannes. Eine S-Bahn mit Polstern, wo mal die Holzklasse war, fährt in den Bahnhof ein. Typ 477 modernisiert. Tobias und der Mann steigen ein. Westkreuz zurück bleiben bitte. Dieser modernisierte und trotzdem alte Zug verfügt über keine Querreihen, deswegen steht Tobias mit seinem Fahrrad vor der Tür. Zwischen Vierersitzpaketen. Der Mann hatte selbst etwas echsenhaftes. Vielleicht war es die Gesichtsform, die merkwürdige Parallelen aufwies. Vielleicht hielten beide den Kopf ähnlich. Er schien unruhig. Über dem Vierersitzpaket schaute der Kopf der Echse. Schauten Echsenaugen Tobias an. Was er nicht sehen konnte, auf dem Revers des Mannes stand ein Schild mit Namen: Ruprecht. Praxis für Veterinärmedizin am Hauptbahnhof. Weiße Bahnhofgebäude. Graffiti. Tags. Gestuftes Dach. Grün. Sonnenlicht. Urbanes Gewächshaus. LKW. Bau-

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stellen. Graue Häuserreihen wenden sich von den Schienen ab. Drei Strommasten. Die nächste Häuserreihen histologisch etwa einer Lepra-Inflammation der Haut gleichzusetzen. Einzelne Satellitenschüsseln. Erker. Garagen. Tags in bunten Farben auf Erdgeschosshöhe. Kleingartenanlagen direkt an der Schiene. Alte Reifen. Eingefallene Häuser. Wieder Baustellen zugekleistert mit unsortierten Graffiti. Nächste Station Warschauerstraße. Warschauerstraße. Einsteigen bitte. Tobias gegenüber stand eine Frau, die eine ganze Packung Cashewnüsse aß. Sie schlang sie aber nicht hinunter, sondern aß sie Nuss nach Nuss. Die Arme vorne gestreckt, sah Sie ein wenig dabei aus, wie ein Tyrannosaurus Rex. Richtung Westkreuz zurück bleiben bitte. Der Echsenmann war inzwischen aufgestanden und hatte mit der Frau mit den Nüssen den Platz getauscht. Der König der gewalttätigen Dinosaurier in weiblich, isst eine ganze Packung Nüsse, als wäre sie im Kino. Westkreuz zurück bleiben bitte. Am Ende des Bahnwagons gab es eine Werbung für Seniorenheime darauf eine Frau. Tobias starrte lange auf die Reklametafel. Frau Meier 69 ein-halb stand wie jeden Tag und übergoss ihre Rosen. Ersäufte sie in Wasser. Jeder Gast, wie man die Bewohner des Altenheims nannte, bekam eine Stelle im Heim für sich zugewiesen. Darauf musste sie oder er aufpassen. Das Territorium oder sein Gebiet das kann ein Quadratmeter Keller sein, ein Stück Wendeltreppe, ein bisschen Dachboden, die Tischtennisplatte oder am Rosenberg ein Rosenbeet. “Frau Meier kommen sie mal rüber”, stellt sich Tobias vor, käme ein Pfleger zur verwirrten alten Frau. “Aber ich muss doch noch die Rosen gießen.” “Lassen sie das Gießen mal einen Moment.” “Wer sind sie überhaupt?” “Ihr Pfleger” “Nein mein Mann hat heute keinen Dienst. Passen sie auf, wenn der Nachhause kommt” “Ein kleines Foto, Frau Meier”, in der Bahn und Tobias der davor steht und sich vorstellt, was da passiert. “Sie sind ja Einer. Zäh wie eine Flunder. Lassen Sie mich in Ruhe.” Tobias muss über Frau Meier lachen. “Nur einen Schritt von der Hecke weg.” “Nein, nein, wenn mein Mann Nachhause kommt soll er es schön hab.” Der Pfleger entfernt sich kurz, stellt sich Tobias vor und denkt sich auch der Ehemann ist wahrscheinlich schon lange tot. Und kommt erneut zu ihr: “Frau Meier, hallo wie geht es ihren heute?” “Mir?” “Ja ihnen.” “Gut, ich muss die Rosen gießen”, sagte sie in kränklicher Stimme. “Frau Meier, passen Sie mal auf, ich habe ein ganz besonderes Wasser.” “Besonderes Wasser? Was soll das denn sein?” “Ja mit Elefantenguano. Ganz was spezielles. Aus Afrika”, redet der Pfleger auf sie ein und holt sie hinter der Hecke vor. “Aus Afrika”, ruft die staunende und demente Frau aus und ihre alten Augen blitzen hinter einer Hornbrille und unter lila Haaren auf. Frau Meier, stellt sich Tobias vor, hatte Schuhe an, die wenn sie auftritt elektronisch aufblinkten. Weil ihre Füße kleiner geworden waren, passten ihr auch Schuhe aus der Kinderabteilung. Schuhe, die beim Auftreten leuchten sind dort der neuste Schrei. “Frau Meier, lächeln Sie mal!”, ruft der junge Pfleger und schießt ein Foto von der Rentnerin, die daraufhin wie angewurzelt und ausgesaugt neben ihrer Hecke steht. Später wird man unter ihr Foto schreiben: wir gehen auf Ihre Wünsche ein. Mit 120-140 Millionen Mark jährlichem Defizit, war die fahrende DDR-Präsenz der Deutschen Reichsbahn ein Dorn im Auge, der Ost-Berliner Regierung und man sah sich gezwungen Sparmaßnahmen zu ergreifen. Sparmaßnahmen wie Regierungsautos—Luxuskarosserien auf Steuerkosten—zu verkaufen, aber auf die Idee kam um 1980 keiner. Der erste Vorschlag der Regierung die S-Bahn alle 40 Minuten in West-Berlin verkehren zu lassen, stieß auf nichts als Empörung. Der zweite Versuch die Stadtbahn lediglich zwischen Fünf und 21 Uhr fahren zu lassen, ausgenommen der zerstückelten Ringbahn, stieß auf ebenso wenig Gegenliebe. Weiterhin hieß es, der West-Arbeiter leide unter Ost-Verhältnissen. Durfte seinen Arzt nicht frei wählen, musste Überstunden nach Überstunden schieben und arbeitete insgesamt unter West-Standart. Nach versprochenen Lohnerhöhungen, die ziemlich schmal ausfielen, kam es zum Streik. Fahrende S-Bahnen wurden entleert und abgestellt. Der Güterverkehr kam zuzüglich zum Erliegen. Ab 18.9 residierte das zentrales Streikkomitee im Containerbahnhof Moabit. Die Stellwerke Halensee und der Zoologische Bahnhof wurden besetzt, was den Transitverkehr unterbrach. Fahrende Züge wurden in die Bahnhöfe zurück gedrängt. Vier Tage später konnte die Ost-Berliner Reichsbahn mit der Hilfe sowjetischer Soldaten die Stellwerke wieder in ihre Gewalt bringen. Daraufhin stiegen die meisten Zugführer, auf Raten der Eisenbahner Gesellschaft, aus und kündigten. Womit gleichzeitig etwa 72 Kilometer S-Bahnstrecke stillgelegt wurden—etwa die Hälfte der West-Berliner Bahn-

strecke. Letztlich wurden damit die toten Strecken dem Verfall und dem Vandalismus preis gegeben. Die S-Bahn fährt in den Bahnhof ein, der seit knapp zehn Jahren Hauptbahnhof heißt, was schon für einige Irritationen sorgte. Der Tierarzt Ruprecht mit der Miniform des Komodowarans steigt aus. Seit Neustem bietet man einen Service an, kranke Haustiere von Zuhause ab zu holen. Die S-Bahn fährt wieder und passiert die Stationen: Jannowitzbrücke, Alexanderplatz, Hackescher Markt und Friedrichstraße. Tobias denkt sich, die Sache mit der Firma kann Johanna vergessen. Das macht er nie. Am besten noch zusammen im Bauwagen mit Vater und Bruder zusammen. Auf keinen Fall. Aber angeschaut hat er es sich. Wie versprochen. Das war‘s aber auch. Er wird ihr sagen—sagen müssen, denkt er, es kommt nicht in Frage. Es tut ihm leid, aber das macht er nicht. Er ist nicht nach Berlin gekommen, um dasselbe Leben wie in Stockholm zu führen. Er ist nach Berlin gekommen, weil es billig ist. Weil man nicht fünf Tage die Woche einen Job machen muss, den man eigentlich beschissen findet. So sehr sie es sich auch wünscht, aber da hätte er auch in Stockholm bleiben können. So einfach ist das. Ein bisschen ist er ja auch wegen ihr nach Berlin gekommen. Für sie, wegen der Musik. In Stockholm hört kein Mensch Techno. Da muss man dabei sein, hat sie ihm gesagt. Da passiert gerade, was großes in dieser Stadt. Nur für ein oder zwei Jahre, hatte sie ihm gesagt. Wird sie sich spätestens am Sonntag für ihre Worte verfluchen. Meist kann er ihr verschweigen, wenn er sich mit Sven trifft. Sven war ein typisches Beispiel für ein Kind aus der gehobenen Mittelschicht. Als die Eltern sich trennten, wurde er auffällig. Schwänzte die Schule. Wurde rauchend vor dem Einkaufszentrum gesehen und hatte Kontakt zu ungünstigen Menschen. Johanna mochte ihn nicht. Sie glaubte er übe einen schlechten Einfluss auf ihren Freund aus. Manchmal sagte sie das auch. Aber sie wusste auch, jeden Einfluss, den sie selbst auf ihren Freund ausüben wollte, verkehrte sich ins Gegenteil. Also sagte sie meist nichts. Sein Vater ist Zahnarzt und seine Mutter auch. Beide teilten sich die Praxis in der sie sich kennenlernten. Schöne Sache. Sven wollte auch immer Zahnarzt werden. Dann kam der Tag, als sein Vater die Bettina einstellte. Sie kam aus Berlin wie die Familie Svens auch. Und fand es irgendwie burschikos, sagte sie, dass ein Berliner Zahnarzt eine Praxis fast in Oranienburg hatte. Das war zum Einstellungsgespräch und Svens Vater lachte, über die Verwendung des Wortes Burschikos. Was denn daran Burschikos sei, eine Praxis außerhalb der Stadt zu betreiben. Bettina sagte, das habe etwas kolonialistisches und lachte ihr Bettina-Lachen. Und Svens Vater lachte sein Lachen. In der Nacht vom 12.8 zum 13.08.1961 besetzte die NVA die Stellwerke im Grenzgebiet. Sobald der letzte Zug passiert war, riegelte man die Grenze ab, wie man die Gleise demontierte. Die Mauer baute man an einem Wochenende—was sich letztlich als nicht so clever herausstellte. Viele Ost- und West-Berliner waren zu Besuch auf der jeweils anderen Seite und verstopften am Sonntag die neuen Grenzübergänge. Man ließ sie passieren und sie hatten keine Ahnung, dass sie sich erst in 28 Jahren wiedersehen werden. Gemeinhin nimmt man ja an, so eine Grenzziehung wäre eine relativ saubere Sache. Etwa wie ein Skalpellschnitt. Dem ist aber leider nicht so. Zwischen Treptower Park und Sonnenallee stand tagelang ein Zug, weil sowohl vor, als auch hinter ihm die Gleise abgebaut waren. Da fragt man sich, was hat der Lockführer in dem Moment gemacht? Ist er ausgestiegen hat seine Mütze auf dem Boden geworfen und auf die Politik geflucht? Nach vier Tagen rief Willy Brandt, seinerseits regierender Bürgermeister des eingekesselten West-Berlin, zum Boykott der S-Bahn auf. Kein Pfennig für Ulbricht. Jeder West-Berliner S-Bahnfahrer bezahlt den Stacheldraht, hieß es aus dem Rathaus Schöneberg. Dabei war Willy Brandt auch kein Berliner. Als die Alliierten nach Berlin kamen, hatten die Sowjets die Infrastruktur für sich Vereinnahmt, was besonders den öffentlichen Nah- und den Güterverkehr betraf. Man ließ es dabei und so war die S-Bahn eine Sache der DDR. Mit Brandts Aufruf zum Boykott wurde die S-Bahn endgültig eine Angelegenheit des Ostens, die man von der Westseite aus, nicht finanzieren wollte. Zur Kompensation wurden Buslinien eingerichtet und langsam verfiel die S-Bahn in West-Berlin. Eine Generation später, hieß es, man wolle den öffentlichen Nahverkehr das S-Bahnnetz wieder in den Zustand von 1961 versetzen, was ein Euphemismus und symbolisch gemeint war. Heute heißt es, im nächsten Jahr soll die Verbindung zwischen Westend und Jungfernheide wiederhergestellt werden. Bis sich der Ring schließt wird es aber noch eine Weile dauern, davon geht man zumindest aus. Tobias sitzt inzwischen auf einer Bank auf dem Bahnsteig Bundesplatz und wartet auf seinen Freund Sven. Der Vater von Sven war und ist glatzköpfig, es ihm ganz gut steht, wie die schwarze Hornbrille. Bullig männlich war seine Erscheinung. Er fuhr BMW. Wenn er im Behandlungszimmer im Mund seiner Patienten fuhrwerkte und herum wühlte, wie ein Mineur im Stollen, konnte er aus dem Fenster auf seinen BMW schauen. Und ein zufriedenes Lächeln ließ seine Zähne hervorblitzen. Svens Mutter behandelte im Raum nebenan, auch sie konnte das Auto ihres Mannes sehen, währenddessen sie in den Mündern der Patienten arbeitete. Bettina, die Assistentin, die Svens Vater, wegen den Worten Burschikos und Kolonialistisch eingestellt hatte, klagte, Zeit sie in der Praxis arbeitete, über Knacken im Brustkorb. Und wenn kein Patient im Behandlungszimmer des Vaters war, stellte er sich hinter Bettina, schaute auf sein Auto und flüstert ihr ins Ohr: “wenn der Unterkiefer, wie bei dir, leicht schräg ist und du

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omben, Anschlag, Terror, der Kampf gegen den Terror—davon ist bei Kalmar und Öland nicht viel zu merken. Der schwedische Radiosender Sveriges P2 bringt erst Gone Again von Patti Smith von ihrer neuen CD und im Anschluss erzählt der Nachrichtensprecher etwas von Dolly dem ersten geklonten Schaf und ganz nebenbei schleicht ein hellelfenbein farbiges Taxi mit Berliner Kennzeichen, Hufeisen im Kühler und röhrendem Motor durch die Stadt Kalmar, der 32000 Einwohner schweren Stadt an der Ostküste Südschwedens. Das Taxi fährt in der Altstadt vorbei an prächtigen Bürgerhäusern, Antiquitätengeschäften und kleinen Boutiquen. Mit einem Brückenschlag hatte man sich, 1972, die Insel Öland eingemeindet. Aus Tourismus-Perspektive eine Win-win-Situation. Seither ist die Insel im dreimonatigen Sommer touristisch ausgelastet, wie man sagt. Das Schaf ist nicht einmal einen Monat alt und wird als größte wissenschaftliche Sensation des Jahrhunderts gefeiert, übersetzt die Taxifahrerin Schlichter das Radio, der auf dem Beifahrersitz mehr döst als ihr zu hört. Nebenbei, bemerkt der Moderator, ist es nach der berühmten Countrysängerin Dolly Parton benannt und zwar wegen ihrer enormen Brüste, gestand der Erschaffer Dollys. Das soll daran erinnern, dass Dollys Spenderzellen aus einem Schafseuter stammen. Das Lachen des Radiomoderators wird von Partons ein Jahr altem Song: Something Special, abgelöst. Tagebuch der Fahrerin neunter Eintrag: Ich fuhr auf einem kleinen sandigen Parkplatz, der etwas unterhalb der Brücke lag, und stellte das Auto ans Wasser, bevor ich nach Öland übersetzte. Eine alte Angewohnheit. Aus einer alten Angst vor Brücken. Das liegt lange zurück. Heute gedenke ich dieser Angst vor Brücken, in dem ich für einen Moment anhalte, aussteige und inne halte. Schlichter war eingeschlafen als wir durch Kalmar fuhren, ich ihm das Radioprogramm übersetzte und wurde davon wach, dass wir standen. Er erhob sich vorsichtig, wie ein scheues Kind und schaute aus dem Fenster, als würden wir verfolgt und er müsse sich verstecken. Armer paranoider Schlichter. Vor ihm lag die sechs Kilometer lange Ölandsbron. Ich hatte den Motor laufen lassen. Die Fenster waren herunter gekurbelt. Es war warm. Schlichter strich sich ein paar Haare aus dem Gesicht und fragte was ist, ich sagte: nichts und stieg wieder ein. Vor uns die Insel Svinö, dahinter verborgen Öland. Ich schnallte mich an und wir setzten über. Schlichter schlief wieder ein. Er hatte gesagt er möchte etwas schönes sehen. Das passte gut, wo doch die Ölandsbron eine der längsten Brücken Europas ist und Öland auch gar nicht so unansehnlich ist—sicher das war nicht der Anlass, warum wir auf die Insel fuhren. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt wacht Schlichter auf und greift wie automatisch zum Glove-Compartment und holt seine Dose Kaugummi heraus. Aus dem Augenwinkel wird er beobachtet. Die Dose klackert, wie immer, er schnippt die Öffnung nach oben und träufelt sich einige helle kaugummi-artige Gebilde auf die Hand und schmeißt sie ein. Im ersten Moment wirkt Öland, die Insel der Sonne und Winde, auf den Besucher karg und trist. Beinahe Grau scheint die zweitgrößte Insel Schwedens. An sich liegt sie auf einer Hochebene, deren höchste Erhöhung 57 Meter über dem Meeresspiegel misst. Weiterhin fällt die Hochfläche nach Osten hin ab und bildet im Westküste Terrassen. Ein paar Grad mehr und man könnte Wein anbauen. Auf den zweiten Blick wundert man sich über: die Steppe, die Stora Alvaret, im Süden Ölands, was als Vegetationsform in Nordeuropa einmalig ist. Den Leuchtturm am äußersten südlichen Zipfels der Insel. Man denke an Jarvis Cocker in diesem Moment. Ganz zu Schweigen von Flora und Fauna. Hier und da sind Windmühlen auf der Insel verstreut. Von 2000 stehen noch 200 Windmühlen. Die Insel war schon früh besiedelt und besitzt auch heute noch einige antiken Stätten, Grabfelder, Runensteine aus der Wikingerzeit und Fluchtburgen, welche von der letzten Eiszeit bis ins Mittelalter immer mal wieder bewohnt waren. Nördlich der Ölandbrücke finden sich bis

zur einzige Stadt der Insel, Borgholm, üppige und urige Laubwälder. Zwischen all den Blätterwerk verstecken sich einige Bauernhöfe und Gehöfte, manche davon sind noch immer in Betrieb. Unterhalb von Brogholm befindet sich das Schloss Solliden. Man mag hier einziehen und eine Fortsetzung zu Schloss Gripsholm schreiben. Erbaut hat man das Schloss zwischen 1903 und 1906 im Auftrag der Königin Viktoria, die ihrerseits mit dem Arzt und Schriftsteller Axel Munthe befreundet war. Munthe besaß eine Villa auf Capri, der Felseninsel im Golf von Neapel. Das war die Villa San Michele. Zeit ihrer Freundschaft war Königin Viktoria sehr angetan von der Villa San Michele. So kam es, dass das Schloss Solliden nach dem Vorbild der Villa erbaut wurde. Die Bezeichnung Schloss ist hierbei etwas irreführend, denkt man an Sanssouci in Potsdam, das Schloss Schönbrunn in Wien oder gar Versailles in der Nähe von Paris, denn Solliden war nicht zu repräsentativen Zwecken errichtet worden, sondern als Sommersitz der königlichen Familie. Um mal raus zu kommen, aus dem Regierungsgeschäft. Um mal, in den angeschlossene Parkanlagen, abzuschalten. So ist das Schloss mehr eine großzügige Villa, als ein Schloss. Inzwischen stehen diese jedem Besucher offen. Noch heute feiert Königin Viktoria ihren Geburtstag im Sommer auf Öland in Schloss Solliden. Nördlich von Borgholm verfügt die Insel über einen ausgesprochen sagenhaften, wie alten Wald. Betagte Kiefern stehen sturm-gebeugt am Rande der Insel in ihrem Bett aus Sand und Erde, hohle Eichen gebeutelt von der Zeit mit immer schrecklicheren Fratzen je tiefer man in den Wald geht, Efeu kriecht wie ein Pilz am Waldboden entlang—das ist der Trollskogen, der Zauberwald. Ganz in seiner Mitte steht die älteste Eiche Ölands, die Trolleken, die Zaubereiche. Tagebuch der Fahrerin zehnter Eintrag: wir fuhren auf der 136 und nährten uns dem Ziel. Umso besser ist, ich nehme an, Ernst Edwin Schlichter hatte keine Ahnung wo wir uns befanden. Öland, auch Insel der Steinmonumente wurde ab circa 7000 vor der Zeitrechnung von Jägern und Sammlern bewohnt, davor lag das Eiland unter dem Meeresspiegel, was im Norden deutlich an der Felsküste zu sehen ist. 3000 Jahre später beginnt auch auf Öland der Ackerbau. Immerhin mit 5000 Jahren Verzögerung zur anatolischen Hochebene. Die Warnen, ein germanischer Volksstamm, der ursprünglich auf dem Land lebte, verließ die Insel im Zuge der Völkerwanderung um circa 400 bis 500 vor der Zeitrechnung. Warum weiß kein Mensch. Übrig geblieben sind drei Burganlagen die sogenannten Fluchtburgen. Man munkelt, es war einfach zu kalt. Bis in das Mittelalter hinein blieb es relativ ruhig um die Insel. Bis die Kalmarsund, das Stückchen Nass zwischen Öland und Kalmar, wieder zu einer wichtigen Seestraße wurde. Welche prominent in den 400 Jahren zwischen 1300 und 1700 im Schwedisch-Dänischen Krieg und besonders während des Kalmarkrieges von 1611 bis 1613 genutzt wurde. Nominell ging es im Kalmarkrieg die Herrschaft der Lappen. Ein Volk in Nordeuropa, welches man Heutzutage die Samen nennt. Eigentlich waren jedoch wirtschaftliche Interessen Auslöser für den Krieg, nämlich Fisch- und Fellhandel. Letztlich unterlag die schwedische Flotte an der Südspitze Ölands den Dänen. Man mag sagen, das Kap der schlechten Hoffnung oder bitteren Verheißung. Darauf folgten Zehn Monate dänische Besetzung, wobei über 300 Bauernhöfe zerstört worden. Im Süden Borg­ holms hat man als Andenken ein Kreuz aus Kalkstein hingestellt. Von 1569 bis 1801 wurde die Insel königliches Jagdgebiet. Für die Bevölkerung ging das mit einer Reihe von Verboten einher. Das Verbot Bäume zu fällen oder den königlichen Wald aufzuforsten—überhaupt irgendwie anzutasten. Das Verbot einen oder mehre Hunde zu besitzen. Das Verbot jagen zu gehen—was wohl relativ weit oben gestanden haben muss. Königliches Jagdgebiet war also gleich zu setzen mit Zeit der rigiden royalen Inhibition, unter welchen die Bewohner Ölands litten. Zum Beispiel durch den Schaden, welchen das königliche Wild an den Feldern der Bauern anrichtete. Relativ spät, um 1850, kam es zum Aufstand der Bauern des heutigen Ökoparks Böda, weshalb der Aufstand auch Bödaaufstand genannt wird. Das Böda-Gebiet war das letzte der königlichen Jagdgebiete und musste, nachdem die Verbote für die anderen Regionen Ölands um 1801 gelockert worden waren, weiter mit der königlichen Repression leben. Die Bauern behalfen sich mit kleinen Holzdiebstählen, welches sie für den Hausbau, das Betreiben der Kalkbrennereien und der Gewinnung von Teer nutzten. Am Ende standen die Bödabauern vor Gericht in einem Prozess, den sie verloren und selbst zum Aufstand aufriefen, welcher von 110 schwedischen Soldaten blutig nieder geschlagen wurde. Der Staat erwarb einen Hof und richtete dort eine Baumschule ein. Der erste Jagdmeister der Baumschule ein gewisser Bohmann, veranlasste eine umfangreiche Aufforstung. Hatte man doch festgestellt, dass es erhebliche Löcher im Wald gab. Auch um eine problematische Ausbreitung der Versandung der Insel zu verhindern. Ferner setzte Bohmann einige in Öland bisher fremde Bäume ein. Noch heute finden sich auf der Insel Douglasien, Riesenlebensbäume und Weymouths-Kiefern, welche auf Arbeit Bohmanns zurück gehen. Nebenher stieg, von 1810 bis 1870, die Population um 60% auf 38000 Öländer. Die Landwirtschaft hatte große Schwierigkeiten die Bewohner zu versorgen und wrang den kargen Boden Ölands wie einen Schwamm aus—oder quetschte ihn aus, wie eine Zitrone. Was sich letztlich negativ auf den Wasserhaushalt des Eilands auswirkte und in Folge einer Kette von ökologischen Ereignissen eine Agrarkrise verursachte. In einer ersten Auswanderungswelle verschlug es viele Öländer nach Dänemark und Deutschland. In einer zweiten Auswanderungswelle war das Ziel der Insulaner Amerika. Da war Rutherford Birchard Hayes gerade amerikanischer Präsident. Zu Rutheford ist nicht allzu viel zu sagen, außer vielleicht, dass er erste Präsident war, der offiziell die Westküste bereiste und auch

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die Angewohnheit hast, die Deformation—die leichte Deformation”, verbesserte er sich. “Durch Knirschen noch zu unterstützen, wirkt sich das auf deine Muskelgruppen im Brustkorb aus. Und er sagte ihr, mit ein bisschen Training könnte man dem gut entgegen wirken und drückte auf Bettinas Brustbein, wobei seine Fingerspitzen den Ansatz ihrer Brüste berührte. Im Nebenraum versorgte seine Frau Löcher, wo keine waren. Er war ein praktischer Mann. Er war ein Mann, der gerne davon sprach man müsse dagegen wirken. Einer, der gern interveniert. Homo Intervenire Sapiens. Der Mensch, der dazwischen geht. Das war ein Gefühl wie selbst der Widerstand zu sein. Als die Trennung im Raum stand, war Sven gerade 16. Schwänzte die Schule, trank Alkohol, rauchte und wollte Grafittiartist werden, wie gesagt, gehobene Mittelschicht im Crash-Format. Sven und Tobias lernten sich kennen, als Tobias eine Lieferung für seinen Vater hatte, die Sven abfing. Kannst du mir geben. Das erste und letzte Mal, dass zwischen Sven und Tobias Geld floss. Es war ein Geschenk für Bettina, welches Sven in der Havel entsorgte. Bettina war nicht viel älter, als er und die beiden hatten so etwas wie ein Verhältnis unter Geschwistern. Nur das Svens Vater, sozusagen seine Schwester vögelte. Auf dem Zahnarztstuhl, Pragmatismus, die Mutter nebenan, reißt Löcher in die Zähne der Patienten und lässt sie von ihrem Mann stopfen, der unterdessen die Vagina Bettinas stopft, wie Gänsestopfleber, bis die Gans vor Fettleibigkeit umkommt. Sven begrüßt Tobias mit dem immer selben Handschlag. Er sagt, er müsse noch so ein Ding abwickeln, mit einem Deutschen, der in England lebt. Nennt sich JJJ—irgend so ein bekloppter Sprayername, den man auf Londons Tube öfter mal fahren sieht. Er braucht also noch eine Telefonzelle um da mal anzurufen. Wo anzurufen, fragt Tobias. In London oder so, sagt Sven.

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der erste Präsident war, der während seiner Amtszeit ein Telefon benutzen konnte. Ob er seine Reise vorab telefonisch plante, ist nicht bekannt. Auf Betreiben seiner Frau, Lucy Hayes, verbannte er Alkohol und Tabak aus dem Weißen Haus. Im Volksmund bekam sie dafür den spöttischen Namen: Lemonade Lucy. Auch heute ist die Einwohnerzahl auf Öland eher eine rückläufige Ziffer und zählt etwa die Hälfte der Population von 1850. Nach wie vor ist die Landwirtschaft Ölands wichtigster Erwerbszweig und macht etwa 25% der Gesamtlandmasse aus. Wobei sich die landwirtschaftlichen Betriebe von 2000 auf 1500 reduziert haben. Einzig die Tourismusbranche prosperiert in Öland und weist eine Konjunktur vor, allerdings nur in den drei Monaten Sommer. Die Raëlisten oder auch Raël-Bewegung wurde 1976 als MADECH französisch für mouvement pour l’accueil des extraterrestres, créateurs de l’humanité (Bewegung für den Empfang der Außerirdischen, Schöpfer der Menschheit) gegründert. Ein gewisser Claude Vorilhon alias Raël initiierte die Bewegung. Sie ist hinlänglich bekannt als Ufo-Bewegung. Es heißt Vorilhon sei von Außerirdischen entführt worden, die ihn mit—wer hätte es gedacht—einer Mission versehen hätten. Seine Vision ist wissenschaftliche Ideen und biblische Vorstellungen und eine Prise Sinnlichkeit überein zu bringen. Die R. glauben an die Elohim, menschenähnliche Wesen, die kognitiv und technologisch den Menschen weit voraus sind. Und eigentlich ist Elohim ein Gottesname aus der hebräischen Bibel—dem Tanach. Die Bibelforschung geht davon aus, dass der Name Elohim, streng genommen Plural zu Eloah, der polytheistischen Götterwelt Kanaans entstammt. Das Land der Kanaans fällt nicht zufällig mit dem Gebiet des Gelobten Landes zusammen, in welches die Hebräer etwa um 1200 vor unserer Zeitrechnung zogen. Die Kanaanäer waren vom Hauptgott El abhängig. In Ugarit, ein reicher Stadtstaat zwischen Homs und Aleppo in Syrien. Während der Bronzezeit ein wichtiger Knotenpunkt für Handel und Kultur. Wurde vom Seevolk, unbekannten Namens, um circa 1190 vor der Zeitrechnung zerstört. In Ugarit fand man Tontafeln mit zahlreichen Götternamen, dabei war auch El Aeljon. Auf den Tontafeln wurde E.A., als männlicher Schöpfergott beschrieben. Im ersten Buch Mose kann es sein, dass die Israeliten zum einen diesen Schöpfergott anerkannten und zum anderen ihn mit JHWH, ihrem Befreier aus der ägyptischen Sklaverei, identifizierten. Es wird vermutet, dass die Pluralform dabei gewählt wurde, um die Mannigfaltigkeit der Götter in einer Person in einen Gott zu manifestieren. Die Raëlisten sind mit den Erkenntnissen aus der Bibelforschung und der Bibel an sich d‘accord, allerdings meinen sie: wurden die Elohim nur fälschlicherweise für Gott gehalten. In Wirklichkeit seien sie eben jene Menschenähnliche Wesen, die in der Lage sind: die Landschaft zu verformen, Atmosphäre zu schaffen und Menschen nach ihrem Ebenbild zu klonen. Man nehme die alten biblischen Begriffe suche ihr neuzeitliches Pendant und tada, schon hat man den wissenschaftlich angereicherten Schöpfungsmythos. Da fragt man sich nebenbei auch, ob Kult und Religion nichts anderes, als die ewige Parentifizierung und Infantilisierung des Menschen ist. Mutter- und Vaterobjekt von Gott und Göttern abgelöst wird. Bald heißt es, seitens der Raëlisten, könne der Mensch auch Menschen klonen. Bis dahin müssen das die Elohim erledigen. Schrecklich angepassten Menschen und ihre Gottgeschichten. An Gott glauben heißt Regression leben, wenn Sie mich fragen. Die Raëlisten sind überzeugt, dass die Erde vor 22.000 Jahren erschaffen wurde. So dann entwickelte sich die Menschheit unheimlich rasant und errang rapide technische Fähigkeiten, die für sie an sich oder die Elohim zu gefährlich wurden. Daraufhin sahen sich die E. gezwungen die Erde erst einmal wieder zu zerstören. Man kennt die Geschichte der Sintflut von Noah und seiner Arche. Die Raëlisten sagen, die Elohim hätten die Erde in Brand gesetzt und zwar mit Kernwaffen. Woher dann das ganze Wasser kam, sagen die R. nicht. Noah zimmerte sich kein Schiff oder Boot, sondern war die Arche Noah eine Rakete, die er nach den Bauplänen der Elohim baute. Mit auf seine Reise in Richtung Umlaufbahn nahm er die reinen und unreinen Tiere nicht paarweise mit, sondern eine Art Katalog ihrer Erbinformationen, dass sie später geklont werden können. Ziel der Raëlisten ist es ein Botschaftsgebäude für den Empfang der Elohim zu errichten. Dafür (ver)suchen sie nach einer Immobilie in bester Lage zu finden—ein Konzept wie eine Mischung aus Judentum und McDonalds. Wahrscheinlich müssen die Elohim dann aber keine Pacht zahlen. Bis 2025 wollen die Raëlisten dieses Botschaftsgebäude errichtet haben. Sie bevorzugen dazu—Überraschung—das gelobte Land. Israel. Kommen die Elohim dann zurück auf die Erde, können Wissenschaft und Religion vergessen werden. Da sie von einer neuzeitlichen Apokalyptik abgelöst werden. Der Mensch und seine Wenn-Dann Formeln—wie aus Kindertagen. Apokalyptik ist griechisch und steht für Enthüllung, wird allerdings häufig mit Offenbarung übersetzt. Sind die Elohim gelandet und haben sich ein paar Tage von der Reise erholt, kommt es zur Endkommunion mit den Schöpfern. Kann man sich so vorstellen, wie zurück in den Schoss der Mutter zu kriechen. Im Anschluss wird den Auserwählten ein Gottgleiches Leben auf der Erde, als Klon unter Klonen, gewährt. Ein sorgenloses und verantwortungsloses Leben wie in Garten Eden. Einen ersten Beweis für das Klonen sehen die Raëlisten im geklonten Schaf Dolly. Wenn Sie mich fragen, sollte eher Partons Busen als Gottesbeweis dienen und nicht das Geblöke eines Schafes.

Auf Öland gibt es eine Gruppe dunkel-haariger Schweden. Bei denen Haare-färben das Aufnahmeritual ist oder auch Initiationsritual. Wenn man in der Sekte geboren wurde, muss man sich mit 14 die Haare färben. Das gilt natürlich nur für die Sektenmitglieder, die nicht von Natur-aus dunkle Haare haben. Die Ölander Sekte sieht sich als eine Art inoffizieller Ableger der Raëlisten, die den kurzen Jahren zum Millennium entgegen fiebern und behaupten die Welt wird in ein heilloses Chaos versinken, siehe Saddam Hussein und andere. Die öländischen Raëlisten behaupten nur ihre Insel werde verschont und so die neue Weltmacht. Der Einäugige und die Blinden. Es sei nämlich ein Irrtum, dass Israel das gelobte Land sei, das war es mal, sagen die Raëlisten aus Öland. Aber wegen der inflationären Verwendung dieses Landstriches werden die Elohim sich auf Öland niederlassen, glauben die Sektenmitglieder. Es gibt sogar innerhalb der Gruppierung einen Minister für Asylrecht und einen für Einwanderungspolitik man rechnet damit, dass erst aus Skandinavien und dann aus der ganzen Welt Flüchtlinge, Menschen jeglicher Hautfarbe und Alters und Glaubens kommen werden, um auf der Welt-Hauptstadt öland zu wohnen. Man sagt, man sei bereit. Man sei bereit Fluten an Menschen aufzunehmen. Man denke bereits über Projekte nach wo Menschen ihren eigenen Wohnraum schaffen. Gegebenenfalls müsse Öland vergrößert werden. Man träumt von einem zweiten Öland. Zwischen dem alten Öland und Gotland. Eventuell wird man die drei Inseln mit Brücken verbinden. Aber das ist Zukunftsmusik. Aber man muss sich der Zukunft gewahr sein. Man müsse wissen, dass sobald es soweit ist, binnen Sekunden die ganze restliche Menschheit davon wüsste, denn mit der Erfindung des Internets, eine Art weltweites Informations- und Kommunikationsnetz und der Email, einer Art elektronischer Brief, könne jeder jeden binnen Sekunden erreichen. Das war vor 10 Jahren noch Undenkbar. Daher gibt es auch einen sogenannten Internetminister innerhalb der Sekte. Die Luft ist salzig und weht über Öland. Der Wagen verlässt die von ödem Flachland umgebende und von niedrigen Steinmauern begrenzte Landstraße 136 und Schlaglöcher stören die Fahrt. Aus der Ferne sind ein Hof und vier Häuser zu sehen. Ein Herrschaftshaus, mit Strohdach, auf dem ein Storch nistet, eine Scheune, ein Pferdestall und eine Windmühle. Hübsche skandinavische Bretterverschläge. Generell in rot gehalten. Bis auf das Herrschaftshaus, das ist hellgelb. Als das Hell-Elfenbein farbigen Vehikel im Vorhof zum stehen kommt, fliegen Vögel davon und es rauscht das Kiesbett. Ton in Ton steht das Taxi vor dem Herrschaftshaus. Die Taxifahrerin, zieht den Schlüssel aus dem Schloss, der Motor kommt zur Ruhe und sie dreht sich zu Schlichter. “Du wirst hier arbeiten müssen, Schlichter.” Überall sind Menschen, die Kürbisse und Äpfel ernten und Spargel stechen. In großen Trögen werden Weizen für die Bierherstellung gemalzen. Es riecht wie in einer Brauerei. Der Hof etwa 400 Jahre alt. Es soll hier kein Name genannt werden, nur dass es der älteste Hof auf Öland ist. In der Windmühle wird inzwischen nicht mehr gemahlen, sondern Bier gebraut. Seit 1988 wird der ökologische Anbau von 400 Kulturpflanzen und Gemüsesorten betrieben. Ansonsten gibt es im angeschlossenen Hofladen (befindet sich auch in der Windmühle): Marmeladen-, Saft-, Lamm- und Schweinefleischsorten zu kaufen Tagebuch der Fahrerin elfter Eintrag: wir kamen auf dem Bauernhof meiner Eltern an. Als sie das Auto sahen, kamen sie gleich angelaufen und musterten den Fahrgast, der dort verdrossen, nichts ahnend auf dem Beifahrersitz saß. Vor allem aber mokierten sie, noch ehe ich ausgestiegen war, dass ich noch immer Taxi fuhr. Und machten sich über meinen Aufzug lustig. Was denn diese Mütze soll und die Lederjacke, es ist doch Hochsommer. Ein bisschen blamierten sie mich schon vor Schlichter. Über den sollte ich mich noch wundern, hatte ich gedacht dieses Exemplar von Mensch sei zu jeder sozialen Regung unfähig. Belehrte er mich eines Besseren, innerhalb kürzester Zeit, hat er eine Aufgabe gefunden. Er war nun für die Austeilung von Werkzeugen unter den Arbeitern zuständig. Hierzu hatte er sich selbstständig einen Schubkarren besorgt (er erhielt ihn von mir, immerhin selbst gefragt hat er), so wie er sich nach der Werkstatt erkundigte. Für einige Stunden schien er ganz selbstvergessen. Er lief mit der Werkzeug gefüllten Schubkarre umher, war lustig drauf und sehr laut. Begrüßt die anderen Arbeiter rufend und schrie aus 50 Metern Entfernung, den Hang runter zur Scheune rüber. Sein Stimmenorgan klingt wie ein Horn. Alle schienen ihn witzig und originell zu finden. Ich darf nicht vergessen; will ich aus diesem liebes unfähigen Wesen, wieder einen Menschen machen, brauche ich viel Geduld. Es ist früher Abend die Sonne scheint gesenkt über den Hof. Ab und an kommen Urlauber vorbei und kaufen Bier, Äpfel, Kürbisse, Spargel, Marmelade, Gewürze oder andere Dinge. Sie liegt, wie in einer Waagschale. Scheinen oder nicht Scheinen. In einer Milchschüssel. Schlichter schiebt den Schubkarren über den Bauernhof und meint: “ich denke an dich meine Amsterdamer Urlaubsliebe. Ich denke nicht an dich. Mein Kopf ist überfüllt mit Bildern von dir. Es ist eine andere Art des Denkens. Eine stumme Art des Denkens. Wie Atemstöße oder der Herzschlag. Es ist kein Monolog, der sich in meinem Kopf rezitiert. Kein Buch, dass ich ausschieße und binde.” Ist Schlichter still und spricht niemand zu ihm, befeuert sein Geist, sein inneres Auge ihn mit Bildern von ihr und er merkt selbst, wie sich die Bilder wiederholen und er keinen Fortschritt macht, sondern in einem Moment verharrt und denkt, wie hatte er sich falsch entschieden, dieser dummer Kerl. Regnen soll es auf ihn, sagt er sich,

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aber er weiß auch, wie er den Karre auf der Wiese gen Scheune schiebt, der Schubkarren poltert, holpert und seine Gedanken mal wieder über sich selbst stolpern. Er weiß, dass er sich entschied, wie er es für richtig hielt und sein Kopf mir einen Streich spielt. Er braucht nicht noch einmal zu beschreiben, wie sie die verschiedenen Straßen Amsterdams entlang laufen, Sie wissen ja längst, dass er schon mal da gewesen ist. In trauter Einsamkeit. “Ich aber weiß, ich hätte mich verflucht verhasst und verdammt, dafür eine Reise mit einer Frau angetreten zu sein, die ich nicht Liebe und eine Zweisamkeit heraufbeschwört zu haben, die ich nicht teilen kann.” Es wie ein Brettspiel, an dem man nicht teilnehmen kann, sondern alleinig eine Art Zeuge ist, der zwar sieht, was geschieht und auch später darüber eine Aussage ablegen kann—wie sich nun, jedoch die weißen und schwarzen Steine über die Zungen bewegen, darauf hat er genauso viel Einfluss, wie der Seismograph auf ein Erdbeben— nämlich gar keinen. Was ist die Erkenntnis daraus? Nichts ist die Erkenntnis, aber auch überhaupt rein gar nichts, ist die Erkenntnis daraus. Man kann wissen, eine Sache ist falsch und trotzdem denken sie sei richtig. Und Andersherum, kann man eine richtige Sache nicht machen und denken es sei falsch. Was ist nun falscher? Die richtige Sache nicht zu machen oder die falsche Sache zu machen? Die Taxifahrerin sitzt mit ihren Eltern auf der Terrasse des Bauernhofes vor dem Herrschaftshaus und sie schauen zu dritt den Arbeitern und Ernst Edwin Schlichter bei den Arbeiten zu. Trinken schwedisches Bier oder eine andere trübe unklare Flüssigkeit. Unterhalten sich auf schwedisch. Der Vater schlägt lachend auf den Tisch. Die Mutter erschreckt sich und fällt vom Stuhl. Der Papa hebt die Mama auf. Beide lachen noch heftiger und fallen wieder hin. Verdrossene Sommerabende, wenn die Luft schwanger ist, von lauter trüben Ideen. Aus Notwendigkeit, hat Edwin sich mit einigen Arbeitern angefreundet—sie sind jetzt eine Art Verbund. Ihre Freundschaft ist der Arbeitsteilung geschuldet. Schlichter fühlt sich ekelhaft. Und darf sich freuen, denn er sitzt auf dem Rücken eines Pferdes und bekommt Reitunterricht. Der Bauernhof umgehen von Wald. Schlichter beobachtet, wie die Arbeiter der Farm irgendetwas im Wald machen. Ihm fällt auf, dass sie alle dunkle Haare haben. Er steigt vom Pferd ab. Das Pferd ist an einen Pfahl gebunden. Und geht den Leuten nach. Schleicht durch das Gehölz. Mit gutem Herzschlag. Die Dunkel-Haarigen stehen am Strand und schaffen Gegenstände in ein Boot. Schlichter ist an einen Stein gelehnt und versteckt sich hinter einem Baum. Die Leute sprechen kein schwedisch, aber auch kein deutsch. Er versteht bis auf ein Wort kein Wort. Das Wort ist Trollskogen. Hat er schon einmal gehört und weiß jetzt damit nichts anzufangen. Ein Gewitter zieht auf. Dunkle Wolken versammeln sich am Horizont. Schlichter steht am Strand. Die Ostsee, noch der Kalmarsund ist vom Hof nicht sehen. Schichten von Grau, blasen sich auf. Schatten ziehen über die Wälder und Felder Ölands, als wären sie Schiffe und auf dem Grund eines Meeres der Bauernhof. Über dem Meer beginnt es bereits zu schütten, wie aus Trögen. ED schaut den Wolken nach, als könne er anheuern. Als könne er auf den Mast klettern und Ausschau halten. Wolken, die driften zwischen Realitäten. Schiffe, die fahren von Hafen zu Hafen und überall wird erzählt, die selbe Geschichte, nur ändern sich die Worte. Aus Zweifel, wird Sorge, wird Kummer, wird Kritik, wird Analyse, als sitze jemand auf der Spitze der Welt und werfe den Menschen, für eine Sache viele Worte zu, dass sie es sich aussuchen—mit welchem sie ihre Geschichte schreiben. Als Edwin zurück auf dem Hof ist, sieht er die gesamte Belegschaft, in die Scheune flüchten. Dem Ladugård. Er beschließt sich denen anzuschließen. Ein bisschen sieht das aus, denkt Schlichter, als würde man einen alten vollgesogenen Lappen ausquetschen, nur andersherum. Vater wirft ein Glas zu Boden, Mutter trampelt auf den Scherben und Schlichters Fahrerin steht auf und verlässt die überdachte Terrasse und ihrer Eltern fluchend—das sieht Schlichter schon nicht mehr. Im Magazin wird heiße Fischsuppe gereicht, gesungen, getrunken und gelacht, ganz so, als hätte man von der Auszeit, die der Regen verspricht, gewusst. Schlichter sitzt mittendrin auf einem Heuballen, starrt abwechselnd seine Mitstreiter an, wie sie ihre Fischsuppe fressen und dann wieder die eigene Suppe an. Wozu hier das Wort fressen? Weil sie im Ladugård waren und die anderen Arbeiter, wie sie die Köpfe in die Fischsuppe steckten, aussahen, wie Schweine oder andere Tiere, die einen widerlichen Brei aus menschen-unwürdiger Nahrung (das zumindest denkt Schlichter) in ihre Schlünde stopften. Hinter einem der Heuballen, versteckt sich eine Verehrerin Schlichters. Sie wird aber zu schüchtern sein. Er wird aber zu stumpf sein. Er nimmt einen Holzlöffel, tunkt ihn in die Suppe, schöpft Flüssigkeit und ein paar Fischbrocken aus dem kleinen Trog, führt sie sich zum Mund und spuckt das Zeug wieder in die Schüssel. Hier merkt Schlichter, dieses Essen ist absurd und er erkennt das Ding, die Sache zu machen, ist eine Seite, das Gefühl ist eine andere. “Ich frage: bin ich Mensch? Die Frage zu bejahen, bedeutet im Sinne der Sache: Konstrukte aufrecht erhalten. Wenn ich aber sage, ich bin Mensch, ist das eine Information, die sich richtig anfühlt. Weil ich sie mit einem Gefühl von Richtigkeit ausstatte, aber auf die Flascheninhalte meiner Bauwerke, passen alle möglichen Deckel. Weil sie nicht zueinander gehören. Weil es überhaupt nichts gibt. Was zusammen gehört, weil es jemanden geben muss, der sagt: es gehört zusammen oder es unterscheidet sich. Ich kann also das Gefühl von Richtigkeit der Aussage: Ich bin ein Mensch, ich kann dieses Gefühl von Richtigkeit, der Aussage stehlen und es an einen anderen Satz anbauen, wie zum Beispiel: Ich bin kein Mensch. Und sehen, wie die neue Verbindung zu Leben erwacht. Diesen Gedanken

nachgehen, heißt dem Wahnsinn Türen öffnen.” Diese triviale Fischsuppe ist absurd und sie lässt sich nicht fressen. Schlichter hat den Bezug dazu verloren und er hat sein Leben um das Gefühl von Richtigkeit beraubt. Es ist wie Steine in einen See werfen und den Bezug verlieren. “Warum esse ich nicht ein Stück Holz?” Das Gefühl von Hunger hat sich vom Akt des Essens gelöst. Wie der Akt des sich Bindens und des sich auf einander Beziehens—sich von Kommunikation, Gesellschaftlich- und Menschlichkeit löste und es ferner eben dadurch auch keinen Sinn mehr ergibt—in Gesellschaft zu sein. Die Tür schnarrt. Licht fällt in den Raum. Die Taxifahrerin kommt in den Ladugård. Wie ein aufgeschreckter Hühnerhaufen, verstummen alle beteiligten in der Scheune und ziehen ihre Köpfe aus der Fischsuppe. In die lebhafte Atmosphäre, ist ein Schweigen eingebrochen. Einzelne verstecken sich hinter dem Heuballen. Schlichter wird abgeholt, er soll mit in das Herrschaftshaus zu den Eltern. Mief. Der erste Gedanke der Schlichter kommt ist Mief. Von der Fahrerin geführt geht es in das Kaminzimmer. Man sitzt in heiterer Runde still und starrt auf einen Kamin mit glimmender Flamme. Ein Staubwolke bricht aus dem Sessel. Mief und Ekel hinter vergilbten Gardinen, vergilbten Polstermöbeln und vergilbten Teppichboden. Ekel. Schlichter richtet seinen Kragen. Ekel in den Knochen. In den Fingern. Ekel in der Hand. Der Vater pafft Zigarre, die Taxifahrerin raucht Pfeife und die Mutter Zigaretten, alle trinken Portwein. Es wird schwedisch gesprochen und die Taxifahrerin übersetzt; Ernst solle sich bitte entscheiden, was und wie er rauchen möchte und ob er lieber Sherry, Port oder gar Cognac trinke. Man gibt sich International. Der Kamin hustet Staub. Die Drei haben Rollkragenpullover mit Reißverschluss an. Schlichter kratz sich am Hals. Der Staub entzündet sich in der Luft. Man könnte das schön finden. Verschwitzt kommt eine der Arbeiterinnen in das enge Wohnzimmer, denn sie muss in der Nacht Holz für den Kamin hacken. In der Scheune, hatte sie sich hinter einem Heuballen versteckt und ist die Verehrerin Schlichters. Außer Atem schichtet sie Holz in den dafür vorgesehen Schrank. Schaut zu Schlichter und befeuert den Kamin, der sich in der Wand befindet. Wischt sich die Stirn ab. Wischt sich Staub von der Stirn und steckt ein vergilbtes Stofftaschentuch in die Hosentasche. Für ihren Feuerdienst, darf sie einen Schluck aus der Flasche Port trinken. Sie muss aber direkt aus der Flasche trinken. Damit der Vater sich über sie lustig machen kann, wie ihr die rote Flüssigkeit an den Mundwinkeln herunter läuft. Währenddessen Papa die Angestellte auf seinen Schoß zerrt und sie einmal von der Zigarre ziehen darf. Widerwillig an dem zylinderförmigen Gegenstand, mit zugekniffenem Mund und gekräuselten Lippen, saugt und Rauch inhaliert. In das bedrängende Zimmer stößt. Zum Dank schlägt er ihr auf den Arsch. Im Kaminzimmer des Herrschaftshauses herrscht eine brütende Hitze, wie in einer trockenen Sauna. Weil er ein geschickter Mann ist, lässt er die kleine Arbeiterin von seinem Schoss fallen und als die da auf allen Vieren auf dem Parkett landet, ein Klatschen ihrer Hände durch das Zimmer, wie ein zurück gezogener Aufschrei hallt, stülpt sich der Angstelltenrock nach oben und während der Vater gierig auf den weißen Slip stiert, schauen Tochter und Mutter betreten zu Boden. Sexualität ist eine Milchmädchenrechnung. Man will sich in diesem Zimmer nicht ausziehen. Man will sich den Reißverschluss nicht lüften. Man will eine Schicht Stoff zwischen sich und dem Staub des Zimmers. An die Gespräche, im engen Kaminzimmer, kann sich Edwin nicht entsinnen. Erinnern kann er sich an den Sessel, den weichen Bezug und wie das Feuer im Raum knisterte und seine Stimme als abgebrochenes Echo durch den Raum wanderte. Zusammenfassend schien ihm die ganze Situation mehr als unwirklich. Er hatte sich an solche surrealen Situationen gewöhnt und war darüber weniger verwundert. Er hatte akzeptiert, dass seine Wahrnehmung, irgendwann das sinkende Schiff verlassen hatte. Der Abend neigte sich dem Ende. Alle waren irgendwann still geworden. Der Pfeifentabak, die Zigarren und kleineren Zigarillos waren aufgeraucht und einige Flaschen Port waren ausgetrunken. Zum ersten Mal bekam Schlichter ein eigenes Zimmer. Das Herrschaftshaus quoll über vor Schlafmöglichkeiten, die niemand nutzte. Die Arbeiter schliefen dicht gedrängt in der Scheune. Einige sagen, sie mögen das kratzende Stroh und andere meinen, wenn sie in einem ordentlichem Bette schliefen, würden sie sich zu fein für die anstehende Arbeit fühlen. Schlichter liegt auf seinem Zimmer in seinem Bett. Die Bettdecke, wie er sein Bett vorfand, unter ihm und er starrt zur Decke und sucht wieder Geoglyphen. Die Gänsefedern, seiner Bettwäsche wärmen ihn. “Ich bin es gewohnt alleine zu schlafen, denn um gemeinsam zu schlafen, muss man sich lieben und ich habe das Lieben aufgegeben. Wer miteinander schläft, ohne sich zu lieben, ist ein Betrüger.” Auffällig ist, dass Schlichter bisher weder die Fahrerin, die Eltern, die Angestellten, noch die Frau, die er am Flughafen stehen lassen hat, namentlich benannt hat. Also bitte, es geht in diesem Bericht und Gutachten um den Verlust von der Natürlichkeit von intuitiver Bindungsinitiative. Woher also das Namensgedächtnis? Keine Bindungen, keine Namen. Er löst den Verschluss seiner Armbanduhr und legt sie neben sich auf den Nachttisch. Löscht das Licht. Legt sich unter die Bettdecke, schließt die Augen und schläft mit dem leisen Ticken der Armbanduhr ein.

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Tag 05—Donnerstag

“Wissen Sie Herr Mhiver”, sagt Schlichter zu mir. Wir sitzen im Untersuchungsraum der JVA Tegel. “Ich glaube fast die Taxifahrerin wollte mich Therapieren oder so.

Albertina von Salomé Besser Blumen, die welken, als welche, die gar nicht erst aufgehen.

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ls Schlichter aufwacht, hört er wie unten Möbel verrückt werden. Jemand schreit und gibt Anweisungen. Wie er in der Nacht zuvor die Treppen des Herrschaftshauses—weintrunken—herauf galoppierte, so stolziert er an diesem Morgen die Treppen des Anwesens in Hausherrenmanier herunter. Er ist noch von dem ganzen Port rest-trunken. Er hat ein Glas in der Hand und schwenkt er es um daran zu riechen, bis rote Flüssigkeit auf den Boden tropft. Leidlich hält er sich am Treppengeländer fest. Eine Plastikfolie verdeckt einen Teppich, der auf den Treppen liegt. Schlichter denkt sich, hier hat man schon vorgesorgt. Ein Mensch muss seinen Ort finden, spricht er zu sich und seinem Glas, währenddessen er am Geländer baumelt und Portwein verschüttet. Es ist etwa zehn Uhr Vormittags. Er sagt, seine Verehrerin wird sich um die Sauberkeit kümmern. Die Resttrunkenheit meint er, das würde bis etwa vier Uhr Nachmittags anhalten. Er meint war irritiert, weil alle Bilder, die gestern Nacht noch im Treppenflur hingen, abgehangen waren. Es gab umgekehrte Schatten von Staub. Die er ertasten konnte, wie er wollte, der Sinn ergab sich erst im Zusammenhang. “Lebe ich noch oder sterbe ich schon?” ED kommt in das enge Kaminzimmer. Ein fürchterlicher Geruch von altem Rauch und Alkoholgeschwängertem Mundgeruch erreicht seine Sinne. Im Kaminzimmer liegen weiße Tücher, wie Bettlaken auf den Möbeln und in der Feuerstelle glimmt noch eine Restglut von Gestern Nacht. Er entdeckt am anderen Ende des Raumes ein kleines Fenster, das ihm in der Vornacht nicht aufgefallen war und kämpft sich durch den üblen Geruch. Der Blick geht auf den Hof. Es ist allgemein ruhig. Er sieht die alte Windmühle, die man zu einer kleinen Brauerei gemacht hatte, die Scheune und den Pferdestall. Vor der Windmühle stehen ein paar Leute, die er nicht zuordnen kann. Dunkle Haare, sagt er zu sich. Vor dem Herrschaftshaus, in dem er sich selbst befindet, steht die Taxifahrerin vor der Eingangstür. Im Rücken das Taxi noch immer im Kiesbett geparkt. Sie hat die Fahrerlederjacke mit weißem Lammfellkragen über die Schulter geworfen und ihre graue Fahrermütze aufgesetzt, ein roter Roßschwanz stakt aus ihrem Hinterkopf. Sie blickt zur Seite und scheint auf etwas zu warten. Schaut ab und an auf eine goldene Armbanduhr mit Milanaiseband und hat sowohl dem Herrschaftshaus, als auch dem kleinen Fenster den Rücken gekehrt. Sie pafft er eine schmale Zigarre, dessen Rauch sie künstlich und künstlerisch in die Luft bläst—sie macht aber keine Ringe. Scharrt im Kies. Schaut noch einmal zum Haus. Entdeckt Schlichter nicht im Kaminzimmerfenster. Er meint, er hätte er keine Möglichkeit gefunden, es zu öffnen. Schaut auf ihre Armbanduhr und geht hinüber zur Windmühle, wie Schlichter beobachtet. Die Leute, die er nicht zuordnen kann, begleiten sie in das Gebäude. Tagebuch der Fahrerin zwölfter Eintrag: Es ging mir nicht gut. Klar. Der Bauernhof auf dem ich aufgewachsen war, sollte verkauft und ich sollte die Verhandlungen führen. Logisch, dass es mir da nicht gut ging. Aber das tat nichts zur Sache. Ich sagte mir, du musst das jetzt durchziehen. Irgendwie ließ mich das Gefühl nicht los, Schlichter glaube, das ganze diene seiner Genesung. Genesung von was weiß ich. Auch das tat ich ab. Immer wieder sein Gerede von Menschen lieben Unmenschen nicht. Glaubt der, ich wäre Therapeutin—seine Therapeutin? Ich bin Taxifahrerin. Ich kann Menschen zuhören. Ja. Aber therapieren das kann ich nicht. Schon gar nicht so einen Menschen. Aber das tat nichts zur Sache. Ich wollte ihm sagen, dass er schon einmal im Taxi warten soll. Würde nicht lange dauern. Keine Chance—von ihm keine Spur. Ich dachte, er würde noch schlafen. Ich ging zur alten Windmühle, wo ich schon erwartet wurde. Erwartet von etwa 20 ominösen Menschen in altmodischen Klamotten oder, ich dachte mir, in sonderbaren Trachten. Fünf von denen begleitete mich in die Räumlichkeiten. Man tat allgemein schon so, als wäre das Gut bereits verkauft. Ich fühlte mich fremd auf dem eigenen Hof. Der Rest der Leute blieb draußen. Riegelte den Durchgang ab. Hielten die Stellung, wie vor einem Kommandozelt. Erst später stellte ich fest, dass einige unserer Arbeiter vom Hof übergelaufen sein mussten. Ich erkannte sie nicht. Sie hatten sich über Nacht die Haare gefärbt. Ich wollte mit all dem nichts zu tun haben. Dunkelbraun oder schwarz. Es hieß, sie wären Novizen. Ich saß also mit den Sektenführern, wie ich sie bezeichnete, in der alten Windmühle. Die hatten eine ganz andere Preisvorstellung als wir. Als ich. Man dachte wir würden das Gut fast verschenken. Das war natürlich lachhaft. Jedenfalls wir saßen dort und verhandelten. Sonnenstrahlen brachen durch Ritzen im Holz auf uns herab. Staub bewegte sich, wie unter Wasser. Wir saßen auf Hockern an einer kleinen Kiste und sprachen über Geld. Es roch nach Malz. Schlichter störte die Verhandlungen. Ich hörte ihn draußen diskutieren. Wollte aufstehen und bekam einen ermahnenden Blick. Er platze mitten in die Runde. Ich wusste nicht, ob ich wütend oder dankbar sein sollte. Es

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ging auf eine Einigung zu. Schlichter meinte, er hätte die—er sagte—Leute schon einmal gesehen am Strand. Gestern Abend. Ich fragte mich, was das soll. Alle waren etwas peinlich berührt. Ein weibliches Sektenmitglied hatte ihn in die Windmühle gebracht. Er musste darauf bestanden haben einzutreten. Sie hielt seine Hand. Ich hatte den Eindruck sie bewundere oder schlimmer: verehre ihn. Ich sagte ihm er solle sich schon einmal ins Auto setzen. Er hörte. Sicher saß er noch gut eine Stunde im Auto, bevor ich zu ihm kam. Man lachte über ihn und unterzeichnete den Vertrag. Ich fand es witzig, er hatte sich nicht auf den Beifahrersitz gesetzt, sondern auf meinen Platz. Ich machte einen Scherz, ob er fahren wolle. Einen Scherz zum ersten Mal. Wir lachten. Auf der ganzen Fahrt bisher hatte zwischen uns ein ungebrochenes Eis gelegen. Jetzt lachten wir. Lachten und tauschten die Plätze. Ich war erleichtert, daran lag es, diese Verhandlungen waren durch. Das Geld nicht der Rede wert. Aber ich sollte den Vogel auch nicht abschießen, wie mein Vater sagte. Die beiden hatten sowieso jegliches Interesse bereits verloren und waren noch im Morgengrauen abgereist. Ich schaute zu Schlichter. Dachte er würde irgendetwas sagen oder mich wenigstens fragen, wohin wir jetzt fahren. Irgendwas. Erst einmal war es still. Ich sagte, gut. Brachte ein: dann, über meine Lippen. Ein: also. Steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor, als er mich fragte, was der Trollskogen sei. Ich sagte, gut. Brachte ein: dann, über meine Lippen. Ein: also. Steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. Der Wagen rollte vom Hof. Das Kiesbett rauschte. Mir war etwas wehleidig zumute. Ich muss etwas Sehnsucht in den Augen gehabt haben, als ich in den Rückspiegel schaute und der Hof meiner Eltern kleiner wurde und im Laubwald verschwand. Seine Freundin bei der Öland-Sekte hatte ihm von Trollskogen erzählt und er hatte es auch schon einmal vorher gehört. Ich dachte mir, warum nicht. Die zwei bis drei Stunden könnten wir uns Zeit nehmen. Wir waren in einem gutem Tempo hierher gekommen. Die Arbeit war getan und ich dachte mir, ob wir ein paar Stunden früher oder später nach Deutschland und Berlin zurück kamen, spielt eigentlich keine Rolle. Schlichter wirkte irritiert oder konfus auf mich. Wir fuhren wieder auf der 136 Richtung Norden. Der Zauberwald befindet sich an der Nordspitze Ölands. Schlichter erzählte mir von der Sekte. Ich hatte mich bisher mit diesen Menschen nur auf rein geschäftlicher Ebene beschäftigt und keine Zeit geopfert mir irgendwas anzuhören, am Ende noch versucht ihren absurden Glauben zu verstehen. Ich wusste, es geht um Aliens aus der Bibel und das reichte mir. Schlichter meinte, in ein paar Jahren steht das Millennium an. Er benutzte das Wort Raëlisten, welches ich nicht kannte. Der beste Beweis, sagte er, sei das Klonschaf Dolly. Das sei das erste Zeichen und eine Prüfung der Elohim. Die E. hätten das Schaf den Menschen geschickt. Es war natürlich nur eine Lüge, dass tatsächlich Menschen—einem Forscherteam dieser technische Meilenstein gelungen sei. In Wahrheit, erzählt er, waren es die Elohim, um zu sehen, ob die Menschheit schon so weit sei, das Klonen, als Technologie zu empfangen. Wir waren gute 20 Minuten von Borgholm entfernt und hatten etwa noch 40 vor uns, wollten wir in den Zauberwald. Um uns herum war ein weites Nichts. Ab und an die Ruine einer Windmühle, kleine Häuser und antike Grabstätten. Mauern aus Kieselsteinen. Die Straße war asphaltiert und wir rauschten vorbei an Waldstücken und Feldern, die sich gegenseitig abwechselten, wie das rotierende Rad einer Windmühle. Alles unter einer herrlichen Sonne und blauem Himmel. Die Sämischen-Raëlisten, wie Schlichter sie nannten, waren ursprünglich aus Lappland. Früher nannten man sie Lappen. Sie selbst nennen sich Sami. Die Samen waren schon immer Nomaden. Diese Lebensweise vertrugt sich schlecht mit Ländergrenzen, sagte er und ich wunderte mich, woher er das alles wusste. Irgendwann, heißt es laut einer Legende, sei den Samen Raël erschienen, der davon erzählte, wie er von Außerirdischen entführt worden war. An diesem Tag begaben sich die Samen auf eine Wanderung nach Öland, denn Raël‘s visionäres und illusionäres Konterfei sagte Öland würde bei der Auslöschung der Menschheit im Jahre 2000 verschont. Schlichter nervte mich langsam. Sein Gerede von dieser Sekte dauerte mich und es gab nichts, was ihn hätte zum Schweigen gebracht. Nun gut, hätte ihm gesagt, er solle die Klappe halten, er hätte es wahrscheinlich gemacht. Wäre allerdings beleidigt gewesen und da entschied ich, wäre es besser ihn erzählen zu lassen. Wenn auch ich mich ärgerte. Ich wollte nach Hause. Aber er bettelte, er müsse unbedingt in diesen Wald. Wir hatten es nicht mehr weit. Er sagte, im Trollskogen stehe die älteste Eiche ganz Ölands. Ich konnte mich vor Begeisterung kaum halten. Ich dachte, irgendetwas ist hier im Busch. Er wollte noch einmal auf Toilette bevor wir in die Trollskogsvägen fuhren, um den Eingang zum Wald zu suchen. Ich war von allem genervt. Genervt von dem kleinen roten Haus an der Straße zum Wald, dass er dort auf Toilette ging, dass es dort Kaffee und Kuchen gab, dass die Frau, die dort wohnte und den kleinen Laden betrieb äußerst freundlich war, dass der Hund bellte, dass Schlichter wieder seine Dose Kaugummi raus nahm und die Kaugummi herunter schluckte, als seien es Tabletten. Ich glaube er hat das Prinzip: Kaugummi nicht verstanden oder ein neues erfunden: Schluckgummi. Am Eingang zum Trollskogen war Schlichter aufgeregt. Man konnte zwischen drei Pfaden wählen. Kurz, Mittellang und Lang. Natürlich wählte er den langen Weg, sicher stöhnte ich. Der Gedanken, ich solle mit Schlichter drei Stunden durch den Wald laufen, erheiterte mich nicht geradezu. Aber ich willigte ein. Und ein Mann ende

Zwanzig oder Anfang Dreißig, so genau wusste ich das nicht, wurde wieder zum sechsjährigen Jungen. Nach zwei Stunden hatten wir seine Eiche gefunden und eine weitere Stunde damit verbracht, Gesichter in dem alten Baum zu und zu finden. Er bedankte sich. Er fühle sich schon viel besser. Das bringe echt was. Ich antwortete nicht. Wie ich ihm nicht den Zahn zog und sagte, es ging nur darum das Grundstück zu verkaufen. So konnte er in seinem Glauben bleiben und es herrschte ein gewisse Harmonie zwischen uns, die ich nicht aufs Spiel setzen wollte. Immerhin bis Trelleborg zur Fähre sind es vier bis fünf Stunden. Dann noch die selbe Zeit auf der Fähre und von Rostock nach Berlin. Allem in allem rechnete ich mir aus, saßen wir beiden wohl noch um die acht Stunden gemeinsam im Taxi und 12 bis 13 waren wir noch zusammen unterwegs. Es war eine ganz normale Frage. Man konnte es ihm nicht verdenken. Selbst für Schlichter. Es fragte nicht mal aggressiv. Auf seine Frage: was man hier eigentlich mache, verzogen sich die Gesichter. Die Stimmung wurde bedrückend. Wir hatten die alte Eiche längst verlassen und standen am Strand. Ein altes Schiffswrack lag da wie die Miniform Moby Dicks, geborsten, verrostet und morsch. Schlichter kletterte auf das Schiff und tat so, als würde er Ausschau halten, als uns eine Gruppe der Sämischen-Raëlisten überraschte. Ich hatte das Gefühl wir waren nicht Willkommen. Er sei schon zwei mal aufgefallen. Aufgefallen, fragte Schlichter oben auf dem Schiffsrumpf stehend. Ich stand wie angewurzelt neben ihm und dem Zauberwald, den nur ein dünner Streifen Strand von der Ostsee trennte. Gestern Abend sei er der Sekte bis zum Strand gefolgt und heute wäre aufgefallen vor der Windmühle, als ich verhandelte. Man sagte, man sei sicher nicht die Einzigen, die das unerhört fanden und sie deuteten auf mich. Ich wich den Blicken aus und starrte am Rumpf vorbei ins Meer. “Und was machen Sie nun hier?”, erneuerte Schlichter seine Frage frech und dreist und sprang dabei auf dem Wrack herum, dass das morsche Holz knackte. Man bereite die Ankunft der Elohim vor, sprach das weibliche Sektenmitglied, die Verehrerin Schlichters, und kam hinter einem Baum aus dem Wald hervor. Lief auf den Strand. Man ermahnte sie. Sie sagte: “überlege es dir, Ernst.” Sie nannte ihn Ernst. Ich wusste nicht, was hier vor sich ging. “Ernst, überlege es dir.” “Es reicht”, wiederholte das hohe Mitglied. “Es reicht. Schlichter muss seine Identität abgeben. Zu gefährlich.” Stumm drückte man uns in den Wald zurück und aus ihm heraus und bedeute uns wir sollten ins Taxi steigen. Es war ein unangenehmer und schweigsamer Marsch durch den Wald. Schließlich wurden wir von zwei Wagen vor uns und dreien hinter uns zu einer der alten Fluchtburgen eskortiert. Eskortiert klingt, als hätte man uns schnell irgendwo hin gebracht, in Wahrheit fuhren wir zwei Stunden der Kolonne einmal vom Norden in den Süden Ölands In die große Alva, die Stora Alvaret, wie ich Schlichter korrigierte und hinzufügte die Steppe Ölands. Das Sektenmitglied, das seine Stimme erhoben hatte, kam als letztes aus dem Auto und hatte einen Schlüssel in der Hand. Die Fluchtburgen sind Überbleibsel der alten Völker Ölands. Sie dienten, anders als andere mittelalterliche Burgen nicht als Wohn- und Verteidigungssitz, sondern der Landbevölkerung als Rückzugsort bei einer drohenden militärischen Gefahr. Die Burg war eine runde Anlage mit einem Durchmesser von lediglich 57 Meter. Im Prinzip bestand die Burg nur aus einer Mauer mit einer Höhe von etwa Drei Meter Fünfzig. Später erfuhr ich den Namen der Burg: Eketorp und der Sektenführer mit Schlüssel sagte mir, die Burg sei nicht zu Verteidigungszwecken oder als Rückzugsort genutzt worden, sondern hätte vor allem kultische Bedeutung, “sowie heute auch”, sagte er und schloss die Burg auf. In der Burg standen einige Häuser mit Strohdach, die man von außen nicht hatte sehen können. In der Mitte gab es eine Feuerstelle. Man machte Feuer. Wir standen um das Feuer herum und einige der Sektenmitglieder fingen einen merkwürdigen Singsang an, der mich an Jodeln erinnerte und an so etwas wie indianische Musik. Der Sektenführer sang als einziger nicht. Er drückte sich umständlich aus. Er sagte sie wollen kein Geld. Drei Prozent vom Nettoeinkommen der Jünger waren ausreichend. Es ist genug Geld da, sagten er. Er wolle kein Auto, es wären genügend Autos da. Er will keine Klamotten, es wären genug Klamotten da. Aber er wollen Schlichters Identität. Als Bestrafung, dass er ihnen gefolgt sei, muss er seine Identität abgeben. Schlichter wusste erst nichts damit anzufangen und es entstand ein ungewollt komischer Moment des Schweigens. Als schließlich einer der Sektenjünger aufhörte zu singen und zu Schlichter sagte: “gib uns deinen Ausweis, Reisepass, Führerschein, alles wo dein Foto drauf ist oder wir murksen dich ab.” Von mir wollte niemand etwas. Schlichter warf die geforderten Papiere ins Feuer und der Singsang wurde intensiver. Sie waren in Trancen. Auch der Sektenführer sang mit ihnen. Es roch nach Plastik und Papier. Der Rest ist schnell erzählt. Man sagte uns wir können jetzt gehen und wir gingen. Wieder stumm. Schlichters Sektenfreundin begleitete uns zum Tor und sagte uns, so würden sie alle ihre Identität ablegen. Er solle es sich überlegen. Ich dachte mir, dass ist so etwas wie ein Initiationsritual und machte mich schon darauf gefasst, allein zurück zu fahren. Wir waren am Taxi angekommen und Schlichter sagte: “es sind die ruhigen Momente.” Wie ein entferntes Echo hörten wir noch den Singsang der Sekte hinter den Burgmauern. Es war Mittag und beinahe so hell, dass der durchweg blaue Himmel sich weiß verfärbte. Die Farbe war so stechend, dass man die Augen zu kneifen musste,

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wollte man dieses endlose Blau betrachten und von ihm kleine weiße Linien von Kondensstreifen differenzieren. Schlichter sagte er fühle sich allein und wir stiegen ein. Ich frage ihn warum er das gemacht habe? Ich war sauer. Fragte mich wie wir nach Deutschland kommen sollen. Beziehungsweise über die Grenze ohne seine Dokumente. Schweden ist zwar seit einem Jahr in der EU. Das hat allerdings keinen Einfluss auf die Grenzkontrollen. Die sind wie eh und je streng. Schlichter sagte, er wollte dazu gehören. Wir saßen im Taxi, standen noch vor der Burg und diskutierten. Ich sagte, wer keine Identität hat, kann auch nicht dazu gehören. Er schaute mich bitter an und sagte, das hatte er noch nie, nur jetzt sei es offiziell. Ich fragte was nun? Er sagte: ich verstünde es nicht. Ja aber was machen wir jetzt?, wollte ich von ihm wissen. Er grinste mich an. Ich war verwirrt. Er meinte es ist doch egal, dann besorgen wir eben eine neue Identität ist doch nur ein Stück Papier. Ich musste ihn fraglos angestarrt haben. Er sagte: Botschaft. Ich sagte: Stockholm. m diesem Morgen bekommt Franck der Bestatter einen Merkwürdigen Anruf. Sowieso hatte er sich den ganzen Morgen schon nicht wohl gefühlt. Normalerweise reiche es, wenn er ein bis zwei seiner Zigarre paffe. Dann komme das Wohlwollen von ganz allein. An diesem Morgen, beschlich ihn Unwohlsein, welches er nicht abschütteln konnte. Ein Herr Wolf stellt sich erst als Polizeikommissaranwärter Wolf vor, dann korrigiert er sich, das Telefon rauschte und er sagte: “Wolf reicht.” Ob er einen Termin bekommen könne. Franck sitzt an seinem Schreibtisch in der Pietät. Raucht eine Zigarre—die vierte etwa—und schaut in ein rotes Notizbuch. Er fährt mit langen Fingern über die Spalten. Am Montag, sagt er dem Mann am Telefon. “Am Montag ist noch was frei, wann können Sie hier sein?”, und nennt ihm wahllos einen Termin seines leeren Kalenders. ”Geht es nicht eher,” fragt Wolf. “Montag ist schon sehr kurzfristig. Um wen geht es denn?” “Meine Stiefmutter”, sagt Wolf. Franck trägt sich den Termin ein, schreibt über mehre Spalten und lehnt sich in seinem Sessel aus Rattan zurück. Er dachte sich, er braucht auch mal was leichtes im Büro und hat die Chesterfieldmöbel zum Flohmarkt gebracht. Dort hat sie ein junger Mann für einen Spottpreis geschossen. Franck lacht. Spottpreis. Gut, dass der nicht wusste, woher die Möbel waren. Manche Menschen sind ja abergläubisch. Am zweiten Tag ist der Mann der solange Sand zwischen seinen Zähnen knirschte, bis nur noch Staub über war, wieder in Berlin. Dort ist er aber nicht wegen seiner Therapie gegen die vermeintliche Spielsucht. Damit er widerstehen kann in die Kneipe zu gehen an den Spielautomaten. Hatte doch seine Spielsucht, wie es bezeichnet wird, ihn und seine Exfrau in den Ruin getrieben, wie man sich im Dorf erzählt. Herr Nix-Kessin, der Mann mit den Ausdrucksschwierigkeiten—dem trägen Mund. Der Mann, der sagte, wenn er gefragt wurde, wie es ihm geht: mein Name ist Matthias Nix-Kessin und mir geht es gut. Und dabei klang, als hätte er einen Schwamm im Mund. Der Mann aus -ow irgendwo zwischen Neu-Strelitz und Rostock, war wieder in Berlin, aber er war nicht wegen der Psychotherapie in Berlin. Er war in Berlin, weil er etwas neues gefunden hatte. Als würde er in seiner Westentasche spazieren gehen, ging er die Griebenowstraße entlang. Wie ein alter Vertrauter ging er durch die offene Tür. Im Flur, der aussah wie der Wartebereich einer Arztpraxis, saßen bereits Andere—man will sagen andere Fremde. Herr Nix-Kessin hatte etwas anders als Psychotherapie, er hatte die Wohnung Möbius. Er hatte etwas anderes gefunden, er hatte Laura gefunden. Oder war über sie gestolpert. Viel mehr über ihre Wohnung. Denn sie saß wie jeden Tag, den ganzen Tag am Schreibtisch, schrieb einen Satz die Stunde und sprach kein Wort. Ambition ist alles. In einem Radio im Badezimmer, das in der Wohnung pausenlos läuft, läuft Musik von Toni Braxton. Die Sängerin singt Unbreak my Heart von ihrem im Juni veröffentlichten Album Secrets. Im Radio heißt es, eine kardiologische Praxis hat das Lied als Werbesong benutzt. Man macht Anspielungen auf das Broken-Heart-Syndrom. Nennt den Fachbegriff: Stress-Kardiomyopathie. Sagt, das Syndrom treffe aber meist ältere Frauen. Braxton mit ihren fast 29 Jahren zählt nicht unbedingt zu der Gattung: ältere Frau. In den Nachrichten heißt es, Großbritannien plane mehr als Dreitausend herrenlose Embryos von einer Kinderwunschklinik zu vernichten um einem Gesetz zu folgen, dass die ethische Praxis im Umgang mit den Embryos in Frage stellt. Die Vereinigten Staaten und Saudi Arabien haben sich verständigt, die Kosten für die Verlegung von US-Truppen zu teilen. Die Truppen, welche im Land stationiert sind, sollen sie anderen Basen in der Region verlegt werden—um Saudi Arabien vor terroristischen Angriffen zu schützen. Das FBI in Atlanta hat eine Hausdurchsuchung im Apartment des Hauptverdächtigen und ehemaligen Sicherheitsbeamten Richard Jewell angekündigt. In der Suche nach dem Bombenleger von Olympia, erhofft man sich eindeutige Hinweise zu Lasten Jewells in seiner Wohnung zu finden. Anne-Liese Littke, die Fremde im rosa Loungeanzug, die ältere Frau, die ihren Sohn an seine Frau verloren hatte, der seinerseits seine Frau an den griechischen Vater und Sohn aus dem Fitnessstudio verloren hatte—sie hat ihrem Sohn vorgeschlagen mit den Kindern seiner Frau seine Exfrau, hat sie gesagt, als wären es zwei unterschiedliche Frauen, in Patras besuchen zu gehen. Es scheine ihr da zu gefallen, also ist es sicherlich schön. Und warum soll nur sie die Freude an der Küste und an der Sonne haben. Patras die drittgrößte Gemeinde des Landes liegt direkt am

gleichnamigen Golf von Patras, ist seit jeher eine wichtige Handelsstadt, die des öfteren von Erdbeben heimgesucht wird. Also was ist, hatte sie gefragt, fahren wir nach Griechenland deine Frau suchen? Der Sohn hat das abgelehnt. Da stand Littke schon mit gepackten Koffern vor seiner Tür. Der Sohn wollte das nicht. Er sagte, er wolle sich seiner Frau oder Exfrau, nuschelte er, nicht aufdrängen. Da redete Anne-Liese auf ihren Sohn ein. Er dürfe sich das nicht gefallen lassen. Was soll denn aus ihrer Enkeltochter werden—ohne Mutter. Er fühlte sich bedrängt. Hatte jeden Kontakt mit seiner Mutter vermeiden wollen. Sie wusste alles besser! Er vermied es, ihr die Enkeltochter zu geben. Vermied Telefonate. Wenn auch beide nach einander fragten, wie Littke behauptet. Es half nichts und sie nahm die Koffer wieder mit. Heute stehen die Koffer im Flur Möbius und Anne-Liese Littke selbst sitzt vor Laura auf dem Teppichboden und beobachtet wie diese jede Stunde einen Satz schreibt. Ambition ist alles. Die Wohnung ist so etwas wie ein Auffanglager für Reisende ohne Ziel, aber mit Koffern. Für Stehen-gelassene, bestellte und nicht abgeholte. Für Flüchtlinge ohne Exil und gestrandete ohne Zuflucht. Die Fremde mit der Honigbrotphobie wusch die Wäsche und füllte den Kühlschrank. Manchmal vertauschte sie beide Tätigkeiten und so landeten Tiefkühlpizzen im Kleiderschrank. Laura Möbius hatte keine Wäscheständer, deswegen hängen zum Waschtag überall in der Wohnung, Bettbezüge, Handtücher und Bettlaken—dazwischen ab und an eine Packung Frühstückseier, ein Beutel Milch oder Gewürzgurken. Das ganze sah aus, als hätte ein Kind eine Höhle bauen wollen. Die Laura nicht selbst, sondern die Fremde mit den schwarzen Haaren mit den Weißen dazwischen, die mit der Flüsterstimme, die mit der Phobie, gebaut hatte. Wolf, der gestern noch der Fremde in Uniform geheißen hat, kämpft sich durch, von der Decke von Türrahmen und offenen Fenster hängenden, klamme und nasse Bettlaken, Handtücher und Bettbezüge, die er nicht von einander unterscheiden kann. Die Polizei in Person Wolf kam in die Höhle Möbius, um zu sehen ob hier in aller Öffentlichkeit Verbrechen begangen wurden. Vielweiberei, Rauschgifthandel, Größenwahn und Prostitution—Sie wissen schon. Keine Spur. Der Polizist observierte Laura 72 Stunden lang—das waren drei Tage, Mittwoch bis einschließlich Freitag—und Wolf war dabei nichts anderes, als ein Besucher unter Besuchern. Auch in den Reihen der Anderen konnte kein Verbrecher ausfindig gemacht werden. Aber der Fremde in Polizeiuniform war nicht auf den Kopf gefallen. Er wusste irgendetwas stimmte hier nicht—ganz und gar nicht. Ob strafbar oder nicht, spielte erst einmal eine untergeordnete Rolle. Nötigenfalls erfinde man das Verbrechen. Am ersten Tag—Mittwoch—hatte er noch Fremder in Uniform geheißen. Am zweiten Tag—Donnerstag— jedoch war er, wie alle anderen, ein Fremder unter Fremden bei Möbius. Was waren das für Leute, die bei Laura waren? Littke, die Fremde in Loungeanzug. Olympia Orhan, die Fremde mit der Honigbrotphobie. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick. Michel Nix-Kessin, der der nuschelnde Fremde genannt wurde und der Fremde in Uniform—sie alle waren Fremde unter Fremden in der Wohnung Laura Möbius. Der Fremde in Uniform stand den ganzen Tag lang von früh bis spät in der Wohnung Möbius und beobachtete sie aufstehen, sich an den Schreibtisch setzen, Frühstücken, welches ihr von der Fremden mit der Phobie gebracht wurde und arbeiten—und weiter nichts. In der Zwischenzeit befragt der Fremde in Uniform die Besucher Möbius‘. Er hörte lauter Dinge mit denen er nichts anzufangen wusste. Quelle der Inspiration. Wo ist das Rauschgift? Pflaster für das Heil der Seele. Wo sind die Nutten? Ein Leuchtturm im Meer der Sehnsucht. Wo ist das Falschgeld? Er verstand es nicht. Hatten Sie mal engeren Kontakt zur Frau M.? Wenn Sie aussagen, mindert dass Ihre Belastung und wirkt sich strafmildernd aus. Hat Sie Ihnen etwas zu essen verkauft? Gibt es einen geheimen Raum, wo Dinge stattfinden, die anderswo nicht stattfinden? Er biss sich die Zähne aus. Die Leute starrten ihn an, den Fremden in Uniform. Die Leute waren irritiert. Wie er sie nicht verstand, verstanden sie ihn nicht. Und er fragte sich, wie weit ist es mit Möbius schon fortgeschritten? War das schon Gehirnwäsche? Und wenn, wie wusch Möbius die Gehirne ihrer Besucher, wo sie doch den ganzen Tag nichts macht, als am Schreibtisch zu sitzen. Der Morgen verging und der Mittag ebenso. Die Besucher wechselten sich ab. Konstant sind etwa Zehn bis Fünfzehn Besucher im Hause Möbius, notiert sich Wolf. Manchmal selten in kurzen Momenten war er allein mit Laura. Und beobachtete sie fleißig und merkte nicht, dass er genau das tat, was alle andere ebenso taten. Mit dem Unterschied, dass er noch immer etwas wollte—etwas haben wollte—auf ein Verbrechen hoffte. Er schreibt sich auf, die Wohnung Möbius ist wie in einem Flüchtlingslager von Flüchtlingen die aus Sbrenzka geflohen waren. Wolf hatte einmal in Zivil mit ansehen müssen, wie sich jemand umbrachte. Da war er gerade auf dem Weg zur Wache und ihm war die betreffende Person schon vorab aufgefallen. Wenige Menschen würde auf einem Bahnsteig rücklings der Gleise stehen. Dann kam die Bahn und der Mann ließ sich einfach nach hinten fallen. Es kann sein, dass Wolf seitdem noch ein Stück mehr darauf aus ist, das Verbrechen zu bekämpfen. Es ist still in der Wohnung. Manchmal hört man Schritte, ein Schmatzen, ein Husten. Laura Möbius arbeitet und liest. Gespräche wie abgebrochene Fetzen. Wie nicht zu ende geschriebene Geschichte, Filme und Lieder. Laura hatte vor einigen Wochen einen Tag die Tür einen Spalt offen gelassen und dann war Ulf der Nachbar

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herein gekommen. Ohne einen Ton, hatte er sich vor sie gesetzt und war still. Hörte ihr zu wie sie schrieb und wie sie sich selbst—stumm—ihre Sätze vorlas. Sie hatte nichts zu ihm gesagt. Nur als er eintrat ohne zu klingeln oder zu klopfen, schwieg sie einen Moment. Wie ein Tier beim Fressen, dass ein anderes Tier wahrgenommen hatte und nun den Kopf über dem Essen hält und sie sich einander anschauen. Wie das Tier, hatte Laura Gefahr und Risiko abgeschätzt, bis das Tier weiter frisst, wenn es weiß, es hat nichts zu befürchten. So hatte Laura Ulf angeschaut, der vor ihrem Schreibtisch erschienen war und schrieb weiter. Sie setzte ihre Arbeit fort und Ulf blieb und schwieg. Nach einer Weile brachte er einen Freund mit: Matthias. Matthias saß da vor Laura und auch ihn schaute sie zunächst still an, erneut wie das Tier, das beim Fressen gestört wurde und sie arbeitete weiter und Matthias blieb und schwieg. Jäh wurde aus den zwei Männern eine ganze Gruppe aus Frauen und Männern, die Laura Möbius zu schauten wie sie arbeitete und stumm vorlas und sie alle blieben und schwiegen. Von vorlesen kann eigentlich nicht gesprochen werden, denn Lauras Lippen verließ nicht ein Ton. Aber ihren Mund bewegte sie, als würde sie lesen. Krüger, 33, träumt noch immer davon Schauspieler zu werden. Er hat Lust auf Tattoos, sagt er, aber er will es sich mit der Schauspielkarriere nicht verderben. Das hat schon einen schlechten Einfluss. Meint er. Er ist 33, heißt mit Vornamen Elias, das kommt von Öl- oder Olivenbaum und gilt als Zeichen der Hoffnung, wie hinlänglich bekannt. Elias Krüger hofft entdeckt zu werden. Auf der Straße oder bei Möbius. Er hat sich eine Website gebaut, dort hat er neben vielen bunten Bildern auch so etwas wie eine Vita eingetragen. Das Computerwissen hat er von seinem Vater. Der hat ihm erstens einen Werbeauftrag bei Otto besorgt und zweitens hat der ein Hotel. Früher hat Elias im Hotel mitgearbeitet. Das Hotel liegt direkt an der AVUS. Seitdem Job bei Otto, hat er aufgehört im Autobahnhotel zu arbeiten und arbeitet an seiner Schauspielerkarriere. Die Website hat er mit seinem Vater gebastelt. In seiner Vita hat er den Modelljob bei Otto geschrieben und noch ein paar fiktive Jobs hinzugefügt. Das mache Eindruck, meint er. Ob er gerade Rollen habe. Gerade, betont er weitschweifig, gerade nicht. Man hat den Eindruck er hat Lust auf ein Musical. Er meint er sehe zu gut aus um nicht aufzufallen, er sehe zu gut aus um übergangen zu werden und er sehe zu gut aus, um sich anzustrengen und Krüger 33 sieht handlungsunfähig so gut aus. Wolf schleicht durch die Wohnung Möbius und ahnt rituelle Gewalt, schreibt er in seinen Bericht. Die nicht entdeckte rituelle Gewalt, wird in einem noch geheimen Hinterzimmer durchgeführt. Wolf ‘s Bericht ist ein Bericht über eine Chimäre. Die Chimäre Laura Möbius. Es hatte geheißen mit der Ausbildung und dieser Berufserfahrung, wäre er prädestiniert für eine Karriere bei der Polizei. Man hatte dem Mann mit dem unterwürfigen Blick gesagt: prädestinierte Karriere bei der Polizei. Er ist Lokführer geworden. Seit der Sache in Afghanistan kann er prädestinierte Dinge nicht mehr so gut ertragen. Seitdem einstürzenden Haus, seitdem einer seiner Kameraden von einer Landmine zerfetzt wurde, hält er es nicht mehr aus, wenn Sachen klar sind und einer Linie folgen. Seitdem Auslandseinsatz fällt es ihm schwer einem roten Faden zu folgen. Lokführer, so ein Kindheitsding, sagt er. Komischerweise, hatte er immer Nachtdienst und musste immer spät arbeiten und wenn seine Frau sich darüber beschwerte, sagte er nur, er wolle nützlich sein. Nirgends kann man so nützlich sein, wie nachts im Zug. Einmal war einem Kollegen ein Mädchen vor den Zug gesprungen. Der Kollege ist für mehre Monate ausgefallen und der Mann mit dem unterwürfigen Blick, hat seine ganzen Schichten übernommen—plus die Eigenen. Seitdem er zurück ist, kann er auch mit Nähe nicht mehr so gut umgehen. Deswegen war es ganz gut, dass er nachts immer im Zug saß. Dieses Gefühl, jemand liegt neben ihm und atmet, löste immer einen inneren Fluchtdrang aus. Einmal hat er seine Frau im Traum gewürgt. Ein anders Mal, das war nach dem Würgen, hat er sie dann, als Schutz vor sich selbst, das Bett hinunter geworfen. Und als sie auf dem Boden lag, hat er sie noch unters Bett geschoben. Er oben sie unten. Das hatte nichts mit Macht zu tun, sondern mit Schutz. Außer Sichtweite. Er hatte ihr eine Decke mit nach unten gegeben. Ein bisschen eng sei es sicherlich gewesen. Er kann es nicht ertragen, wenn neben ihm jemand atmet. Nachdem die gemeinsamen Kinder ausgezogen waren, war die Wohnung ein bisschen zu groß für zwei. Sie sind umgezogen und er bekam ein extra Zimmer. Für ihn bedeutete dies immer mehr Rückzug. Irgendwann ist er gar nicht mehr aus dem Zimmer gekommen. Seine Frau hat ihm drei mal am Tag etwas zu essen vor die Tür gestellt, was er sich dann holte. Seine Tochter ist zur Polizei gegangen. Sozusagen als Stellvertreter Mission. Bei der Polizei lernte sie den Schwiegersohn kennen. Schließlich trennte sich seine Frau. Das war sieben Jahre nach seiner Rückkehr. Jetzt hat er seit zwei Jahren keine Frau mehr. Nach der Trennung tauchte seine Exfrau mit einem Neuen auf. Bis ins extra Zimmer war das gegacker, geflirte und gequatsche zu hören. Er wusste nicht mehr, wie man einen Konflikt gewaltfrei löst. Der Neue hatte die Polizei gerufen. Da war gerade seine Tochter mit ihrem Mann auf Streife. Als sie die Adresse hörten, stürmten sie so schnell es ging, zu der Wohnung ihres Vaters, bzw. Stiefvaters. Er ging auf sein extra Zimmer, wie ein Kind, nach Erteilung von Stubenarrest. Die beiden vor der Tür überredeten den Neuen, keine Anzeige zu erstatten. Im Krankenhaus diagnostizierte man eine Wangenknochenfraktur. Und der Neue, wurde zum Alten der Exfrau. Zwei Jahre ist das nun wieder her. Neulich hat er auf dem Weg zu Möbius, wie durch Zufall, einen alten Freund aus der NVA wieder getroffen, der mit ihm in Afghanistan war. Der Freund sagt, er sei an Leukämie erkrankt. Da

sei er mit ihm in eine Kneipe, statt zu Laura. Betrunken nach reichlich Bier, schlossen sie einen Pakt. Das Ziel war die erste Welle der Chemo mitmachen, schauen was geht und dann entweder umbringen oder weiter machen. Eines Abends, klingelte das Telefon und der alte NVA-Freund war dran, er sagte, er wolle nicht mehr auf die erste Chemo warten. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick fuhr sofort zu seinem Freund. Er hatte alles vorbereitet. Das Problem bei der Durchführung eines sogenannten Suizidpaktes ist, dass der erste, der sich umbringt, nicht überprüfen kann, ob der zweite seinen Teil des Paktes einhält. Also ist das so eine Sache des Vertrauens. Fragt man sich, wie wichtig Vertrauen ist, wenn man tot ist. Das dachte sich auch der Mann mit dem unterwürfigen Blick und verließ die Wohnung des Freundes. Tage später fand die Polizei den Strangulierten. Keine Spur vom Mann mit dem unterwürfigen Blick. Aber irgendwie war das schon Sterbehilfe. Er hat das mal bei Laura irgendeiner Fremden erzählt. Jeden Morgen sitzt er auf seinem Zimmer in der Wohnung, in der seine Frau noch wohnt. Eigentlich war verabredet, dass er auszieht. Lässt das Licht gelöscht und hört Musik auf der Bettkante sitzend. Sieht aus wie im tiefsten Winter, wie Ohrenschützer, sind aber seine Kopfhörer. Hatte er von seinem Kameraden bekommen, der Panzerfahrer war. Wilfred Bion hat das Innere eines Panzers mal der Gebärmutter verglichen. Seitdem er bei Laura ist, kann er das Atmen seiner Mitmenschen ein wenig besser ertragen. Sie sagt, die Zeit bei Laura braucht sie. Sie genießt es, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie fühlt sich wohl. Ihre Stimmung sei aber noch immer getrübt. Sie sagt, eine Art von Traurigkeit ist immer mit dabei. Sie fühlt sich noch lange nicht so weit, ihren Alltag zu meistern. Sie freue sich Zuhause zu wohnen, allerdings habe sie Angst vor dem Alleinsein. Ihre Stimmung schwankt sehr, Frau Claudia Kadow neigt zu Wutausbrüchen. Die Gefühle würden zwischen Reizbarkeit, Traurigkeit und Impulsivität changieren und meist bei Leere sistieren. Manchmal schläft sie bei Laura auf der Couch. Das Frühaufstehen falle Frau K. noch schwer. Man kann sie die Fremde mit den müden Augen nennen. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ermüdet und erschöpft sie. Innerlich fühlt sie sich unruhig, so dass sie Schwierigkeiten habe, einzuschlafen. Manchmal wälzt sie sich auf Laura‘s Couch hin und her. Dann liegt sie unter der Decke, sodass nur ihre Augen raus schauen und sie beobachtete die Fremden, wie sie Laura beobachten. Und Laura sitzt am Schreibtisch, ist still und sie schreibt einen Satz die Stunde. Kadow, die Fremde mit den müden Augen, liegt dann lange wach und grübelt über ihre berufliche und ihre sogenannten persönliche Situation nach. Warum sie zu Laura geht? Sie wünscht noch ein bisschen Stabilität. Sie möchte wieder fröhlicher sein. Unterbrechend belasten sie suizidale Gedanken. Vor dem Tod habe sie jedoch Angst. Große Angst. Konkrete Planungen gibt es nicht. Fremde und Fremde schieben sich in der Wohnung Laura‘s Zettel zu, denn sie wollen die Ruhe nicht stören. Nur einer spricht, der Fremde unter den Fremden, der mal der Fremde mit der Uniform geheißen hat. Und sich dafür böse Blick fängt, vor allem von dem Fremden mit dem unterwürfigen Blick. Wir wissen wer wir sind, aber nicht wer wir sein können., schreibt Laura in ihren linierten Ringblock. Die Frau Weißgerber, mit Eszett, kam in Begleitung einer Freundin, die sie aber nur bis zur Schwelle der Haustür, unten in der Griebenowstraße Zwölf begleitete. In ihrer erster Stunde bei Möbius, sagen die anderen, war die Frau sehr weinerlich und schien leidend zu sein. Sie sagt sie habe vierzig Jahre mit ihrem Ehemann zusammengelebt. Ihr Ehemann Herr Weißgerber, sei ein hochgebildeter Pädagoge. Hochgebildet, sagte sie. Ihr Ehemann sei auf verschiedenen Missionen für die Entwicklungshilfe in unterschiedlichen Ländern herum gereist. Herumreisen sagen, als Frau eines hochgebildeten Pädagogen—was der dazu wohl sagen würde. Dazu gehörten Länder wie Pakistan, Tschad und andere. Für ihn habe sie immer als seine Sekretärin gearbeitet. Man meint, sie hätte ein nur verschluckt. Und seine Buchhaltung gemacht. Die letzten drei Jahre habe sie mit ihrem Mann in Tschad gelebt. Anfang diesen Sommer bekam sie einen Brief. Der Brief war von ihrem Ehemann. Als sie in Berlin und er in Tschad war. In seinem Brief schrieb er, dass er sich sein Leben mit ihr nicht weiter vorstellen könne, dass sie ihn unterdrücke. Er habe ihr sehr viele Vorwürfe gemacht, meint sie. Sie sei zusammengebrochen. Das kam so überraschend. Dass Herr Weißgerber nichts mehr von seiner Frau wissen wolle. Später in einem Brief korrigierte er sich und sagte: erst einmal. Auch meint man, hätte er das Wort nur verschluckt. Kurz wäre das eine Besserung gewesen, hätte es genau genommen zu einer Besserung geführt. Es wurde schlimmer, als sie einen Liebesbrief von einer dritten Person in den Seiten eines Buchs versteckt gefunden habe. In den Kisten, die er von Tschad nach Berlin geschickt hatte. Als der Plan noch war, er komme sobald wie möglich nach. Es gehe nicht darum, dass ihr Mann und diese dritte Person, eine zwanzig Jahre jüngere Frau, mit einander sexuell aktiv gewesen wären—was sie nicht waren—, sondern, dass sie eine emotionale Beziehung hätten. Das kann sie ganz klar aus dem Brief, den sie zwischen den Buchseiten fand herauslesen. Sie hätte irgendwie den Boden unter den Füßen verloren. Sie hätte diesen Boden auch nicht in—sie sagt— Tauchspielen in der Badewanne gefunden. Sie wusste gleich, wie albern das sei und sei fortan nicht mehr untergetaucht. Aber auch nicht mehr—sie sagt—aus dieser Lebenskrise aufgetaucht. Sie war auch ein bisschen betrunken

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gewesen. Immerhin habe sie aber mit den nassen Fingern, auf dem Badewannenrand, die runzlige Haut, die weißen anliegenden Haare, das gewellte Papier—immerhin habe sie in diesem Zustand keinen Brief an ihren Mann geschrieben. Das hat sie schon, aber sie hat sich auch ausgetrickst, nämlich hat sie als Adressaten ihren Mann geschrieben, aber in dem Feld der Adresse nicht die Adresse ihres Mannes in Tschad, sondern die Berliner Adresse, wo er jetzt sein sollte. Folglich kam der Brief nicht bei ihm, sondern bei ihr an, allerdings an ihn adressiert. Sie sagt, sie weigert sich seine Post zu öffnen. Das kann er schön selbst machen. Er hatte versprochen nach zu kommen. Inzwischen könne sie nicht mehr schlafen, grübele viel über den Badewannenabend, verkrafte es nicht mehr, weiter von ihm Post zu bekommen. Die Frau berichtet auch von früheren Angstzuständen. Nämlich wenn sie als Beifahrerin im Auto des Herrn Weißgerber gesessen hätte. Das hat so weit geführt, dass sie sich zunächst krampfhaft festhielt und ständig dachte an der nächsten Kreuzung verunfallen sie. Bis sie überhaupt nicht mehr mit ihm fuhr. Was so weit führte, dass sie kaum noch die Wohnung verließ. Frauen sind am Steuer in Tschad nicht gern gesehen. Herr Moravia ist ein Mann, der aus dem Penis blutet. Er glaubt er habe eine Endomitriose. Er habe mal gehört, das Endomitriose etwas mit Blut und Geschlechtsteilen zu tun hat. Derselbe Mann empfindet die Masturbation, als ein liderliches Ritual, das er von Zeit zu Zeit ausführen muss. Eine Endomitriose ist häufige, gutartige, aber schmerzhafte Erkrankung von Frauen. Wobei die Gebärmutterschleimthaut, außerhalb der Gebärmutterhöhle vorkommt. Medizinisch wird das als Ektopie bezeichnet und beschreibt eine Gewebeverlagerung an eine ungewöhnliche Stelle im Körper. Ätiologisch handelt es hierbei oftmals um ein Entwicklungsstörung des Fetus, wobei kleine Mengen Gewebe oder ganze Organe an einer anderer Stelle als gewöhnlich sitzen. Als Jugendlicher habe Moravia sein Fahrrad verdeckt, wenn er masturbierte. Weil die Masturbation eine schmutzige Sache ist und er sich—von seinem Fahrrad—dabei beobachtet fühlte. Im weiteren Verlauf habe er Uhren, Fenster, Bücher, Flaschen, seinen Teppich—kurz alles abgedeckt, was ihn irgendwie beobachten konnte. Das muss ein Bild gewesen sein. Ein junger Mann, der in einem bedeckten Zimmer masturbiert. Wenn es um Ektopie geht, hat Moravia glück gehabt, dass ihm sein Penis nicht auf der Stirn gewachsen ist. Wie die normale Gebärmutterschleimhaut verändert sich die ektope Gebärmutterschleimheit während des Zyklus. Die Folge davon sind meist Schmerzen im unteren Bauch. Auch Moravia hat oft Bauchschmerzen, die aber wohl auf seine Zwänge zurück zu führen sind. Meist sind die Eierstöcke von der Endomitriose betroffen, aber die Krankheit kann sich auch in der Scheidenwand und im Darm ausbreiten. Selten dringt sie ins Gehirn oder in die Lunge vor. Muss man sich mal vorstellen, sagt ein Arzt zu dir: Sie haben Gebärmutterschleimhaut im Gehirn. Sagst du: wird sicher ein schlaues Baby. Wie nun Moravia darauf kam an Endomitriose erkankt zu sein das kann, im Namen der Wissenschaft, niemand sagen. Wenn er bei Laura ist, dann geht er manchmal ins Badezimmer und masturbiert. Man mag sich über eine Spur von Überdeckungen wundern. Von verhangenen Kommoden, Regalen und Schränken, Uhren, Pflanzen und Lampen. Eine Masturbation dauert bei ihm etwa 45 Minuten und ist für ihn ein lieder- und widerliches Ritual, wiederholt er. Er muss dieses Ritual mindestens einmal am Tag ausführen. So erfreuen sich der Fremde mit der Krankheitseinbildung und die Fremde mit der Honigbrotphobie der besten Freundschaft und hängen die Wäschen gemeinsam in Lauras Wohnung—ohne Wäscheständer— auf. Im Gespräch mit dem Fremden unter Fremden, gesteht er, er glaube, dass sein Blut die Farbe von Sperma habe und das ein Zeichen seiner Endomitriose ist. Dass das nur Frauen bekommen können, scheint er zu ignorieren. Der Fremde unter Fremden in Uniform fragt den Fremden mit Krankheitseinbildung, was er getan habe, kurz bevor er die Wohnung Möbius betreten habe. “Ich habe geklingelt, mir wurde nicht aufgemacht und ich habe gewartet, vor meinen Füßen lag ein Laubblatt, vom letzten Herbst übrig geblieben, denke ich”, erklärt sich der Fremde mit Krankheitseinbildung. “Und dann?”, fragt ihn der Mann, der außerhalb der Wohnung Wolf genannt wird. “Habe ich es zertreten, aber nicht aggressiv sondern liebevoll zerteilt und bemerkt, dass die Tür offen steht.” Der Mann mit dem unterwürfigen Blick mischt sich in das Gespräch ein. Man steht im Flur, der von Sitzbänken flankiert wird. Stumme Fremde sitzen auf den Bänken. Man fühlt wie vor einem taubstummen Gericht und blinden Geschworenen. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick sagt, in Gewaltsituationen sei er ein anderer Mensch. Was das heißen soll, fragt der Fremde in Uniform. Er bekommt als Antwort, dass es schön wäre, nicht immer zu schlagen zu müssen. Ob er jetzt auch aggressiv wäre. Ein wenig, ja. Ob er einen Menschen schlagen wolle. Ja. Ob er ihn schlagen wolle. Ja. Warum er es dann nicht mache. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick zischt den anderen an, schaut unterwürfig und grinst wie ein Affe vor dem elektrischen Stuhl. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick sagt, er habe die Tür immer im Blick. Der Fremde mit der Krankheitseinbildung stimmt dem anderen zu. Kann er verstehen, sagt er. Im Fall eines Feuers oder falls das Haus einstürzt. Wie er auf die Idee komme, das Haus könne einstürzen. Jedes Haus kann immer irgendwie einstürzen, passiert nur meist nicht. Weiß er alles aus dem Fluchtwegetraining. Ob er mal bei der Polizei war, fragt der Fremde in Uniform und vermutet einen anderen, aber verdeckten, Ermittler. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick verneint

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und der andere atmet auf. Aber wenn er irgendwohin kommt, muss erst einmal die Fluchtwege checken. Die drei stehen im Flur. Moravia sagt, er müsse mal ins Badezimmer. Die beiden anderen nicken.

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ie 52 jährige Frau, hatte braun gefärbte Haare, die sie kurz, als Bob, trug und die Brauen hatte sie sich abrasiert und dafür dunkle Striche gesetzt. Die dunkeln Bögen ihrer Augenbrauen versetzten ihr Gesicht in ein permanentes Staunen. Ihre Glieder waren außerordentlich lang. Was sie etwa seit der Pubertät waren. In der Schule hatte man einen Ausflug zum Skansen in Stockholm gemacht. Skansen zu deutsch Schanze, ist ein Freilichtmuseum im Westteil der Halbinsel Djurgården. Welches auch über einen Zoo verfügt. Welcher wiederum ein Insektarium beherbergt. Lindkvist war dort mit ihrer Klasse. Das muss nun schon etwa 37 Jahre her sein. Die schwedischen Jugendlichen hatten noch nie eine Gottesanbeterin gesehen und als Lindkvist vor einem Terrarium mit eben jenem Insekt stand, welches sich elegant wie ein Stock durch den Glaskasten bewegte und Lindkvist mit ihren langen Armen und Finger das Glas berührte, rief prompt einer ihrer Mitschüler: bönsyrsa!, was so viel wie Gottesanbeterin bedeutet. Seitdem wurde Lindkvist als Gottesanbeterin verspottet, wenn auch Gottesanbeterinnen in Schweden nicht unbedingt populäre Tiere waren. Später sah sie über den Spott hinweg und nannte sich selbst – unter Freunden—Frau Dr. Gottesanbeterin. Margarethe Lindkvist, die Fernseh-Therapeutin, mit den feingliedrigen Extremitäten und sehnigen Armen und dürren Beinen, die sich in der, in Stockholm ansässigen, Show blamierte. Deren Patient seine Spinnenphobie überwand in dem er die Spinnen umbrachte. Das soll sich niemand zu Herzen nehmen, sagte sie im Off. Besonders nicht die Sozialphobiker und lachte als einzige im Fernsehteam. Warum sie das im Fernsehen mache, wird sie immer wieder gefragt. Anfänglich antwortete sie, um die Psychotherapie bei den Schweden bekannter zu machen. Und zuweilen auch beliebter zu machen, wenn auch nur die, wie sie sagt: Berührungsängste abzubauen. Sie wolle den Menschen zeigen, dass das dabei kein Hokus Pokus ist. Kein Seelenstriptease. Kein patria- oder matriarchalisches Hierarchiegefälle. Sie wolle nur zeigen, dass sich dort zwei Menschen treffen, die ein gemeinsames Projekt haben. Das denke sie auch heute noch und doch, sagt sie, empfinde sie ihre Antwort geradezu als widerlich, hässlich und widerwärtig konformistisch—nichts was sie sich mehr wünschte, als ein bisschen Opposition sein. Es muss ja nicht die große Revolution sein, aber ein wenig Relation schade nie. Und die Wahrheit ist, dass sie seit 20 Jahren, im Grunde schon während des Studiums, eine innere Abkehr spürte und fühlte, wie eine Art Ekel, die und der sie von ihrer Profession trennte—was sie nicht wahrhaben wollte. Bis sie eines Tages in ihrer Stockholmer Wohnung aufwachte und mit Erschaudern feststellte, dass sie die psychosoziale, die therapeutische Hilfe, die Unterstützung, das für andere Da-sein, den Retter in der Not spielen—sie wisse es ist nicht sehr fein so etwas von sich zu geben und dennoch: stellte sie nicht ohne Schrecken fest, das alles war ihr fürchterlich lästig. Wie sie in ihrer Stockholmer Wohnung unweit des Fernsehstudios zu erkennen glaubte, war ihr ihre Rolle in der Gesellschaft zu wider, wie ein nach altem Zigarettenrauch riechendes Kleidungsstück. Damit nicht genug, sie verfluchte sich selbst dafür das Psychologische zu verachten und diese Verachtung ihr selbst und ihrer Profession gegenüber, gab ihr zu denken. Heiße das nun, sie sei eine schlechte Psychotherapeutin? Aber es war auch ein aufatmen. Es ist besser zu wissen, das man seinen Job hasst, als das nicht zu wissen und ihn trotzdem zu machen. Die Rolle in der Gesellschaft, wer außer Psychologen denkt denn großartig über ihre oder seine Rolle in der Gesellschaft nach, fragte sie sich und sie empfand auch diese Frage als unangenehm lästig, wie sie letztlich sich selbst lästig fand—was auch immer sie tat. Psychotherapeutin sein, bedeute für sie, immer vor einem inneren Gericht stehen, obgleich sie natürlich wusste, dass das nicht der Fall war. Einige Wochen vergingen seitdem Morgen der Lästigkeit. Irgendwie schaffte sie es nicht mehr daran zu denken. Ein innerer Funktionalismus war angesprungen. Sie nannten diesen immer ihren finanziellen Schutzengel, denn ohne die Arbeit als Therapeutin, verdiente sie auch kein Geld. Vielleicht lag es auch daran, dass sie seitdem ein längeres Vis-à-vis mit ihrem Spiegelbild vermeide, manchmal nur kurz rein schaute und dann sich nur Einzelteile ihres Kopfes zu Gemüte führte und sich das Gesamtbild ersparte—es gerade zu aussparte, wie sie Flecken im Gesicht mit Make Up verdeckte. Make Up das weiß war, wie Babypuder, denn ihre Gesichtshaut war weiß wie der Schnee. Eines Morgens, sie hatte gerade in aller Eile das Haus verlassen, fand sie im Briefkasten die Einladung in die Fernsehshow. Es war ein unausgesprochenes und inoffizielles Gesetz unter Therapeuten an einem solchen Format nicht teilzunehmen und es stillschweigend abzulehnen. Mit Geduld und Pflichtbewusstsein, wie Aurel sagen würde. Aber Margarethe Lindkvist dachte sich, warum nicht?, wenn ich andere Menschen, die Menschen meines Landes, ihr war feierlich zu Mute, von der Psychotherapie überzeugen könne, dann gelingt mir das vielleicht auch mit mir selbst. Zugegeben diese Frau dachte eigennützig bis zu Letzt. Einen Monat später saß auf einem der Plüsch überzogenen Stühle und der Moderator sprang wie tollwütig zwischen ihrem Gast und ihr selbst hin und her. Das mit dem Glas war ihre Idee. Nicht zu sagen, als der Spinnenphobiker das Glas zertrümmerte hatte und auf den Spinnen herum trampelte, da stampfte er auch ihren Glauben an die Psychotherapie mit ein. Lindkvist hieß mal Lundqvist und ist eine Nachkommin des Besitzers der Swiks, dem Schoner, der vor Öland

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auf eine Sandbank gelaufen ist und die Jahre später bei einem Sturm um 1950 auf den Strand beim Trollskogen gespült wurde. Die Swiks war ein dreimastiger Schoner. Schoner sind Schiffe mit besonderer Takelage, was die Tauwerke der Schiffe betrifft. Auf einem Schoner ist der vorderste Mast niedriger als die Hinteren. Schoner sind schnelle Schiffe, die als Kurierdienst oder zur Piratenjagd eingesetzt wurden. Gebaut wurde die Swiks 1902 in Lettland. Ihr erster Besitzer ein Indrik S. Puhlin hatte den Spitznamen Svikis, was soviel wie sehr strapazierfähig oder zäh bedeutet. Man vermutet das Schiff hatte daher seinen Namen. Puhlin führte das Schiff zehn Jahre bis 1912. Er verkaufte an einen Johansson, der wiederum die Swiks vier Jahre späte an eine Andersson veräußerte. Schließlich gelangte es 1924 in den Besitz von Arthur Lundqvist, nicht zu verwechseln mit dem Schriftsteller Artur Lundkvist. Am Tag des Unglücks befand sich Lundqvist mit seiner Crew von sechs Männern auf dem Weg von Flensburg nach Mariehamn, dem Heimathafen der Swiks und Hauptstadt Ålands. Einer Inselgruppe am Eingang zum Bottnischen Meerbusens zwischen Schweden und dem finnischen Festland. Åland ist weitestgehend autonom verwaltet. Die Amtssprache ist schwedisch, aber seit 1921 gehört die Inselgruppe zu Finnland. Die Swiks führte nichts als Ballast und geriet bei Öland, etwa 150 Kilometer von Mariehamn entfernt, in einen fürchterlichen Schneesturm. Lundqvist steuerte sein Schiff um die Insel in der Hoffnung in Kalmar Schutz zu finden. Öland allerdings, mit seiner Landschaft, seinen Fluchtburgen, seiner Felsküste, seiner Steppe und seinen Sandstränden ist auch umgeben von einigen Sandbänken und auf eine dieser Unterwasser-Dünen lief das Schiff auf. Da war der Strand des Trollskogens in Sichtweite. Lundqvist fackelte nicht lang, nahm seine Crew und sie verließen das gestrandete Schiff auf einem Beiboot. Am Strand angekommen, nahm man den direkten Weg durch den Zauberwald und kam nach der turbulenten Seefahrt und einer anstrengenden Wanderung im Dorf Grankullaviken an. Eines der Crew-Mitglieder hatte sich durch einen rostigen Nagel eine Blutvergiftung zugezogen und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Allen anderen erging es prächtig—abgesehen vom Verlust des Schiffes. Knapp 30 Jahre später, beförderte ein Wintersturm das Schiff von der Sandbank an den Strand des Trollskogen. In den 70ern hatten ein paar Bauern Ölands das Schiff gekauft und wollten das Holz und die Nägel verwerten, es stellte sich jedoch heraus, dass das Material unbrauchbar war. So liegt das Schiff noch Heute am Strand des Zauberwaldes. Diese Geschichte war Teil des Familienepos Lundqvist und wird heute noch immer von ihren Verwandten, die sie selten sieht, erzählt. Aber Margarethe dachte sich Lindkvist wäre internationaler und komme bei Fernseezuschauern besser an, außerdem hatte sie die Schiffsgeschichte satt und eine Namensänderung, dachte sie sich, sei doch eine gute, wenn nicht gar hilfreiche, Distanzierung. Das mit den Nachnamen ist in Schweden so eine Sache. Ein Viertel der Schweden, das sind zwei Komma fünf Millionen Menschen, haben einen Namen, der auf -son endet. Wie Svensson, Johannsson, Karlsson, Andersson oder Nillsson. Bis in das späte 18. Jahrhundert war es unüblich einen Nachnamen zu tragen und lediglich Adelige, Priester und höhere Bürger fühlten sich berufen einen solchen als Nachklang an ihren Namen, besser gesagt: ihren Vornamen, zu hängen. Der Rest der Bevölkerung nannte sich wie es wollte oder verzichtete nach jede Form von Nachklang. Wahrscheinlich waren die Schweden etwas ungeübt in der Praxis der Nachnamensgestaltung und so griffen sie meist zu Patronymen, den Vatersnamen, sodass Ende des 19. Jahrhundert etwa 47% der Schweden auf einen Nachnamen, der auf son endete, hörten. Dieser Namen wurde dann ins Kirchenbuch eingetragen und war eine besiegelte Sache, in sofern der Namensträger nicht die Lust verspürte seinen Namen spontan zu ändern. Wegen der hohen Verwechslungsgefahr im Militär und weil es unmöglich ist ein Regiment aus Anders Anderssons zu befehligen entstanden viele Ruf- und Spitznamen, die sich von Eigenschaften der Namensträger ableiteten. Beispiele hierfür sind etwa: Moda für mutig, glad für glücklich und trofast für fest im Glauben. Einige wurden auch nach ihrer Herkunft benannt. Ström für Fluss und Holm für Insel. Diese leidlich unbürokratische Praxis, der freien und flexiblen Namensgestaltung, fand ihr jähes Ende als der Gefängnisdirektor Siegfried Wiselgren sich über eine weit verbreitete Praxis der Inhaftierten bei der Regierung beschwerte. Die Kriminellen hatten es sich zu eigen gemacht vor oder bei ihrer Inhaftierung den Namen eines Adeligen als den Eigen zu deklarieren. So saßen eine Menge Adeliger im Gefängnis—ganz zur der Verwirrung der Allgemeinheit. 1901 erließ der Reichstag eine Dekret, dass jeder Schwede einen Nachnamen zu tragen habe. Dieser Nachname sei zu dokumentieren und könne im Nachhinein nicht einfach mir nichts dir nichts verändert werden. Einige wenige leiteten ihren Nachnamen von den alten Rufnamen ihrer Vorfahren ab. Die Glads, die Modas, die Trofasts et cetera. Das führte dazu, dass sich die gesellschaftliche Rangordnung anhand der Nachnamen aufwiegelte und eine Pyramide bildete. Benutzten die meisten Schweden das Patronym ergab sich daraus eine Masse an sons, welche die erste Ebene der Pyramide bildeten. Gefolgt von den eher selteneren Sons, wie Gunnarrsson und Martinsson. Darauf kamen die Mittelstandsnamen, die auf ström, berg, lund und dahl endeten. An der Spitze der weit verbreiteten Namen und vor der untersten Adelsschicht, standen die Kvists. Für die Sons bedeutet es, am Fuße der Pyramide zu stehen, eine hohe Bürde und erst 1946 erließ der König zur Lockerung des Gesetztes eine Verordnung, die es den Sons leichter machte, ihren Namen zu wechseln. So konnte jeder Son einen Antrag beim statistischen Amt auf Namensänderung stellen. Bereits 1920 kam ein bekanntes Na-

mensbuch heraus, in dem damalige Philologen und Sprachwissenschaftler eine Reihe von Namen, die zu Schweden passten, zusammentrugen. Die Krux ist, dass vom statistischen Amt jeder Name nur einmal vergeben wird. Man ist bemüht eine erneute Namensschwemme vorzubeugen. Vielen Schweden fällt es schwer sich zu entscheiden, ob sie lieber Gabel, Krummkorn, Fußboden, Eichenkranz oder Palmenbirke heißen wollen. Ferner sind sie dazu angehalten, sich einen eigenen Namen zu überlegen. Letztlich dürfen auch Kriminelle nach der Haftentlassung sich einen neuen Namen zu legen. Es galt sogar als Zeichen der Reue, den verbrecherischen Namen abzulegen. Für Margarethe Lindkvist allerdings war die Namensänderung von Lundqvist zu Lindkvist weder mit einem gesellschaftlichen Auf- oder Abstieg noch mit einer anderen Veränderung in ihrem Leben verbunden. Lediglich ihrem Glauben, der Name Lindkvist sei für das Fernsehen besser geeignet, als Lundqvist—und wahrscheinlich erhoffte sie sich auch familiäre Veränderungen. Die Psychotherapeutin war jemand, die einen farbigen Freund hatte, um einen farbigen Freund zu haben. Sie war jemand, die ihre Offenheit und Toleranz gern nach außen hin zeigte. Fragt man sich wovor hat sie Angst. Ihr schwarzer Freund hießt Jeffrey. Wenn man Jeffrey fragte—in ihrem Beisein fragte—woher er sei, wurde sie schon einmal wütend und antwortete statt seiner: aus Malmö, hört man doch! So wie der spricht. Was beide meist ziemlich wunderte. Sowohl Jeffrey als auch den Fragenden. Jeffrey akzeptierte das. Er war tolerant und konnte über ihre Art hinwegsehen. Obwohl auch ihn solche Interviews nervten, wobei es immer darauf ankam, wer wie fragte. Manchmal erzählte er ganz gern, dass er noch Familie in Ghana hatte und, dass er ab und an mal runter flog, wenn es preislich zu machen sei. Lustigerweise wenn man über Saudi Arabien fliegt, fliegt man billiger. Aber a) wer will schon in diesen altbackenen und trostlosen Wüstenstaat und b) ist die Sache mit Saddam und dem Golfkrieg gerade mal fünf Jahre her. Häufig gibt es Tumulte und Bombenanschläge. Zuletzt erst vor einem Monat im Juni in Al-Chubar, einer Stadt in der Nähe von Bahrain, die etwa im selben Verhältnis wie Kalmar und Öland zueinander stehen. In Al-Chuba wurde ein Gebäude angegriffen, in dem US-Militärangehörige wohnten, wobei 19 Menschen starben. Als Jeffrey Lindkvist verkündete, dass er eine Hilfsorganisation in Ghana gründen will, war sie gleich zehnmal mehr mit ihm befreundet. Es soll eine Hilfsorganisation für Kondombenutzung werden. Immerhin leben in Schwarzafrika etwa 50 Prozent aller HIV-Infizierten, wobei dort nur ein Prozent der gesamten Weltbevölkerung leben. Lindkvist hatte mal die Idee den therapeutischen Kontext etwas aufzulockern. Therapie kam ihr immer so stockig vor. Zwei Sessel jeweils ein Tisch. Zwei sitzen sich gegenüber. Einer redet. Manchmal reden auch beide. Das war ihr zu stockig. Zu stockig, wie sie die Tür öffnete. Schon knapp vor dem Klingeln die Klinke in der Hand hielt und klingelte es dann: ein bis zwei Sekunden wartete—damit es realistisch ist. Den Gang zur Tür simulieren. Den Arm etwa 45 Grad geneigt nach vorne schieben, bevor sich die Hände berühren ein Lächeln auffliegen lassen. Berühren sich die Hände, das Lächeln versiegen lassen. Wie eine schnelle Grimasse. Wie die Entspannung nach dem man auf etwas Saures gebissen hat. Zur Begrüßung zu Lächeln ist wie auf eine Zitrone beißen, meint Lindkvist. Man zuckt kurz zusammen, als hätte man sich erschreckt, zeigt sich aber nicht erschrocken. Dann macht man das etwa einen Moment, dann ist der Moment vorbei, man dreht sich um und geht in den Praxisraum. Manchmal, sagt sie, fühlt sie sich das an, als würden ihre langen Beine zu Stöckern und sie müsse laufen wie auf Stelzen. Meist legt sie dann ihre Hand auf die Sessellehne und lässt sie dort, bis ihr Patient sich gesetzt hat. Sobald seine Pobacken den Sessel berühren, lässt sich auf ihren fallen. Holt aus der Sesselfalte links, mit der rechten Hand ein grünes Notizbuch und schaut nach, wer da vor ihr sitzt. Das war ihr zu unbelebt, zu stockig und zu künstlich. Sie wollte ein bisschen Albernheit und Lockerheit in den tristen Therapiealltag bringen. So stellte sie sich und ihrem Gesprächspartner, wie sie sagt, eine Flasche Wein auf die kleinen Beistelltische und legte dazu jeweils Zigaretten. Sie scheiterte schnell mit ihrer Idee, weil besoffen lässt sich‘s schlecht therapieren. Sie entfernte, wenn auch ein bisschen wehmütig, Zigaretten und Wein aus dem Behandlungsraum und widmete sich einer anderen Idee. Bücher. Sie wollte Bücher über die Psychotherapie schreiben. Ihr Buch begann mit den Zeilen: Sie sind Therapeut. Ihnen fehlen manchmal der richtige Satz? Ihnen fehlt manchmal einfach das richtige Wort. Sie wollen Ihrem Klienten oder Patienten ein paar Worte mit auf den Weg geben, an denen er genesen kann? Ihnen fällt manchmal einfach nicht das richtige ein? Dann habe ich Abhilfe für Sie. In meinem Buch habe ich tausend therapeutische und heilende Sätze vereint. Denken Sie nicht weiter darüber nach, die Tür zum Glück geht nach außen auf, wer sie einzurennen versucht, der verschließt sie nur unweigerlich. Kierkegaard. Das Buch verkaufte sich nicht sonderlich gut. Um nicht zu sagen, grottenschlecht. Kein Mensch war an ihren Sprüchen interessiert. Wenn Lindkvist sich auf zwei Charaktereigenschaften reduzieren müsse, sagt sie, dann wären das grenzenloses Unglück und Erfindungsgeist. Eines Tages war ihr grünes Notizbuch mit all ihren Notizen über ihre Patienten verschwunden. Tage später fand sie es in der Zeitung wieder unter dem Titel: wie sogenannte Therapeuten über ihre Patienten denken—ohne Erwähnung ihres Namens.

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onnerstag der erste August in Stockholm war ein Sommertag, der recht kühl war. Die Temperaturen lagen zwischen 14 am Morgen und 22 Grad Celsius gegen drei Uhr Nachmittags. Im Mittel betrugen sie etwa 18 Grad. Und sanken nach drei Uhr bis acht Uhr abends auf 19 Grad. Insgesamt eher wie ein warmer Frühlingstag. Es war bewölkt und irgendwann im Laufe des Tages erschienen zwei Männer am Teich zur Stadtbibliothek nahe der Straße Sveavägen. Der eine trug einen hellen Sommeranzug in dem er fror, er war von etwas kleinem Wuchs, hellhaarig und erfreute sich einst einem prachtvollem Haarschopf, der ihm zur Neige ging. Einen Hut hatte er auch. Er trug ihn aber nicht auf dem Kopf, sondern zusammen gefaltet in der Hand. Der Hut sah dabei aus, wie ein Semla, ein süßliches und schwedisch Gebäck ähnlich einem Windbeutel. Sein Gesicht war glatt rasiert und auf seiner Nase lag eine feine Brille, dessen Rahmen so dünn war, dass man ihn kaum erkennen konnte. Der andere war wesentlich jünger, größer und breiter, hatte zerzauste Haare. Trug ein gestreiftes Hemd und keine Jacke. Ihm schien nicht kalt zu sein. Seine schwarze Hose war zerknittert. Der erste war Niemand anders als Magnus Bo Alexandersson der stellvertretende Chefredakteur des Bonniers Litterära Magasins, der wohl bekanntesten schwedischen Literaturzeitschrift. Selbst war er neben dem Posten Schriftsteller. Der zweite heiß: Leif Niklas Posse. Ein noch unbekannter Autor. Die beiden begrüßen sich mit einem gewohnten Handschlag. Schauen sich um. Stehen vor dem Teich der Stadtbibliothek, der ein wenig an den Patriarchenteich in Moskau erinnert. Die selben Weiden und ähnliche Häuser flankieren das städtische Gewässer. Einzig fehlte eine Bude, wo man etwas zu trinken kaufen kann. Will man um den Teich flanieren oder sich auf einen Bank setze und dabei etwas trinken oder essen. So gingen die beiden Literaten zunächst in die Bibliothek, wo sie in einer vertrauten Umgebung waren und sich daher zielgerichtet auf den kleinen Getränkeautomaten, versteckt in einer Nische, bewegten. Ärgerlicherweise war der Automat fast komplett leer—was merkwürdig war. Die Männer fluchten, schimpften und beschworen den Teufel, aber es half nichts. Der Getränkeautomat blieb genauso leer, wie vor den Fluchen. Sie waren beleidigt, schimpften auf die Bibliothek, auf Stockholm, ach auf ganz Schweden. Die einzige Reihe Dosen, die noch nicht vollständig aufgebraucht waren, war Aprikosenlimonade. Gerade noch zwei Dosen lagen in der Reihe. Kein Wunder, sagten sie sich. Dabei hätten sie so gern ein Bier getrunken. Die zwei Limos flogen in den Schacht. Sie zischten, als die Männer sie öffneten und warf reichlich gelben Schaum und in der Luft verbreitete sich Friseurladengeruch. “Igitt, die ist ja warm”, rief einer der beiden. “Und pappsüß noch dazu”, der andere. Sie spucken den ersten Schluck auf den schönen Steinboden in der Bibliothek und trotzdem tranken sie artig ihre Brause. Schlenderten aus dem Gebäude, welches von außen aussieht wie das Fundament zu einem Turm, der dann abgeschnitten worden ist. Umkreisten den Teich einmal und setzten sich dann auf eine Bank mit dem Rücken zur Straße und das Gesicht zum Teich. Am Himmel nicht ein blauer Flecken. Die beiden Schriftsteller waren unterschiedlich gestellt, teilten sich aber ein und die selbe Art von Leben. Unterschiedlich erfolgreich waren sie auch. Das heißt eigentlich könne man das gar nicht vergleichen. Denn so wie der Eine der Beiden alles daran tat, sein Werk unter die Leute zu bringen. Veröffentlichungen aus eigener Tasche. Lesungsreisen aus derselben stets leeren Tasche. Er sagt immer, man muss sich den Leuten schon aufdrängen. Aber selten brachte Magnus Bo Alexandersson einen eigenen Beitrag im Literaturmagazin unter. Schickt sich nicht, meint er. So war Leif Niklas Posse im Gegensatz dazu stets und außerordentlich darum bemüht, sein Werk, sowie sein Schaffen für sich zu behalten. Ein ständiger Streitpunkt zwischen den beiden. Jeder fest von seiner Meinung überzeugt. “Bo”, wie Posse seinen Freund nannte. “Es ist noch zu früh.” “Heute ist es zu früh, morgen zu spät. Leif, du machst dir zu viele Gedanken über das ob und wann und zu wenige über das wie.” “Mag sein, aber man darf nicht um des Veröffentlichen-wollens veröffentlichen.” “Ach du setzt zu viel Bedeutung in diese eine Sache. Am Ende bedeutet es rein gar nichts.” “Man muss sich seiner Sache sicher sein.” “Und wie willst du das herausfinden?“, fragte Alexandersson seinen Freund und beiden starrten in den Teich. “Ich muss einfach mehr schreiben.” “Wie und was ändert das?” “Nichts ändert das.” “Also was soll das dann?” “Das mache ich immer so.” “Immer?” “Immer wenn ich irgendwie unzufrieden bin, denke ich mir: du musst mehr schreiben.” “Das ist also dein Patent gegen alles?” Leif lachte und sagte: “das ist mein Wundermittel, ja.” Sie schienen den Streit untereinander zu lieben, wollte man sich als Dritter einmischen, wurde man lediglich angezischt. Liebevoll verfeindet und gegen alle, die etwas einzuwenden hatten. Manch einer nennt das eine

Hass-Liebe. Ein anderer sagt dazu: die liebste Feindschaft, ist besser als eine miese Freundschaft. “Weißt du Bo, wenn ich veröffentliche dann unter einem Pseudonym. Ein Künstlername. Sodass keiner weiß, dass ich es bin.” “Ach und wie wäre der? Hast du dir schon einen überlegt.” “Aber klar!”, rief er aus. “Und wie ist der?” “Wenn du lachst, haue ich dir eine runter.” “Also?“ “Pontius Uteliggare.” “Der obdachlose Pilatus, wann ist dir denn das eingefallen?”, verspottet Alexandersson seinen Freund. “Das ist eine Hommage! Ein Tribut. Damit kannst du wohl nichts anfangen.” “Tribut?, ach das hätte ich jetzt nicht gedacht.” “Ja also, was denkst du?” “Ich denke du machst alles ein wenig zu kompliziert”, sagte er und lehnte sich zurück, bis er die Rückenlehne der Bank erreichte und stieß einen leisen Seufzer aus. Aus irgendeinem Grund setzte Magnus viel in seinen Freund, den Schriftsteller der ungern teilt, und nahm ihn öfters zu seinen Lesungssreisen mit. So kam es auch, dass sie immer wieder zusammen im Zug saßen—lautstark auch dort über Veröffentlichung versus Geheimhaltung stritten. Vielleicht fühlte sich Alexandersson auch nur allein auf Reisen und nahm sich deswegen seinen Freund mit. “Man darf seine eigene Person nicht mit einbringen”, argumentierte Leif Posse. “Je mehr ein Leser über dich weiß, desto mehr wird das Werk verfälscht.” “Leif das hängt untrennbar mit einander zusammen.” “Ich denke man sollte nicht mal von seinem Werk, sondern nur von dem Werk sprechen, verstehst du?” “Und ich denke, du solltest lieber Zeit für das Schreiben aufbringen, als dir irgendwelche Regeln zurecht zu biegen.” “Ich denke tatsächlich manchmal daran, auch etwas zu veröffentlichen.” “Aber?” “Aber dann fällt mir ein, dass mich niemand lesen wollen wird.” “Das weißt du woher?” “Ich kann das verstehen. Ja sogar sehr gut verstehen. Ich würde mich auch nicht lesen wollen, wenn ich nicht müsste. Bo, wenn mir jemand ein Buch von mir vorlegen würde und ich wüsste nicht, dass es mein Buch ist, ich würde zwei Sätze lesen und dann denjenigen, der mir das Buch gegeben hat, fragen, warum er mir einen so schönen Tag versauen will. Verstehst du, ich würde ihn fragen, was ich mit diesem Schund soll.” “Das geht so seitdem wir uns kennen. Niklas,” wie Alexandersson seinen Freund nannte, wollte er Einfluss auf ihn nehmen. “Niklas”, wiederholte er. “nur du kannst da etwas ändern.” “Warum das denn sein muss”, rief dieser lachend aus und tat so, als hörte er seinen Freund nicht. “Aber wer verschmäht schon die eigenen Kinder? Dann denke ich wieder, eigentlich geht es nur um den kurzen Moment.” “Moment?”, frage Magnus. “Dieser Moment, wo du einen passablen Satz geschrieben hast und den Augenblick wo sich dein grenzenlosen Unglück in begrenztes Glück verwandelt.” “Das ist eine Sekunde”, folgerte Alexandersson. “Leben Menschen nicht in Sekunden?” “Der Mensch ist die Sekunde, das hast du mal gesagt.” “Man lebt für Augenblicke.” Es war gut, dass sie sich extra in eines der geschlossene Abteile gesetzt hatten und dank des heftigen Qualms ihrer Pfeifen, wagte es auch keiner sich in diese Tabakshölle zu setzen. Es ging nach Prag. Zu einer Lesung Alexanderssons. Streiten und nochmals Streiten, das ist ihre Lieblingsbeschäftigung. Gehen ihnen allerdings die Streitthemen aus, dann machen sie einen andere Sache ganz gern und das ist, sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen. Fragt man sich, ob sie bessere Freunde oder Arbeitskollegen waren—wenn die beiden das überhaupt differenzierten. Leif Niklas Posse hatte mal ein Buch schreiben wollen für junge Menschen. Vornehmlich junge Frauen. Der erste Satz des Buches sollte lauten: Was andere an dir verfluchen, was du selbst an dir verfluchst, ist die Unfähigkeit der Anderen, sich darauf—auf diesen Zug deines Charakters—einzulassen. Über den ersten Satz kam er nicht hinaus und er hat beschloss nicht weiter zu schreiben, aus Angst er züchte damit eine ganze Generation an exzentrischen Jugendlichen. Reicht ja schon ein Mann mit fast 30, der nicht erwachsen werden will. Und lachte in sich hinein. Immerhin er könnte das Buch oder den Satz: junge exzentrische Frauen, nennen. Was sich auf Fitzgeralds the sad young men, berief. Posse war einer der Menschen, die sich lieber einen Plan ausdachten. Er ist der perfekte Exposé-Schriftsteller.

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Magnus Bo Alexandersson ist da praktischer sein letztes Buch behandelte eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte, die sich im Museum für Medizingeschichte in Paris abspielt. Ein Paar bestehend aus einem Androgynen und einem Hermaphroditen Menschen, welche sich zwischen Präparaten von Toten von Honoré Fragonard und Sezierbesteck in einander Verlieben. Es heißt man könne sich die Anatomie wie eine Verführung vorstellen, sagte Fragonard einst. Wie ein Reigen von Liebschaften. Als eine Geschichte von der Eroberung des Körpers. Selbiges denkt das androgyne Wesen von dem Hermaphroditen. Ovid beschrieb in seinen Metamorphosen wie der Sohn Hermes und Aphrodite namentlich: Hermaphroditos von der Nymphe Salamakis gegen seinen Willen so stark umarmt wurde, bis sie zu einem Wesen wurden. Nymphen sind besonders wegen ihrer Fruchtbarkeit und Sexualität bekannt. Salamakis hielt den jungen Hermaphroditos für den Liebesgott Amor. So erzählt Alexandersson die Geschichte von Salamakis und Hermaphroditos und versetzt sie in das Museum für Medizingeschichte. Macht aus der Nymphe Salamakis ein androgynes Wesen, welches sich nach einem eindeutigen Geschlecht sehnt und sich ausgerechnet in ein Hermaphroditen verliebt. Ab und an guckte doch ein Zipfel Blau aus dem Wolkenmeer über dem Teich neben der Bibliothek. Der größere und breitschultrige, aber ungleich unsichere Leif Niklas Posse holt aus seiner Hosentasche einen kleinen silbernen Flachman. Die ab und an durch das Wolkenmeer brechende Sonne spiegelte sich im Flachmann. “Akvavit?”, fragte Bo. “Akvavit”, antwortete Niklas. Und beiden nahmen einen Schluck aus dem Flachmann. Glitzern auf dem Teich. Nuscheln von Unterhaltungen der Anderen um das Becken. Auf der Kreuzung der Straßen Sveavägen und Odengatan hat eine Frau ihre Einkaufstaschen fallen lassen. Eine Packung Milch ist dabei aufgeplatzt, ein paar Bananen wurde von der Frau in der Aufregen zermanscht, eine Packung Eier sind zerplatzt, ein Netz Orangen ist gerissen, eine Flasche Apfelsaft zerbrochen und ein Laib Brot hat sich schmutzig gemacht. Bis in den Observatorielunden, dem Park in dem die beiden Schriftsteller sitzen, hörte man die Schreie. Aber nicht nur von der Frau sondern auch von anderen Personen. Obwohl die Straße nur leicht abschüssig ist, rollt ein Kinderwagen vorbei an den Treppen zum stummeligen orangen Turm der Bibliothek. Autos weichen aus. Fahrradfahrer fallen auf Motorhauben. Ein fürchterliches Gekreische greift um sich. Und auf der Kreuzung gehen Orangen ihren eigenen Weg. Einige Fußgänger sind auf Bäume geklettert. Andere rennen dem Kinderwagen hinterher. Werden angefeuert von denen im Geäst. Ein Polizist hat sich den Joggern angeschlossen und der Kinderwagen rollt munter weiter die Sveavägen herunter. Als würde er von Teufelshand gesteuert. Ein Autofahrer ist gegen einen Baum gefahren. Ein anderes Auto hat einer Straßenlaterne einen Knicks verpasst. Ein Mordsgeschepper klingt durch den Bezirk Norralm. Ein Motorradfahrer macht eine 180 Grad Wende und hat sich der Verfolgung des infantilen Vehikels verschrieben. Nun stehen die anderen Leute am Teich zur Bibliothek auf und laufen in Richtung Straße. Vor einer kleinen Mauer bleiben sie stehen und schauen dem Spektakel, wie einem Stierkampf in einer mexikanischen Provinzarena zu. Alexandersson und Posse sitzen wie fest gewachsen auf ihrer Bank und ein Strom von Menschen rennt dem Kinderwagen hinterher. Ein Mann ruft: „aufpassen, sonst gibt es noch Tote an diesem Nachmittag“. Man will meinen eine Demonstration schiebt sich da durch die Straße, wie der Esel der Möhre hinterher. Posse sitzt auf der Bank und stützt seinen Rumpf tief in seine Oberschenkel, als wolle er zu einem großem Sprung ausholen. Alexandersson ist aufgestanden und gibt seinen Freund einen Schlag auf den Rücken, dass dieser fast die Bank herunter fällt. Hinter der Menschenmenge wie in der Stierkampfarena stehen nun beide Schriftsteller und versuchen selbst etwas von dem Tohuwabuhu mitzubekommen. Der Kinderwagen immer schneller, überholt ein Taxi, überholt einen roten Bus. Rollt über einen Zebrastreifen und rammt beinahe einen anderen Kinderwagen. Man mag meinen der Konkurrenz wegen. Passiert den Eingang der U-Bahnstation Rådmansgatan. Inzwischen ist hinter dem Kinderwagen ein solcher Tumult an Menschen her, dass die Letzten den Kinderwagen nicht mehr sehen können und eigentlich gar nicht mehr wissen, was oder wen sie verfolgen und irgendwo am ende torkelt die Mutter hinterher. Die Bibliothek tritt in den Hintergrund. Die Leute setzen sich wieder um den Teich, nur eingie Wenige stehen noch an der kleinen Mauer. Was bleibt ist ein Lebensmittelmatsch auf der Kreuzung, indes der Kinderwagen noch immer fröhlich die Sveavägen hinunter rollt, vorbei an einem Gebäude, das aussieht wie eine Schule für Diplomatenkinder, welches sich jedoch als Stockholms Handelshochschule, gegründet 1909, entpuppt. Vorbei an der Zentrale der sozial demokratischen Partei Schwedens und vorbei am Friedhof Adolf Fredriks. 900 Meter rollt der Wagen Führer- aber, zum Leidwesen der Mutter, nicht Herrenlos, bis ein simples Schlagloch die fahrbare Wiege bremst und nicht einmal umstößt. Das rechte Vorderrad verkeilt sich im Straßenloch. Der Kinderwagen wippt einmal nach vorne. Springt zurück. Die Federung quietscht. Und hinter ihm eine Spur der Zerstörung. Die Mutter drängt sich durch die Masse an Leuten. Heult. Nimmt ihr Kind aus dem Wagen und drückt es an sich. „Ein Glück“, ruft eine Frau aus der Masse. „Und das gerade bei der Olof Palmes Gata“. Plötzlich lacht die Menschenansammlung laut los und alle klatschen, wie nach der Aufführung eines Zaubertricks. Was für ein sonderbarer Nachmittag.

Knapp Zehn Jahre ist es her, dass Olof Palme, Schwedens damaliger Ministerpräsident, an selbiger Stelle der Kinderwagen zum stehen kam, erschossen worden ist. Unweit des 20 Jahre zurück liegenden Geiseldramas am Norrmalmstorg. Das sich nämlich zwischen dem 23.8 und 28.8 73 ereignete. Im Nachhinein ist man ein bisschen stolz darauf, denn der Fall war das erste Verbrechen, welches live im Fernsehen übertragen wurde. Das Geiseldrama, wie es später vor allem in deutschen Medien genannt wurden, begann am 23.8 damit, dass ein Herr Erik Olsson, Spitzname: Janne, sich auf seinem Freigang in die Kreditbanken begab. Die Kreditbanken war eine Bank am Norrmalmstrong. Ein Platz inmitten Stockholms. Im schwedischen Monopoly ist der Platz mit der Schlossstraße zu vergleichen. Die Kreditbanken wurde 1923 gegründet, fusionierte 50 Jahre später mit der Postbank zu den PK-Banken und sieben Jahre nachdem Drama kaufte man die Nordbanken auf und nannte sich fortan auch so. Alsbald Janne seinen, wahrscheinlich eingeübten: Banküberfallsspruch los gelassen hatte, erreichten zwei Polizisten die Bank. Einer der beiden Polizisten wurde bei einem Schusswechsel verletzt. Dem Anderen befahl Janne sich auf einen Stuhl zu setzen und ein Lied zu singen. Dem leistete dieser Folge und sang: lonesome cowboy. Olsson nahm vier Personen als Geisel. Er beabsichtigte Druck auszuüben um Schwedens bekannten Verbrecher Clark Olofsson frei zu pressen. Nebenbei forderte er drei Millionen Kronen, schusssichere Westen, zwei Waffen, Helme und ein schnelles Fluchtfahrzeug, ob das ein Porsche, ein BMW oder eine andere Automarke ist, schien ihm nicht relevant. Man schickte ihm Olofsson, der seinerseits schon einige Raubüberfälle hinter sich hatte, wie gefordert in die Bank. Er sollte als Mittelsmann zwischen Polizei und Verbrecher fungieren. Als bräuchten Räuber und Gendarm einen Mediator. Zweimal telefonierten eine der Geisel, Olsson oder Olofsson—so genau war das nicht herauszubekommen—mit dem damaligen Minispräsidenten Olof Palme. Das Fluchtfahrzeug können die Verbrecher haben—egal auch welche Marke—, aber Palme weigerte sich irgend zu liefern, als derjenige am Telefon vorschlug, die Bank samt Geiseln im Fluchtwagen zu verlassen. So verbarrikadierte man sich in der Bank. Eines der Opfer sagte, es fühlte sich sicher mit den beiden Verbrechern. Es sagte, es hatte mehr Angst, dass die Polizei etwas unüberlegtes täte, als die beiden Männer gewalttätig würden. Am nächstes Tag rief selbiges Opfer den Ministerpräsidenten an und sagte ihm, dass sein Verhalten nicht angebracht sei. Dass man doch einfach die Geiseln und die beiden Männer im Fluchtwagen davon fahren lassen sollte. Wenn alle mithelfen dann passiert niemanden etwas. Die meiste Zeit über, war eine singende Männerstimme im Telefonhörer zu hören. Dies allerdings war nicht der Polizist, sondern Olofsson, der lautstark Killing me softly sang. Am 26.8 bohrte die schwedische Polizei ein Loch in das Dach der Bank, durch welches eine Kamera in das Gebäude gelassen wurde. Olofsson schoss zweimal auf das Loch. Dabei wurde ein Polizist an der Hand und im Gesicht verletzt. Janne Olsson drohte die Geiseln zu erschießen, wenn die Regierung Gas durch das Lochen leiten lassen würde, Am 28.8 leitete die Regierung—nichtsdestotrotz—Gas in die Bank. Nach einer halben Stunde gaben Olsson und Olofsson auf. Keines der Geiseln wurde verletzt. Olsson und Olofsson wurde verurteilt und zurück ins Gefängnis geschickt. Die Anklage gegen Olofsson wurde fallen gelassen. Dieser behauptete standfest dem eigentlichen Täter nicht geholfen zu haben—weil er wusste, dass es falsch war—sondern nur versucht hatte die Situation ruhig zu halten. Später traf er sich mit einer Geisel. Die Familien der beiden befreundeten sich. Noch Jahre später waren die Opfer der festen Ansicht, sie hätten sich mehr vor der Polizei, als vor den Verbrechern gefürchtet. Zudem baten die Opfer um eine glimpfliche Behandlung der Straftäter, um eine mildes Strafmaß und weiterhin besuchten sie die beiden regelmäßig im Gefängnis. Der Mensch ist ein schwaches Tier. Der Kriminologe Nils Bejerot konstatierte daraufhin das Stockholm-Syndrom, welches streng genommen kein Syndrom darstellt. Ursächlich werden zwei Mechanismen zu seiner Manifestation herangezogen. Die Opfer fühlen sich weitestgehend mit den Tätern allein gelassen. Die Polizei, der Staat und die Gesellschaft agiert im Außen und scheint sich nicht einmischen zu wollen, bzw. haben die Mittel dazu nicht. Die einzige positive Zuwendung, die das Opfer erfährt, kommt von den Geiselnehmern. Ihrerseits behandeln sie die Opfer wie eine kostbare Ware, der nichts Unkontrolliertes zustoßen darf. So können dem Opfer minimale Zugeständnisse als eine humanitäre Tat vorkommen. Bekommt es vom Geiselnehmer beispielsweise etwas zu essen, die Erlaubnis zu schlafen etc. pp. Weiterhin erleben die Opfer einen Zustand der absoluten Passivität, des einmaligen Ausgeliefert-sein. Um diese Situation zu überstehen, kann es sich als ein sinnvolles Konzept erweisen, sich mit den Motiven und dem Verhalten des Täters zu identifizieren. Zumal, wenn die Täter gut sind, lassen sie die äußere Staatsgewalt repressiv und ungerecht erscheinen, als würden sie sich für eine gerechte Sache einsetzen—wie etwa der Freiheit. Damit tun sie dem Opfer einen Gefallen. Ferner sind Polizei und Staat als nebulöse Variabeln für die Opfer schwer einzuschätzen, hingegen die oder der Täter, mit denen oder dem sich identifiziert wurde, werden oder wird als überaus kontrollierbar erlebt. Letztlich lösen die Täter also eine Situation einer schier unmöglich zu ertragenden Unsicherheit aus, welche das Opfer nicht auf die Täter sondern global attribuiert. Dies wahrscheinlich aus Angst, die Situation noch unsicherer zu machen. Jedoch wird jede Form von äußerer Einwirkung seitens Polizei oder dem Staat als möglicher Risikofaktor hin zur Eskalation der brisanten Situation gesehen. Eine alternativ Erklärung zur Angst wäre auch, das Opfer befindet sich in einer Situation von Hilflosigkeit attribuiert es nun ursächlich auf den Täter, vergrößert sich die Hilflosigkeit. Das Stockholm-Syndrom ist also nichts, als eine rettende Illusion.

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Die beiden Schrifsteller Magnus Bo Alexandersson und Leif Niklas Posse saßen noch immer auf ihrer Bank am Teich, diskutierten über Buddha und von dem Chaos vor einigen Minuten, war nichts mehr zu merken. “Nein, nein, nein”, sagte Alexandersson. “Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, wer Buddhist ist, gehört auch einer Sekte an?”, beschuldigte Leif ihn. “Das habe ich nicht gesagt, aber dieser jemand steht Sekten näher, als andere.” “Wer andere?” “Na andere nicht Religiöse natürlich.” “Buddhismus ist keine Religion.” “Sagst du.” “Sage ich.” “Also hör mal, ich brauche diese Kurzgeschichte für die nächste Ausgabe des Magasins. Du meintest du kannst sie schreiben und ich geb dir die Titelgeschichte. Überleg‘ doch mal als Erst-Veröffentlichung einen Titelgeschichte in der Bonniers. Das muss dir erst einmal jemand nachmachen. Aber ich brauche eine Geschichte, die auch eine Titelgeschichte sein kann. Und deine hat das Zeug dazu nicht”, entrüstetes Schweigen zwischen den beiden. “Noch nicht mein Guter”, und klopft dem breitschultrigen Mann auf die Schulter. “Ich weiß nicht, was du willst”, sage dieser kleinlaut. “Nun ja, du hast zwar geleugnet, dass es Buddha tatsächlich gegeben hat, aber darum ging es mir überhaupt nicht.” Es sollte die erste Geschichte werden, die der junge Autor Leif Niklas Posse publizieren wird. Aber Alexandersson der stellvertretende Chefredakteur des Bonniers Litterära Magasins, war ganz und gar nicht damit zufrieden. Der Termin rückte näher und beide Männer waren unzufrieden. “Es muss doch darum gehen”, begann er. Machte eine Pause und schloss an:“dass dieser ganze neue spirituelle Quatsch und Hokus Pokus eine Ersatzreligion ist. Der aufgeklärte Mensch hat den Religionen abgeschworen, ist säkularisiert und auf einmal tritt in unsere Gesellschaft dieses New-Age-Gerede. Dieses ganze Gerede von Mutter Erde, Vater Wind und das gesamte Leben. Dieser ganze Harmonie-scheiß. Ich will, dass man erkennt wie gefährlich das ist. Nämlich nicht ungefährlicher als das Christentum, Judentum und der Islam zusammen. Kriegst du das hin Posse?”, wie er seinen Freund nannte, wenn er es ernst meinte. “Und diese Gefährlichkeit mein lieber, ist bei dir reichlich unterbetont.” Er wollte gern seinem Freund helfen, aber die erste Geschichte sollte ein Knaller sein. Dann stritten sie sich wieder über Leifs Pseudonym Pontius Uteliggare, der obdachlose Pilatus. Er braucht etwas griffiges. Womit sich Jedermann identifizieren kann. Ein Mann aus dem Volk. Einen kurzen griffigen Namen. Sowieso wozu ein Pseudonym. Macht man doch heute überhaupt nicht mehr. “Man sollte diese fernöstlichen Weisheiten nicht gleich abtun”, hörten sie eine Stimme hinter sich. “Verzeihen Sie dass ich mich in ihr Gespräch so einfach einmische, aber ich glaube wir haben eine Verabredung meine Herren.” Alexandersson erschrak, er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen und fragte sich insgeheim, was mit ihm los sei, Schreckhaftigkeit wäre sonst nicht seine Art. “Margarethe!”, riefe Posse aus. “Wenn das nicht meine Lieblingspatienten sind.” “Lindkvist”, nannte Alexandersson sie. Die Frau mit den gestreckten Extremitäten drängelte sich zwischen die beiden. Die Bänke um den Teich waren für viele Stockholmer ein beliebter Platz in der Stadt. Man schenkte der Ménage-à-trois keine Beachtung. “Reden wir gleich mal Tacheles”, begann Lindkvist. “Mit Ihnen beiden habe ich Sachen gemacht, die ich sonst so noch nicht mit meinen Patienten gemacht habe. Das war nicht immer Teil Ihrer Therapie.” “Margarethe Sie müssen sich vor uns nicht erklären”, Posse. “Ein Verhältnis mit meinen Patienten zu haben, wäre mir vor Jahren nie eingefallen. Und dazu noch mit zwei auf einmal und dann noch mit solchen wie Ihnen.” Sie schüttelt ihren Kopf und ein Lächeln flitzt über ihr verschwommenes Gesicht. “Frau Dr. Gottesanbeterin”, spricht Alexandersson. “Warum belassen wir es nicht einfach dabei?” “So einfach meine Herren kommen Sie mir nicht davon.” “Was heißt hier einfach. Schließlich haben wir auch was riskiert”, Alexandersson. “Sie haben etwas riskiert? Was haben Sie riskiert?” “Wir hätten auch unser Gesicht verlieren können”, greift Posse ein. “Sie ihr Gesicht. Ich meinen Kassensitz. Meine Heilerlaubnis, meine Zulassung als Therapeutin”, echauffiert sie sich, pausiert und sagt: “meine Existenz.” “Also Margarethe?”, fragt Leif Posse sie. “Also”, holt sie auf. “Also wo ist das Buch?” “Buch? Welches Buch?”, Posse. “Posse und Alexandersson, benehmen Sie sich nicht wie zwei kleine Jungen.”

“Nein ehrlich, Margarete welches Buch meinen Sie?”, wieder Posse. “Lindkvist wir wissen es wirklich nicht.”, schließt Alexandersson sich an. “Mein grünes Buch”, stammelt sie und schaut betreten und starr über den Teich hinweg. “Ach dieses Buch meinen Sie”, ruft Posse aus und holt aus seiner Gesäßtasche eine kleines grünes und etwas durchgesessenes Buch. Lindkvist reißt es ihm aus der Hand. Etwas angewidert von dem Abdrucks Posses Po. “Na also nicht so schnell”, sagt Alexandersson energisch und laut, dass es einen Moment die Gespräche um den Teich versiegen und man dem Dreier Beachtung schenkt, welche dieser alsbald nach einigen Sekunden wieder verliert. “So leicht kommen Sie uns nicht davon”, Posse. “So leicht? Sie haben ja keine Ahnung, wie es mir erging, als ich diesen einen Morgen in die Zeitung schaute.” “Sie können froh sein, dass wir Ihren Namen nicht der Zeitung gegeben haben”, Posse. “Stellen Sie sich das mal vor”, Alexandersson. Die beiden haben die Rollen getauscht. Oder das neue Setting hat sie getauscht. “Das muss ich mir nicht vorstellen. Seitdem dieser Zeitungsartikel erschienen ist und ich ganz klar wusste, dass mein Patientenbuch an die Zeitung gegangen sein muss, habe ich Angst, dass man mir auf die Schliche kommen. Sie haben ja keine Ahnung.” “Keine Ahnung von was?” “Was das für die Psychotherapie in unserem Land überhaupt bedeutet. Sie haben einen immensen Schaden angerichtet.” “Vielleicht überlegen Sie sich ja, wie Sie über Ihre Patienten schreiben.” “Ziemlich feige übrigens, dass Sie nicht meine Notizen über Sie selbst an die Zeitung schickten”, kommentiert Lindkvist. “Na das wäre ja schön blöd gewesen.” “Oder Mutig. Wie übrigens haben Sie mir das Buch überhaupt geklaut?” “Das wissen Sie nicht?” “Margarete, Sie haben die Angewohnheit in Ihrer Therapie einzuschlafen.” “Eines Tages war das Buch einfach weg. Ich habe überall gesucht.” “Weil wir es hatten. Wir haben es übrigens mit Freuden gelesen. Wenn die Psychotherapie es irgendwann für Sie nicht mehr bringt, können Sie ja Schriftstellerin werden.” “Sie sind unheimlich komisch. Ich hatte es immer in meiner Sesselfalte und dann war es weg. Was glauben Sie wie es war ohne mein Buch Therapie zu machen.” “Ja Lindkvist, weil Sie dann keine Ahnung mehr hatten, wer da vor Ihnen saß.” “Was wollen Sie eigentlich von mir?” “Gut das Sie das fragen Margarete!” “Ja sehr gut, dass sie das fragen”, meldet sich Alexandersson zu Wort. “Wir wollten Ihnen einen Handel vorschlagen.” “Einen Handel?” “Ja richtig.” “Sie versorgen uns mit Biografien.” “Ich soll bitte was?” “Sie senden uns in regelmäßigen Abständen—einmal im Monat, was halten Sie davon?—Patientengeschichten.” “Ich soll Ihnen vertrauliche Informationen zu kommen lassen?” “Sie können Sie auch gern unkenntlich machen. Aber ein paar Infos über Aussehen, Mimik und Gestik brauchen wir schon. Ihr Buch ist das beste an Material, was uns seit langem in die Hände gefallen ist.” “In die Hände gefallen? Sie haben es gestohlen. Das ist eine Straftat. Dafür sollte ich sie anzeigen” “Mit einer Anzeige würden sie unweigerlich kenntlich machen, dass das ihr Buch ist. Meinen Sie das ist eine gute Idee? Sie wissen doch wie die Stadt ist. Geheimnisse gibt es hier nicht. Also was ist? Schlagen Sie ein?” “Warum sollte ich das machen?” “Weil die Zeitung noch immer darauf brennt zu erfahren, welchem Therapeut das grüne Buch gehört. Man hat uns sogar angeboten das Buch zu veröffentlichen”, sagt Leif Niklas Posse. “Das kostet uns nichts. Ein kleiner Anruf.” “Und was wollen Sie mit den Informationen? Wollen Sie mich weiter erpressen?”, fragt Lindkvist. “Frau Doktor Gottesanbeterin, Sie sind Psychotherapeutin! Das sollten Sie doch ahnen was wir damit wollen.” “Ja Psychotherapeutin keine Hexenmeisterin, das verwechseln Sie wohl.” “Also gut. Sie wissen wir sind Schriftsteller. Als Schriftsteller beschäftigen Sie sich unmissverständlich mit den Geschichten der Menschen. Wir erschaffen Charakteren, aber seien wir mal ehrlich. Das wissen Sie besser als wir. Fiktion als solche ist Quatsch. Jeder Charakter eines Buches beruht auf einer oder mehrer Vorlagen. Sie fragen sich, warum das so ist?”

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in Möbiusband, Möbiusschleife oder Möbius’sches Band ist eine zweidimensionale Struktur in der Topologie, die nur eine Kante und eine Fläche hat. Sie ist nicht orientierbar, das heißt, man kann nicht zwischen unten und oben oder zwischen innen und außen unterscheiden. Am ersten Tag, gestern Mittwoch, war Wolf der Fremde in Uniform, am zweiten Tag heute, ist er lediglich ein Fremder unter Fremden. Zeit er bei Laura, lässt ihn ein Gedanke nicht los: er könnte etwas übersehen. Übersehen wie rituelle Gewalt. Er sieht schon den Zeitungsartikel vor sich. Polizist observiert 72 Stunden eine verdächtige Wohnung und bemerkt extreme Gewalt nicht. Er sagt, warum man bisher davon nichts mitbekommen hat, liegt daran, dass es sich um eine sehr subtile Art der Gewalt handeln muss. Die Opfer dieser subtilen Gewalt leiden unter einer Form von Stockholm-syndrom. Diese besondere Form des Syndroms sorgt dafür, dass die Betroffenen überhaupt nicht merken, dass sie einer schier kaum zu fassenden Art von Gewalt ausgeliefert sind. Dazu würden die Opfer Laura, als Gastgeberin, schützen wollen, schreibt der Fremde unter Fremden in sein Notizbuch und setzt die Befragung der Gäste Laura Möbius weiter fort. Ansonsten ist in der Wohnung alles weitestgehend ruhig. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick hält sich am liebsten so nah wie möglich bei Laura auf. Was meist so aussieht, dass er den ganzen Tag fast unter ihrem Schreibtisch sitzt. Moravia der Fremde mit der Krankheitseinbildung kommt nach nur anderthalb Stunden aus dem Badezimmer und hinterlässt einen komplett weißen Raum zugedeckt wie eine Leiche oder wie eine Mumie. Laura selbst sitzt an ihrem breiten Schreibtisch, der gut ein Küchen- oder Esstisch sein könnte und schreibt, wie sie es den ganzen Tag tut, einen Satz die Stunde. Ihre Beine sind verdeckt durch einen Kimono. Sie sitzt im Schneidersitz auf einer Art Regiestuhl. Furcht ist ein variable Empfindung, das das rationale Denken zu dressieren vermag. Ein Papierknäul aus Lauras liniertem Ringblock fliegt quer durch den Raum. Die Fremden vor Lauras Schreibtisch ducken sich und schauen dem Geschoss hinter her. Sie setzt erneut an. Die Leute starren auf sie. Furcht ist ein variables Gefühl, das das rationale Denken zu dressieren vermag. Wieder das Knatuschgeräusch von Papier und wieder fliegt eine Tennisball große Kugel durch den Raum. Sie fährt sich über ihren kurz geschorenen Kopf. Glättete die Wogen ihres Kimonos. Schmatzt und schaut mit einem leeren Blick durch Raum. Knackt mit ihren Fingern und ihre Halswirbelsäule. Die Fremden flüstern. Der Mann mit der Krankheitseinbildung und die Frau mit der Honigbrotphobie legen Laura einen neuen Stapel Papier auf den Tisch. Der Mann mit dem unterwürfigen Blick kauert vor ihr. Umklammert seine Knie und wippt auf und ab. Der Fremde in Uniform steht im Türrahmen und lässt seinen Blick über die Fremden wandern. Da springen Lauras Augen auf und ihre Pupillen weiten sich. Angst ist ein diffuses Gefühl, welches das rationale Denken zu dressieren vermag. Sie streicht den letzten Teil durch. ,welches das rationale Denken zu dressieren vermag. Und schreibt eine Zeile darunter: Angst ist ein diffuses Gefühl, das der klare Gedanke zu dressieren vermag. Und ein kleines Lächeln flitzt über ihr Gesicht. Frau Kadwo, die Fremde mit den müden Augen berichtetet von Durch-Schlafproblemen, Tagesmüdigkeit, innerer Anspannung, starker Unruhe und Einsamkeit. Sie sagt, selbst in der Wohnung Lauras, in der sie augenscheinlich nicht allein ist, fühlt sie sich einsam. Eigentlich hat sie sich in ihrem ganzen Leben immer einsam gefühlt. Es fällt eine ausgeprägte Antriebsminderung auf. Laut Aussagen der anderen in der Wohnung habe sie in den letzten

Zwei Tagen nicht gegessen und kaum getrunken. Es wird zudem über starke und unspezifische Ängste, teilweise auf die Zukunft gerichtet, teilweise auch auf—die eigentliche gute—finanzielle Situation gerichtet von den Anderen flüsternd berichtet. In der Vergangenheit hätten diese Ängste auch schon wahnhafte Züge mit Verarmungsideen angenommen. Frau Kadow, die Fremde mit den müden Augen, spricht mit einer Frau, die ein Mann sein möchte oder andersherum. Aufgrund der Geschlechtsumwandlung 1992 bestehe bei dieser ein deutlicher Östrogenmangel, die auch vor kurzem noch von einem ambulanten Endokrinologen bestätigte Notwendigkeit zur entsprechenden Substitution sei von der Fremden immer wieder abgelehnt worden. Nach dem Grund befragt, könnte sie nur Angst angeben. Ferner sei sie, seitdem sie bei Laura sei, nicht mehr beim Arzt gewesen. So treffen sich die Fremde ohne Geschlecht und die Fremde mit den müden Augen in ihrem Lieblingsthema: Angst und Furcht. Die Fremde mit den müden Augen ist in Paderborn geboren. Der Vater—44 Jahre älter als sie—sei bei ihrer Zeugung in zweiter Ehe verheiratet gewesen und habe eine Beziehung zu ihrer Mutter—26 Jahre älter als sie—gehabt. Nach der Geburt wären die Eltern zusammen mit Frau K. nach Baden Württemberg gezogen, dort habe sie in der Nähe der Schwäbischen Alp gelebt. 1964 sei ihr Bruder geboren. Die Atmosphäre im Elternhaus beschrieb die Unbekannte als turbulent. Sie habe aufgrund diverser Umzüge eine unruhige Kindheit gehabt. Ihren Vater beschreibt sie als jähzornig. Er sei Bauarbeiter gewesen und habe nach der Arbeit enorm viel getrunken. Wenn er nach Hause gekommen sei, habe sich Frau K. gefragt: ob es wieder Streit gibt. Die Fremde mit den müden Augen habe Abitur. Note: 3,5. Gerade so bestanden. Ihr Alkoholiker-Vater habe ihr immensen Druck gemacht. Sie meint, ihre Eltern hätten sich nach dem Abitur nicht weiter unterstützt. Man war enttäuscht von ihr. Es heißt sie sollte studieren. Ein Fach wie Medizin oder Jura. Mit 3,5 kann man nicht Jura oder Medizin studieren. Frau K. liegt auf der Couch unter der Decke in Lauras Arbeitszimmer. Durch einen Schlitz sieht sie Laura schreiben und Fremde vor ihrem Schreibtisch sitzen. Eine Krankenpflegeausbildung habe sie dann abgeschlossen mit Note: 1.0. Die Fremde habe vier Jahre in dem Beruf gearbeitet. Sie sagt, beruflich habe sie alle Chancen stets ergriffen. Andere nennen sie sprunghaft. Sie sagt, sie habe nie etwas geplant. Anschließend hat sie als Schulassistentin gearbeitet. Schließlich habe sie eine Ausbildung zur Unterrichtsschwester gemacht. Die Ausbildung sei ihr finanziert worden. Zwischen 1981 und 1986 sei sie als Fortbildungsbeauftragte in einer Klinik in Berlin tätig gewesen. Parallel habe sie ein Aufbaustudium absolviert. Wegen einer Sache sei sie in der Klinik entlassen worden. Die Kündigung brachte ihr eine ausreichende Abfindung ein. Im Anschluss daran habe sie erst einmal einige Monate nicht gearbeitet. Hat zum ersten Mal in ihrem Leben nicht gearbeitet. Das war eine komische Zeit, sagt sie. Sie wäre in dieser nur schwer aus dem Bett gekommen und sei ständig müde gewesen, obwohl sie übermäßig viel schlief. Die Monate nutzte sie allerdings um sich eine freiberufliche Tätigkeit aufzubauen. Das waren Moderationen und Durchführung von Seminaren. 1988 ein Jahr vor dem Mauerfall, zog sie nach Griechenland. Im Land habe sie fünf Jahre gearbeitet und gelebt. Gearbeitet hat sie als Zimmermädchen, Kellnerin und zum Schluss als Griechischlehrerin. Zurück in Deutschland habe sie in Hamburg Arbeit als Krankenpflegerin gefunden. Das war im katholischen Marienkrankenhaus in der Kardiologie. Die Frau mit dem müden Augen habe vor zwei Jahren ihren jetzigen Mann geheiratet. Ihr Ehemann wisse nichts von Laura Möbius und Frau K. sagt, das ist auch besser so. Er hält es nicht aus, wenn sie durch eine schwere Zeit geht. Sie sagt ihr Ehemann sei ein guter Freund und ein romantischer Liebhaber, der total witzig ist. Sie meint, sie habe eine schöne Beziehung mit ihm. Ihr Ehemann Herr Kadow arbeitet bei einer großen Pharmafirma in Berlin. Derzeit lebt sie in der Eigentumswohnung ihres Ehemannes mit diesem und dessen Sohn zusammen. Der Sohn ist 19 Jahre alt. Eine Stieftochter lebt bei der leiblichen Mutter. Sie ist 16. Die Beziehung zu den Stiefkindern sei eigentlich gut, aber sie ertrage die Nähe des Stiefsohnes sehr schwer. Der Stiefsohn ist ruhig und lieb, sagt die Fremde. Er habe Lernschwierigkeiten und wird in der Schule gemobbt. Ist relativ introvertiert, Frau K. lächelt ein wenig, bei dem Wort: Introvertiert. Lächelt, was sie bisher noch nicht gemacht hat. Sie hat rotbraune Haare. Etwas länger, als Schulterlang. Und ein liebes Gesicht, das mit Leberflecken und Sommersprossen befleckt ist. Man hat allerdings den Eindruck, sie wäre immer etwas distanziert, wie etwas in Gedanken versunken oder tagträumerisch. Der Stiefsohn habe wenig soziale Kontakte. Heute ist sie als Lehrerin für förderungsbedürftige Schüler tätig. Ihrem Stiefsohn kann sie allerdings nicht helfen, wie sie meint. Hat man das Kind erst einmal in den Brunnen geworfen, kriegt man es da so schnell nicht wieder raus. Scheiß Pubertät, denkt sich Wolf, der Fremde unter Fremden in Uniform und lässt die Frau K. die Fremde mit den müden Augen auf dem Sofa liegen. Frau Honigbrotphobie hat heute ein ganzes Glas Tomatenmark mit einem Messer ausgelöffelt. Daraufhin wurde ihr schlecht. Was eventuell an dem Kissenbezug, den sie vorher gegessen hat, liegen könnte. Sie rannte dann in Richtung Toilette, weil sie spürte, dass es ihr—nach eigener Aussage—unten und oben raus kommt. Das Badezimmer in der Wohnung war leider abgesperrt. Frau Honigbrotphobie schaffte es—unten und oben—etwa 30 Minuten lang zu kontrollieren, dann sei sie wie: auseinander geflogen. Von den Geräuschen gestört, sei der Fremde mit der Krankheitseinbildung aus dem Raum gekommen. Frau Honibrotphobie hielt sich am Türrahmen fest. Der Mann hatte ein Bettlaken um den Bauch gebunden, das eine eindeutige Ausbeulung, im Lendenbereich, vorwies. Der

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“Meine Herren ich frage mich überhaupt nichts mehr.” “Nun ja das ist ganz einfach. Einem Charakter, den sie sich absolut ausgedacht haben—wenn das überhaupt möglich ist—Leben einzuhauchen ist viel schwieriger, als wenn Sie eine Vorlage habe.” “Denken Sie an Dante oder Nabokov, man braucht seine realen Charakter-Vorbilder.” “Was ist mit Pygmalion, der brauchte das nicht.” “Jetzt hören Sie uns auf mit Mythologie.” “Also schlagen Sie ein?” “Ich lasse mich nicht auf eine Menge ein. Ich werde ihnen kein Material zusenden. Sie kommen nach Dienstschluss in meine Praxis und dürfen dann abschreiben. Meine Handschrift verlässt mein Haus nicht. Das ganze nicht mehr als einmal im Monat.” Die beiden Schriftsteller drehen sich zu Lindkvist, grinsen und wiederholen, was die Psychotherapeutin sagte. Hast du gehört? Nicht mehr als einmal im Monat. Nur abschreiben. Diskutieren, während Lindkvist zwischen den Männern sitzt, wie sie ihre Forderungen umgehen. Hat sie eigentlich gesagt, ob sie uns beide meinte? Ich glaube nicht. Gut, dann gehst du am Anfang des Monats und ich in der Mitte. “Meine Herren das wird mir zu bunt. Sie haben meine Bedingungen gehört. Ich gehe.” “Nein Margarete.” “Wir gehen.” Die beiden Schriftsteller erheben sich. Jeder stützt sich auf der Schulter Lindkvists ab, die daraufhin tiefer in der Bank versinkt. “Machen Sie sich auf einen Besuch in den nächsten Tagen gefasst.” Zwei Männer, der eine etwas rundlich und klein einen Hut in der Hand, den er auseinander faltet und auf setzt, der andere groß und breitschultrig, verlassen den Teich und die Bibliothek. Das Ganze sollte Monumental wirken, daher die Rotunde. Wirkt allerdings von Nah und Fern wie ein stummeliger Turm.

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agebuch der Fahrerin dreizehnter Eintrag: mir lag dieses Sektending noch immer in den Knochen. Ich konnte es kaum fassen, dass wir so leicht davonkamen. Einen Moment lang dachte ich tatsächlich Schlichter würde auf Öland bleiben. So sehr ich diese Insel meiner Kindheit auch mochte, ich war froh als wir die Brücke, die die Insel und Kalmar miteinander verbindet, erreichten, überquerten und das Eiland hinter uns ließen. Auf der Ölandsbron fiel Schlichter auf, dass er seine Dose Kaugummi verloren hatte. Wahrscheinlich im Trollskogen. Wir müssten zurück, sagte er. Und ich: Kaugummi können wir an jeder Tankstelle kaufen. Er war zu Tode beleidigt. Ich verstand es nicht. Die Sache mit dem Reisepass ärgerte mich aber doch sehr. Das hatte einfach nicht sein müssen. Sie müssen seine Identität vernichten. Was ein Quatsch und er macht da auch noch mit. Ich glaube er hat immer noch die Idee, unsere Fahrt dient seiner Genesung oder was auch immer. Es ärgert mich. Den Weg nach Stockholm habe ich nicht eingerechnet. Selbst wenn wir uns beeilen, wird uns das einen ganzen Tag kosten. Früher Nachmittag, keine beliebte Zeit bei Schlichter. Sie sind in die Stadt gefahren. Er drängte sie, er brauche eine Apotheke. Habe im Trollskogen etwas verloren. Während der Fahrt hielt er sich den Bauch. Er verlässt die Apotheke, ohne erkennbar etwas gekauft zu haben. Ein verwunderter Blick der Fahrerin erreicht ihn nicht, denn er starrt aus dem Fenster. Im Radio heißt es, ein Fahrzeug, auf der E22 in der Nähe von Västervik, würde immer wieder von der Spur abkommen, auf die Gegenfahrbahn driften und gefährliche Überholmanöver starten. Vorsichtiges Fahren ist geboten. Wahrscheinlich ist der Fahrer betrunken. Nach einer Stunde Fahrt parallel zur Insel, verlässt das Taxi die Autobahn E22. Die Taxifahrerin fährt auf einen Parkplatz vor einem Fastfood-Restaurant. Schlichter fragt in einem Wort: ”essen?” “Widerlich hier”, ist die Antwort. “Ich will hier nur telefonieren. Setze dich irgendwohin.” In einer Ecke steht ein Münztelefon. Schlichter hat sich in die Nähe des Bestelltresens gesetzt. Auf halber Strecke ruft sie im zu, wenn er etwas bestellen möchte, soll er es tun. Etwas Indifferentes wirft er zurück, sie soll sich mal anschauen. Die Fahrerin und das Münztelefon werden eins. Derweil hat er sich ein glas Leistungswasser genommen und löst eine Brausetablette darinnen auf. “Extra Vitamine!”, ruft er durch den Sibylla. Die Kette behauptet, sie hätte 60% der Marktanteile im Straßenverkauf und über 200 Hamburgerrestaurants. “Alle Menschen brauchen extra Vitamine. Ich habe extra Vitamine für Alle.” Er wird ermahnt und schämt sich nicht. Eine Frau hatte soviel zu essen und zu trinken. Sie saß die Beine breitbeinig ausgestreckt vor einem Halbkreis aus sorgfältig aufgereihten Pommes frites, Hamburger, einen Liter Cola, Kaffee, Zimtschnecken, Bonbons und aß und trank von links nach rechts Reihe um, alles was da war in einem herrlichen durcheinander. Beinahe sah sie aus, als hätte sie einen Weg gesucht, auf all den Ebenen des Geschmackes satt zu werden. Die Taxifahrerin steht mit dem Rücken zu Schlichter und der dicken Frau. Ein Junge läuft an Schlichters Tisch vorbei. “Psst, psst”, faucht er den Jungen an. Der Junge reagiert erst nicht und Schlichter zerrt ihn zu sich ran, der Junge schreckt daraufhin zurück und ist dann wie erstarrt. Ob er mal unauffällig zur Fahrerin gehen kann, fragt Schlichter ihn erst auf deutsch und merkt, dass der Junge kein Wort versteht. Wiederholt seinen Satz auf englisch und fragt den Jungen noch, ob er ein paar Worte wie durch Zufall mit-hören kann. Der mit großen Augen und viel Furcht aufgeregt nickt. Der

Jungen erreicht die Taxifahrerin, als diese gerade aufgelegt hat. Beide schauen sich an. Die Fahrerin fragt ihn auf schwedisch, was er will. Der Junge sagt, er soll ein paar Wörter mit hören und zeigt dann auf Schlichter, der just in diesem Moment unter dem Tisch verschwindet. Tagebuch der Fahrerin vierzehnter Eintrag: ich wollte auf Nummer sicher gehen und rief, wegen Schlichters Reisepass, in der Botschaft in Stockholm an. Dort sagte man mir, wir sollen so schnell und so früh wie möglich in die Botschaft kommen. Schlichter hatte wieder einen seiner merkwürdigen Tage. Ich hatte keine Lust mehr auf ihn. Ich hoffte wir kommen schnell nach Stockholm. Finden ein Hotel. Können morgen früh zur Botschaft und dann fahren wir wieder Richtung Berlin. Ich hatte ihn satt. Sein ganzes Sein regte mich inzwischen auf. Die Fahrerin setzt sich links neben ihm—sie behalten die alte Sitzordnung bei. Ob er fertig sei? Fertig mit seinen Spielchen. “Spielchen”, fragt der Bestürzte. “Lassen wir das”, die Fahrerin. Die beiden verlassen die schwedische Fast-Food-Kette. Nebenan gibt es einen coop nära einen kleinen Supermarkt. Die Fahrerin bedeutet Schlichter draußen zu warten. Schlichter schlendert zur E22 und zählt die Autos, die an ihm vor rüber fahren. Im Supermarkt beeilt sich die Fahrerin. Sie steht an der Kasse. Der Kassierer fällt ihr auf. Er gähnt vor jedem Wort, dass er spricht. Gähnt, begrüßt sie. Gähnt und fragt sie, ob sie alles gefunden hat. Gähnt und nennt ihr den Betrag in Kronen. Gähnt und wünscht ihr einen schönen Tag. Das Problem war nicht, dass Ezrahm‘s erster Tag mal wieder sein Letzter war. Das war nicht das Problem. Das Problem war, dass er wieder wegen der selben Sachen gekündigt worden war. Ezrahm etwa dreißig alt. Galt als groß wo er herkam und als klein wo er jetzt war. Verbrachte diesen ersten und letzten Tag hinter der Kasse dieses winzigen Supermarktes unter den ruhigen Augen seines Chefs, der während er alles mögliche über das Band zog, gemächlich Einkäufe in Einkaufstüten verpackte. Das war ein Maßnahme gewesen. Früher hatte Ezrahm‘s Vorgesetzter sich einfach hinter den späteren Kassierer gestellt und ihm prüfend auf jeden Handgriff geschaut. Das hat sich nicht rentiert. Die meisten Neulinge hat das verunsichert, meint der Supermarktbesitzer. Sie ließe Geld fallen. Kassierten falsche Beträge. Waren einfach zu aufgeregt. Er versteht das nicht. Meint aber auch, er müsse es nicht verstehen. Aber, lenkt er ein, er hat sein System etwas verändert. Seitdem er nicht mehr hinter den Neuen steht, sondern den Einkauf einpackt, ist die Lage etwas entspannter. Und gleichzeitig verschafft es ihm, gehörig viel Respekt. Hier packt der Chef selbst mit an, heißt es. Ezrahm war einer dieser Männer, die von weit her blendend aussehen. Deren Stimme von weit her, baritonal tief und unheimlich männlich klang. Er war einer dieser Menschen, die von weit her Neid hervorriefen und je näher man an sie heran rückt, desto mehr fallen diese Unreinheiten im Bild auf. So hing sein linkes Augen entsetzlich tief in sein Gesicht hinein. Ein Ohr war größer als das andere und die Bariton-Stimme entpuppte sich als eine hässliche Fistelstimme. Ezrahm war nicht dumm. Jedenfalls nicht so dumm, wie man es von ihm dachte, hatte sich der erste Eindruck von weit her, ernüchtert. Das brachte ihn auf die Idee immer eine gewissen Distanz zu wahren und ihn zu der Erkenntnis, dass er niemals einen Fehler begehen dürfe und wenn, dann müsse er dafür sorgen, dass der Fehler unbemerkt bliebe. Das wiederum hatte zur folge, wie er zum ersten Mal hinter der Kasse saß und alles mögliche über das Band zog und einige Artikel nicht sofort piepten und auch nach einem wiederholten ziehen über den Laser schieben nicht einen Ton erzeugte, dass Erzahm das Piepgeräusch selbst von sich gab. Zuerst fiel es dem Chef des Supermarktes nicht auf, der neben ihm Tüten packte. Auch den Leuten, die an der Kasse und in der Schlange standen fiel es zunächst nicht auf, dass Ezrahm den Ton des gescannten Artikels nachahmte. Er war wohl ein wahres Imitationstalent. Wie gesagt, er wusste um seine Makel und wusste sie tunlichst zu verheimlichen. Fast unbemerkt flüsterte der Chef ihm ein leises aber bestimmtes: “lass das”, zu. Und Ezrahm: “fragte was lassen?” “Lass das Gepiepe, verstanden.” Auch war dem Chef das Piepen zwar suspekt, aber er war es gewohnt Menschen mit Eigenarten einzustellen. Das war nicht der Grund für die Kündigung. Einen Moment später kommt die Frau, die gerade noch einkaufen war wieder in den Supermarkt. Sie hat einen Mann an ihrer Seite. Sie wirft dem Kassierer Ezrahm den Kassenzettel und eine Handvoll Kronen auf seinen Arbeitsplatz. Statt Ezrahm die Taxifahrerin fragt, was das soll: gähnt er nur. Er habe laut Kassenzettel zu viel abkassiert. Die Frau schien sauer. Man entließ Ezrahm wegen Gähnen. Wann immer Ezrahm kritisiert wurde, musste er gähnen und er musste nicht gähnen, weil er müde war oder gelangweilt. Er musste einfach nur gähnen, weil gähnen musste und jemand ihn kritisierte. Das brachte die Frau des Chefs Ezrah, die bei jedem Gespräch nachdem ersten Tag dabei war, ziemlich auf die Palme. Schließlich stellte sie die Leute ein und Ezrahm hatte sie eigentlich nur eingestellt, weil er so ähnlich hieß wie sie. Ezrahm und Ezrah. Ezrahm‘s Gähnen regte sie so sehr auf, dass sie ihren Mann anschrie, er solle diesen Menschen auf keinen Fall einstellen. Das sei ja nicht auszuhalten, sodass aus dem Auswertungsgespräch ein Kündigungsgespräch wurde. Und Ezrahm mal wieder wegen Gähnen gefeuert wurde. Schlichter sitzt im Taxi und holt einen Stapel illustrierte Frauenzeitschriften hervor, die er im Supermarkt, währenddessen die Fahrerin mit dem Kassierer und Einkaufstütenpacker, wie sie sagt, stritt, klaute. Er sagt, er habe als Kind immer gern in den Zeitungen seiner Mutter geblättert. Er sitzt im Taxi hinten und tapeziert den Fahrzeug

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Mann habe dann einen Moment mit ihr geschimpft. Sie dabei aber nicht angesehen, sondern auf das Erbrochene neben der Tür gestarrt. Als Frau Honigbrotphobie das Badezimmer betrat, um sich frisch zu machen, wie sie sagt, ist ihr aufgefallen, dass das gesamte Badezimmer mit Toilettenpapier, wie eingewickelt war. Als sie den Mann danach fragen wollte, konnte sie ihn nicht finden. Daraufhin hat sie die Sauerei weg gemacht und hat sich wieder vor Lauras Schreibtisch gesetzt. Hinter ihr auf dem Sofa lag eine Frau, die sich unter einer Decke versteckte und nur durch einen dünnen Schlitz in den Raum schaute. Das Radio im Badezimmer läuft durchgängig und eine Nachrichtensprecherin spricht zur Toilette: “und noch eine Meldung am Rande. Bei einer Massenpanik sind in Südafrika 15 Menschen ums Leben gekommen.” Später am Nachmittag lehnt Laura sich zurück. Vor ihr liegt der linierter Ringblock. Ihre Hände liegen auf dem Papier. Zwischen den Fingern kann man einen Satz erkennen: Kompromittierende Kompromisse kollabieren mit einer kollabierten Knautschzone. Sie scheint zufrieden. Frau Honigbrotphobie hat ihr ein Sandwich gebracht. Die Sandwiches, die sie von der Frau mit den schwarzen und einigen weißen Haaren dazwischen bekommt, muss Laura immer erst kontrollieren. Kann gut sein, dass sich eine Glühbirne, das Messer womit das Brot geschmiert wurde oder Scherben von einem Teller, innerhalb der Brothälften verbergen. Der Fremde unter Fremden in Uniform notiert sich die Neuzugänge in der Wohnung Möbius. Eine junge Frau, die bisher noch keine Erwähnung fand, aber fast zwanghaft auf Stöckelschuhe unterwegs ist und schon öfter, aber nicht regelmäßig bei Laura war, kommt zur Tür hinein und hat sich eine Freundin mitgebracht. Die beiden laufen schnurstracks in Lauras Arbeitszimmer und lassen sich auf einen leeren Sessel neben dem Sofa fallen. Wobei die Fremde mit den Stöckelschuhen breitbeinigen und tief in dem Polstermöbelstück sitzt und die Andere auf der Sessellehne.

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Valdemarsvik Unfall


er Mann, der nackt auf der Straße mit einem Megafon vor seinem Haus im äußeren Rand Västerviks das Lied History sang, setzte sich wutentbrannt in sein Auto und hatte einen echt miesen Tag. Er hatte sich die Kassette der, in Schweden wenig bekannten Band The Verve gekauft und drehte die Boxen seines Volvos voll auf und sang auch während der Fahrt das Lied—hatte aber das Megafon nur selten in Benutzung. Die Band hatte sich erst vor zwei Jahren umbenennen müssen, weil ein gleichnamiges Plattenlaben geklagt hatte. So wurde aus Verve, The Verve, was für die Fans der Band eher eine geringe Umgewöhnung darstellte. Am Vortag hatte man den Mann mit Megafon entlassen. Er war Arbeiter in einer Fabrik, die der Farbindustrie zu zu rechnen ist. Västervik liegt in der Provinz Kalmar Iän, die ihrerseits im historischen Småland liegt. Jede Lindgren-Referenz sollte gestrichen werden. Auch das Singen hatte nicht gegen diese brennenden Kopfschmerzen geholfen, unter welchen der Mann seit seiner Entlassung litt. Es ging ihm so schlecht, dass er auf die E22 raste, was von Haustür zur Europastraße nicht ganze zehn Minuten dauerte. Der Unfallwagen in spe, das kann man von Außen sagen, schien es sehr eilig zu haben. Der Fahrer nutzte jede Gelegenheit sich den anderen Straßenverkehrsteilnehmern aufzudrängen und sie auch zu überholen. Er sprang immer wieder hektisch auf die Gegenfahrbahn und startete ein riskantes Manöver nach dem anderen. Er jagte die Anderen, wie eine ausgehungerte Gruppe Hyänen Geier vom Aas. Notfalls und wenn es sein musste mit Hupkonzerten, grobem Drängeln, dichtem Auffahren und Lichtorgeln an konstanten Fernlicht. Das ging so etwa eine Stunde, dabei ließ er das Lied History in einer Endlosschleife laufen. Geigengedonner über der Weide. Geigengedonner und landwirtschaftliche Geräusche werden von einem Megafon begleitet. Der Mann wollte sich erleichtern. Er wollte die schwere Last der Kündigung, die er wie einen zerbrochenen Krug auf dem Kopf trug. Er empfand die Kündigung wie einen Schuldspruch, wie durch einem Prozess ohne Gericht. Er war leicht zu kränken. Manchmal reichte der Blick eines anderen Menschen aus und er war zu Tode beleidigt. Ob er sich die Kassette nur wegen des Bandnamens gekauft hatte, ist nicht bekannt. Aber ein Stück Leichtigkeit dachte er, würde ihm gut tun. Indessen er die Stadt Söderköping passierte und aus der autobahnartigen Europastraße 22 eine Durchfahrtsstraße wurde, damit auch das Tempolimit sich drastisch senkte, was den Mann mit Megafon aber nicht

weiter behelligte. Bis er an den schwarzen Cabrio, dem zerknüllten Spielzeugwagen, kam und drängeln, Megafon Ovation und Drehorgeln nichts halfen. Viele Menschen sind Pausen in der Symphonie des Lebens, hat Nietzsche mal gesagt. Der Sportwagen Fahrer, Psychoanalytiker von Beruf und Berufung war unerträgliche Momente gewohnt, ließ den schwarzen Wagen den spannungsreichen Augenblick langsam über die Bahn gleiten und verlor mit gekonnter Muße alle 100 Meter einen halben Kilometer die Stunde, denn er gegenübertrug väterliche Gefühle—wollte dem vermeintliche delinquenten Raser Manieren beibringen. Da verließen sie gerade Söderköping. Was den Megafonsänger von Anfang an zur Weißglut reizte und er sich vor Wut schnaubend kaum hinter dem eigenen Lenkrad halten könnte. Woraufhin sich naturgemäß auch der Abstand zwischen beiden Autos verringerte, wie früher mit seinem Vater. Wut und Wut heißt sich näher kommen – auch er gegenübertrug familiäre Gefühle, allerdings die eines sich ohnmächtig fühlenden Sohnes. Den hochroten Kopf aus dem Fenster steckte und verzweifelt den schwarzen Wagen anschrie. Versuchsweise das Megafon zur Hilfe nahm und den Fahrer im vermeintlich blockierenden Auto in den höchsten Tönen beschimpfte. Als Sportwagen Fahrer, wie auch Psychoanalytiker mochte er die Herausforderung. Suchte beständig Blickkontakt mit diesem furiosen Drängler hinter sich aufzubauen und schaute mehr in den Rückspiegel, als nach vorne auf die Fahrbahn. Sodass der schneidige Sportwagenfahrer den Stau, der sich vor den beiden aufgebaut hatte nicht sehen konnte—vor all der Berufsroutine. Mit einem gewaltigen Krach, welcher das Megafon, Hupen, ruckartige Abremsen des Dränglers, bei weitem übertrafen und den Höhepunkt dieser landwirtschaftlichen Symphonie darstellten, krachte der schwarze Cabrio in einen LKW und in ihn raste der Megafonsänger, dass es den Sportwagen zusammenknüllte und presste wie ein Matchbox-Auto. Gerade erst in seiner letzten Sitzung hatte der Analytiker eine Frau in seiner Praxis zu sitzen, die irgendwann einfach grundlos anfing zu fluchen. Sie stand am Flughafenschalter und wollte einchecken, wurde gefragt, möchten Sie noch weiteres Gepäck aufgeben und sie raunte die andere Dame an: »Sie können sich Ihr weiteres Gepäck in Ihrem fetten Arsch stecken.« Das kam so plötzlich, dass sie keine Gewalt darüber gewinnen konnte und eine Sekunde danach riesige Augen machte und sich heftig entschuldigte und nicht einmal wusste wofür. Man konnte es nicht zuordnen in ein mögliches Störungsbild. Und das einzige, was er ihr als Analytiker raten konnte, war zu schauen, ob er sich vielleicht besonders schämt, kurz bevor sie zu fluchen beginnt. Wie es sich bereits in der Praxis zeigte, in Form von Hasstriaden wenn der Analytiker das Thema-Sexualität ansprach. Der Mann im schwarzen Cabrio ein zweitüriger Saab 900 vor zwei Jahren vom Band gelaufen, als einer der Letzten, wäre in zehn Jahren sicherlich ein Sammlerstück gewesen—der Mann war auf dem Weg nach Stockholm, wie die Polizei ermittelte. Er war leider durch den Unfall schrecklich entstellt, aber im Wrack fand man einen Papierschnipsel, der zu einer Einladung nach Stockholm gehörte. Im Handschuhfach konnte das Portmonee des Fahrers gefunden werden, nachdem es einige Schwierigkeiten mit der Öffnung des besagten Handschuhfachs gegeben hat, die naturgemäß bei einem bestimmten Grad der Karosserie-Verziehung auftreten. In Schweden gibt es keinen Personalausweis von staatlicher Seite. Im Land brauchten die Banken allerdings eine Art von Identifikation, daher stellen Banken und die Post die sogenannten Legitimationshandling kurz Legitimation dem jeweiligen Staatsbürger, der ein Konto eröffnen will, aus. Auf der Legitimation ist eine Nummer vermerkt. Es ist für Ausländer schwer an diese Nummer zu kommen, mithin ein Bankkonto zu eröffnen. Die Legitimation ist aber nicht nur nötig um ein Bankkonto zu eröffnen, sondern auch beispielsweise der Arzt kann das Dokument, vor der Behandlung, verlangen. Obwohl nicht von der Polizei oder Meldestelle ausgegeben und damit inoffiziell, hat sich das Dokument zu einer Art Personalausweis entwickelt. Der schwedische Ausweis gilt nicht als Reiseberechtigung, ausgenommen davon ist die nordische Passunion. Anhand der Legitimation konnte der Name des Fahrers nicht ausgemacht werden, weil die Legitimation unkenntlich war. Blieb also nur das Stück Papier. Reste einer Einladung nach Stockholm. Es ist Verrückt, wie ein fragiles Stück Papier einen Unfall unbeschadet—nahezu unbeschadet überlebt und ein ganzer Mensch daran zugrunde geht. Auf der Einladung war ein Name vermerkt. Lindkvist. Die Polizei konnte damit nicht viel anfangen. Zunächst dachte sie bei dem Namen Lindkvist handele sich um den Fahrer. Allerdings fand man, während der Räumungsarbeiten das Nummernschild des Cabrios. Es lag einige Meter entfernt vom Unfallort in einem Gebüsch. Einem der Polizei bekannten Fachmann für die Rekonstruktion von Nummernschuilder, welcher auch glücklicherweise in der KFZ-Stelle arbeitete gelang es das zerbeulte Nummernschild zu rekonstruieren. Allerdings werden in Schweden Nummernschilder nicht auf den Besitzer, sondern auf das Auto zugestellt. Da der Mann, wie gesagt, in der KFZ-Stelle arbeitete konnte über die Akten der KFZ-Stelle der Besitzer des Fahrzeugs ermittelt werden. Das hat nicht einmal einen Tag gedauert, sondern nur wenige Stunden. Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Fahrer um einen semi-bekannten Psychoanalytiker handelt. Darüber wunderte sich die Polizei. Weshalb ein Mann, von dem Mann von dem glauben würde er hätte sein Temperament im Griff in einen LKW rasen würde. Oder der zumindest genauso vernünftig ist während der Fahrt auf die Straße zu achten. Anschließend kam man auf die Idee nach einem Herrn oder einer Frau Lindkvist zu suchen. Um eventuelle Informationen über die Konstitution des Unfallfahrers zu bekommen. Weil man davon ausging, dass es bei Lindkvist eher um den Inhaber oder die Inhaberin einer Firma, eines Geschäftes oder sonstigem handele—dies meinte

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Innenraum mit aufgeschlagen Zeitungen, aus denen er die Parfüm- und Cremeproben, die bei jeder solcher Zeitung dabei sind, heraus nimmt, sammelt, sie öffnete und sich damit einschmiert. Das ganze Fahrzeug riecht nach billigen Parfüm. Er dachte immer diese Mini-Flakons mit ihren Deckeln und Plastikspitzen, mit denen man sich den Duftstoff auf den Arm streicht, er dachte immer das wäre eine Art Drogen zu konsumieren und alle Erwachsenen würde sich berauschen und da wollte er als Kind heraus finden, was das für eine Droge sei, aber bis auf ein bisschen Gestinke, sagt Schlichter, komme nichts dabei rum. Irgendwann reicht es der Taxifahrerin und sie schreit Schlichter an, der zusammen zuckt. 1994 stimmten die Schweden ab. 52,3% der Stimmen waren für einen Beitritt in die Europäische Union. Am 1.1.1995 erfolgte der Beitritt in die EU. Die Union kommt so auf insgesamt 15 Mitgliedsstaaten. Für Schweden ist der Beitritt ein Höhepunkt einer langen Phase der Integration und Zusammenarbeit der Mitgliedstaat der EU. 1972 trat das Land der Europäischen Gemeinschaft (EG) und damit dem Freihandelsabkommen bei. 20 Jahren später schloss das Land im Norden Europas einen Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EW). Das waren Meilensteine in der schwedischen Außenpolitik. Nach dem Mauerfall wurde der EU-Beitritt heftig und leidenschaftlich diskutiert. Während des kalten Krieges wahrte Schweden eine neutrale Position. Man wollte verhindern zwischen die USA und die Sowjetunion zu kommen. Das Taxi bewegt sich auf der E22. Richtung Norköpping wird es bergig und felsig. Kühe an einem See. Rote Häuser werden zu roten Flecken auf grünen Wiesen. Im Radio wird viel geredet. Die Taxifahrerin lacht öfters auf. Schlichter sitzt daneben und versteht kein Wort. Höchsten ein Lied dann wieder Gerede. Zeit für etwas zu essen, meint die Fahrerin und weckt Schlichter aus einer sprachlosen Apathie. Ein amerikanisches Diner erscheint an der E22. Das Heckteil eines fünfziger Jahre Volvos hängt aus der Wand. Nummernschild: CZT 402. Rost. Abgeplatzter Lack. Abschrägte Fenster und eine durchlöcherte Markise hängt vor dem Restaurant. Vor den schrägen Fenstern Blumenkästen mit Stiefermütterchen. Schlichter hechtet ins Diner die Hände über dem Kopf, als müsste er sich vor Regen schützen. Die Fahrerin läuft langsam hinter her. Sie hat ihre Mütze tief ins Gesicht gezogen. Filterkaffee aus einer Glaskanne. Die Fahrerin legt ihre Mütze vor sich hin und trinkt einen Schluck Kaffee. Dann befreit sie sich von ihrer Flieger-Jacke. Der Laden ist von zehn bis sechs geöffnet. Ist an sich dunkel und wird von einem Cola Kühlschrank ausgeleuchtet. Blumen, aber keine Stiefmüttern in alten Flaschen auf dem Tisch. Ein Cola Aufsteller draußen vor der Tür preist den Kaffee an und den Rest kann Schlichter nicht lesen. Schlichter isst einen Tiefkühl-Burger. Tunkt ihn in eine Lache aus Ketchup, der dann auf den Teller zurück tropft und zum Teil in Schlichters drei Tage Bart hängen bleibt. Draußen rauschen Autos über die Straße. Mischwald Kiefern und Laubbäume im Blick Schlichters, der aus dem Fenster schaut. Hinter dem Diner ein Kinderspielplatz. Im Diner läuft ein Radio. Dort heißt es auf der E22 zwischen Västervik und Norrköping hätte sich ein Unfall ereignet. Ein schwarzes Cabrio sehe aus, als sei ein Spielzeugauto durch die Müllpresse, wie durch die Waschanlage gefahren. Zwischen Västervik und Norrköpingen komme es daher zu erheblichen Behinderungen. Die Fahrerin flucht und meint zu Schlichter, das müssen sie umfahren.

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https://www.youtube. com/watch?list=PLuiYhcgFTmqCMQU0Taus dem Papierfetzen einer Einladung nach Stockholm schließen zu können—wälzte man gewerbliche Telefonschaft, wenn man das so sagen kann, ist die einzige tatsächlich brauchbare Errungenschaft, hinsichtlich des wisk7jXA8jp-Z7k1koZ&- senschaftlichen Menschenbildes, der Humanismus. Diese Freundschaft geht so weit, dass ich selbst humanistische buch Stockholms, das Unternehmensverzeichnis Stockholm und sonstige Unterlagen. Gefunden werden konnte eine Zoo Handlung Lindkvist, mehre Bäckereien Lindkvist, einen Schumacher Lindkvist, eine PsychotherapeuKriminalitätstheorien vertrete. v=FBNh7VJ6ogU

tische-Praxis Lindkvist, gleich drei Autowerkstätte Lindkvist, einen Gebrauchtwarenhandel für gastronomische Geräte und Bootswerft Lindkvist. Es dauert nicht lange und man zählte eins und eins zusammen und kam zu dem Schluss, dass der Mann aus dem schwarzen Cabrio auf dem Weg zu der Psychotherapeutischen-Praxis Lindkvist war, aber man wusste nicht was er da wollte. Das jedoch war auch schnell ausgemacht. Kurzerhand wählte man in der polizeilichen Dienstelle die Telefonnummer der Praxis, wo zunächst nur der Anrufbeantworter ans Telefon ging. Mit dem Hinweis, dass es freie Therapieplätze erst wieder im Herbst oder Winter geben wird, ohne darum zu bitten eine Nachricht zu hinterlassen. Zum Glück der Beamten, war diese Funktion aber nicht ausgeschaltet und man hinterließ der Praxisinhaberin Margarethe Lindkvist, die zumindest einem Polizisten aus dem Fernsehen bekannt war, eine Nachricht. Keine fünf Minuten später klingelte das Telefon in der Dienststelle und man erfuhr, das besagte Lindkvist am Sonntag eine Fachtagung zur Fernseh-Psychologie geben wird und dass der Unfallverursacher auf der Teilnehmerliste stand. Frau Lindkvist kannte den Mann persönlich und konnte sich nicht vorstellen, dass er unkonzentriert Auto fuhr noch dass das Temparement mit ihm so sehr durchging, dass er eine Unfall verursachen würde. Ganz im Gegenteil sie kannte ihn als einen Verantwortungsbewussten, Engagierten und liebevollen Mann. Damit war das Telefonat beendet, die Untersuchung aber noch nicht abgeschlossen.

Theorie………

Herr Schlichter geht davon aus, soweit konnte ich bisher herausfinden, dass Menschen lieben. Daraus zieht er den Umkehrschluss, nicht ganz gültig, fragen Sie mich, das Menschen, die nicht lieben oder lieben können, Unmenschen seien. Ein einfaches Konzept, wenn Sie mich fragen. Der Humanist in mir schreit bei solchen Modellen auf und ruft, hier will jemand die Verantwortung abgeben und verstecke seine Verantwortungsdiffusion unter einem Modell, dass er selbst auf sich anwendet und seine Lage begünstigt. Sich selbst für sich ein Modell zu überlegen ist ein Schritt weiter nach der Selbstdiagnose. Ich weiß gar nicht, was kommt danach? Was mir im Schreiben jedoch auch klar wird, er lässt sich damit ein Hintertürchen offen. Nämlich, dass er sobald er wieder lieben kann zum Menschen wird. So gesehen und auf einen breiteren Zeitraum gesehen, haben wir es also nicht mit Verantwortungsdiffusion oder Abgabe zu tun, sondern mit einer Pause in Sachen Verantwortung.

Mihiver Oft erzählt Herr Schlichter im Gesprächt zur Feststellung seiner Steuerungsfähigkeiten mir etwas von Menschlichkeit. Kriminalitätstheorien -> Mangeltheorie, Entscheidungstheorie Wie Ihnen wahrscheinlich bereits aufgefallen ist, bin ich ein Freund des Humanismus. In 500 Jahren Wissen-

--> Lückenloser Übergang “Herr Schlichter, erzählen Sie doch mal davon, wie es ist Mensch zu sein,” frage ich den vermeintlichen Delinquenten in seiner Erzählung unterbrechend. “Das kann ich nicht.” “Wie nicht?”, eine Antwort, die ich erwartete. “Wie soll ich über etwas reden, was ich nicht bin?” “Was sind Sie denn?”, ein Grund Gerichtsgutachter geworden zu sein, sind definitiv die abstrusen Gespräche, die sich aus dieser Tätigkeit ergeben. “Ein Unmensch und nichts weiter.” “Was macht Sie zu einem Unmenschen? Woran merken Sie, dass Sie ein Unmensch sind? Wie unterscheidet sich, der Unmensch vom Menschen?”, ich muss schon sagen, ich empfinde ein wahre Freude daran. “Es ist die Unfähigkeit Liebe zu empfinden.” “Und auf einer Skala von 1 bis 10, wie sehr sind Sie Unmensch?”, nun wieder ernster. “Das weiß ich nicht.” “Was müssten Sie machen, um noch unmenschlicher zu werden?”, die Frage ist ein Trick, aber das merkt man sicherlich. “Man ist es oder man ist es nicht, entweder man ist Mensch oder Unmensch. Man kann nicht weniger oder mehr davon sein.” “Waren Sie denn jemals Mensch?”, eine gute Art, der Frage auszuweichen, bravo Edwin, weshalb ich eine Kursänderung vorschlage. “Sie meinen, ob ich jemals jemanden liebte?” “Ja! Erzählen Sie doch mal davon, wie es war, als Sie zum letzten Mal liebten.” “Wien, die letzte Frau, die ich liebte, lebte in Wien.” “Erzählen Sie mir von Ihrer Wienerin.” “Sie kam eigentlich aus Hamburg, lebte aber seit 8 Jahren in Wien. Ich besuchte sie im März zweimal. Ich brauchte eine Auszeit. Mir fiel die Decke auf den Kopf, Sie wissen, was ich meine. Sie war damals noch eine Bekannte, eine Freundin. Ich wollte mir die Hotelkosten sparen und fragte, ob sie eine günstige Unterkunft kenne, woraufhin sie mich prompt zu sich nach Hause in das Gästezimmer einlud.” “Sie sagten, Sie besuchten Wien zweimal. Wieso zweimal?” “Nun, einmal besuchte ich die Stadt und einmal die Frau. Ich will über den ersten Besuch nicht viele Worte verlieren. Ich wollte die Stadt sehen und war nicht abgeneigt, dass sie mich dazu begleitete”, hier hellt sich die sonst düstere und schmale Visage Schlichters auf: “und dass wir so den ganzen Tag, geradezu unwissentlich aufeinander hingen, fiel uns nicht auf. Was mir im Nachhinein auffällt: bei meinem ersten Besuch, vermied ich jegliche Art von Blickkontakt, aus Furcht, mich darin zu verlieren. Womöglich war es genau, diese Mischung aus Nähe und Distanz, die ihr Sicherheit gab. Ich erinnere mich noch, wie wir jede der 3 Nächte in der Küche saßen, an den gekräuselten Tulpen herum zupften, die ich mitgebracht hatte und bis in den Morgengrauen, miteinander sprachen und wir irgendwann so müde waren, dass unsere Köpfe unbekümmert aneinander lagen und einmal durchfuhren ihre Hände meine Haare. Es wäre wohl das beste gewesen, wir hätten gesagt, wir sind wie Geschwister, die sich einander zwar lieben, aber nicht begehren dürfen und das intimste, was wir teilten: war die Synchronisation unserer Gesten.” “Und das, denken Sie ist Liebe?” “Nicht bei meinem ersten Besuch. Als sich mein Aufenthalt dem Ende näherte, näherten wir uns ebenso einander.

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chlichter ist mit Tanken dran. Geduldig sitzt seine Fahrerin im Taxi, das Lenkrad in der Hand, der Blick nach vorn. Das Tankstellenhäusschen ist geschlossen. »Wer auch in dieser Provinz«, murmelt Schlichter, »will hier arbeiten müssen?«, wo alle paar Stunden mal jemand zum tanken kommt, und er nimmt die Pistole aus der Verankerung, wundert sich dass kein Benzin in den Tank schießt, merkt nach einigen Anläufen, dass er zuerst bezahlen muss. Er tut sich schwer mit der Bedienung des Bezahlautomaten. »Da steht sprache wechseln, dann wechselt man und trotzdem bleibt es unverständlich«, meckert er mit dem Automaten. Die Taxifahrerin gebirt sich nicht, vom Steuer abzulassen und nach schlichter zu sehen, nichtmal eine Miene zu ziehen. Er meint er dachte in dem

Moment, er das Auto tankte, an eine Frau aus Wien. Wir müssen fliehen, hatte er ihr gesagt. Wir müssen Wien verlassen.

Neben der Tanksäule ein Snackautomat, dessen Bedienung Schlichter besser gelingt. Als er wieder in das Auto steigt, hat er einen Haufen leerer Quittungen und eine mit dem Tankbetrag zusammengeknüllt in der Hand. Die Tür fällt ins Schloss, Schlichter drückt den Verriegelungsstift nach unten, schaut sich argwöhnisch um, sinkt in den Sitz lacht dann leicht schnalzend und sagt: »wer uns jetzt verfolgt, an diese Tankstelle kommt und die Buchungen der Selbstbedingungszahlapparat ausliest, der wird sich über all die leeren Buchungen wundern. Ich will mich mal so ausdrücken, das ist alles zeit. Zeit die wir gewinnen.« Die Fahrerin nickt ab, zieht die Schiebermütze ins Gesicht und Langsam rollt ein Taxi irgendwo in der französischen Pampa an diesem Nachmittag, von einer Tankstelle und gleitet gemächlich auf die Landstraße zurück, wie eine Makrele auf Ozeanwanderung die kurz die Reise unterbrach und sich jäh ihrer Reisegruppe wieder anschloss. Er holt eine Dose Kaugummi aus seiner Tasche, die er am Automaten gekauft hatte. Nimmt einen Kaugummi und schütten den Rest aus dem Fenster. Aus einer anderen Tasche holt er ein Medikament und füllt es in die Kaugummipackung.

Magenkrämpfe Schweißausbrüche zittern oder Tremor Kopfschmerz wenn er nicht weiß ob er sich den glühenden Schädel oder den rumorenden Magen halten soll. Dann muss er sich den Ganzen Tag den Bauch halten. Und sein Medikament nehmen. Er will nicht, dass man sieht, dass er Medikamente nimmt, deshalb kauft er an der Tankstelle eine von diesen großen Kaugummidosen – miniaturfässern für die Manteltasche. Schüttet bis auf einen Kaugummi, den er sich in den Mund steckt und sich über tropischen Geschmack freut, noch auf den Tankstellenparkplatz und füllt sein Medikament in die Dose ein. Das Glove-Compartment ist für Schlichter wie die Baumhöhle aus Bullerbü, die Dose Kaugummi, wie die Limonade für die Kinder aus Büllerbü.

3. Ein Vor ein Er sollt Nerven tosend Dass S geschla meintl kam zu alten G Die nä des eig Ein Jah - gekrä Hat sie

3.1 “Herr S “Ich wo


Wir liefen am dritten Tag Arm in Arm, machten Scherze über Kindernamen und waren uns einige: unsere Kinder würden Mathilda und Emil heißen. Wir liefen die Berggasse herunter, wir lachten, besuchten Freuds Wohnung in der Nummer 19. Es war kurz vor sechs, weil man für 10 Minuten Ausstellung kein Geld verlangen konnte, durften wir kostenlos hinein und blieben 15 Minuten. Beinahe küssten wir uns dort. Ich verhinderte dreimal, dass es passierte. Es war mir nichts, ich wollte diese Grenze nicht überschreiten und wir machten uns wieder auf den Weg zurück zu ihrer Wohnung in der Papagenogasse. Dort wälzten wir uns in ihrem Bett. Aber nichts, kein Kuss, nur Berührungen unserer Wangen, das war‘s.” Ernst Edwin Schlichter der gute Mensch von Wien. Ernst Edwin Schlicht auf der Suche nach guten Menschen. “Erst als wir im Taxi saßen, auf dem Weg zum Flughafen, ich ihre über meine Beine gelegt hatte, küssten wir uns. Vor der Sicherheitskontrolle verabschiedeten wir uns unendlich lang. Als ich im Wartebereich verschwunden war, erzählte sie mir später, verbrachte sie noch eine Stunde grundlos am Flughafen.” “Wie kam es dazu, dass Sie noch einmal nach Wien flogen.” “Es war Freitag, ich war gerade gelandet und wie ich das Flugzeug, über eines dieser Treppengestelle verlassen hatte, Wind mir durch die Haare fuhr, ein Bus bereits wartete, mein Mantel im Wind flatterte, wusste ich: mir stand ein wahnsinniges Wochenende bevor. Von nichts wollen, nichts können und nichts sein—aber alles schaffen müssen. Ich wand mich in meinem Bett. Wir telefonierten täglich zweimal über viele Stunden. Wand mein Körper sich in einem Gift—war ich vergiftet? Oder würde ich geheilt und wand ich mich in Genesung? Ich weiß es nicht. Ich kaufte gekräuselte Tulpen, weil das unsere Blumen waren und stellte die geschlossenen Blumen auf meinen Küchentisch. Ich aß, was wir gegessen hatte, nur um mich ihr näher zu fühlen und ich machte Spaziergänge durch den botanische Garten, wie wir es gemacht hatten. Mit dem Unterschied, dass zwischen uns 700 Kilometer Entfernung lagen. Meine Tage konzentrierten sich Einzig darauf, mit ihr zu telefonieren. Alles andere schien mir trivial und der Sache nicht wert.” “Herr Schlichter kommen Sie bitte zum Punkt”, sagte ich ungeduldig, weil mich seine Liebesgeschichte, doch eher weniger interessierte. “Auf Liste von all den dummen Ideen und bescheuerten Einfällen, die mir in diesem Leben bis dahin eingefallen waren, belegte 4 Tage später wieder am Flughafen zu sitzen und auf meinen Flug nach Wien zu warten, definitiv einen der Spitzenplätze.” Ernst Edwin Schlichter, wollte mal spontan sein. Seine Ausgangsposition war schon eine Pattsituation, denn es sprachen zwei Argumente, gegen Albertina von Salomé aus Wien. Zum einen, die Distanz von über 700 Kilometern. Das, sagte er sich, ist aber eine rein finanzielle Frage und warum nicht mal in der Stadt Habsburger arbeiten? Zum anderen allerdings, was wesentlich problematischer war: Albertina war seit 6 Jahren in einer Beziehung. Was zuerst als eine Fernbeziehung begann, wurde später zu einer Wohngemeinschaft. Genau die Wohnung, in der Ernst das Gästezimmer bezog, als er zum ersten Mal in Wien war. “Das vitale verführerisch virale Gefühl eine fremde Beziehung, eine Verbindung zwischen zwei Menschen zu durchtrennen, zu kappen und zu unterbrechen—es bereitet mir Nasenbluten und höchste Erregung.” Wenn sich sonst überhaupt nichts richtig anfühlt. Was will man dann machen? Was soll einer wie Schlichter, dann besser tun? Es sein lassen und sich beschissen fühlen oder darauf eingehen und sich genauso beschissen fühlen? Wie er sich verhält, am Ende ist es falsch. Eine Sache, die ihm aus der Kindheit von seiner Mutter nur allzu gut bekannt war. Doppelbindung, was war ich, was soll ich, was bin ich? Wie soll ED sich verhalten, wenn Leere und Taubheit aus seinem Körper weichen, und statt ihrer eine lang vermisste Wärme die Landkarte seiner Haut erobert, als wäre sie ein ferner, ihm aus den Fingern entrückter Kontinent—ein Wiederentdecken von Spüren und Fühlen, wenn Albertina in seiner Nähe war. Eine Woche später, genau nur eine Woche später, doch gefühlt waren Jahren dazwischen, eine Woche nachdem Schlichter Albertina, vor allem allerdings Wien zum ersten Mal besuchte, saß er in seiner Küche und buchte noch am selben Morgen Flüge, um abends wieder in Wien, bei Albertina zu sein—ohne sie davon wissen zu lassen. Noch immer Donnerstag der 4. Tag dieser noch immer sinnlosen Reise. Schlichter kommt von der Toilette und hält einen Pappbecher Kaffee in der Hand. Wenn man zur Toilette will, muss man in die Tankstelle, einen Schlüssel abholen. Er kann, nicht widerstehen Kaffee zu kaufen. Ein typisches Bild dieser stereotype Figur: Ernst Edwin Schlichter kommt schlurfend daher gelaufen, hält Kaffee in der Hand und schaut betreten zu Boden. Er sagt sich, “einmal eine Tankstelle besitzen und ein Café in sie hinein bauen. Getäfelte Wände, Mosiakmuster, einige Vorhänge, Kissen auf dem Boden, niedrige Tische, Kaffeeextrakt gefüllte Tanksäulen und Edwin auf dem Boden, auf einem der Kissen sitzend, auf einem der niedrigen Tische, die Hände falten, Haschisch rauchen und aus dem Tankstellenfenster glotzen und mit seinen leeren Augen zwischen den Tanksäule Ferne suchen. Sich ein paar Menschen halten. Ihnen ab und an mal Einen ausgeben und dafür sorgen, dass sie wiederkommen. Sich dann als

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generösen Mäzen aufspielen und so weiter. Wer selbst nicht schaffen kann, kann andere schaffen lassen und es sein Schaffen nennen. Mindestens aber sagen, man sei nicht hinreichend, sondern notwendig für das Fremde, das man selbst nicht zu Stande bekommt. Er steigt ins Auto ein. Murmelt etwas zu dem Taxifahrerin, “manche der Gäste könnten allergisch gegen Daunenfedern sein, das müsse man einkalkulieren. Wien habe eine ausgezeichnete Cafékultur, das liegt daran, dass die Osmanen, ihren Kaffee dort, nach der letzten erfolglosen Belagerung, liegen gelassen haben.” Sie fahren. Die Heizung ist an. Sie bläst trockene Luft in den Fahrzeuginnenraum. Sein Kopf lehnt in bekannter Manier, gegen die Scheibe des Fahrzeugs, eine rudimentäre Miene zeichnet sein Gesicht. Er denkt an Wien. Schaut aus dem Fenster. Er repetiert Wien. Auf dem Weg nach Genf. Diese Intrusion von Wien. Nichts sein. Nichts wollen. Nichts können. IM NÄCHSTE ABSCHNITT “Als ich nochmal 3 Tage in Wien war”, spricht Schlichter im Taxi und erklärt er im Interview. Tag 01 in Wien. Das Fahrwerk berührt die Landebahn und ein Rauschen und Drücken geht durch die Kabine. Draußen ist es sonnenklar, wolkenlos. Das ungefiederte Luftfahrzeug kommt zum stehen. Die Passagiere stehen auf und entnehmen den Gepäckfächern, ihr Handgepäck. Ernst sitzt noch auf seinem Sitz und sucht und wählt in seinem Telefonbuch den Eintrag, der ihn mit Albertina verbindet. Wie es ist in ein fremdes Leben einzudringen. Wie es ist ein Lebenskonzept in Trümmer zu verwandeln. Ernst Edwin Schlichter die Pest in Wien. “Ich liebe den Zufall”, hatte Albertina von Salomé gesagt. Als E. E. Schlichter abermals am Flughafen saß, da hatte er den Zufall betrogen und sich in sein Geschäft eingemischt. Er würde sich, wie ein Geist durch Wien bewegen müssen, hatte sie ihm geraten. Durch die Stadt, die er nicht kannte. Zu der Frau, von der er nicht wusste, wie sie, auf seinem Einbruch in ihr Leben, reagiere. Wie ein Niemand, wird er durch die Stadt schleichen müssen. Wie es ist zu existieren und im Grunde genommen, nicht existieren zu dürfen. Wie ist auf feindlichem Gebiet, wie ein Spion zu leben—wenn auch nur drei Tage—Schlichter der desertierte Spion. Es war nicht Zeit zu denken. Es war keine Zeit, sich Wenn-Fragen zu stellen. Nicht mal Zeit sich wie, zu fragen. Es gibt nur Sein. Albertina und Schlichter trafen sich im U-Bahnhof Landstrasse Wien Mitte und fuhren von dort aus in das Café Europa, weil sie schon ahnten, sie müssen sich verstecken, gingen sie ganz durch das Café hindurch, die Treppen hinunter und saßen an einem Tisch, den von außen niemand sehen konnte und neben dem Leute tanzten. Sie würde sich die Beine vertreten, einen Spaziergang machen, hatte Albertina zu Hause gesagt. Es ist kompliziert. Wer die Suche nach Nähe und Bindung, bei einem quasi gebundenen Menschen sucht, der wird unweigerlich scheitern. “Selbst wenn, wer will eine Frau, die eine Betrügerin ist”, hatte Albertina im Café Europa gesagt. Es kann nur Verlierer geben. Es war, wie eine heimliche Entführung, von der beiden wussten: sie spielen Entführer und Entführte. Schlichter hatte von zu Hause aus, ein Zimmer für zwei gebucht, obgleich er wusste, Albertina würde niemals bei ihm schlafen. Sie haben das Café Europa verlassen und befinden sich im Treppenflur des Hotels, Albertina trägt Schlichters schwarzen Aktenkoffer und er selbst seinen blauen Reisekoffer. Will sie nicht gehen? Das Hotel an sich, erscheint ihnen mehr, wie eine Wohnung. Alle Zimmer befinden sich auf einer Etage und das Büro, der Rezeptionistin, Buchhalterin und Besitzerin, die sich noch über die Lautstärke beschweren wird, ist auf dem Gang. Das Bett ist aus hellem, aber schwerem Holz. In der Zeit, sie miteinander schliefen, rief ihr Freund mehrmals an. Wo sie bleibe. Es ist halb drei Uhr Nachts. Sie läuft halb-nackt durch das Zimmer. Schlichter liegt auf dem Bett, liest und auf einer Nachttischlampe hängt eines seiner Unterhemden und flüchtig drückt sich das Licht, träge durch den Stoff und beleuchtet in Fragmenten das Zimmer. Albertina verlässt Schlichter. Er steht vor dem geöffneten Fenster. Er schaut in den Innenhof, raucht, auch das wird er dementieren, und hat ein Handtuch um die Hüfte gebunden, Anfang März, ein paar Monate ist das her, er fröstelt leicht. Legt sich ins Bett und schläft ein. “Und wann immer ich die Augen schloss, sendete mir mein Kopf Illusionen von ihrem Geruch und Klang ihrer Stimme.” Albertina war Filmemacherin und Journalistin. Es lief gerade keine großes Projekt. Sie hatte viel Zeit. Der Zufall

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war zu einem Komplizen Schlichtes geworden—oder ein Opfer Edwins. Ernst Edwin Schlichter, war nie mehr, als dieser Eindringling. Nie mehr, als ein Aasfresser, zwischen den gekrümmten, sich abgewendeten Rücken einer verdorbenen Liebe. Nie mehr, als eine Auszeit, Willkommene Abwechslung von Gewohnheit und Alltag. Ernst Edwin Schlichter war nie mehr als ein Symptom. Er für seinen Teil, genoss die Freiheit, die Verpflichtungen, die er nicht erfüllen musste. Was er auch meinte: “ich werde meine Nächte und Träume mit dieser Sinfonie von Frau tränken. Ich werde mich hinlegen und das Bild ihres Gesichtes, aus einem Buch von Frauengesichtern, aufschlagen. Nicht, dass ich in Sehnsucht mich verliere—das Gegenteil.” Ein bisschen Leben, in einen Zustand der Trostlosigkeit bringen. Wer meint das Lieben verlernt zu haben, der freut sich, wenn er mal sehnsüchtig auf die Nachricht, auf den Anruf oder irgendein Zeichen einer mehr oder weniger auserwählten Frau wartet, obgleich er weiß; das wird nun gar nichts—es ist irrelevant—er freut sich einen Moment der groben Anhedonie zu entkommen, zwischen ihren Fingern hindurch zu rutschen und sich in Hedonie, glückselige Hedonie zu baden, als wäre das Leben ein Schaumbad, dessen Schaum in den Augen manchmal brennt. Wichtig ist nur; irgendwo, irgendwann, mit irgendwem wird es zurück kommen und diese lange Zeit der Dürre, wird vor rüber sein, vielleicht dann mal aufhören zu Tippen? Mal in Bindung aufgehen, statt Lettern, Sätze und Paragraphen zu binden und Bücher daraus zu machen. Man weiß es nicht—ist auch scheiss-egal, was man weiß oder nicht weiß, glaubt zu wissen, wissen wird, oder gewusst hat—in 80 Jahren sind wir alle tot. Wer in seinen 20ern, nicht so viel fickt, wie möglich, hat etwas verpasst. “Das Herr Schlichter müssen Sie weiter ausführen.” “Die Frage ist nur, wie lange will ich diese Art von Brettspiel, von Mensch ärgere dich nicht, von Vier gewinnt, von Halma und Backgammon aufrecht erhalten? Wie lange will ich auf Nachricht warten? Wie lange, will ich mir mit der Deutung von etwaigen und nicht existenten Zeichen die Zeit vertreiben? Heute kein Anruf? Das liegt daran, dass sie viel zu tun hat. Morgen immer noch nicht? Sie will mich austesten, wann ich mich melde. Wie weit kann ich ihre Züge noch vor-raus denken, sehen und Gefühle antizipieren? Wie wird sie wohl setzen? Was wird mir das bedeuten? Vor allem, was wird es mir bedeuten, was wird dieses neurotische Zyklus, den ich lebe, dazu sagen, wenn ein fremder Mensch, seine autopioses, stört. Ach die Regeln dieses Brettspiels lauten ganz einfach: der Zeitpunkt der Trennung, er darf nicht das Ende der Vorstellung sein. Man muss, trotz Versiegen der äußeren Information, Reize weiter spinnen. Man muss, aus den Stücken von Informationen, die man bekommen hat, weiter Schlüsse ziehen. Das heißt jeden Satz auseinander nehmen, den sie geschrieben hat. Jeden Gesprächsfetzen, an den ich mich erinnern kann, weiter analysieren—wie war der Ton ihrer Stimme, als sie sagte, wir treffen uns U-Bahnhof Landstraße Wien Mitte? War der eher erregt oder gelangweilt und wenn gelangweilt, bedeutet dies, dass sie es kaum erwarten konnte? Zitterte ihre Stimme, als sie mich im Hotelzimmer ließ? Zitterte meine Stimme, als die Tür ins Schloss fiel? Bin ich nicht die Art von Mann, der ich vorgebe zu sein? Weil aber Langeweile, immer die Unter— oder Überforderung einer Situation meint, konnte sie es nur mit Langeweile ertragen? Oder war sie, die Nuance deiner Intonation—war sie doch erregt? Und legt das nun den Schluss nahe, dass ich gar aufpassen muss, denn eine Erregung flacht doch schnell ab und wenn ich nicht ebenso schnell für neuen Bindungsstoff sorge, vergisst du, dass du die bisherige Bindung aufgeben wolltest und dein Versatzstück von Menschlichkeit, an einen anderen Menschen—an mich—anschließen wolltest? Daher übrigens die Idee, nochmal nach Wien zu fliegen. Um reinen Tisch zu machen, Material zu liefern…” Diese Liste ist ein Paradebeispiel für den Schlichtereffekt—diese spezielle Form von neurotisch sein, wenn es scheint das Überleben hinge von der Reaktion einer Person ab und die Einbildung von Reaktionen und Denkweisen und der Steigerung des eigenen Gefühls; interessieren, mögen, fühlen, lieben, verzweifelt lieben, langweilen, abstoßend finden, angeekelt sein, suizidal lieben … “Und vielleicht setze ich sie auch noch, bei gegebenen Anlass, fort.” “Herr Schlichter, es tut mir leid, aber emotionale Instabilität, haben noch niemanden von der gerechten Hand der Justiz bewahrt. Besonders dann nicht, wenn das Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Delinquenten aus meiner Feder stammt.” Der Schlichtereffekt An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, eine kleine Exkursion in Sachen Schlichtererffekt zu unternehmen, der besonderen Neurose Ernst Edwin Schlichters. Aus Gründen der Plausibilität, wird hierbei darauf verzichtet: die schier unendlich anmutenden und zerstreuten

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Ausschweifungen Schlichters zu resümieren, um einen zugänglichen Kontext zu schaffen, sondern ich werde ihn abermals zitieren (Anm. ich habe darauf verzichtet, meine Fragen, in diesen Teil des Berichtes zu übernehmen). “Im Studium hatte ich eine, wir waren im selben Semester, aber in unterschiedlichen Kursen, heißt wir sahen uns in den Pausen, auf dem Flur, auf dem Balkon, in der Bibliothek, auf dem Weg vom und zum Bahnhof. Ich kannte nicht mal den Klang ihrer Stimme. Geschweige den—wusste ich ihren Namen, ihr Alter—ich hatte nicht die geringste Ahnung und Vorstellung, wer diese Person war. Wenn unsere Blicke sich trafen, zog sich eine elektrische Spannung durch die Luft des Hörsaals (der Jahrgang war in 2 Kurse geteilt, die Vorlesung fanden gemeinsam statt, die Seminare Kurs-intern.) Klingt nach einer Liebesgeschichte? Nicht wenn es nur von einem ausgeht. Und ich wusste: nachts würde ich träumen, von diesen feucht-glänzenden Lippen, von diesem hinter einer Brille sich versteckenden Augen. Nachts würde ich eine Stimme hören und ich würde morgens sagen, ja das war deine Stimme und ich höre sie noch immer. Ich würde dein Bild rahmen und in meinem Kopf aufhängen. An die mythischen Momente denken, wenn wir einen Kurs zusammen hatten… Das Wort Kurs unterscheidet sich in einem Buchstaben, nämlich “r” von dem Wort Kuss—wenn wir einen Kuss zusammen hatten. Wenn ich, so schnell ich konnte zur Vorlesung hetzte. Ich sie in meinem Schatten sah und sie trotzdem, zu erst da war. Sie sehen also, mein lieber Herr Gutachter, die Mythenbildung, hängt mit meiner Überraschung zusammen. Machen Sie den Test, erklären Sie mir den blinden Fleck, stören Sie meinen Glauben an Objektpermanenz, lassen Sie einen Affen durchs Bild laufen, führen Sie mich in einer Theater der Kuriositäten, täuschen Sie meinen Geist, lassen Sie mich schwach aussehen. Sie werden überrascht sein—wie überrascht ich bin. Ich werde sagen, Sie müssen ein Zauberer sein. Ich werde rufen, wozu sinnvoll Leben, wenn ich in Effekthascherei aufgehen kann? Zeit meines Studiums habe ich sie nie kennengelernt. Manchmal denke ich noch heute an sie. Mein Kosmos ist angefüllt mit einer Sammlung, mit einem Bilderbuch von mythologischer Frauen. Sie fragen, was mit den Frauen ist, die mich liebten, die ich vorgab zu lieben? Ob ich auch eine Art Mann-Mythos in deren Kosmos bin? Ach, wenn ich nur noch die Namen von diesen Frauen wüsste. Was halten Sie davon? Ich fertige eine Liste mit den Namen an und wir überlegen gemeinsam, ob es so etwas wie einen Schlichtereffekt, wie sie meine Störung nennen, ob es so etwas, auch bei Frauen gibt? Gibt es schon? Wie heißt das? Hysterie? Aber das sagt man nicht mehr? Wie nennt man es dann? Anpassungsstörung? Neurose? Persönlichkeitsstörung? Ach, das hätte ich mir denken können! Interessant wozu der menschliche Geist fähig ist. Eine andere dieser mythischen Frauen und sie hatte eine Stimme, schöner als Pandora—wir hatten also schon miteinander gesprochen—sie lieh sich Lolita von mir aus, dass ich gerade ausgelesen hatte und ich ließ es mir nicht nehmen, einige an sie adressierten Botschaften, als Notizen im Buchcover zu tarnen. Diese braunen unerschöpflichen Augen, wenn dein Lid auf den Pupillen liegt, es sie halbwegs verdeckt und sie aus ihrem Versteck heraus in die Höhlen meiner Augen schauen, durch die dunklen Gardinen meiner Persona hindurch (tönen, sie tönen durch mich hindurch). Ihre göttlichen Attribute: sie will verstanden werden. Wollen sie das nicht alle? Werden Sie sagen. Ich meine, sie will gedeutet werden. Du willst, dass ich etwas für dich tue, dass du selbst erledigen kannst? Bevor ich das mache, eine Frage: bist du Einzelkind oder die jüngste deiner Geschwister? Dann tut es mir leid. Nach dem Einfühlen, muss ich deinen Gewohnheiten nachgehen, aber es darf dir nicht wie Schwäche vorkommen. Ich muss dir sagen, ich will dich nicht. Wenn du dir das Buch ausleihen willst und ich sage es sind noch 200 Seiten, darf ich nicht morgen fertig sein. Muss es aber, Übermorgen oder spätestens den Tag darauf… Die Formel zum Glück lautet: 2 Mal Nein und 1 Mal Ja sagen. Wehe dem, der sich nicht entscheiden kann. Hier bricht die Welle und der Mythos zerfällt. Wenn deine manipulative Seite, mir wie Schwäche vorkommt und deine Stille wie Zurückhaltung und das Bild von Intellekt sich zerstreut und es sich in reinster Dummheit manifestiert. Die Entscheidung Gott oder Titan?” Der Schlichtereffekt ist also etwas wie eine Weiterentwicklung oder eine besondere Form der Reaktanz. Zu begehren was man nicht hat, und zu verfluchen was man hat, gibt den meisten Menschen schon eine Art ausreichende Genugtuung. Für alle, für die das nicht reicht. Braucht es eine famose Mischung aus Reaktanz und Fantasie oder Einbildung. Ist das Gegenwärtige unzureichend und das künftige nicht zu erreichen. Ist dieser Zustand nicht auszuhalten, braucht es Einbildungskraft sich davon zu machen, in seine Vorstellung zu flüchten, in den Traum zu flüchten. Wie eine Weiche stelle und ein Teil des Zuges verlässt Realität und gerät auf eine Nebengleis, der Vorstellung. So gesehen hat der Schlichtereffekt viel gemein mit dem magischen Denken eines Kindes. Der SE, wie ich ihn fortan nenne, ist damit nichts weiter, als eine art gewalttätiger Versuch nicht erwachsen zu werden. Im sartrschen sinne heisst existieren entscheiden, entscheiden Bewusstsein sich bewusst sein sich unterscheiden wollen, sich abtrennen, diskriminieren, differenzieren - im umkehrschluss die eigene Existenz selbst sich streitig machen, heisst sich nicht entscheiden wollen. Schweben wollen. In der schwebe sein wollen. Heisst die etwaigen rollen Wechsel, zumindste Abstand von der alten rolle, dem im Schlaf beherrschenden Stück, der bekannten Bühne

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nehmen. Nicht existieren wollen heisst, sich zu weigern seine rollenkleidung abzulegen. So heisst es, sich nicht zu trauen in unsicherheit zu gehen. Da treffen sich ansgt um Existenz und erhaltung der angst. So ist der Selbstmord als finale Schlussfolgerung der aberkennung, das einschließen und die grosse verweigerung. Der suizid ist nichts als die stete verweigerung Tempo zu gewinnen. Sich umbringen heisst, sich konservieren wollen. Erwachsen- und Mündigsein heißt Entscheidungen zu treffen. Schlichter ist ein Mensch, der bei Entscheidungen reiß aus nimmt. Der sich entscheidet sich nicht zu entscheiden. Reaktanz heißt sich entscheiden, sondern einer Vorstellung von Unmöglichkeiten hinzugeben. Der Schlichtereffekt ist die perservierte Form der Reaktanz, nämlich in den Vorstellungen zu Leben. Eine Art bewusste Psychose. Bewusste art in einer Sekundär Wirklichkeit zu leben. Reaktanz+Psychose=Schlichtereffekt. + Verantwortung

In Beziehungen, sind sich die Partner gegenseitig Vehikel und transportieren sich in neue Wirklichkeiten. Raus aus einsamen und raus aus zweisamen Isolationen, wenn das Benzin alle ist, muss man sich trennen. Haben Schlichter und die Stehengelassene eine Beziehung? Das Taxi überquert die Arve auf der Route des Acacias, Schlichter legt seinen Kopf gegen das Fenster, die Scheibe ist kalt, und gen Süden verlässt das Taxi Genève, fährt auf die A41, richtung Chambéry und Grenoble, es riecht nach Veilchen, Rosenblüten und Lavendel. Schlichter ist, als sie die Stadt verließen, vor Stunden eingeschlafen. Er träumt, gegen die Beifahrerfensterscheibe lehnend, wahrscheinlich von Wien, Amsterdam und Hamburg und wenn er aufwacht, wird er kurz erleichtert sein. Entspannt hält die Taxifahrerin das Lenkrad mit einer Hand und leicht liegt eine gedrehte Zigarette zwischen seinen Fingern, deren Rauch aus dem offenen Fenster gezogen wird. Wie eine Miniatur Dampflok schieben sie sich, nicht auf Schienen, aber auf Asphalt, in Richtung Südfrankreich.

ED Schlichter und sein Fahrerin sind in Genève (Norrköping) angekommen und suchen eine Patisserie. Schlichter ist knauserig geworden und verzichtet auf Schnecken und Muscheln. Es ist nach Mittag. Sie haben ein Restaurant gefunden und es gibt nur noch Reste. Sie bestellten von allem Etwas. Die zwei schweigen größtenteils. Die brasilianische Besitzerin bringt, rote Beete Suppe, frittierte Garnelen und frittiertes Rindfleisch, Steak mit Pommes Frites und dazu trinken sie schwarzen Tee mit Milch und Honig, auch Schlichter, der sonst Kaffee trinkt. Die Genfer-Pause, das petit déjeuner ist zu Ende. Es geht weiter, Schlichter schaut aus dem Fenster des beigen Taxis, denkt an Albertina und er denkt an die Hamburgerin, die er Anfang dieser Woche, am Flughafen stehen ließ—ob sie allein geflogen ist?—überhaupt der vermeintliche Grund dieser Reise oder Auslöser—Ausbruchsversuch aus einem erstarrten Leben.

Tag 02 in Wien. “Als wir in der Vornacht, miteinander schliefen…”—diese Geschichte, wird nicht gut ausgehen—Schlichter lacht, er will nicht darüber sprechen. Als Schlichter von seinem Zimmer in der Mariahilferstraße zur Hofburg lief, was in etwa ein halbstündiger Spaziergang ist, wenn man wie er in den Getreidemarkt rechts einbiegt, weiter nach links über die Friedrichstraße und dann geradezu in die Operngasse einschlägt. Ein mulmiges Gefühl hatte ihn beschlichen, wie er die Treppen des Museums nach oben steigt, um die Ecke, Richtung Palmencafé bog und dort, Kameras, Leuchten und Blenden aufgestellt waren. Den Flug tags zuvor gebucht zu haben, die Augen schließen Albertinas Stimme hören—jeder Gedanke, hatte so oder so etwas mulmiges, falsches und strotzte vor Gefahr, Angst und wenig Regulation. Wie Schlichter im Rücken der Burg, sich einen Platz im Palmencafé sucht, erspähen seine Augen dort neben einem leerem Platz—Albertina und ihre Beziehung. In einer sonst nur für Ballerina üblichen Drehungen, wirbelte er zurück die Museumstreppen hinunter und stürzt in irgendein beliebiges Café. Fällt hinter einen Tisch. Öffnet seinen Koffer, holt einen Haufen Papier aus dem schwarzen Koffer, der mit Kunstleder überzogen ist, zerknüllt den Stapel versehentlich, verstreut ihn über den Tisch , wühlt, sucht, aber findet nichts und beginnt zerstreut irgendeine beliebige Arbeit. Bekommt vor Aufregung Nasenbluten. Ein schlechtes Gewissen, ist dort über ihn gekommen, wo mal seine Lust und sein Enthusiasmus war. Überall, in jeder braunhaarigen Frau, ihr Gesicht sehen. Überall, in jedem hoch gewachsenen Mann mit Lockenkopf, ihren Typen sehen. “Irgendwann bei zu hoher und konstanter Erregung, stumpft man ab”, sagt Schlichter das Gespenst in Wien, sich selbst beschwichtigend. Aufgeregtes Zittern. Kopfschmerz. Nasenbluten, aufbegehrendes Bibbern. Sich schütteln. Albertina steht in der Tür des Cafés, als wolle sie Schlichter aus einem Exil erretten. Sie verlassen das Haus, gehen durch Rosengärten spazieren, deren Rosen, allerdings von grauen Säcken, die aussehen, wie Kohlesäcke, bedeckt sind. Im Café Corbaci, angekommen, setzen sie sich, als hätten sie rein gar nichts zu verheimlichen mitten ans Fenster und über ihnen bewundern sie das Mosaik, der türkis, blau und grün gefärbten Decke, die trotz ihrer Höhe, den beiden wie eine Höhle war, als wollten sie sich offensichtlich verstecken. “Die Paradoxie Affäre”, gellt Schlichter der Delinquent. “Als Wien 1683 von den Osmanen belagert wurde”, erklärte Albertina, “versuchten diese, noch bevor der Morgen graute, einen Tunnel unter die Stadtmauer zu graben, doch die fleißigen Bäcker Wiens, die zu früher Stunde Brot buken, hörten das fremde Geräusch von Tunnelarbeiten und alarmierten die Stadt. Die Osmanen wurden in die Flucht geschlagen und zur Feier des Tages, buken die Bäcker, statt dem Brot, ein Halbmond-förmiges Gebäck.” Siegessicher Albertina im Arm tunkt Schlichter sein Kipferl in den Café. Sie lachen über ihn. Wieder war alles seiner Vorstellung entsprungen, Albertina und Anhängsel hatten nie bei dem Palmencafé im Rücken der Hofburg gesessen. Dieses Leben ist eine sonderbare Angelegenheit und die Suche nach Zerstörung, birgt manchmal ganz merkwürdige Ergebnisse zu tage. Später am zweiten Abend, besuchten sie Albertinas Lieblingsrestaurant. Sie entfernten sich aus dem Café Corbaci, der türkisen Höhle und liefen über gewundene Treppen, vorbei an Lampion gesäumte Innenhöfe und kamen auf den Hinterhof der Stiftgasse 8. An der Decke, des Restaurants hingen Orientlampen. Indianer-decken, die Maya-ornamente zierten, schmückten die Fensterfront. Die zweier und vierer Tische standen auf grauen Bodenplatten, die mit Schrauben auf dem Boden fixiert waren. Hinter einer Holztür mit Fenstern befand sich eine Wand, wie eine Einladung zu einem falschen Fluchtversuch. Daneben, hing die Speisekarte mit den täglich wechselnden Gerichten und 2 Bilder Mucha‘s, die auf Spiegel gedruckt waren, flankierten die Karte. “Weißt du Ernst”, begann Albertina zu sprechen und es schien Schlichter als höre, die ganze Gesellschaft im Wintergarten mit, “wie auch immer das mit uns ausgeht. Es geht nicht um Schuld. Verstehst du? Es geht nicht um

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Ende von Schlichters Ausführungen, über seine, wie er selbst zugibt, neurotische Seite. Es ist zu hoffen, dass nun allen Lesern klar ist, um welchen Sachverhalt es sich bei diesem sogenannte Schlichtereffekt handelt, er ist aber noch viel mehr. Er stellt die großen Fragen und bricht an ihnen. Er will große Antworten geben und stottert. Er will Ja-sagen und ruft Nein. Dieser Schlichtereffekt ist, Imagination, Furcht, Vermeidung, Flucht und Verlust. Dieser Schlichtereffekt war mal Überlebensmittel, in Isolation und Deprivation sich einzukapseln, das sinkende Schiff Realität, wie auf einem Beiboot zu verlassen. Die Segel aufzuspannen und gen Mythos und Traum zu segeln. Eben wenn, die äußere Welt, sich auf das Anstarren der eigenen vier Wände beschränkt, verschränkt auf einen stereotypen Alltag, dann heißt es entweder abstumpfen oder fantasieren. Das tückische an Neurosen, sie brennen sich in die mentalen Schemata, Handlungsskripte, Anpassungstrategien und Lösungsversuche der betroffenen Personen ein, wie Flüsse sich in Berge schneiden und es braucht mehr als einen Mittelklasse Staudamm, sie zum erliegen zu bringen und selbst, wenn es scheint, sie seien versiegt, dann trifft der Betroffene irgendwann im Laufe seines Lebens, auf eine ähnliche Situation, zumindest glaubt er das, und Deiche werden brechen. Ernst Edwin hatte im übrigen ein Studium der Psychologie begonnen, er stellte jedoch fest, dass er mit Menschen wenig anfangen kann und ist Seismologe, Proband, Rennautotester, Hotelservicetester und Übersetzer geworden. Diese Illusion von erwiderter Liebe, wie ein Erdbeben über quillt, wie einem Keim zu viel Wasser geben. Aderlass Medizin meiner Wahl. Sprudelt und Übersprudelnd. Schäumen und Überschäumen. Diese Illusion. Kain, wo ist dein Bruder? Die Chaiselounge, in dem steifen Stoffbezug zu Grunde gehen und in den Decken und Kissen dahinsiechen. “Ob ich mich nicht schäme, diese blaublütige Wienerin auszunutzen, Mitleid zu erregen und dann doch vielleicht als unzurechnungsfähig zu gelten? Nicht im geringsten. Ach, ich liebe die Unmöglichkeit, dich zu lieben. Du, dich und deiner dir, diese Pronomen, sie existieren in meinem Wortschatz nur als Vokabeln einer fremden Sprache. Die ich, mich wundernd mit ich, mich und meiner, mir zu translatieren versuche und es ist merkwürdig—es gelingt mir gar nicht. Komische Welt. Kannst du dich noch herablassen mir eines zu verraten? Wie durchstehe ich diese Zeit, ohne allzu arg zu altern und beinahe ohne blödsinnig zu verbittern? Wie mache ich das, du deutsche in Österreich? Weißt du das? Und weißt du was, ich ertappe mich dabei, wie ich unbemerkt in meiner Heimatstadt nur Straßen entlang gehe, die deine Initialen tragen und davon heißt eine sogar wie du. Wenn ich einsam bin, dann laufe ich diese Straßen, in Gedanken, hoch und runter. Um es einmal in Brechts Worten zu sagen, wollen Sie eine Affäre mit mir anfangen? Haben Sie schon? Um so besser.” Pygmalion sagt, “Galatea und Galatea, ihr schönen, ihr beiden, ich bade in eurem Marmor. Galatea und Galatea, wenn ihr nur lebendig wäret. Galatea und Galatea, aber ihr seit, du bist aus Stein. Galatea und Galatea, ich haue euer Bild in Stein. Galatea und Galatea, seit ihr doch mein. Galatea und Galatea, ich küsse eure kalte Schulter. Galatea und Galatea, ich lecke eure kalten Lippen. Galatea und Galatea, ihr schönen, ihr reinen, ihr weißen, ihr schönen Galateas.


sind und mir einiges bekannt vorkam, nahm ich an, wir seien in der Nähe Avignongs.”

Schuld”, sagte sie wiederholend, als bete sie und nahm indes Schlichters Hände. “Mein Liebster, es geht nicht um Schuld.” Sie mussten sich ein wenig beeilen, weil Albertina ihrem Mann schon wieder hatte warten lassen, weshalb sie Schlichter auch nicht auf sein Zimmer begleitete. “Währenddessen ich Melancholie getrieben, mich auf zur Universitätsbibliothek machte, war sie im Studio und übersetzte Texte für ihren Typen.” Wo sollte Ernst Edwin auch sonst Zuflucht suchen, als wo er sie für gewöhnlich fand, in Buchstaben, Sätzen, Paragraphen und Buchseiten—wo auch sonst? “Frauen wie Albertina von Salomé”, meint Ernst Edwin Schlichter verdrossen, “sind im übrigen schrecklich, denn sie setzen einer natürlich, fast Lebens verunfähigenden Brille, noch weitere filternde Gläser hinzu”, fügt Schlichter missmutig glucksend hinzu. Ein paar Frühlingstage in Wien, denkt sich Schlichter, während er und die Taxifahrerin, langsam an die französischen Grenze heranfahren. Dieses Mal, durchleuchtet ein Zollbeamter das Taxi. Es stellt sich heraus, dass die französisch spricht. Schlichter wieder Passiv. Er macht aber keine Umstände und sie passieren die Grenze. Es bergig geworden ist. Die Straße ist umringt von Weinbergen und sie zieht sich hin, wie eine Schlucht, wie sich ein Fluss durch Felsen drückt. Tunnel und wieder Tunnel. Es sind kleinere Dörfer aus der Ferne zu sehen. Häuser arrangieren sich mit den Bergen, wie Stalagmiten in Tropfsteinhöhlen. Verschiedenartige Bäume, künden die Botschaft der Landschaft. Brücken aus rotem Stein, werfen sich über die Landstraße. Schornsteine backen sich in weißen Rauch, auf abschüssigen Bergen, wie aufquellender Hefeteig. Strommasten ragen, wie Segel aus dem Boden, als wären Wiesen und Felder ungestüme Meere. Die Sicht ist versperrt von dem ganzen Grün, Braun und Rot und zwischen durch, lassen Lücken durch den dichten Wald am Straßenrand, Bahnschienen erkennen, welche Schlichter und seinem Fahrerin gefolgt sind. Dann sind die Segel, Standarten römischer Heere zur Stromversorgung der Bahnschienen. Immer wieder Mautstationen. Eine langgezogene Kurve entfernt die Beiden im Taxi von den Bahnschienen. Ein üblicher und oft beschriebener Blick eröffnet sich den Fahrenden, als der Wald sich für einen Moment lichtet und sie herunter schauen auf Täler, auf weit ausgebreitete Wiesen und kleine Tal-Dörfer—ob nun in der Schweiz, Deutschland, England, Frankreich das ist ungefähr überall gleich. “Schlichter”, beginnt die Taxifahrerin, der aufgab, Ernst Edwin mit Herr anzureden, “Schlichter, Ernst Edwin, bist du wach? Wir sind bald da.” “Es ist mir gleich”, gibt der, noch immer gegen das Fenster lethargisch gelehnte Schlichter von sich. “Ich wollte es dich nur wissen lassen.” Der erste Schnee fällt auf die Windschutzscheibe des Taxis und je weiter sie fahren, umso weniger Regen fällt mit dem Schnee. Am Straßenrand ragen Tannenzipfel, weiß bedeckt aus einem Bett von braunen, grünen und roten Blätterkleidern hervor. Bergabwärts verstecken sich graue Felsformationen unter dem frisch gefallenen Schnee, als wären sie alte Riesen, die sich zur Ruhe legten. Die durch die Wolkendecke brechende Sonne, ist wie ein Filter der den Kontrast von Weiß zu Braun, zu Rot und zu Grün noch drastisch erhöht. “Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal Farben zu sehen.” Wie das erste Erdbeben, das die seismographische Nadel aufzeichnet und Sekunden später, erzittert die Erde. Wie die erste Tablette eines noch unbekannte Medikaments, dessen Nebenwirkung erforscht werden sollen. Wie die erste drückende Kurve, in einem neuen Sportwagen. Wie die ersten Worte, eines zu übersetzenden Textes. Rauch der Schornsteine scheint gefroren, denn er bewegt sich nicht. Verschwindend dünne Eisschichten ziehen sich über Pfützen, Teiche und Seen. Ein paar aberwitzige Momente in einem Frühjahr, gefolgt von einem weniger witzigen Sommer und der Winter wird zur Erleichterung. Auf den verschiedenen Bäumen (nicht nur den Tannen) liegen jetzt lauter weiße Decken, wie Ponchos auf roter Indianerhaut (ein paar Clichés mit einbauen), darunter die schon viel beschriebenen und nie erreichten, Herbstformationen an Farben auf Blättern. Zwischendurch ein Unfall. Ein schwarzer Sportwagen sieht aus, wie ein Spielzeugauto, das jemand vom Fernsehturm geschmissen hat. Es staut sich. Die beiden kommen nur langsam voran. Die scheinbar kräftiger gewordene Sonne lässt den Schnee verschwinden und die Landschaft wirkt nun matt, kraft- und farbloser ohne die kontrastierende Wirkung des reinen weißen Schnees. Ein Gefühl, wie die ersten Jahre der Liebe, die ersten paar, vor Kontrast nur so strotzenden, Liebeserfahrungen. Man will diesen Unterschied, man muss die Dosis erhöhen, die alte Abgabe von den 250mg Kaliumcyanid reichen nicht mehr, die letale Dosis an Nähe und Wärme verschiebt sich Jahr um Jahr. Vielleicht muss man sich daran gewöhnen, dass dieser Kontrast, wie Neuschnee gegangen ist und es nun an einem selbst liegt, in dieser gräulichen Landschaft, Farbe zu sehen. Der Stau löst sich auf. Sie fahren noch eine Weile und inmitten der schneefreien Weinberge geht eine Straße ab, mehr ein holperiger Feldweg. “Da wir nun schon etwa 3 Stunden von der Grenze entfernt waren, an Chambéry und Grenoble vorbei gefahren

Tag 03 Wien. Nackt auf dem Hotelzimmer, vom Bett aus, in den Spiegel schauen und sich die Haare föhnen lassen. Den halben Tag auf dem Zimmer verbringen, im Bett, unter der Dusche und auf dem Fußboden und der Couch. Sich durch das Glas in die Augen schauen. “Oft ging es mir gar nicht um die Frauen an sich, um das Individuum, denken Sie nicht an Sexismus, darum geht es nicht, denken Sie an Objektivismus und Subjektivismus, letzteres liegt mir nicht, mir ging es nicht um die Person, weder männlich noch weiblich, mir ging es nicht um Menschen, sondern um die Bilder, die wir schufen, das essentielle, ist nicht die Existenz, sondern die Ästhetik. Wie sie dort neben mir stand, ich auf der Bettkante saß, wir beide nackt waren, sie mir durch die Haare fuhr und wir uns, in die Augen schauten—da strich ich einen Punkt auf der inneren Liste ab.” Aufstehen, küssen, aneinander schmiegen, miteinander schlafen und den Spiegelblick behalten. “Bild um Bild, Frauen wundern sich oft, wie romantisch ich sei, dabei will ich nur meine Bildervorgabe erfüllen.” Immer wieder, als Albertina und Schlichter eine Grenze an Intensität und Intimität überschritten hatten, wurden sie unterbrochen, wie auf Befehl wurde Albertinas Freund, zu einem Kommentator am Rande des Spielfeldes, ein machtloser Schiedsrichter, ungeschickter Anwalt und riss die beiden, aus einer Welt, die nicht existierte, außerhalb der Beziehung, der 6 Jahre und der gemeinsamen Wohnung. In der Tram sitzen. Die Innenstadt, wie Raubvögel, die sich vor der Beute fürchten, umkreisen, als würde die Zeit auf Null versetzt, fährt die Bahn, in die erste Station, dem Schottentor, ein. Sonnenbrillen tauschen spielen. Im Palmencafé, nicht an einem Tisch sitzen, sondern am Gewächshaus lehnen, die Sonne spüren und Köpfe an einander legen. Eigentlich machen Verliebte den ganzen Tag, das Selbe. “Vergessen Sie Albertinas Beziehung nicht. Ständig stand Albertina auf und telefonierte, dazu entfernte sie sich etwa 20 Meter von mir—was ich höflich fand.” “Einmal wissen wie es ist”, hatte Albertina aus Wien am Tropenhaus lehnend, gesagt. “Nur einmal wissen, wie es sich anfühlt”, hatte Melancholia aus Wien von der Sonne geblendet, gesagt. “Ist das nicht die erste und letzte Neugierde der Menschheit?” Und lachte und schaute Schlichter an. “Einmal sterben und dann sehen, wie es ist, was dann anders ist. Menschen fürchten sich vor dem Tod. Ich finde, er ist eine Erleichterung, wer will den ewig dieses Leben ertragen?”, lachte sie wieder und setzte dann unverhofft ihre ernste Miene auf, die eine Augenbraue nach oben schiebt, Falten sich zwischen den Brauen bilden und die braune Augen aufspringen, als wären sie Steine auf dem Meeresgrund, “es ist eine Erleichterung einmal dieses Leben nicht mehr leben zu müssen”, hatte Insomnia aus Wien gesagt, stand auf und wollte durch den Park der Hofburg laufen. “Versprichst du mir etwas?”, griff Schlichter ihre Hand, dass sie nicht weiter laufen konnte, “du musst mir etwas versprechen, hörst du Albertina? Versprichst du mir, dass sich keiner von uns umbringen darf?” Über den Naschmarkt schlendern. Überall Nüsse, Austern und riesen Früchte, die nach Mango und Ananas zugleich schmecken, probieren. Die Sonne überblendet den Markt. Das Leben überblenden. Blind sein ist—verliebt sein. Sich einem Platz im Gang des Marktes suchen, sich hinsetzen und die Sonnenbrillen auflassen. Die Hände ungeduldig über den Tisch kriechen, zueinander finden und wie schüchterne Knie, sich schüchtern berühren. Fassaden der einen Straßenseite bewundern und der anderen verachten. Die Wolken beneiden, wie sie davon ziehen. Die Unmöglichkeit lieben, den Zufall brauchen und das besondere Leben. Auf dem Naschmarkt im Café sitzend Urlaub nach Spanien planen. Überlegen: ein Auto in Madrid auszuleihen, runter nach Salamanca zu fahren, weil Albertina dort mal studierte, es aber hasste, wie Schlichter New York und Brooklyn hasste und sie dorthin zurück will und Geschichte korrigieren will. Weiter planen: von dort aus nach Portugal zu reisen, in Porto Literweise Portwein einzukaufen, zurück nach Spanien zu fahren, in Jerez de la Frontera übernachten und von dort aus, eine Fähre nach Marokko nehmen. Casablanca soll eine ganz hässliche Stadt sein. Edwin hatte vergessen, wie es ist menschlich zu sein, wie es ist zweisam Dinge zu unternehmen. Vereist sein, davon sein, zwei sein—lebendig sein. Jäh stürzte das Gebäude der Verneinung unter dem drückendem Gewicht eines omnipräsenten Ja zusammen. “Ich fühlte mich in Albertinas Gegenwart zutiefst menschlich und nie fühlte ich mich unmenschlicher.” Am letzten Abend, trug Albertina ein türkises Kleid aus grobem Netz und grober Spitze, “wie ein Taschentuch alter Frauen”, sagt Schlichter schmunzelnd, was er selten macht. Nachdem sie in einem letzten Restaurant waren, mehr ein vornehmer Keller, liefen sie trunken, von Wein, in Richtung Schlichters Hotel.

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“Obgleich ich sehr betrunken war, begriff ich die Endlichkeit dieses Momentes. Eine mythische Formel, die mir noch so jeden Moment zunichte gemacht hat, erschien in meinem Kopf: es wird vor rüber sein. Sie werden sagen, dass soll ihre Formel sein? Es ist ein Fluch genau genommen, denn Realität, dass ist allseits bekannt, existiert in der Gegenwart, wenn man der Gegenwart, durch einen Kunstgriff aus der vermeintlichen Zukunft, diesen Boden an Existenz nimmt, dann folglich, ist sie nicht mehr Gegenwart. Wir liefen trunken irgendwelche Treppen nach oben, kamen in die Mariahilferstraße, wo sich mein Hotel irgendwo zwischen Nummer 80 und 70 befand. Albertina lag in meinem Arm, ich hatte eine Frau, wie ich sie im Arm hatte lange nicht in den Armen.” “Woran Herr Schlichter, erinnern Sie sich noch?” “Wie sich ihr Körper unter mir, von einer angespannten Krümmung in eine gestreckte länge zog, sich ihren Kopf an der Bettkante stieß und nicht davon, aufschrie. Wie meine Schweißtropfen auf ihren Körper trafen.”

Tag 05—Freitag

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Kindergarten waren die Toiletten der Mädchen und Jungen nicht von einander getrennt. Ich wusste, dass ich etwas verbotenes tat und gab mich vor den Mädchen, als eine Art Doktor aus, der sie untenherum zu untersuchen hatte. Einmal kam ein älteres Mädchen dazu. Ich kann mich selbst sehen, wie zwei meiner gleichaltrigen dort standen, ich vor ihnen kniete und erschrocken zu der späteren Denunzianten schaute. Ähnlich war ein Erlebnis, als ich etwa gleichaltrig versuchte mit meiner Stiefschwester zu kopulieren, was nicht gelang, weil mein junges Geschlechtsorgan, noch nicht zu einer Erektion fähig war. 2 Momente sind mir omnipräsent; erstens wie ich mit dem schlaffen Stück, versuche in den Leib meiner schlafenden Stiefschwester einzudringen und zweitens wie ich später auf der Küchenbank saß und ein Verbot mich aufklärte.” Ob die Taxifahrerin und Schlichter, auch in Avignon waren? Nein mit Sicherheit nicht. Schlichter meint, er hätte zwar gerne davon erzählt; auf der Stadtmauer entlang zu laufen, das Kreuz am Place? zu erklimmen, dahinter in die Kirche zu dringen um Ablass zu bitten und so weiter. Ihn langweilen die ständigen Städtebeschreibungen. Was soll das werden? Sie wollen ein paar Straßennamen? Auf der Brücke unter der Brücke, auf der Brücke unter der Brücke, egal wo—getanzt wird immer. Willkommen im Reiseführer des Wahnsinns. Von Station zu Station. Von Person zu Deperson. Von Integration zu Verdrängung. Es wird aufschäumen, die Milch wird sauer und der Brei wird gären. Er wird aufgehen, wie Hefekuchen. Wappnen Sie sich. Seien Sie resilient. Widerstehen Sie. Sie haben alles zu verlieren. Seien Sie nicht blind. Wer heute die Augen verschließt, dem brennen morgen die Lider. Wer heute darüber Lacht, der erstickt morgen an seinem Glucksen. Seien Sie gewarnt. Nähern Sie sich keinen hohen Gebäuden und keinen reißenden Flüssen. Wissen Sie, wozu ihr Körper in der Lage ist? Unterschätzen Sie nie den Affekt. Denken Sie an die Landschaft Frankreichs. Denken Sie an Bergen. Denken Sie an Kirchen. Denken Sie an Zypressen. Denken Sie an französische Frauenärsche. Das war wieder obszön, verzeihen Sie bitte.

Tag 04 Vienna International Airport. “Ich will Illusionen mit dir leben”, dachte sich Ernst Edwin Schlichter, als er aus dem Taxi stieg, Frühlingsduft lau in der Luft lag und Schlichter in den Wiener Flughafen lief. “Ich werde dieses Setting und diesen Kontext, wiederholen und wiederholen, bis ich es verstanden haben.” Wie es ist, zwei Leben innerhalb von 10 Tagen in Trümmer zu legen. Schlichters Flug zurück nach Hause ging Freitag um 07:15, das war im März, 7 Monaten bevor Schlichter nach Amsterdam fliegen wollte und stattdessen mit einem vermeintlichen Taxifahrerin nach Frankreich reiste. Von Albertina musste er sich damals, rasch verabschieden, daher statt sich in Sentimentalitäten zu winden, wälzten sie sich im Hotelzimmerbett, indes ihr Freund permanent anrief, was sie nicht hörte, weil sie stöhnte. “Wer braucht schon Ruhe und Glück, wenn er mit Mania und Insomnia fickt.” 3 Uhr Nachts, noch anderthalb Stunden, Albertina muss sich beeilen, denn sie hatte ihrem Freund gesagt, sie komme gegen 1. Schlichter allein auf dem Hotelzimmerbett. Es gibt Blut auf dem Bettlaken. Der Fernseher läuft. Er schläft ein. “Um 5 Uhr war ich wieder auf dem U-Bahnsteig der Landstrasse Wien Mitte. Irgendwo hatte ich meinen Reisepass verloren.” Er weiß noch jedes Detail, wie der Bahnhof roch, was die Leute an Kleidung trugen, ob jemand Kaffee trank, das fahle Licht, der Morgen graute, wie viele Zigaretten, er rauchte. “Ich fühlte mich, wie auf einer nächtlicher Flucht, als wäre ich ein Dieb, welcher der Stadt Wien etwas bedeutsames stahl.” Schlichter verlässt Wien schweren Herzens, aber auf leichten Füßen. Der Flieger rollt an die Startbahn, ein Signal ertönt, Lärm durchzieht die Kabine und in einem Satz hebt die Maschine vom Boden ab und entfernt sich von Wien, entfernt sich von Albertina, erhebt sich über diese Trümmerhaufen von Leben. “Du musst mich vergessen, dass du deine Gewohnheiten weiterleben kannst.” Es ist bewölkt, die Stadt schwindet langsam, aber zusehends unter einer grauen Decke. ›Nach mir die Stille‹, denkt Schlichter. Unter ihm, liegt ein Sonnen bestrahltes Wolkenmeer und in einer höhe von 8000 Metern auf seinem Platz F19 sitzend, den Albertina aussuchte, überkommt ihm ein Gefühl von Ekel und Übelkeit. “Absichtlich”, erinnert er sich, “absichtlich, habe ich ihr liebe Worte ins Ohr souffliert. Wann ich merkte, dass sie wegen ihrer Beziehung niedergeschlagen war, wenn sie zweifelte, wann immer sie in einen Konflikt geriet, machte ich ihr Komplimente, die einzig dem dienten, aus ihrem Leben eine Qual zu machen. Wie ekelhaft, ich hatte Freude daran, sie in ihr Verderben zu stürzen. Ich hatte Freude daran und wollte sehen, wie weit ich gehen kann. Diese Reise war von Eigennutz und Egoismus nur so durchzogen, wie ein Krebs-erkrankter von Metastasen.” Sie befinden sich im Landeanflug. Er ist wieder zurück in der Heimatstadt, wieder zurück in der Tristesse,

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Schlichter kann sich nichts sehnlicher wünschen, als wieder zurück zu sein. Das Flugzeug bricht durch die Wolkendecke. Die Stadt liegt in Schnee und Eis. “Ein paar Jobs erledigen, die langweilen. Ein paar Menschen treffen, die an öden. Ein bisschen saufen.” Nirgends hatte Ernst das Gefühl gebraucht zu werden. “Nirgendwo, hatte ich das Gefühl, wurde meine Anwesenheit vermisst.” Kein Mensch erwartet ED. Kein Mensch, hat überhaupt bemerkt, dass er weg war. In einem heftigen Stoß, trifft das Flugzeug, der die gesamte Maschine durch rüttelt, auf die Landbahn. Ein Kind heult, wie am Spieß, seit sie sich im Landeanflug befanden und schreit auf, als das Geräusch der Bremsen ertönt. “Die Geister, die ich rief. Selbst wenn es Menschen gibt, die sich darum kümmern, ob ich da bin oder nicht—ich würde sagen, bei denen, gerade bei denen ist es mir einerlei. Sollen die doch wissen—ich war noch einmal in Wien.” Schlichter geht durch die Passkontrolle, niemand sitzt in dem Häuschen. Kann denn nicht jemand sich echauffieren oder sich wenigstens mokieren, weil er keinen Reisepass besitzt? Er steht vor dem Gepäckband. Es dauert eine Ewigkeit, bis es in Gang kommt. Dann stockt es und es dauert wieder. Ernst steht unruhig davor, eine Ahnung von Gefahr beschleicht ihn. Ein Gefühl von Weglaufen oder Angreifen. Ruhelose Ruhe. Erstarren und vor Bewegung umkommen. Was für eine Person, war dieser Mensch Ernst Edwin Schlichter geworden, der die Lust am Leben verloren hatte, sie sich in Wien behelfsmäßig mit Hilfe einer falschen Sache, einimpfen wollte. Nur um sich dieser künstliche Lebenslust in der Heimatstadt wieder selbst zu berauben. “Ja! Um eine noch drastischeren und größeren Kontrast herzustellen. Ein Versuch mir zu beweisen, wie beschissen mein Leben in dieser Stadt war. Veränderung braucht immer Druck und Anspannung.” Inzwischen zieht Schlichter seinen Koffer hinter sich her. Er ist laut. Leute schauen nach ihm. Er fährt gegen ein Schild und flucht. Im zweiten Stockwerk gibt es ein Café, er kauft dort Kaffee, wie er das eigentlich macht, bevor er fliegt. Er will noch einmal das Gefühl haben, er würde abreisen—jetzt. Kaffee kaufen, eine Sache, die er ständig wiederholen wird. Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit. Kaffee kaufen—auf der Suche die Zeit anzuhalten und zurück zu drehen. Wie kann jemand nur so verschwenderisch mit seinem Leben umgehen? Das Leben, dieser einmaligen Sache. An Sinnlosigkeit zu leiden, ist Dekadenz. “Weshalb gehen wir nicht hinaus in die Welt, und greifen das Leben wie es ist? Weil wann immer ich in die Welt zu gehen versuche, eine Stimme beständig in mein Ohr Nein, du willst das nicht, flüstert.” Wozu schwächt, stört und wirft uns eine Krise von Sinnlosigkeit, Existenzmarter und Identätitsdiffusion in eine Federkiste, aus Zweifel und Selbstsucht? Ist das schlichtweg Furcht, die aus Menschen Neurotiker macht? Ist ein Neurotiker, nicht mehr, als ein empfindsamer Mensch, der sich fürchtet? Jemand, der ein inneres Thermometer zur Affektregulation besitzt, ein Messgerät, dass zu genau eingestellt ist und sich über Fehlfunktion und Ungenauigkeit, nicht beklage könnte… Schlichter sitzt in dem Café, spielt mit seinem Telefon. Er hat den Flugmodus noch nicht ausgeschaltet. Hat sie schon geschrieben? Will Albertina ihm sagen, sie vermisse ihn bereits. Es ist 9:45. In 5 Minuten schaltet Schlichter das Telefon vom Flugmodus in den Stumm-modus. “Wenn es nicht klingelt, kann ich auch nicht schauen, ob Albertina schon schrieb. Wenn es stumm-geschalten ist, kann ich es alle paar Sekunden aufklappen. Täter sein, nicht Opfer werden, sich tatkräftig zum Opfer machen…” Reisen ist eine sonderbare Sache. Ob die anderen Leute wissen, dass er gar nicht fliegen wird, dass er schon geflogen ist und nicht nach Hause will? Kann man ihm den Betrug ansehen? Ahnte die Stadt Wien, welche Art von Parasit in sie eingedrungen war? Sieht Albertinas Freund ihren Betrug? Was wird sie dann machen? Ausziehen? Zurück nach Hamburg, wo sie herkommt? Gerade hatte Schlichter einen Film aus Hamburg gesehen. Unmögliche Kamera, Albertina soll das regeln. Albertina würde bessere Arbeit leiseten. Albertina, Albertina, Albertina, Albertina von Salomé Der Kaffee neigt sich dem Ende. Er schaut wieder auf das Telefon. Er will eine Nachricht schreiben. Etwas witziges wie, Sehr geehrte Frau von Schlichter, dies ist eine automatisch generierte Nachricht, welche Sie über die sichere Landung ihres Mannes Ernst Edwin Schlichter informiert. Vielen Dank für die Nutzung, des Familyservice. Ihre Fluggesellschaft. Er sucht gerade ihren Namen aus dem Telefonbuch, als das Telefon vibriert, sofort speichert er die Nachricht in seinen Entwürfen, er will sie ihr gleich schicken, nur mal schauen, was sie geschrieben hat und darauf Bezug nehmen. Er liest, sein Atem stockt, er holt Luft, es gelingt nicht, er fühlt sich, als ersticke er. Er japst nach Sauerstoff, verschluckt sich, würgt und in einem Schwall spuckt er Kaffee unkontrolliert auf den Tisch. Die Nachricht ist 9:25 abgeschickt worden, vor 25 Minuten. 25 Minuten lang, hat er einen Kaffee getrunken. 25 Minuten, dauert es von seinem Sitzplatz zur Gepäckausgabe. 25 Minuten brauchte er, Mut zu fassen sein Telefon einzuschalten.

Ja sagen wollen, heißt Ja leben wollen. Heißt Mut besitzen, Gewohntes zu verlassen. Zeit die Geschichte, welche Schlichter über sich selbst erzählt, verändern wollen. Heißt nicht vergnügt in Ungemach und Drangsal zu laufen, sondern das Unbekannte, das nicht zu kontrollierende, lieben lernen. Mut besitzen dann aufgerissenen Pupillens zu leben. Freiheit, heißt nicht vermeiden, sondern sich dem aussetzen. Es heißt die Dinge, derer man sich abhängig machte, derer man sich verpflichtet fühlt, zu sehen, zu kennen und nicht zu vermeiden, aber zu verhindern. Unabhängigkeit heißt Integration. 9 Uhr 52 Minuten, Jemand ist gekommen und wischt mit einem Lappen über den Tisch. Schlichter zittert. Leute scharren sich besorgt um ihn. Irgendwann, als er gerade im Flugzeug saß, vielleicht als er sich gerade anschnallte, vielleicht als die Sicherheitshinweise vorgelesen wurde, oder er die Stewardess beobachte, wie sie heißen Kaffee brachte. Irgendwann als Ernst Edwin Schlichter in der Maschine saß und Wien verließ, beschloss Albertina sich umzubringen und sie ertränkte sich in der Badewanne und schrieb ihm, vor 25 Minuten, eine letzte Nachricht aus ihrem feuchten Grab. Vor 25 Minuten. 25 Minuten. Ernst Edwin Schlichter schaut auf den vom Wischwasser glänzenden Tisch. Inzwischen haben die anderen Gäste, sich wieder auf ihren Platz gesetzt und Schlichter sitzt wie er vorher saß, allein an seinem Tisch, der in der Mitte des Flughafencafé steht, an dem Platz für 10 Gäste ist, als wäre er eine Bühne. “Zum ersten Mal seit Jahren empfand ich so etwas wie Liebe, zum ersten Mal seit Jahren, fühlte ich mich in der Gegenwart eines Menschen, in Albertinas Gegenwart, selbst als Mensch und richtig und echt und ich war Wirklichkeit.” ›Wie es ist‹, denkt Schlichter mit den Finger auf der nassen Oberfläche fahrend, ›wie es ist, jemanden in den Suizid getrieben zu haben. Wie es ist‹, murmelt er vor sich hin, ›wie es ist, die Schuld am Tod eines geliebten Menschen zu tragen.‹ “Es reißt einem das Herz aus der Brust. Es geht nicht um Schuld, hatte Albertina von Salomé gesagt. Es geht nicht um Schuld. Hätte ich ihr keine Komplimente gemacht, sie wäre noch am Leben.” Schlichter steht auf und entfernt sich aus dem Flughafengebäude, dabei wollte sich der tot-geglaubte, Schlaf-beschenkte und Leben-beraubte E. E. Schlichter zu neuem Leben erwecken. “Mal wieder glücklich sein. Spontan sein. Jemanden überraschen. Sich selbst überraschen. Wäre ich nicht geflogen, wäre sie noch am Leben. ” Und es wird liegen auf dem Grab, ein leeres und beiges Briefcouvert, auf dem mit schwarzer Tusche geschrieben steht, der Name der Frau, die sich umgebracht hat: Albertina von Salomé. “Jedes meiner Komplimente, war ein Tropfen Gift und als ich sagte, auf Wiedersehen mein Herz, meine Sehnsucht nach dir, ist mir jetzt schon eine unmögliche atlantische Last, da war die letale Dosis überschritten. Wie es ist”, murmelt Schlichter, “wie es ist…” Ernst Edwin entschied sich, statt des Busses ein Taxi nach Hause zu nehmen. Die Ausbildung einer Eigenart. Homo Novus—Ernst Edwin Schlichters kalte Augen, kleben an den brutalistischen Bauwerken, unweit des Flughafens. Schlichters müder Blick hält sich an den eingeschneiten klassizistischen Alleen seiner Heimatstadt fest. Schlichters sehnsüchtige und missmutige Pupillen, die nach Erde verbrennen lechzen, nach Scheiterhaufen suchen, Negation brauchen—Existenzen zerstören. Es gibt nichts schöneres, als zu Tisch mit Teufel und Dämonen sich zu setzen. “Die Isolation ist ein Festmahl der Sinne. Nie habe ich mein Leben deutlicher gespürt, als im Verlust.” Mit einem Fuße im Grabe—man muss sich die Türen offen halten, Geister rufen und mit dem anderem mitten im Leben stehen. Öl in den Ofen der Destruktivität. “In meiner Wohnung angekommen, schleuderte ich meine Koffer unabsichtlich gegen die Kommode in der Stube, dass er aufsprang und sich mein Gepäck kreuz und quer in der Küche verteilte.” Das erste also, was Ernst nach Wien machte, war: aufräumen. “Ich war gerade im Begriff mein Reisegepäck in der Wohnung zu verteilen—alles an seinen Platz zu bringen und ein wenig Ordnung zu schaffen. Ich hob einen Armvoll Dreckwäsche in die Luft und wollte ihn in die Waschmaschine befördern, als ich auf dem Turm gebrauchter Wäsche ein dunkel braunes Haar entdeckte. Ich identifizierte es sofort als ein Haar Albertina‘s. Ein Zucken und Schrecken durchfuhr mich. Ich fühlte, wie meine Hände in Sekundenschnelle schwitzig wurden, in meinem Mund sich das Gefühl einer über-erregten Aufregung verbreitete—trocken und wässrig. Mein Atem sich, gleich meiner Herzfrequenz unermesslich beschleunigte, ich den pulsierenden Motor in mir, bis an meinen Hals schlagen spürte, mir schwindelig und übel-spei-übel wurde. Woraufhin wohl um dem zu entkommen, ich den Berg Wäsche und mein restliches Reisegepäck nahm, es in den Koffer stopfte, ihn fest verschloss, an die Kommode lehnte und mit der Wäsche und Albertina‘s Haar, auch ein großes Stück Wirklichkeit im Koffer absperrte”, erzählt der verzweifelte Schlichter sich abwendend und das Gesicht verziehend. “Wenn ich den Koffer nie öffne, kann ich das Haar Albertin‘s nicht finden. Wenn ich das Haar Albertina‘s nicht finde, war ich auch niemals in Wien. Wenn ich niemals in Wien war, hat Albertina auch nie einen Grund gehabt

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sich umzubringen, wenn Albertina nie… Magisches Denken, wenn dies dann noch am Leben. Du musst aufpassen, habe ich dir gesagt, du musst dich vor mir in acht nehmen, habe ich dir gesagt. Schuld. Hättest du dich nur in Acht genommen, hättest du nur aufgepasst, dann wärest du noch am Leben. Schuld.” Ernst Edwin Schlichter—Homo Toxikus—der giftige Mensch. Ernst wendet sich vom Koffer ab. Er hat Kaffee aufgesetzt. “Nun der Tag hatte ja gerade erst begonnen, ich setzte mich kurz an den Küchentisch, langweilte mich, stand auf, nahm etwas Türk Kahvesi aus einer Blechdose, gab Zucker, Wasser und den Kaffee in einen Cezve, wartete bis die Sud dreimal aufschäumte und nahm dann die aufgeschlemmte Flüssigkeit, die aussah wie Wüstenschlamm, von meinem Herd und stellte auf die selbe Herdplatte eine Pfanne, in der ich mir türkisches Rührei, Menemem zubereitete. Nahm Kaffee und Frühstück mit an den Küchentisch und las aus der Zeitung, welche ich aus dem Flugzeug mitgenommen hatte. Wahnsinn!, dachte ich damals, ein Mann in den Dreißigern - nicht älter, als 31, heiratet und zeugt mit seiner Frau zwei Kinder. Die Ehe geht als Konzept nicht auf. Beide etwas älter, voneinander abhängig, wollen sich nicht scheiden lassen. Er fängt zu spielen an und verzockt das Haushaltsgeld, er wollte weniger arbeiten und brauchte daher das Geld, Glücksspiel schien da rentabel. Der Vermieter kündigt, das Konto wird gepfändet, die Eltern der Tochter haben ein Bauernhaus auf dem Land. Mitsamt der Kinder ziehen sie zu den Eltern. Die nicht mit ansehen können, an was für eine Art Mann ihre Tochter geraten sei, beschließen dem ganzen ein Ende zu bereiten: ›entweder er geht oder ihr beide‹. Die Tochter entscheidet: sie bleibt. Den beiden Verdrossenen, fällt nichts besseres ein, als den Vater der Kinder heimlich in der Garage unterzubringen. Dort schreibt der Unglückliche die Geschichte des Josef Jakubowskis nieder, bindet das Geschreibsel und hinterlässt in der Garage etwa hundert der selbstgeschriebene und selbst-gebundenen Bücher. Einige Monate merkt niemand den Betrug, bis eines Tages das gesamte Dorf den armen Spieler aus der Garage jagt, er durch einen Wald flüchtet und an einem verlassenen Bahnhof flüchtet, eine Gruppe von gescheiterten Künstlern, nimmt sich seiner an und schlachtet die Geschichte aus, als sein Leben erschöpft ist und aus ihm keine Bilder mehr zu gewinnen ist, jagen auch sie ihn fort. Seitdem wird der Mann vermisst. Das ist eine sonderbare Welt.” Ernst Edwin Schlichter sitzt am Küchentisch und schweigt. Neben ihm sein Telefon. Albertinas letzte Nachricht ist offen. Er glaubt nicht, was er liest. Eine sonderbare Stille ist eingetreten. Eine fast sedierende Stille. Betäubt nimmt er das Telefon und wählt: 0043… Die Tasten quietschen. Albertinas Stimme klingt aus der Hörmuschel des Telefons und meint: “hallo, ich bin gerade nicht zu erreichen, aber hinterlass‘ mir doch eine Nachricht und ich melde mich später.” Wenn Totgeglaubte plötzlich zu Anrufbeantwortern werden, ist das absurd. Er legt das Telefon wieder auf den runden Holztisch. Schaut aus dem Fenster. Mitte März und es schneit, vor ein paar Monaten—letztes Frühjahr, endloser Winter, es schneit, als stünde die Zeit still oder sei eingefroren—angehalten, als wäre Schlichter nie nach Wien geflogen. Schuld, wie es ist schuldig zu sein. Da plötzlich klingelt das Telefon. Auf dem Display erscheint eine bekannte Wiener Nummer. Eine männliche Stimme meldet sich zu Wort. “Das war ihr Freund. Ich erkannte seine Stimme. Der Mann, den sie mit mir betrogen hatte. Wir waren Bekannte, auch davor schon gewesen. Er hatte mir ein paar meiner Jobs besorgt und war selbst, als ich das erste Mal in Wien war, also eine Woche bevor Albertina sich umbrachte, in Salzburg arbeiten gewesen. Toningenieur für ein Salzburger Filmfest. Als ich das zweite Mal in Wien war, das habe ich schon gesagt, war er Zuhause. Vielleicht hätte ich mal Hallo sagen sollen. Vielleicht wäre das auch unangebracht gewesen. Ich hätte sagen könne, ich habe eine Flasche Shampoo in der Wohnung vergessen und sei deswegen noch mal kurz in Wien. Ein paar Mal, hatten wir auch zusammen gearbeitet.” “Wir sprachen kurz, er schien aufgelöst, sein Stimme schien brüchig, vorschützend ich sei unwissend, fragte ich ihn ungeniert, was los ist.” Monoton, sachlich und distanziert erklärte er: “Albertina von Salomé gestorben Heute Morgen Freitag um 09:50 in unserer Wohnung, in der Badewanne…” “Ein Zittern ging durch alle meine Glieder. Meine Armhaare stellten sich auf. Eine unbändige Wut, flutete meine Arterien, wie ein letzter Aufschrei. Ich sagte ihm alles. Ich ließ kein Detail aus. Weshalb ich ihm erzählte, dass seine tote Frau ihn betrog—mit mir betrog, weiß ich nicht. Es brach einfach aus mir heraus. Eine Sache ohne Bedeutung ist der Sache nicht wert. Ich sagte ihm, wie sie nackt in meinem Zimmer stand und mit ihm telefonierte, dass ich nichts sagen durfte, dass sie dabei verlegen, aber verschmitzt lächelte, dass ich die Falschheit daran genoss. Ich sagte ihm, wie wir im kleinen Café am Franziskanerplatz saßen, uns nicht küssten, weil es noch verboten war. Ich liebe den Zufall. Ich sagte ihm, wie wir auf ihrem Bett in der Wohnung lagen, wie zwei verliebte auf einer Eisscholle, die Köpfe, Wangen und Körper aneinander pressten. Ich sagte ihm, wie sie am zweiten Tag in der zweiten Woche, abends im Studio bei ihm war, Texte für ihn Übersetzte, es unangebracht fand, mir zu schreiben,

wenn er neben ihr stand und ich sagte ihm, wie wir vorher in der Stiftgasse 8 dinierten. Es geht nicht um Schuld”, immer wieder wirft der gebrochene Schlichter Fragmente von Sätzen ein, die er vermutlich von Albertina hatte. “Ich sagte ihm, wie sie beim Essen meine Hände nahm. Ich sagte ihm, wie sie sich wünschte an einem großem Projekt zu arbeiten, dass sie eine Ausrede hätte, bei mir zu sein. Ich sagte ihm, wie wir von einander träumten und zur selben Zeit aufwachten und uns Nachrichten schrieben. Ich sagte ihm, wie wir uns zweimal am Tag sahen und sie nur für ein paar Stunden nach Hause kam um vorzugeben, alles sei beim alten. Ich sagte ihm, dass sie mir erzählt hatte, sie würden nicht im selben Bett schlafen, sondern wie sie im Gästebett schlief, indem ich geschlafen hatte—es als mein Bett bezeichnete, ich habe heute Nacht in deinem Bett geschlafen. Ich sagte ihm, dass ich wisse, er hat ihr einen Heiratsantrag gemacht und sie hatte ihn bejaht. Ich sagte ihm, wie aberwitzig ich es fand, dass er formulierte, wenn ich dir einen Antrag machen würde, würdest du dann annehmen? Ich machte mich darüber lustig, wie er sich ihr, seiner Frau, seiner toten Frau gegenüber verhielt. Jedes Detail, ich redete ohne Unterbrechung, ließ ihn nicht ein Wort sagen und erzählte ihm Geheimnissen seiner Frau, die er nicht wusste, die er in 6 Jahren Beziehung nicht herausgefunden hatte. Wusstest du, dass Albertina ihren Siegelring verloren hat? Den mit dem albernen Wappen, wusstest du das? Ich beschämte ihn mit meinem Wissen über ihn. Ich wusste, wie oft er selbst fremd gegangen war. Ich wusste, wie er sie auf Knien anflehte bei ihm zu bleiben. Ich wusste, wie er sich in Alkohol ertränkte. Als ich fertig war, wartete ich nicht auf seine Antwort, sondern legte auf.” Schlichter saß noch immer am Küchentisch, trank einen weiteren Kaffee, las Zeitung und zupfte an den noch immer nicht aufgeblühten gekräuselten Tulpen herum, wie Albertina und er es in Wien in ihrer Wohnung zum Frühstück getan hatten, als wären es Albertinas Augenbrauen, als könnte sie lachend, aber ernst und verbietend sagen: “lass das.” Als Schlichter zum ersten mal in Wien war, als Küssen noch verboten war und sie noch keine Grenzen überschritten hatten, als sie eines Abends von einer Stummfilm Live-Vertonung kamen und Albertina ihn in die Geheimnisses des Wiener Stadtparkteiches einführte. “Hörst du das?” “Das Plätschern meinst du?” “Ja, hörst du das?”, sprach sie ungeduldig. “Ja höre ich und nun?” “Nun komm mit”, sagte sie lachend und nahm seine Hand. “Was wollen wir den hinter den Bäumen?” “Du sollst doch nicht so ungeduldig sein.” “Und was hörst du jetzt?” “Nichts.” Hinter den Bäumen nichts vernehmen und zwischen den Bäumen, den Bach plätschern hören. Das war alles, aber in dieser Nacht, dieser dritten und letzten Nacht des ersten Besuches, konnte nichts magischer sein, als das unterbrochene Plätschern eines Baches, der in den Teich des Stadtparkes mündete.

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“Wenn die Papageien Tulpen nicht aufblühen wollen”, meint Schlichter, wie er vom Tod Albertinas erfahren hatte, damals, das war im Frühjahr, bevor er mit dem Taxifahrerin im Herbst auf Reisen war, am Küchentisch saß, “dann muss man eben normale Tulpen kaufen und am besten sie sind offen. Dann wäre es zwar keine Überraschung und die Freude nur halb so groß, aber immerhin keine tote Frau”, spricht er mit sich selbst, seufzt laut auf und stützt die Hände auf den Tisch, erhebt sich kraftvoll, aber sichtlich ermüdet, geht an sein Küchenfenster und öffnet es. Eine kalte Brise weht in das Zimmer. Er nimmt einen tiefen Zug frische Luft und wie er vor dem geöffneten Fenster steht, ruft er feierlich aus, “von Heute an, bin ich Witwer!” Ernst Edwin Schlichter, der falsche Witwer, der falsche Wissenschaftler, der falsche Literat, der falsche Proband, der falsche Mensch, E.E. Schlichter—der Unmensch. “Ich rede, als spreche ich mit dir. Aber du bist gegangen und nicht mehr hier—nirgendwo mehr hier. Verlasse mich nicht. Du darfst mich nicht verlassen. Bleib bei mir. Hörst du? Du darfst mich nicht verlassen. Weißt du Albertina, weißt du von Salomé, wir hatten einen Pakt, der sagte, wir müssen beide am Leben bleiben. Du hältst dich doch an den Pakt, nicht? Du denkst doch noch an unser Versprechen, tust du das nicht? Albertina, du hast unseren Pakt gebrochen. Albertina, wenn wir keinen Pakt geschlossen hätten, wärst du noch am Leben. Ich wollte Illusionen, mit dir leben! Illusionen, Albertina, Illusionen. Und nun? Nun bin ich selbst eine Illusion von Menschlichkeit geworden—eine Möglichkeitsform von Homo Sapiens Sapiens, von Erleben, Sein und Erfahren. Albertina, denkst du noch an mich?”


Ernst Edwin Schlichter der Homo Konjunktiv. Mit dem Tod Albertinas, der aufgequollenen Wasserleiche, die Schlichter nie zu Gesicht bekam, mit ihrem Schritt ins Jenseits, nahm sie mit: Schlichters Menschlichkeit und er ist fortan, nie wieder in ein Flugzeug gestiegen. Nie wieder hat er sich den Namen eines Menschen gemerkt, dort wo ihm der Schmerz über Albertinas Tod, das Herz aus der Brust riss, hinterließ er eine Disposition, die es ihm verwehrt, andere Menschen oder sich selbst, als namentliches Subjekt zu begreifen. Als sie sich aus dem Leben entfernte, sperrte Schlichter sich in einem unendlichen Traum ein, aus dem es kein erwachen gibt. Und Eine Merkwürdigkeit von Mensch, Ernst Edwin Schlichter ist hinter blieben, welcher, als Substitut, eine Obsession für Straßennamen, statt Menschennamen entwickelte.

NACH ALBERTINA Einführung tag 2-3-4 Tagebucheintrag 33: Was mir nicht aus dem Kopf geht, Schlichter scheint mir mehr wie der Schatten—wie das stereotype Abbild—wie der verlustigte Abdruck einer Persönlichkeit, als würde er durch einen Fremden Anteil kontrolliert. Ja, oft wirkt er auf mich, wie ein Tier. Wie ein eingeschüchterter Hund. Dessen Stimmung, plötzlich ohne, dass ich einen Grund erkennen kann, ins Gegenteil umschlägt. Er zieht eine Fresse, als würde die Welt untergehen und dann erzählt er mir wieder: wie erregend es ist, ›gebundene Frauen, aus ihren Bindungen zu entreißen. Wenn man nichts mehr fühlt, muss man sich auch irgendwie unterhalten—das Leben macht ja sonst keinen Spaß.‹ ›Die Flur ist gesäumt von lauter vermeintlich unerreichbaren Trophäen, seien Sie Mann, nehmen Sie sich ihr Glück. Wie ist das andersherum? Liebe Frauen sagen Sie mir doch mal, wie das ist einen verlobten Mann ins Bett zu locken.‹ Das ist besonders typisch für Schlichters Störungsbild. Verzweifelte Suche nach Zerstörbaren, eigentlich schaffendem, das Paradoxe daran eine Frau in Beziehung zu Küssen, ist die Verwerfung dahinter, der Gedanke, wie lange diese und jene gearbeitet hatte, eine Beziehung wie diese zu leben und wie er zerstört, was die hatten und die Waffen, nicht etwa Gewalt und Folter sind, sondern lieben, das muss ganz dem Innenleben Schlichters entsprechen. ›Spüren Sie das? Diese Spannung, dieses Gewissen, können Sie das sehen? Wie sich Ihr Opfer noch versucht zu wehren, nicht gegen Sie, sondern gegen den Sturm von Affekten. Wie Sie tanzen, lustig sind und sehen wollen, wie weit können Sie gehen, aber Achtung (!) seien Sie niemals treibende Kraft. Das wäre unmoralisch. Sie geben nur heimlich den Ton an. Verteilen tückisch gespannte Mausefallen. Spüren Sie das, dieses Verbot zu Küssen, aber nicht sich zu umarmen—rein freundschaftlich—spüren Sie das?‹ Ich vermute, er kann sich gar nicht mehr auf einfache Verhältnisse einlassen. Es wäre ein interessantes Experiment, zu sehen, ob er dazu noch in der Lage ist. ›Herrlich desaströs, wie lange kann Sie sich noch wehren. Der Abend ist lang und Sie haben Zeit. Sie wollen nur mal eine kleine Story von Freiheit erzählen. Nur mal einen Letter über Grenzenlosigkeit schreiben. Nur mal rein freundschaftlich was von dem alten Gefühl, des Begehrens ins Ohr flüstern. Aber übertreiben Sie es nicht. Entwickeln Sie ein Gefühl für das richtige Gift, für die richtige Dosis, passen Sie auf, nehmen Sie wieder und wieder Abstand, auch Sie kämpfen mit Ihrem Gewissen, auch Ihnen zermürbt es das Herz, auch Sie wissen nicht wo Ihnen der Kopf steht. Seien Sie achtsam, dass man auch von außen sehen kann, in welchem Zwist Sie sind. Und wenn die Welle bricht, schießen Sie aus der Gischt hervor. Was das heißen soll? Geben Sie ganz unverfroren Komplimente. Es ist eine wahren Freude, Menschen an sich zu binden und zu sehen, ob es auch klappt. Nur wenn die Bindung dann hergestellt ist, verliert sich der Antrieb—das ist immer ein wenig suboptimal. Ich habe mich aber daran gewöhnt.‹ Vielleicht nicht, wie ein eingeschüchterter Hund, denke ich mir, sondern wie eine Krebs erkrankte Maschine, deren basalen Funktionen ein Geschwür aus einander gerissen hat und er deswegen, ohne Zusammenhang, Phrasen spuckt. Immer wieder das Selbe und nie wieder Geschichte korrigieren können. ‹ Hier fühle ich wieder Mitleid. Wie der Kerl mir prahlerisch erzählt, was für ein Dämon von Mensch er geworden ist und eigentlich, wie er aus dem Fenster schaut, sehe ich nur das Licht, das er bringen will, aber das Licht ist verdunkelt, aber er denkt, Niemand und kein Mensch dieser Erde, wer auch, will etwas von Licht bringen hören. ›Umso besser, mit mir ist so oder so nichts anzufangen.‹ Beide sitzen im Taxi. Herr Schlichter muss an sein Bureau, an das Testlabor, die Hotels und seine Kollegen denken. Nicht immer war er alleine auf Tour, nicht immer war er der einzige Proband, der auf Medikamente, Reaktion und Verhalten überprüft wurde. Was macht der Seismograph gerade? Wird es ein Erdbeben geben? Hat man auch ohne ihn Rennautos auf Straßenlage überprüft. Wird man ihn fragen, wie es in Amsterdam war? Wird man wissen wollen, ob er dort ein seimsographisches Bureau besuchte und wäre das dann aus Neugierde oder Pflichtgefühl geschehen? Wann war das letzte Beben in der Grachtenstadt? Was macht die zittrige Nadel, schlägt sie aus? Lebt er sein Leben, in der Kontrollgruppe oder Experimentalgruppe?

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Ihm ist kalt. Er hat einen Mantel an, den er auf dem Bauernhof fand. Das Fell eines ihm unbekannten Tieres ist an seine Kapuze genäht. Die Kapuze hängt über seinem Kopf. Er sitzt vorne und raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Aus dem Loch der Kapuze pustet er Rauch, wie aus einer Höhle Rauchzeichnen. Gespräche zwischen den beiden, “ob ich irgendwann wieder Nachhause wolle? Wo das liegt, frage ich. Was ich Anfang der Woche, auf dem Flughafen wollte? Ob ich mich in etwas geirrt hatte. Ob mein Flug gecancelt wurde.” Flughafenstreiks sind Heutzutage üblich. Oder jemand flieht hustend aus der Höhle, weil er sonst an einer Rauchvergiftung sterben würde. Es ist auch eine beschissene Idee, in einer Höhle ein Feuer zu entfachen, dann Rauchzeichen zu geben, in der Hoffnung, jemand würde die Rauchzeichen verstehen—wie Romanciers Belletristik verfassen. Wozu braucht man eigentlich immer ein Ziel? “Ich könnte kotzen vor Stumpfsinn und Langeweile.” Es ist immer noch bergig, das sagte er schon. ED kann sich schwer erinnern, was er schon gesagt habe und was nicht, aber weniger kann er sich entsinnen, wozu er spricht. Es ergibt alles keinen Sinn. Das ist schon wieder ein Sinn. Das war ein Sinn und ist es nicht. Die Fahrerin schweigt inzwischen. Sie halten an einer Tankstelle, in letzter Zeit glaubt Edwin, dass die Beiden ganz schön oft tanken gehen. Er steht in der Tankstelle und sieht aus dem Fenster. Wie es wohl ist, den ganzen Tag in der Tankstelle zu stehen und nicht nur das, wie es wohl ist, es als Lebensentwurf zu akzeptieren, es als Leben zu leben? Nicht unzufrieden damit zu sein. Keine Zweifel, die einen Verrückt machen. Wie es sich anfühlt—einfach sein Leben zu leben? Eigentlich interessiert es ihn gar nicht und er ist froh, dass er kein Tankstellenwart ist. Die Fahrerin kauft eine Packung schwarzen Kabelbinder, bezahlt den Sprit, ein Sandwich, Kaffee, eine Packung Zigaretten und beide verlassen die Tankstelle. Der Kaffee schmeckt abermals, widerlich und das Sandwich ekelhaft. Es geht, wenn man dabei raucht. Dann mischen sich Stücke vom Sandwich mit Zigarettenrauch. Ein bisschen wie geräucherter Aal, nur ohne Aal. Der rasierter Fahrerin, wartet ungeduldig im Auto und seine Finger geben auf dem Lenkrad ein Trommelkonzert, Schlichter kommt von der Tankstellentoilette und meint, diesen Satz oft gesagt zu haben: “Dinge, die ich nie sein konnte: frei sein, mich echt und richtig fühlen, weil ich mich selbst immer verfluchen muss, denn es lastet ein selbst auferlegter Marter auf all meinen Tätigkeiten.” Ob die Fenster, der Wohnung eingeschlagen sind? Ob eine wilde Frau seine Wohnung in Schutt und Asche legte, zumindest das bisschen Abwechslung ist seinem Leben, doch vergönnt, oder etwa nicht? Ob er zum Flughafen fahren sollte, wenn der vermeintlich Flieger, der Amsterdamer Urlaubsliebe landet? Reiß ab deine Brücken. Fackel ab dein Haus. Zerstöre dein Leben. Übergieße dein Gesicht mit Salzsäure. Pisse auf dein Grab. “Mein Fahrerin, der freundlicherweise während meiner Gedankengänge seine Schnauze gehalten hat, fängt an zu reden und ich finde es sehr zuvorkommend von ihm, das genau dann zu machen, wenn ich mit meinem Kopfspinnereien fertig bin.” Es heißt, Schlichter hätte auf dem Hof nicht gut gearbeitet und sich mehr ausgeruht als geschafft. Es heißt, Schlichter hätte den anderen nicht geholfen. Es heißt, Schlichter hätte nur sein eigenes Ding gemacht. Es heißt, Schlichter wäre nicht fähig in einer Gruppe zu arbeiten. Und dabei dachte Edwin immer, nur wenn er mit Menschen zusammen arbeite, gibt es überhaupt Bindung. Wenn das nicht der Fall ist, wie ist es denn dann sonst? Was ist er nur für ein Mensch geworden? Wo sie heute hinfahren, fragt Ernst seinen Chauffeur und Taxifahrerin. Schlichter meint, Die Felder und Bäume kommen ihm bekannt vor. Er glaubt, sie fahren Nachhause, aber wissen kann er es nicht. Tagebucheintrag 34: Schlichter ist heute sehr merkwürdig. Er hat mich einige Male sehr aggressiv angeschaut. Dazu kommen diverse Affekthandlung, die mir immer schlechter reguliert scheinen. Heute Morgen hat er eine Fleck auf dem Rückspiegel entdeckt und weil er ihn nicht wegwischen konnte, hat er gleich den ganzen Spiegel abgerissen. Er scheint sich weiterhin in Gedankenträumereien zu verlieren und ist sehr erbost, wenn ich dabei versuche mit ihm zu reden. Weshalb ich den Spiegel selbst wieder anbrachte.” Ernst Edwin Schlichter, der Mann, der sich schuldig fühlt, einen geliebten Menschen in den Suizid getrieben zu haben, der so das lieben verlernte, der Mann, der dadurch zum Unmenschen wurde, dieser Mann wird nun etwas tun, was sein bisheriges Leben stören wird. Er dreht sich zum Fahrerin und meint er brauche eine Pause. Die Fahrerin schon etwas mürrisch, über die ständigen Unterbrechungen—er will wohl auch Nachhause, hält an einem Wegesrand. Edwin öffnet die Tür, steigt aus, lässt die Tür zufallen, die Taxifahrerin rollt sich ungeduldig eine seiner Kippen. Es ist Nachmittag, später Herbst, fade Wolken, ziehen belanglos am Himmel entlang. Wind weht nebensächlich durch fallende Blätterkleider. Regen tröpfelt und nieselt trivial auf die Frontscheibe des Taxis. In Amsterdam sind Grachtenfahrten besonders empfehlenswert. In Wien sollte man unbedingt bei Nacht einen Spaziergang durch

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Stadtpark machen. Und jemand verändert heute sein Leben. Und mit einem Mal, fällt die beinahe aus der Tür, denn Schlichter steht davor und reißt sie mit einem gewalttätigen Ruck auf, genauso roh trifft seine Faust, das Gesicht des Taxifahrerins, der fällt aus dem Taxi und stürzt zu Boden. Sand knirscht, als seine Hände aufschlagen. Es ist Nachmittag. Ernst Edwin Schlichter sitzt am Steuer. Die Felder und Bäume kommen ihm bekannt vor, er fährt nach Hause. Es vergehen einige Stunden. Zuerst hat der ehemalige Fahrerin noch geschrien und sich gewehrt, inzwischen hat er sich damit abgefunden, gefesselt und geknebelt auf der Rückbank zu sitzen. Wofür sich so ein Sicherheitsgurt doch alles verwenden lässt, das Abschleppseil erst einmal und der Kabelbinder aus dem Kofferraum—die Welt ist ein Wunder. Gewalt, oh geliebte Aggression. Ein paar Mal hat er doch versucht, sich zu befreien und ist sogar ein wenig nach vorne gerutscht und hat sich gegen den fahrenden Schlichter geworfen, dass die Karre zu schalingern anfing. Eine links Kurve machte. Über die anderen Fahrbahn rollte und beinahe in einen Graben fuhr. Schlichter, was man nicht von ihm dachte, ist ein guter Fahrerin und brachte das ausbrechende Vehikel, gerade noch vor dem Graben zum stehen. Er hat dem Geknebelten, dann nochmal eine verpasst, dass er seine Gusche hält. Einer fährt, einer ist Beifahrer—was ist daran so schwer? Schlichter hat sich auch daran gehalten. In Schweden, gibt es kaum noch Landstraßen, deren entgegengesetzte Spuren, nicht durch Drahtseile getrennt sind, denn die häufigste Todesursache, bei Autounfällen auf Landstraßen, ist wenn 2 Vehikel bei Tempo 100 in einander rasen. Als die Taxifahrerin länger bewusstlos ist, hält ED nochmal an, öffnet eine der hinteren Türen und legt sein Ohr an die Brust des bewusstlosen und tatsächlich, ›nicht gerade pulsierend, aber immerhin ein wenig klopfend‹, denkt sich Schlichter, ›schlägt das Organ des Überwältigten noch.‹ Der Geknebelte und er, sie sprechen nicht mehr miteinander. Vielleicht ist er ja Schlichters Anwesenheit müde. Ermüdend ist er schon, dieser Unmensch. Vielleicht will er auch Nachhause. Er kann auch nicht reden, Schlichter hat ihn geknebelt. Wie er wohl wohnt? Hat er eine Frau, die er liebt? Eine Liebste, die ihn umsorgt? Er wäre wohl kaum eine Woche mit ED unterwegs, wenn dem so wäre. Er hat ihn auch nie telefonieren sehen. Noch ein Foto einer Geliebten im schwarzen Leder-Portmonee des Fahrerins gefunden. Er wird selbstständig sein. Und jetzt hat er überhaupt kein Leben mehr. Was er auch nicht fand, eine Taxifahrerinlizenz. “Hatte ich Teil an seinem Leben oder hatte er Teil an meinem Leben? Wessen Leben lebten wir? War ich der aufgeschlagene oder war er es? War er arm dran oder war ich es? War ich gescheitert oder war er es? Nahm er sich Meiner an oder hatte ich mich Seiner angenommen? Wer unterstützte eigentlich wen? Wer war Opfer und wer war Täter?” Schlichter ist langweilig. Er sagt, er habe keine Lust zu beschreiben, wo der gekidnappte und er waren. Welche Allee sie herunter fuhren, wie dieses und jenes hieß und was sich links und rechts befand. Eine ermattete Lustlosigkeit ist in sein Leben getreten, dorthin wo mal seine sprühender Obsession für Städte, Straßennamen und Ortschaften gewesen ist.

bin deine Pilot-Beziehung. Du willst mal ein anderes Ende ausprobieren? Bei mir gabelt sich der Weg. Ich bin frisch geboren, neu-erfunden, altbacken und ein Jungspund. Du willst warten bis deine Beziehung wieder heile ist? Ich bin dein Symptom auf ewig. Komm her, denn auf mich kannst du dich verlassen. Ich stelle keine Ansprüche. Ich tue nicht einen Schritt, bevor du nicht spurst. Wir können Singen, Tanzen, Boxen, Fliegen, Schwimmen, wir können Disziplinen erfinden und ihnen alte Namen geben. Du kannst in meinem Schlafzimmer heulen. Du kannst mich schlagen. Ich kann dich schlagen. Mit mir können ganze Spiele auf Gewalt basieren. Ich bin dein. Bei mir kannst du Wutausbrüche leben, von denen du nicht wusstest, dass sie in dir brodeln. Scheu dich nicht. Lüg mich an. Du und dein Freund ihr mögt euch doch wieder? Macht nichts. Komm Baby du musst mich anlügen. Was dein Typ mag keine Filme, ich bau dir ein Kino und wir spielen Abrissbirne. Ob ich auch Hausbesuche mache? Klar versteck mich in deinem Kleiderschrank und ich sage dir, was dein steifer Kerl falsch macht. Ambulante-Beziehungs-Analyse. Befreie dich Baby, befreie dich aus deinen Ketten und komm zu mir.” Da Ernst Edwin sowieso den Bezug zum Leben verloren hat, lohnt es auch nicht mehr darüber zu schreiben. Da sich dieser Drang, aber nicht vermeiden lässt. Schreibe er ab jetzt; einfach Dinge, die ihm einfallen und hier werden die Aussagen Schlichters diffuser und verwirrender, dass es Mühe macht, ihm zu folgen und daraus ein Gutachten zu erstellen. Ein Rastplatz ist in Sicht. Schlichter blinkt, sortiert sich in die rechte Spur, nimmt den Fuß vom Gas, bremst, legt sich in eine Kurve. Der Parkplatz ist bis auf einige LKW‘s leer. Die Gardinen der Transporter sind zugezogen. Ein leben auf dem Rastplatz. Schlichter legt den Kopf nach hinten, drückt ihn gegen die Kopfstütze und atmet auf. Schüttelt unbeholfen die Schulter, seufzt und greift den in der Tür sich befindlichen Griff. Packt fest zu, dass die gummierte Schicht, leicht dem Druck, nach gibt und rafft sich auf. Schaut in den Rückspiegel, sucht den Taxifahrerin auf der Rückbank und ändert die Position des Spiegels bis er den Entführten sieht. Er schläft. Schlichter öffnet de Fahrerintür, steigt aus, mal wieder knirscht Sand unter seinen Füßen, als läge er zwischen seinen Zähnen. Er umkreist das Vehikel. Einmal, Zweimal und beim dritten Mal, klopft er gegen die hintere Scheibe. Die Taxifahrerin erwacht, schaut Schlichter blinzelnd an, der nicht lange fackelt, die Tür aufreißt und sagt: “wir vertreten uns die Beine. Komm!” Unwillig reißt sich die Taxifahrerin aus seiner Schlaflage, rollt sich wie eine Raupe aus dem Kokon, aus seinem ehemaligen Besitz von Fahrzeug. Schlichter läuft in Richtung einer Bank und wird hüpfend von dem fixierten begleitet. Der Regen hat nachgelassen, es windet aber noch sehr und tröpfelt leicht. Die Rollen sind vertauscht. Schlichter macht sich gut, als Praktikant. Hat bisher alles richtig gemacht—volle Punktzahl.

Seitdem Albertina gegangen war, ist Schlichter auf der Suche nach gebundenen Frauen—er will ein neues Ende erfinden und Geschichte korrigieren. “Ich bin großartig—befreiend, für dich und dein Elend. Ich beende dein Leid. Ich bin neu. Ich bin frisch. Ich kann alles, will aber nichts. Ich bin deine Petrischale—komm her du, ich küsse deine vergessenen Stellen. Komm wann du willst, gehen kannst du auch. Ich brauche, ich will dich nicht, aber lass uns so tun, als wäre das Beziehung. Ich

Zurück im Verhör-Zimmer. Ernst Edwin unterbricht sich selbst in der Erzählung. “Warum ich das alles getan habe, fragen Sie sich?”, und bitter schauten Schlichters Augen, aus dem Fenster des Zimmers. “Nun, ich habe meine Theorien.” “Ach toll, wollen Sie anfangen oder ich?” “Ich höre Ihnen zu. Erzählen Sie.” “Nein, so will ich das nicht, erst sagen Sie eine Idee, dann ich und dann wieder Sie…” “Wenn Sie es so möchten, Herr Schlichter, dann bitte: ich sage, Sie versuchen sich auf gebundene Frauen einzulassen, weil Sie wissen, dass Sie die Chance abgewiesen zu werden sehr hoch ist.” “Sie meinen, wer schon dafür sorgt, dass er verliert, geht kein Risiko ein?” “Sie können ihre Gegenreaktion einleiten, bevor es überhaupt einen Reiz gibt. Ja, das denke ich.” “Interessant, aber ich teile ihre Meinung nicht.” “Was dann, erzählen Sie mir Ihre Theorie über sich selbst.” “Nein, ich will das auskosten, mir ist vom Leben, nachdem was passiert ist, nicht viel geblieben.” “Sie wollen noch eine Theorie, über sich hören?” “Ja das ist, wie Komplimente bekommen.” “Also gut, ich will Ihnen den Wunsch erfüllen.” “Sie brauchen intensive Gefühle, entweder Gut oder Schlecht, wie man von außen sagen würde. Ihnen ist es aber egal, ob sie Gewinnen oder Verlieren, die Hauptsache ist, sie fühlen intensiv…” “Ja, weil ich dazwischen nur Leere fühle, so oder so habe ich das auch mal gelesen.” “Sie sind nicht dumm, es ist einfacher negatives zu fühlen—die Niederlage erreichen sie leichter, als einen Sieg.” “Und niemand kann sie mir streitig machen, wenn mir jemand die Niederlage streitig macht, dann werte ich das einfach, als neue erweiterte Niederlage. Ich lebe in einem ganzen Wald aus Niederlagen, Scheitern und Verderben.”

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Er denkt deswegen an Orte, die er nie besucht hat und, die er wegen bestimmter Umstände, nie besuchen wird. Er denkt an die staubigen Straßen von Salamanca, dem spanischem Ort, unweit von Portugal, welchen er mit Albertina, die leider davor verstorben ist, bereisen wollte. In Salamanca, wenn früh-morgendlich die Sonne sich erhebt und die tausenden Körner der Straße durchfährt, spuren des Staubes sich in Schleiern und Schichten erheben, wie der Morgen auf dem Bauernhof der Eltern unweit von Avignon sich von der Nacht gähnend erhob, “erbebt mein Herz.” Wie der Himmel sich verdunkelt und aus der dumpfen Wärme eine dumpf gestrickte Decke aus Wolken, sich über die Weiten eines blauen Himmels erstrecken, einzelne Sonnenfragmete durch das Wolkenbett brechen, wie einer Springer auf dem Schachbrett vor den Bauern flüchtet und daraus eine Kidnapperstory geworden ist,—die Bauern auf der Suche, nach dem verlorenen Sohn. ›Woanders sein‹, denkt sich Schlichter, als er das Taxi in Richtung Heimat steuert. Sein Fenster hochkurbelt in Salamanca und bei Grenoble, in Salamanca Albertina neben ihm säße, aus dem Fenster guckte und bei Grenoble auf der A48 und A49, der gefesselte und geknebelte Taxifahrerin auf der Rückbank liegt. “Der Straßenstaub in Salamanca und jetzt Regen bei Grenoble an unsere Scheiben schlägt. Eine beständige leuchtende Dunkelheit funkelt über den Dächern der Autos.”


SCHLICHTER FÄ “Herr Schlichter, aber Niederlagen befriedigen nicht.” “Nein, nein und nein, Sie haben wieder nicht getroffen. Mir ist jetzt langweilig”, er schaut sich Raum um. Bleibt dann bei mir stehen, schaut mich an und spricht: “Ich habe mich in diese Frau aus Wien verliebt, weil es keinen Ausweg gab, verstehen Sie?” “Weil es keinen Ausweg gab?” “Weil es die ultimative Bestätigung war, eine extreme Suche nach Existenz.” “Und haben Sie Existenz gefunden?” “Schließlich hat Sie sich umgebracht. Selbst wenn sie sich nicht getötet hätte”, hier stockt er, holt Luft, seine Stimme zittert, er überspielt es: “Selbst wenn sie das nicht getan hätte, eine Frau in Beziehung, die wegen dir die Beziehung verlässt, meint es ernst. Besonders, weil sie ihre Beziehung zum Leben beendet hat, werden sich für mich Sieg und Niederlage nie wieder in der Qualität auf einen Moment konzentrieren, wie als ich die Nachricht, meinen Kaffee trinkend, las.” “Sie hat sich wegen Ihnen umgebracht.” “Das ist der Sieg.” “Aber Sie werden nie miteinander sein.” “Weil sie tot ist, weil ich Albertina von Salomé aus Wien umgebracht habe”, ein gleichgültiges, aber zufriedenes Lächeln zieht sich durch Schlichters Gesicht, der schmalen Wangen, glasigen und verdrehten Augen. “Ich bemitleide Sie Herr Schlichter. Ich werde Sie als zurechnungsfähig attestieren. Wollen Sie wissen weshalb?” “Sie mich für zurechnungsfähig erklären?” “Nein, weshalb ich Sie bemitleide.” Schlichter holt aus, als wollte er etwas sagen, scheint dann seine Worte hinunter zu schlucken und hört zu. “Weil Sie sind wie jeder andere sind. Sie wollen Leben. Sie wollen Ja sagen, aber Sie fühlen sich, als schliefen Sie. Ernst Edwin Schlichter Sie sind in einem Traum gefangen. Indem Sie sich immer extremeren Situationen aussetzten, wollen Sie sich aufwecken. Das ist alles. Sie wollen nur Leben.” “Habe ich denn kein Recht zu leben?” “Sie haben kein Recht, anderen Menschen deswegen das leben zu nehmen.” Das Auto verlässt den Parkplatz. Zurück in seiner Wohnung. Es ist Nacht und alles ist, wie Schlichter es gelassen hatte. Keine zerbrochene Fensterscheibe. Kein dramatischer Brief der Flughafen-Frau, liegt unter dem Türspalt; wo verdammt nochmal, er gewesen ist, als er im Flugzeug hätten sitzen sollen. Die Nachbarn, gaben ihm freudig seinen Schlüssel zurück und fragten nach Amsterdam. Mehr als es noch so geblieben ist, wie er es gelassen bevor er zum Flughafen, mit der Absicht nach Amsterdam zu fliegen, aufgebrochen war. Mehr noch, hatte Schlichter den Zustand seiner Wohnung und sich konserviert, wie es gewesen war, als er aus Wien im Frühjahr zurück kam. Am Küchentisch saß und Zeitung las, die letzte Nachricht von Albertina konsumierte, noch immer steht dort, neben einer Tasse, in der eine braune Spur von eingetrockneten Kaffee geblieben ist, noch immer steht neben der Tasse und einer Pfanne mit verwesten, nicht konsumierte Rührerei, eine Vase, beschlagen mit einem Rest von braunem Wasser und vertrockneten geschlossenen gekräuselten Tulpen. Noch immer steht der Koffer dürftig und hastig gepackt an die Kommode gelehnt, noch immer vollgestopft mit dem Gepäck, welches Schlichter in Wien bei sich hatte, noch immer liegt irgendwo mittendrin, zwischen Anzieh-Sachen, Reisepass und Bücher, noch immer liegt dort Albertina`s Haar im Koffer. Das Problem ist: es lässt sich nichts konservieren—wie Schlichter zu einem Messie wurde, wie seine Seele zu einer aufgegebenen Mülldeponie wurde. “Wer sich einmal entschieden hat Opfer zu sein, kommt aus der Nummer schwer wieder raus.”

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Zwei Tage noch.

“H

err Schlichter, nicht mehr viel, Sie haben es bald geschafft, erzählen Sie mir bitte, wie ein typischer Alltag des Ernst Edwin Schlichters aussieht”, frage ich den Delinquenten. “Ich liege auf meiner Couch, starre die Decke an, zähle die Holzstücke in der Raufasertapete. Bilde mit meinem Augen Muster in der Tapete. Ich denke mir ein Spiel aus. Ob ich mit meinen Fingern erfühlen kann, anhand der Struktur der Tapete, wo ich mich im Zimmer befinde. Am schlimmsten ist es am frühen Nachmittag, das kennen Sie aus einschlägiger Literatur: ›Um drei Uhr ist es immer entweder schon zu spät oder noch zu früh für alles, was man tun will‹, meist überdauere ich drei Uhr mit einem Nachmittagsschlag und diese ekelhafte Zeit vergeht und mir vergeht es, lethargisch zu sein. So dass ich etwas unternehme, allen voran, Barbesuche, aber auch Theaterbesuche, Konzerte, man würde es nicht denken, aber ich bin durchaus für sogenannte Kultur zu haben, das ist alles Ablenkung wissen Sie. “Ablenkung? Wovon müssen Sie sich ablenken?” “Ich muss überhaupt nicht, aber wenn, dann vor morgen, um genau zu sein, vor morgen drei Uhr, wenn alles was ich bisher mit dem Tag anfing, was ich bisher mit meinem Leben anfing, wertlos ist und auch die Zeit nach drei Uhr (wenn es um drei Uhr ist), keine großen Ereignisse verspricht, weder meinerseits, noch äußererseits… Zwei Tage noch und ich wusste absolut nicht, was ich mit mir anfangen solle.” Er schaut in sein Postfach und es gibt Studien, denen er als Proband dienen kann, auch hat das seismologische Bureau ihn angeschrieben—Schlichter könnte also arbeiten, vielleicht würde das helfen—es ist quatsch. Er hat auch keine Lust etwas zu schaffen. Er ist müde und will nicht schlafen. Spazieren gehen, was sich sonst als gute Taktik bewährte, würde Heute nichts ändern. Warum nicht früher schlafen gehen? Vielleicht ändert sich sein Leben über Nacht. Wird es je, einen Moment in diesem Leben geben—der wertvoll und bedeutsam ist? Der nicht nach Brückensprung ruft? Der nicht nach Medikamenten verlangt? Der nicht nach Suizid schreit? Ein wenig Aufschub, ein bisschen mehr Zeit und er würde, den sich den verlustigten roten Faden seines Lebens, wieder aufknüpfen. Jäh ist sein Optimismus in Zweifel und Pessimismus diffundiert und heute sagt er: Scheitern und Verderben. Vielleicht würde sein Tod, etwas bedeuten. Schlichter erklärt, er wollte immer auf eine Reise gehen und nicht er, sondern ein anderer Mensch, der an seine Stelle getreten ist, sollte dann wiederkommen. Dieser Mensch ist ein reifer und weiser Mensch. Dieser neue Mensch, spricht verschiedene Sprachen, hat sein ganz normales Leben und das alte Ego Mensch, würde zu einer fremden Person werden und würde dort drüben irgendwo im Nirgendwo verbleiben, währenddessen dieser andere, dieser neue Mensch: Ernst Edwin Schlichter, der er nun ist, lebte sein Leben. Der würde strahlen. Der wäre wer. Der wäre sich selbst wer. Man muss sich selbst abschaffen. “Statt in Unmut, sollten wir uns mit-einander verschwenden. Weshalb kommt es nicht dazu? Weil es einen mutigen erfordert, welcher den ersten Stein wirft.” Das ist kein Leben, das ist nur das Abbild eines Lebens, wie es sein könnte. Der ehemalige Taxifahrerin, liegt noch auf der Rückbank des Taxis und ist gefesselt, aber bei Bewusstsein. Inzwischen hat er es geschafft, seinen Mund von der Binde los zu beißen. Er ruft und schreit. Weder Schlichter, der auf seine Wohnung gegangen ist, noch irgendjemand auf der Straße hört die Schreie. Ernst Edwin Schlichter wird aufwachen und eines Tages feststellen, sein bisheriges Leben, war ein Nachtmahr, vielleicht ist es dann Zeit für eine Störung und Änderung des Systems Schlichtereffekt. Doch seine sind Augen geschlossen. Das beruhigende am Drama: es ist dramatisch. Es wird jemand sterben. Es werden Menschen, wie Hunde heulen und am Ende wird es vielleicht gut, muss es aber nicht. Hier grundsätzlich die Frage: woran erkennen?—etwas ist gut. Im Leben allerdings, im Leben geht die Sonne morgens auf und abends unter. Es vergehen die Tage, als vergingen sie nicht. Der Seismograph des Lebens ist eine Nadel, die jemand abgestellt hat, ist ein Medikament, dass nicht wirkt und kein Placebo ist. Es ist Freitag Abend, diese Woche ist wie im Flug vergangen, als hätte er etwas bedeutsames erlebt. Als wäre er bedeutungsvoll. Das stimmt aber nicht. Die Taxifahrerin schlägt gegen die Scheibe des Autos. Schlichter ist sowieso nicht da. Er ist niemals hier. Er mag laut und stürmisch sein, eigentlich aber—ist er nur verloren. Daher meint er, die Berichterstattung beenden zu müssen. Weiß Gott, was Morgen und Übermorgen passiert. “Ich war noch auf meinem Arbeitszimmer, als mir einfiel, dass ich den Taxifahrerin vergessen hatte. Ich lag nackt auf meiner Chaiselounge, wollte masturbieren, was ich seit 5 Tagen nicht gemacht hatte. Ein wirklich elegantes Möbelstück. Ich habe ein paar Perser Teppiche darauf gelegt. Sieht großartig aus. Ich greife zum Telefon, wähle den Taxiruf und bitte darum mit meinem Fahrerin reden zu dürfen. Nicht erreichbar.” Schlichter steht vor der Haustür. Sein Mantel flattert im Wind. Das beige Auto steht noch immer in zweiter Reihe geparkt. Die Hauptstraße ist abends nicht belebt, noch beliebt. Schlichter öffnet den Kofferraum und holt einen

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von diesen langen, breiten und schwarzen Kabelbindern heraus “In Fötusstellung, wie man diese zusammen geknickte Art der Haltung nennt, lag der Gefesselte auf der Rückbank. Wir starrten uns an. Ich durchschnitt den Kabelbinder, den ich um seinen Kopf gebunden hatte und der ein Stück Stoff in seinem Mund fixierte, was er lose gemacht hatte und deshalb um seinen Hals hing. Ich ahnte nicht, dass seine Hände befreit waren und einen Augenblick dachte ich: es gibt ein Problem.” Nacht lag über der Stadt, einige trüben Wolken, beleuchtet von einem tristen Mond, ziehen den Nachthimmel hinweg. Irgendetwas zwischen 3 und 4. “Erst als Erwachsener, fand ich heraus: der Geruch, der an den Händen meines Vaters haftete, kam daher, dass er sich nachdem er auf Toilette war, nie die Hände wusch. Der ehemalige, jetzt merkwürdig wütende Fahrerin, springt aus dem Fahrzeug, schleudert Schlichter gegen das Fenster und spielt Scheibe. Der Autoschlüssel gleitet Ernst aus der Hand und fällt in das Fahrzeug. Das Opfer, war aber in einer denkbar schlechten Position, denn seine Beine waren gefesselt. ED schmiss die Autotür zu und wollte abschließen, musste sich aber eingestehen, den Schlüssel im Gefecht verloren zu haben. “Wie dem Taxifahrerin, die Hände aus dem Kabelbinder entglitten waren, war mein Leben mir entglitten. Taumelnd und benommen tippelte ich in Richtung Kofferraum und entnahm diesem einen Wagenheber. Der vermeintlich Gefangene, wagte sich indessen, tatsächlich nach vorne an das Lenkrad. Ich schlug das vordere Fenster mit dem Wagenheber ein (das war so eine Affekthandlung, ich war auch sauer), schlug dabei auch dem Fliehenden ein paar Zähne aus, von heute an bin ich: Zahnarzt, dachte ich mir.” Die Beine, vergessen Sie die Beine nicht! Er roch die Gefahr und startete den Motor Aber wie soll jemand, die Kupplung kommen lassen und dabei Gas geben, wenn seine Beine gefesselt sind? Die Karre stockte, soff ab und rollte ein paar Meter nach vorne. “Ich stürme hinter her. Schlug auch, mit dem Wagenheber, der sich noch immer in meiner Hand befand, die hinteren Fenster ein. Ich entferne die restlichen Glassplitter vom Fenster und beuge mich in den Fahrzeuginnenraum und nehme einen der breiten Kabelbinder zur Hand. In einer Geschicklichkeit, die mich selbst verwunderte, hatte ich innerhalb von Sekunden, den Kabelbindern um seinen Hals geschlossen.” Das Fahrzeug stand mittlerweile mitten auf der Kreuzung. Glück im Unglück: “kein Schwein, war auf der Strasse, wir waren komplett allein und währenddessen ich ihn erdrosselte, schaute er in den Rückspiegel und starrte mir in die Augen”, wie Verliebte sich in die Augen schauen, bis man sie sich in den Pupillen des Anderen verliert. Tauscht man die Augen mit Personen, die man ermordet?” Indessen der Kabelbinder dieses ratschende Geräusch macht, stirbt die Taxifahrerin. Tückisch, denkt Schlichter verbissen und setzt ein Grinsen dabei auf, tückisch hatte die Taxifahrerin die Kontrolle der Route übernommen. Was erhoffte er sich davon? Wie kam er darauf, sich eigenmächtig über Schlichter hinweg zu setzen? Und ihn nicht mal mehr zu fragen, wo er hin möchte. Wollte Schlichter nach Zürich? Wollte er überhaupt nach Frankreich? So subversiv wie die die Oberhand gewonnen hatte—was war Schlichter; ein Kind?—so eroberte Schlichter das verloren Land der Kontrolle zurück und stach seine steife Fahne tief in den karibischen Sandboden. Zugeben ermaßen, nicht ganz so heimlich und tückisch, wie die zuvor.

die Motorhaube und sieht, wie der Kühlwasserschlauch mit Verbandszeug geflickt ist—da müsste mal ein neuer her. Als letztes sieht er: seine eingeschlagene Scheibe, die muss er auch reparieren lassen. Jemand muss sie mit einem Stein eingeworfen haben. Als er sein neues Taxi danach absucht, findet er keinen Stein, aber im Handschuhfach einen Umschlag, indem sich sehr viel Geld befindet. Er weiß nicht woher das Geld stammt, daneben ist auch sein (neuer) Ausweis, das Foto sieht ihm nicht allzu ähnlich, wenn man aber einen Daumen darauflegt, wird das niemand merken. Die Schlüssel zu seiner (neuen) Wohnung, sind ein ganzes Bund und er fragt sich, wozu er so viele Schlüssel braucht und als letztes ist da noch ein Buch des Taxifahrerins, da der verstorben ist, ist es irrelevant, was er sich für Notizen machte, denkt sich Schlichter und legt es zurück in das Glove-compartment. Er weiß nicht, wo er ist. Aber zu seiner Wohnung ist es nicht mehr weit, entnimmt er seinem Ausweis. Erstmal diese Verwirrung ausschlafen.

“Wissen Sie, irgendwann in meinem Leben kam ich an einen Punkt, an dem sich der Weg gabelte; entweder Suizid oder Mord.” Muss man einen, wie Schlichter erziehen? “Danach öffnete ich die Tür, zog den leblosen Körper aus dem Taxi, warf ihn über meine Schultern und brachte ihn in meinem Keller.” Schlichter entkleidete seinen ehemaligen Begleiter, sodass er tot und nackt auf dem Betonboden des Kellers lag, wobei er sein Gesicht verzog: “was mich an die Frau erinnerte, mit der ich in Hamburg im Auto schlief (sie verzog dabei ihr Gesicht, genauso wie der tote Fahrerin) und mit der ich nach Amsterdam wollte. Es roch nach Pilzen und Feuchtigkeit und komisch zu Mute, war mir auch.” Ernst Edwin Schlichter zieht sich die Klamotten des Bauernsohnes und vermeintlichen Taxifahrerins über. Die schwarze Lederjacke mit Fellkragen, die graue Schiebermütze und die beige farbige Hose und er stellt fest: all das passte ganz hervorragend. Mit einem beherzten Schritte, öffnete er die schwere Eisentür des Kellers, war zurück auf den Hinterhof und feierlich rief er aus: “von heute an, bin ich Taxifahrerin!” Nimm den perversen in dir, stecke ihn in ein Anzug, nimm ihn mit nach Hause, stecke ihn an und sieh zu, wie er brennt—lichterloh. Schlichter steht vor seinem gelben Vehikel und stellt fest: der Reifendruck muss überprüft werden. Er schaut in

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Samstag - Tag 06

“E

ine andere dieser präsenten Kindheitserinnerungen: von der gemeinsamen Fahrt in den Urlaub nach Blavand in Dänemark bei Esbjerg. Wenn mein Vater das Auto fuhr, ich hinten auf meiner Schale saß, meine Schwester neben mir, auf dem Kindersitz schlief, meine Mutter vorne auf dem Beifahrersitz las oder meinen Vater unterhielt und ich stundenlang aus dem Fenster starrend mich in Gedanken verlor: ›1-2 Meter von der Leitplanke entfernt zu sein, bedeutet 1-2 Meter von unsere aller Ende entfernt zu sein. Dasselbe sonderbares Gefühl von Lust und Glück—brodelnder Hitze und ungestümen Beben in meiner Brust, von Rufe nach Zerstörung hören, von den Rufen folgen wollen, von zündeln wollen, von Ja durch Nein, wie damals im Auto zu sitzen, vor dem steinernen Krankenhaustor liegen geblieben zu sein und zu erleben, wie Flammen, mir das Leben streitig machen wollen. Meine Sinne sind benommen. Destruktivität betäuben Sinne. Suizid ist nur ein Spiel, dass ich nicht ernst nehmen kann. Ich hatte immer das Gefühl, dem Leben mehr schuldig zu sein, als ein paar Spielereien.”

Aufwachen in einer fremden Wohnung, welche die eigene ist. Unter ihm die ganze Nacht, ein unförmiger und kantiger Gegenstand, der schlafen partout verhinderte. Er nimmt den unbekannten Gegenstand unter seinem Kopfkissen hervor und erkennt ein Buch. Im lesen bemerkt er: die erste, sowie diverse weitere Seiten fehlen dem Buch—er versteht nicht und macht sich einen Spaß daraus, die fehlenden Inhalte der offensichtlich herausgerissenen Seiten, selbst zu erfinden, sie selbst zu schreiben. Was schreibt man auf die erste eines Buches, dessen Inhalt man weder kennt und den man noch weniger versteht? Weiße Seiten, statt der entfernten, er fragt sich: der zensierten(?), Seiten. Weiße Seiten, auf denen Sätze stehen, die versuchen, sich den restlichen anzulegen. Wer einmal begonnen hat, Seiten aus Büchern zu reißen, der wird dem nicht mehr widerstehen wollen—das ist wie Geschichte ignorieren, statt sie zu korrigieren—Verdrängen oder projizieren, statt integrieren. Schlichter kratzt sich am Kopf und setzt sich auf die Sofakante, gähnt und ein dumpfes unbestimmtes Lächeln liegt auf seinen Lippen. ›Wie erfrischend es ist‹, denkt er, “nicht in seiner Haut aufzuwachen. Wie erquickend es ist, nicht der zu sein, der man es gewohnt war zu sein. Wie belebend es ist, dort aufzuwachen, wo man nicht ist”, murmelt er vor sich hin, steht auf und wankt, noch schlaftrunken, zu seinem neuen Fenster, zieht die Gardinen beiseite, schaut aus dem 4. Stockwerk auf die unter ihm liegende Straße, öffnet die Fenster, saugt die frische Morgenluft in seine Lungenflügen, die sich auf-blähen, wie die Segel Medusas Floßes, als hätte er sonst in seinem Leben, nie geatmet, sondern lediglich Luft eingesogen, zur Erhaltung viszeraler Funktionen. Wie erquickend es ist, dieselben Sachen, wie jeden Tag zu machen und sie nicht als die selben, sondern, als eben neue Sachen zu leben. Die Taxifahrerin Ernst Edwin Schlichter, ist ein Inneneinrichter mit Sinn für Ästhetik. Dunkle und knarrende Holzdielen, antike Möbelstücke und eine Schallplattensammlung, die sich hören lassen kann. Eine Auswahl an einigen raren Alkoholika. Stuck an hohen Decken. Einen Salon zum Rauchen und Disputieren und in Dialektik verlieren, jedes seiner Zimmer ausgestattet mit einem teurem Perser, Holzschnitzereien aus Südfrankreich, eine Küche ausgekleidet mit scheinendem Bodenmosaik, auf dem eine Couch, in Fragmenten abgebildet ist, die Wände aus dunklen Schiefersteinen und marmorierten Ornamenten und trotzdem Platz zum wohl fühlen, und trotzdem hier und da Unordnungen, fast geplantes Chaos zur Zerstreuung der Ästhetik. Hohe, aber nicht vom Boden abgehende, Fenster, die von schweren, aber nicht dunklen sondern hellen und beigen, aber nicht wie die Farbe des Taxis, sondern ebenso etwas helleren, Gardinen bekleidet werden. Überall, wie Zweigstellen, von Bibliotheken, Bücher, fast alle von Gesprächen und Interventionen handelnd, von denen ED in seinem Leben noch nie gehört hatte. Da waren Bücher, über zirkuläres Fragen, Intersubjektivität in der Psychoanalyse, bunt bemalte Bilderbücher von britischen Autoren, die sonst Horrorgeschichten schrieben, von deutschsprachigen Autoren, in spanischer Kriegsgefangenschaft und Bücher über Forschung und Evaluation. Nach dem obligatorischen Kaffee, geht es die Treppen hinunter, festhalten an hölzernem Treppengeländer, durch das Eisengitter von Treppenhaustür, hinein in den Torbogen einer Hauseinfahrt, die alten Holztüren öffnend, fast glaubt er, in Wien zu sein, und letztlich in den neuen Arbeitsraum: Kraftdroschke. Ernst Edwin Schlicht gehört zu der Sorte selbstständiger Taxifahrerin, für die Taxifahren, nicht dem monetären Überleben dient, sondern vielmehr eine Freizeitbeschäftigung und Unterhaltung darstellt—es ist im Prinzip egal, wann er zu arbeiten anfängt. Ob er nun die Frühaufsteher durch die Gegend fährt, die besoffenen in der Nacht aus dem Taxi wirft oder Tagsüber das restliche Pack. ›Hauptsache‹, denkt er, ›Hauptsache, am Ende kommen ungefähr 6-8 Stunden zusammen.‹ Ernst Edwin Schlichter der Betrüger, der nicht Arbeiten muss, es aber aus Langeweile tut. Er sagt: “über die vielen Jahre hinweg, gewöhnt man sich daran—aber ein wenig Spaß, ist auch mit dabei zwar hätten die Eltern auf dem Landhaus einen größeren Kamin und schönere Fenster, aber irgendwo im Leben muss man ja Abstriche machen…,” erzählt er gewohnt großspurig.

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“Dein Leben, mein Leben, es baut sich aus Erinnerungen auf. Deine Erinnerungen sind meine Erinnerungen. Ich lebe dein Leben, wie mein Leben—denn es ist mein Leben.” Taxifahren ist nicht immer interessant. “Wissen Sie, das Fahren müssen Sie sich gestalten. Sie können zum Beispiel den einen Tag, nur Frauen kutschieren, oder ausschließlich neurotische, exzentrische und egozentrische Menschen, gespaltene und multiple Persönlichkeiten. Menschen mit Problemen. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen: Borderliner, Narzissten, Depressive, Manische, Schizoide, Süchtige, Zwanghafte, Histrionische, Soziopathen etc.” “Ein geübter Fahrerin, sieht von außen, wie der Mensch am Straßenrand steht, was ihn erwartet.” Wer weiß, vielleicht schreibt Schlichter mal ein Buch; wie verhindere ich es, meine Zeit mit stupiden Menschen zu vergeuden. Am Titel sollte er noch arbeiten. Wie man in seiner beigen Vehikel durch die Stadt flitzt, durch die Nacht schleicht und wie am Straßenrand stehende Menschen, sich ein Taxi rufen. Wie weit steht sie von der Straße entfernt? Ist sein Arm ausgestreckt oder geknickt? Winkt sie oder ist ihre Hand starr? Wird die Armbewegung, durch Rufen unterstützt? Steht der Mensch gar auf der Straße? Sucht der Paranoide anders ein Taxi anzuhalten, als der Antisoziale? Und nennt die Narzisstin anders ihr Ziel, als die Borderlinerin? Sollte einem der Fehler unterlaufen, eine sterbens-öde Person mit zu nehmen, empfiehlt es sich entweder das Radio einzuschalten oder diesen Menschen mit Fragen zu überhäufen. Zweifel suchen, Zweifel finden, in Zweifeln bohren. Dazu sagen, man glaube nicht an Manipulation. Baut sie Blickkontakt auf? Schaut sie aus dem Fenster? Verrät die Beinstellung etwas über das Bindungsverhalten? Fasst sich die Person häufig an die Nase und ist das ein Zeichen von Lügen oder von Verlegenheit? Wie oft schlagen seine Augenlider auf einander? Wann ist mit einem Übergriff zu rechnen? “Ja, der Fahrzeuginnenraum eignet sich bestens für Fallstudien jeglicher Art und ich glaube, ich schaffe mir ein kleines Büchlein an und notiere fortan das Verhalten meiner Fahrgäste, als eine Art Fahrgast-Tagebuch.” Sie werden verwundert sein, wie viel einige Fahrerin über sich ergehen lassen und erschüttert darüber, wie viel manche Gäste ertragen. Fiese Menschen sehen hier eine Menge Kapital. Gründen Sie noch Heute ein Unternehmen von Taxibetrügern. Wenn jeder Ihrer Angestellten 500 Meter mehr pro Strecke fährt, zur Ihrer Information ein Kilometer kostet etwa 30 Cent, Sie glauben nicht, dass sich daraus Geld schlagen lässt? Vorrechnen nervt Sie? Dann greifen Sie selbst zu Taschenrechner! Samstag Vormittag. Ein beiges Fahrzeug steht in einer verkehrsberuhigten Straße. Fahrräder fahren an der Kutsche vorbei. Die Karre steht etwas seitlich, die Räder sind nach außen geschlagen, als ob derjenige eilig parkte. Ernst Edwin Schlichter sitzt in seinem neuen Vehikel. Eine Hand liegt zwischen seinen Beinen, die Andere ruht auf dem Lenkrad und hält nebenbei einen Becher Kaffee, im Aschenbecher glimmt der Rest einer Zigaretten, unter der Handbremse liegt eine leere Schachtel Kippen, daneben ein Packung Streichhölzer. Es ist Mittag und er wartet auf den ersten Fahrgast. Hochhäuser um ihn herum, vielleicht eine Schule. Es ist kalt, aber ruhig draußen. Eine herbstliche Mittagssonne hat sich über ihm erhoben. Am Himmel werden Kondensstreifen in Stücke zerteilt und durch die Strahlen der Sonne, scheint es: als glühten sie. Schlichter sieht alles, aber hört nichts. Ein glühendes Leben ist das nicht. Das Radio ist nicht eingeschaltet. Es passiert nicht viel. Der Kaffee wird leerer. Ein paar Leute gehen an seinem Fenster vorbei. Ein Vogel setzt sich auf die Motorhaube. Von einem Baum fällt ein Zweig auf das Dach. Der Vogel fliegt davon. Jemand fragt nach dem Weg. Als Edwin eine Karte heraus holt, ist er weg. Der Kaffee ist leer. Er entscheidet, noch einen zweiten Becher und Zigaretten zu kaufen. Er schaut auf die Tankanzeige, aber der Tank ist noch halb voll. Von der, in Hochhäusern eingebauten, Tankstelle aus, sieht er eine Reihe Taxis, vor einem still gelegten Flughafen stehen. Wahrscheinlich eine Messe. Er steckt sich noch neben den Tanksäulen stehend eine Fluppe an, sie hängt in seinem Mundwinkel, er fährt rüber und reiht sich ein. Gleich öffnet ein Fahrgast, eine der hinteren Türen. Schlichter fährt zusammen und erschreckt sich vor dem ungewohnten Geräusch und dem Gedanken, jemand setzt sich ohne zu Fragen in sein Auto. Es geht zum Hauptbahnhof. E.E.S. fährt von hinten aus der Schlange von Kraftdroschken heraus. Die meisten der anderen Fahrerin hupen. ED weiß nicht warum. Er ist irritiert. Der Wagen säuft ihm ab. Sie rollen ein Stück. Der Fahrgast schaut, genauso irritiert wie Schlichter. Er startet den Motor neu. Vielleicht wollten die Anderen, seinen ersten Fahrgast feiern? Er orientiert sich an Schildern, auf denen zum Hauptbahnhof steht. Einsteigen, anschnallen, Kupplung treten, Schlüssel umdrehen, der erste Gang ist schon drin, Gas Pedal herunterdrücken, Kupplung kommen lassen, in den zweiten Gang schalten, Fenster runter-kurbeln, Ellenbogen auf dem geöffneten Fenster ablegen—Kontrolle gewinnen. Sein erster Fahrgast ist Biologe. Er ist spezialisiert auf Gewässer-Ökologie. Er ist auf dem Weg zu einem See, außerhalb der Stadt. Der Vertrag mit dem Gewässer-Institut beläuft sich in der Regel auf 3 Jahre. Seit einem Jahr,

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wird sein Vertrag monatsweise verlängert. In 2 Wochen ist er arbeitslos. Hauptaufgabe am See ist: Wasserproben aus unterschiedlichen Tiefen zu entnehmen und ihre Temperatur zu messen und die gewonnenen Daten im Institut auszuwerten. ”Ich wollte immer mal über die Grand Central Station schreiben, bis auf ein Paar Austernwitze, ist mir aber nichts eingefallen.“ Er kassiert einen ungefähren Betrag und sucht dabei eine sichere Stimme zu imitieren. Der nächste Fahrgast kommt gerade die Bahnhofstreppen herunter und hebt seine Hand. Schlichter sieht das als ein Zeichen und hält neben der winkenden Person. Er steigt ein und nennt eine Adresse. ED fährt los. Dieses Mal, säuft der Wagen nicht ab. ›Es ist witzig‹, denkt sich Schlichter, ›fremde Menschen durch die Gegend zu kutschieren.‹ Der neue Mensch ist schüchtern. Er meidet Blickkontakt und redet auch sonst nicht. Ernst fährt irgendwohin. Jetzt anhalten und auf die Karte schauen—es wäre ihm peinlich. Sein Passant schaut verwirrt. Vermutlich sind sie falsch. Schlichter versucht anhand seiner Blicke zu lesen, ob sie eher richtig oder falsch sind. Der nächste Fahrgast spricht seine Sprache nicht und E.E. die seine auch nicht. Er schiebt S. einen Zettel zu. Auf dem Zettel ist eine Adresse notiert. Ihm kommt die Anschrift bekannt vor und er weiß den Weg. Als sie ankommen, stehen vor dem Haus Polizeiwagen. Ein Verbrechen ist hier gestern Nacht geschehen. Jemand hat das Gesetz gebrochen. Jemand hat die Spielregeln verworfen. Jemand ist ohne ins Gefängnis direkt über Los Gegangen und hat viel Geld eingesteckt. Nach einer Reihe von Taximorden wurden 1966 Trennscheiben, zwischen Fahrerin und Fahrgast installiert, es stellte sich jedoch heraus, dass die Trennscheiben den Umsatz verminderten und sich negativ auf den Benzinverbrauch niederschlugen. Niemand weiß, was hier gestern Nacht geschah—ein Verbrechen, und nichts weiter. Schlichter weiß inzwischen, wie das Taxameter funktioniert. Er kassiert den Betrag und beschließt eine Pause zu machen. Er beobachtet die Beamten. Das Taxi steht auf der anderen Straßenseite. Er sitzt Kaffee trinkend und eine von diesen selbstgedrehten Kippen rauchend, deren Tabak er im Handschuh fand, auf den gepolsterten Ledersitzen. Er verlässt sein Fahrzeug und setzt sich auf seine Motorhaube und lässig steht er mit einem Bein auf der Straße, während das andere auf der Stoßstange ruht. Der weiße Fellkragen seiner Fahrerinjacke, schlägt im Wind auf und ab. Er hat schwarze Lederhandschuhe an. Die Tür zum Hinterhof ist weit geöffnet. Überall Polizei, aber keine Ärzte, Sanitäter oder Krankenwagen. Ein Gruppe von Polizisten kommt durch die geöffnete Haustür. Reporter stehen auf der Straße, wollen Interviews, filmen. Vor der Tür, ist ein Bereich abgesperrt, dort liegen Glasscherben. Der Kaffee ist leer. Ein goldener Fleck am Rande der Welt, am Ende des Horizontes, auf dem ewig einige Wolken, wie flache Inseln schwimmen—ist das letzte, was von der Samstagssonne noch zu sehen ist. Schlichter sitzt noch immer auf der Motorhaube. Erfreut sich an dem intimen Moment, welchen er der Sonne verdankt. Er setzt sich wieder ins Auto, schmeißt den Motor an, blinkt, sieht sich um, sortiert sich in eine Schlange von müden und trägen Autos ein. Der Wind weht in das kaputte Fenster, ihm ist kalt. Er stellt die Heizung an und richtet das Gebläse auf sich. Es lag ein Geruch von Liebe in der Luft. Wie lange geht seine Schicht, denn noch? Wie viel Geld muss er am Ende des Tages verdient haben? Wie viel muss überhaupt jemand am Ende des Tages verdient haben? Was ist überhaupt Geldverdienen? Wer einen Sumpf trocken legen will, darf nicht die Frösche fragen. Er fährt in Richtung seiner (neuen) Wohnung. Er findet den Weg nicht. Es wird wieder dunkel. Er hat seine Wohnung gefunden, geht hinauf, findet nach einiger Zeit Suchens ein verstaubtes Paket Kaffee, sucht einen Topf, findet einen, füllt Wasser in den Topf, wartet bis es kocht, guckt dabei aus dem Fenster. Als es kocht, schüttet er Kaffee in das Wasser, der Kaffee riecht scheußlich und alt. Er setzt sich in den Salon, raucht, trinkt den bitteren Kaffee und liest—schläft ein. Es ist mitten in der Nacht, er erwacht, von einem Traum erschreckt und sitzt auf seinem Pfauensessel. Eine Zigarette hat ein Loch in den Sessel gebrannt. Das Licht brennt noch. Sein Mund ist ausgetrocknet, er hustet, flüchtet in Richtung Badezimmer, das er nicht sofort findet, also nach einiger Zeit Suchens, aber leider zu spät—übergibt er sich, gerade die Tür gefunden und geöffnet, mitten in das Badezimmer. Unverdaute Mahlzeiten sprenkeln Waschbecken, Badewanne, Toilette, Teppich und Spiegel. “Irgendetwas von einer Frau aus Wien. Weiß auch nicht mehr genau, worum es ging. Diese Frau und ich besuchten eine Suchtklinik, die mir bekannt vorkam, wahrscheinlich die selbe Klinik, in der mal ein Freund von mir untergebracht war, den ich mit einer Exfreundin besuchte, aber weder Exfreundin noch süchtiger Freund, waren in der Klinik. Die Wienerin in meinem Auto wirkte bedrückt, ich war auch bedrückt, weiß nicht wozu. Ich halte im Vorhof der Wannsee-Klinik. Wir reden über Stockholm. Kamen wohl aus einem Urlaub in Blockhütte zurück. Eine Sauna gab es auch. Ein Gefühl von Schuld überkam mich. Wir besuchten den Letzten—Exmann, weil mein Traum-ich, ihr neuer Mann war. Die Trennung war wohl nichts

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für ihn. Bevor er sie hatte—hatte er: saufen, sich hemmungslos in Schnaps und Wein versenken, dann sie und nun wieder saufen. Ich musste im Auto bleiben. Er sollte nicht wissen, dass ich mit von der Partie war. Mir ist langweilig. Ich schalte das Autoradio ein. Rauschen und Knarzen. Dann findet die automatische Suche einen Sender. Es rauscht aber noch. Eine Stimme spricht. Das Rauschen und Knarzen versiegt und meine eigene Stimme spricht durch das Radio: ›egal was ich tue, am Ende; häuft sich meine Schuld‹, ich verstehe nicht, was damit gemeint ist.”

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Sonntag - Tag 07

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an muss sich ausschlachten. Man muss auf der Jagd sein. Man muss jeden Einfall, sei er noch so unbedeutend: man muss alles verwenden. —Nicht alles muss man verwenden, aber man muss jede Situation, auf ihren Gehalt abklopfen. Ein bekannter Mensch, liegt auf dem Sofa, hat einen Morgenmantel übergeworfen und hält sich den Bauch. Was will man noch gewinnen? Wie gestern Schlichter von dem erquickenden Gefühl der mannigfaltigen Nova einer fremden Umgebung aus dem Schlaf geschüttelt wurde, so bleibt er heute, eine Sache, die er ungewohnt ist zu tun—so bleibt er heute morgen liegen, obwohl er wach ist und er lauscht, dem fremden Haus, der eigenen Wohnung, einer fremden und, aber inzwischen vergessen: (selbst-)ermordeten Person. Und er lauscht dem Gepolter der unbekannten Nachbarn, wie manche langsam, die Treppe hinunter schlürfen, manche das Treppenhaus in einem Donnern herunter brechen und andere ganz unerhört, plötzlich Türen zuschlagen und danach nur ein leises Schleichen wahr zu nehmen ist. Als durchschnitten seine Ohren das Wohnhaus mit einem feinen akustischen Skalpell und er stellt sich vor; wenn er von seinem Haus einen Querschnitt hören könne, dann müsse ihm das, mit dem Nachbarhaus gleichfalls gelingen und mit dem gegenüber und mit dem dahinter und sowieso, müsste er in der Lage sein: das gesamte Viertel auf einen auditiven Operationstisch zu legen, und wenn er vermag ganze Häuserzeilen, auf dem Sofa liegend in hörbare Scherenschnitte zu teilen, warum dann nicht die ganze Stadt? Warum nicht jedes Leben abhören? Warum nicht in den vielen verschiedenen lärmenden, polternden, auch leisen und fast stillen Geräuschen an Bedeutung verlieren und verloren gehen? Nicht als wolle er seine Nachbarn abhören, belauschen und verraten. Nein, das ganz sicher nicht, sondern nur von ihrer Existenz wissen und: “meine eigene Existenz friedlich in den tausenden, in den aberwitzigen Daseinsformen eintauchen spüren und ihnen verlustig werden.” Ernst Edwin Schlichter hat Kopfschmerzen und setzt sich auf die Sofakante. Geschmack von Blut im Mund. “Ich hatte niemals gedacht, dass das alles ist. Ich hatte niemals gedacht, mein Leben würde vor sich hin leben, die Kosten wären gedeckt und ja, und das wäre es. Das hätte ich nie gedacht.” Er springt von der Sofakante auf, rennt in die fremde Küche, holt das staubige Paket alten Kaffee hervor, säubert die kleine Espressokanne, denn er will mit alten Gewohnheit brechen. In seinem alten Leben, hatte er immer türkisch getrunken. Er schraubt die obere Hälfte der Kanne ab, lässt sie in das Waschbecken fallen. Sie klirrt und ihr Deckel springt auf, dass Kaffeereste Richtung Abfluss laufen. Bevor die zähe sirupartige Flüssigkeit, den Abfluss erreicht, greifen die gierige Hände Schlichters, nach dem Küchengerät. Klack…Klack…Klack…ein Klacken geht durch die Küche, durch die Wohnung, vermutlich nicht durch die Stadt—der Gasherd springt an. Flutend flammt ein Feuer auf, rennend kräuseln sich Funken entlang der Mokkakanne und restliches Wasser an der Kannenaussenwand dampft und zischt. Er tippelt in der Küche umher. Fasst sich an den Kopf, reibt sich das Gesicht: Unruhe. Langsam beginnt die Kanne zu Pfeifen. Er stürzt zum…, doch: zu früh. Die braune Sud ist noch nicht bereit. Er wartet, wie ein Kind auf externe Regulation, er wartet zu hören: hast du gut gemacht, kleiner Ernst. Noch immer nichts. Eifrig feuert der Herd. Da schießt aus dem Ventil, wie aus Revolvern, eine braun überzogene Flüssigkeit. ›Gewässer, meiner Ruhe‹, denkt er sich. Er liegt wieder auf dem Sofa, auf einem Beistelltischchen, steht eine leere Tasse. “Endlich, endlich Ruhe. Aus dem Fenster schauen und Regenwolken aufziehen sehen. Endlich Ruhe.” Der selbst ernannte Taxifahrerin Ernst Edwin Schlichter, steigt in seinen Arbeitsplatz ein, schaltet aber noch nicht die gelbe Dach-Leuchte ein. Unter seinem Arm klemmt die Tageszeitung. Im anderen hält er, wie gewohnt einen Pappbecher Kaffee, dazu hängt in seinem Mundwinkel eine dieser selbst gedrehten Zigaretten. “Wenn du vorhast, dein Leben gegen ein anders auszutauschen, muss du fremden Gewohnheiten assimilieren und die eigenen gegen ihre Löschresistenz, aufheben, tilgen und ersticken.” Er steht am Straßenrand. Die Früh-Morgens aufgezogenen Regenwolken pressen Wasser aus sich heraus, als würden sie, wie Lappen ausgewrungen. “Doch jäh wurde Ihr idyllischer Morgen unterbrochen.” “Jemand hatte uns gesehen.” “Ein Phantombild, dass Ihnen gefährlich ähnlich sah, war in der Zeitung abgedruckt.” “Ich setzte eine Sonnenbrille auf.” “Es regnete.”

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“Ich wollte nicht erkannt werden.” “Wie verräterisch.” “Ich kam mir vor, wie ein desertierter Geheimagent, auf Regierungsflucht.” “Was war konkret der Unterschied?” “Sie meinen, nun der Gedanke man suche mich?” “Ja, richtig, was war der Unterschied?” “Es dauert etwas, bis ich bemerkte…” “Bis Sie was bemerkten?” “Bis mir klar wurde, was es bedeutet Steckbrieflich gesucht zu werden.” “Dachten Sie daran sich zu stellen?” “Nein.” “Sondern?” “Plötzlich der Gedanke, ich würde beobachtet, verfolgt und aufgespürt. Plötzlich der Gedanken von Flucht.” “Also wieder eine Flucht?” “Nein, ich schaltete die Taxileuchte ein und wartete auf meinen ersten Fahrgast.” “Dachten Sie nicht daran, erkannt zu werden?” “Nein, denn gefahndet wurde nach Ernst Edwin Schlichter, nicht aber nach mir, dem unbenannten Taxifahrerin.” Der erste Fahrgast heute: “Wissen Sie wie ein Kasettenrekorder, wie ein Kasettenrekorder. Sie wissen, was ich meine? Ich bin wie ein Kasettenrekorder, der ununterbrochen spricht, bis meine Play-taste nach oben schnippt, ich verstumme, das Band umdrehen und mir etwas neues einfällt”, erzählte der Beifahrer, der sich selbstbewußt nach vorne neben Schlichter gesetzt hatte. Schlichter selbst dachte sich, ›mein Taxifahrerin-Ich, ist jemand der viel nickt, aber nicht spricht, der eine ernste Miene aufsetzt, den Kopf oft auf die Schulter ablegt, dass ich die Leute schief angucken kann.‹ “In der Regel: internalisierte und oft repetierte Inhalte. Ich war gestern mal elegant und bin heute—abgerissen.” Der kleine, halb-galtzköpfige Mann, dem eine runde Brille auf der Nase sitzt, deren Bügel golden sind, hatte mal Gesprächswissenschaften studiert und wäre Künstler gewesen. Sein Ziel damals; Heute auf Pump leben und morgen mit dem Geld, dass er sich von der Konversation und Kunst versprochen hatte, die Kredite von damals bezahlen. “Nicht einen Tag habe ich gearbeitet. Soll heißen”, und kaut inzwischen auf einem Zahnstocher, “nicht einen Tag, habe ich etwas gemacht um Geld zu verdienen.” Bücher gelesen und welche geschrieben hat er, Skulpturen betrachtet und welche hergestellt hat er, Leinwände angeschaut und welche produziert, das hat er gemacht. Oft in den Urlaub gefahren ist er, berechtigte Flucht nennt er das und lachend bewegt sich ein Bart und ein sehr breites Kinn. Dort im Urlaub hat er dann aus Lehm, Pigmente gewonnen, sie gereinigt und Tusche, Tinte, Öl- und Acrylfarbe daraus gemischt. Aber gearbeitet, hat er nicht einen Tag. Der Verdienst blieb aus. Niemand kaufte seine Bilder, Skulpturen oder Bücher—er irrte sich und sei in einem Schuldenberg versunken. Ob er es heute noch Einmal genauso machen würde? Er lacht laut los und ruft bellend, in Baritonstimme aus: “ja, aber ich würde einen noch viel höheren Kredit aufnehmen!” Sie sind am Ziel angekommen. Der Mann in Anzug klettert aus dem Taxi, wie aus einer Höhle, die Brillengläser schauen sich um, als sei er verfolgt worden und bezahlt. Bevor er davon läuft, guckt er nochmal in das Fenster hinein: “dann würde ich mein ganzes Leben auf Pump leben und irgendwann heimlich sterben. Einen Toten kann man nicht zur Rechenschaft ziehen.” Stille kehrt in den Fahrzeuginnenraum. Schlichter zündet sich eine Zigarette an. “Plötzlich siehst du überall Zusammenhänge. Das schlimmste ist paranoid zu sein. Überall erkennst du einen Plan. Überall vermutest du eine staatlich organisierte Schliche. Immer denkst du, an der nächste Ecke wird man dich fassen, zur Rechenschaft ziehen und einsperren. Unregulierte Schuld.” Eine Frau winkt. Edwin fährt an den Straßenrand. Es regnet. Er steigt aus. Nimmt ihr den Schirm ab. Sie fahren. Sie fragt ihn, ob er das Gefühl nachempfinden könne, auf einem Pferd vor einem Stoppelfeld zu stehen und zu warten und das Pferd zu spüren, wie es pulsierend nach dem Feld und der Ferne geifert. Wie beide auf die Freiheit warten. Ob Edwin schon einmal auf die Freiheit gewartet hätte und ob er auf den Rücken ihres Pferdes wolle. Ob er in seinem Leben, schon einmal etwas vermisste. Ob er sich vorstellen könne, irgendwann mal nicht mehr zu sein. Ob er das Gefühl kenne, alles was er habe und was war, zu geben und ob er sich vorstellen kann—dann doch zu

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unterliegen. Ob er denn nicht wüsste, dann eher aufhören zu müssen. Die Niederlage ist nicht aufzuhören. Der mutlos Unterlegende, fürchtet sich. Ob er das schon einmal gefühlt hätte—etwas sei zu spät. Etwas von dem er sich mal Erleichterung versprach und die Sache ihr Versprechen nicht halten konnte. ED weiß nicht wo lang es geht. Sie fahren einiger Zeit im Kreis. Die Frau beschreibt ihm den Weg und tippt, bei jedem neuen Wegpunkt dreimal auf Schlichters Kopf und wenn er sich daraufhin zu ihr umdreht, muss sie noch mal und zwar viereinhalb mal auf seinen Kopf tippen und das Armaturenbrett dabei berühren. Die beiden sind da. Sie bezahlt, steigt aus, verabschiedet sich und schwindet in einer Gasse zwischen Häuserzeilen. Sie sind in der Innenstadt. Es ist ganz schön hier. Kein Gebäude höher, als zwei Stockwerke. Alles ganz illuster. Er muss sich in Gedanken verloren haben, denn als seine Beifahrertür sich öffnet, schreckt er zusammen. Immer noch ungewohnt, wenn Fremde in das eigene Auto einsteigen. Wohin es gehen soll? Wie weit sie ungefähr dafür brauchen? Ob es dort auch schön sei? Schlichter geht nun offen mit seiner Orts-unkenntnis um. Zum Flughafen. Sie fahren ein Stück. Passieren Häuserreihe um Häuserreihe, der Regen ist schwächer geworden. Er hätte eine Neigung entwickelt, eröffnet der neue Passagier. Er meint, er wäre auf dem Weg zu einer Stadt gewesen, um dort zu arbeiten. Die Autobahn wäre ein Stück gesperrt gewesen, wahrscheinlich ein Unfall, er hat keine Ahnung. Im Radio hörte er, ein Sportwagen, sei wie ein Spielzeugauto zerquetscht worden. Die Umleitung ging über Landstraßen und ein Kaff. Im Dorf gab es Leute, die am Straßenrand standen und ihren Daum in Richtung der vorbei fahrenden Autos hielten. Er nahm die Fremden mit in die Stadt. Er meint, es hätte ihm so gut gefallen, dass er auf seiner nächsten Fahrt, wieder Leute von der Straße mitnahm. Er sagt, er braucht jeden Moment etwas Neues; er brauche das sich Fremden vorstellen. Der auf die Straße gestreckte Daumen, er errege ihn. Sobald die neuen Mitfahrer, ihr Gepäck verstaut hätten und eingestiegen seien, er los gefahren ist und die Fremden für eine bestimmte Zeit auf diesen engen Raum seines Fahrzeugs fahrend mit ihm festgesetzt wären, warte er zunächst, bis einer von ihnen, anfinge etwas zu sagen, manchmal dauert es Stunden. Ein Spiel mit der Bedürfnisbefriedigung. Wie Pornos schauen und nicht masturbieren. Dann, urplötzlich schießt er los: wer er ist, wo er wohne, was er arbeite, dass er eine wunderbare Frau habe, und so weiter. Weil sein Leben sich nicht mehr ändert, sind es immer die selben Sachen, von denen er spricht. Was sich ändert, ist die Zeitspanne, wie lang vergangen diese Erinnerungen sind. Allerdings, meint er, hätte er die Pointen seines Leben, geradewegs zu einer wahren Theaterreife gebracht. Der Fahrzeuginnenraum die kleine Bühne. Ursächlich denkt Schlichter, steht dafür wohl ein Kontrollbedürfnis. Sich immer wieder neuen Leuten vorzustellen, das ist ein verkrampfter Versuch die eigene Existenz zu suchen. Ernst Edwin Schlichter Taxifahrerin, Mörder und Dr. Hobbypsychologe. Weil sein Leben sich nicht mehr ändert, das muss genauer erklärt werden. Ein Leben an sich kann nicht stehen bleiben. Aber jemand kann die Veränderung nicht akzeptieren und sich selbst festsetzen auf einen Zeitpunkt. Hier also wieder das Wort festsetzen—das sich in seinen Schatten verlieren. Dann eine Schattenfigur werden und davon berichten wer man ist und eigentlich ist dieses ist, ein war. Wer man mal war. Einmal, hätte er, mitten auf der Fahrt, einen Anruf bekommen, dass er nicht mehr zu kommen brauche, da ein Auftraggeber Insolvenz angemeldet hatte. Da war er auf halber Strecke. Irgendwie meint er, hier ein wenig Schmerz in der Stimme, sagt Schlichter, wollte er nicht umdrehen. Er hatte den Leuten versprochen, sie da und dort hinzubringen. Das Taxi fährt in den Flughafen ein. Seine Fahrt endete, die Fahrgäste stiegen aus und weil er dort in der Stadt nichts zu tun gehabt hätte, wäre er gleich wieder zurück. Von dem Telefonat, hat er den Leuten nicht ein Wort gesagt und es auf einem Rastplatz geführt. Auf dem Weg zurück, gab es keine Mitfahrer, was ihn enttäuschte. Ob die Enttäuschung so groß war, dass er deswegen gleich wieder aufgebrochen sei und durch die Straßen seiner Stadt fuhr, bis er einen Mitfahrer fand, der nach Dresden musste—kann er nicht sagen. Was er sagen kann und das Taxi steht inzwischen vor dem Gate, er kenne die Orte, wo besonders viele Anhalter auf Mitfahrgelegenheit warten und wenn ihn die Einsamkeit packe, fahre er dort vorbei, hält und gibt vor, das Selbe Ziel zu haben. Man will so etwas nicht hören. Es mache ihm Spaß, Geschichten zu erfinden, dass heißt den Schatten nähren. Inzwischen hat er seinen alten Beruf, von dem er nichts weiter sagte, als seinen alten Beruf, aufgeben. “Seitdem fahre ich nur noch Menschen durch die Gegend, denen ich von meinem Beruf erzähle, als übe ich ihn noch aus.” Er drückt Schlichter ein Summe Geld in die Hand, bedankt sich, steigt aus und verschwindet im Flughafengebäude. Ernst Edwin Schlichter ist von den Gesprächen müde. Er geht sich einen Kaffee kaufen. Schwarze Hose, schwarzer Kapuzenpullover, schwarze Turnschuhe, weiß reflektierendes Logo, schwarze kleine Mütze auf sonst kahlem Kopf, aber augenscheinlich nicht wegen Haarausfall, flache Stirn, ausgeprägtes Kinn,

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Stoppelbart, einen Kranz aus, wie sich abspreizenden Fingern, als Falten, Krähenfüße um seine Augen, erstarkte Miene. “Aber vor allem, blinzelte der Kaffeeverkäufer nicht. Das ist mein Verfolger dachte ich. Da steht er und verkauft Kaffee und in Wirklichkeit: sammelt er Daten. Daten mich zu überführen. Ernst Edwin Schlichter 26 Jahre, zweifacher Mörder, kinderlos, unverheiratet, arbeitslos, liebeslos, lebenslos—unmenschlich. Außerdem lispelte der Verkäufer, es ist doch klar, dass ich denken soll—er hat mit dem Fall, mit meinem Fall nichts zu tun. Er braucht nicht so flüssig zu sein.” Schlichter knallt ihm ein paar Münzen hin, weiß nicht, ob es ausreicht, dem Anschein nach: ja. Dreht sich um, als wäre er eine Wiener Ballerina und fällt in sein Taxi. “Ich beruhigte mich wieder. Parkte etwas abseits vom Flughafeneingang, döste, starrte, fand nichts und verfiel wieder in Unruhe, seitdem ich mein Bild in der Zeitung gesehen hatte, glaubte ich einen Verfolger zu haben. Er ist es nicht, dachte ich. Sonst wäre ich wohl schon verhaftet. Gesucht wird ein Mann etwa Mitte 20, gut aussehend, attraktiv, 10 Zentimeter zu klein, trinkt verdächtig viel Kaffee.” Schlichter ist müde vom vielen Denken und Planen seiner Flucht, müde seinen Verfolger abzuschütteln, müde auf der Hut zu sein, müde gefasst zu sein, müde nach einer Woche Flucht, müde davon, wieder am Flughafen zu sein, Tramper trampen mit Schild, müde davon festzustellen—trotz enormer Bemühungen aus seinem Leben zu fliehen, ist Ernst Edwin Schlichter wieder am Ausgangspunkt, eben dem Flughafen gelandet. Müde schuldig zu sein. “Ich bin nie wieder in ein Flugzeug gestiegen. Ich habe mich nie wieder auf einem Flugzeugsessel Platznummer 19 gesetzt, mich angeschnallt, aus dem Fenster geschaut und beobachtet wie eine Stadt sich entfernt. Nie wieder habe ich gesagt: Kaffee Schwarz und einen Cognac bitte. Nie wieder habe ich mein Telefon für 25 Minuten ausgeschaltet. Nie wieder habe ich einen Menschen geliebt.” Der müde Schlichter schläft mit dem Kaffee in der Hand, sich auf dem Lenkrad abstützend, ein. Ein Gefühl, als hätte er seinen Tastsinn verloren. Als sei das Taktile aus seiner Welt getreten und mit ihm, seine Verbindung zu einer und seiner Realität und Wirklichkeit. Ist es nicht ein Wunder, was ein korrosiver Geist und korrumpierter Körper nach außen hin noch leisten kann? Und zu was er noch in der Lage ist zu tun? Aufwachen, anziehen, wesentliche kommunikative Aspekte und Regeln, nicht außer acht lassen, heißt Menschen Grüßen, Blutungen stillen, Kaffee kaufen und die erlernte Hilflosigkeit vertuschen.

Wenn muss der Mann auch in Schweden gewesen sein

Leben heißt Rhythmus halten. Wirklichkeit leben heißt, den Takt klopfen. Das sonderbare Gefühl, wenn man aus dem Takt kommt, wenn Fragen einem aus dem Rhythmus reißen, als höre das Herz, als Rhythmus-gebendes-Organ auf zu schlagen, beständig Melodien zu induzieren, das ist das Gefühl von Existenz falsifizieren. Wie Wirklichkeit auch ein Gebäude ist, ein Haus in dem man aufwächst, es eingerichtet ist, man die Einrichtung als Spielregeln für Leben nimmt, Herd in der Küche, Badewanne im Badezimmer, Bett im Schlafzimmer, wie man in dieser realen Wohnung lebt und sie einrichtet, wer würde im Badezimmer zu Abend essen, wie Kommunikationsregeln, wie Normen aus dem Regelwerk eines Brettspiels. “Als Albertina starb, nahm ich einen Kanister Benzin und schüttete in jedes meiner Zimmer, in jeden Winkel und allen meinen Verstecken—die entzündliche Flüssigkeit und grinsend ließ ich ein Streichholz fallen und die ganze Bude brannte lichterloh und mit ihr jede mögliche Wirklichkeit—das war die Erweckung der, wie ich sie damals nannte: Dämonen”, sagt Schlichter inzwischen deutlich abgekämpft. “Und das einzige, was ich dem entgegen zu setzen hatte, war: Gleichgültigkeit, grobe unvernünftige Gleichgültigkeit, intellektuelle Betäubung und kognitives Verstummen. Nichts sein, nichts sehen, nichts können und nichts wollen”, seufzen immer wieder seufzen, “Leere und was ich der injizierten Langeweile entgegenzusetzen hatte, war: Zorn, rohe Wut und so bestehe ich aus zwei Dingen: Aggression und Unempfindsamkeit. Niemand weiß, niemand ahnt, was da in mir ist. Niemand, weil ich mit niemanden darüber spreche. Es ist auch selten in Gesellschaft da, sondern überkommt mich, im Alleinsein, du trübe Endzeitsuche. Wann immer ich dachte, ich hätte Sicherheiten, brachen sie in sich zusammen. Wann immer ich dachte, ich könnte nicht mehr von mir verlieren, riss ab der Strom, verlor ich den Rhythmus und kam aus dem Takt.” “Ich spiele kein Spiel. Der Kontext schafft die Regeln und gibt, die Anzahl der erlaubten Züge vor und Menschen schaffen Kontext.” Wenn ein Kontext 28 Züge vorschreibt, müssen 28 Züge gezogen werden, erst danach ist ein neuer Kontext möglich. “Wenn man bei Zug 20 aufhört zu ziehen, den Kontext wechselt—müssen trotz all dem, die rest-

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lichen 8 Züge, gezogen werden. Und das ist oft sehr Spielregeln inadäquat.” Es hat aufgehört zu regnen. Die Nachmittagssonne scheint ihm ins Gesicht. Er sieht nichts. Steht noch immer am Flughafen. Hat sich nie entfernt. Reibt sich die Augen. Muss ein wenig aufstoßen. Kratzt sich am Kopf. Jemand steigt ein, er muss vergessen haben die Leuchte zu löschen. ›Das habe ich nun davon‹, denkt er sich, ›so wird sich der Feierabend noch eine Weile hinziehen.‹ Zum Glück eine Frau, seitdem er Taxifahrerin geworden ist, wusste Edwin Frauen als Fahrgäste mehr zu schätzen, als Männer. Schlichter schaut unter seiner Schiebermütze hervor, trinkt einen Schluck von seinem Becher Kaffee ab, der inzwischen kalt geworden ist und fragt sie, wo sie denn hin möchte. Und eine ihm nicht unbekannt Stimme, sagt eine ihm nicht unbekannte Adresse. Eine Ahnung überkommt ihn. Ein Deja-vú, ein Madeleine-effekt, eine Fata-Morgana, irgend etwas kommt ihm an der Frau sonderbar vor. Sie rollen vom Flughafen, wie Gottesanbeterinnen ihre Gatten verspeisen. Er fühlt sich, als sehe er ein Konzert und höre nichts. Sein Leben ist ein Paradoxon. Ein Gefühl, wie herab fallende Äpfel, wie ruhende Stürme, unglückselige Glücksspieler, wie Maler ohne Farbe, wie Vögel ohne Flügel, wie Insekten auf zwei Beinen. Schlichter blickt der Person in die Augen und: “es war die Frau, die ich nicht lieben konnte, deren Namen ich mir nicht merken konnte, die ich am Flughafen habe stehen lassen, weil ich nie wieder fliegen werden.” Sonntag und ihr Flieger ist vor einer halben Stunde gelandet. Ein Schock wirft ihn in sein altes Leben zurück. Mit einem Mal fühlt sich die Taxifahrerin-Uniform, die schwarze Lederjacke, die Schiebermütze, die Beige farbige Hose—mit einem Mal fühlt sich das alles fremd an, als hätte Schlichter versucht in die Haut eines anderen Menschen zu kriechen und wie ein Schmarotzer in ihr zu leben. Wie ein Pilz in tibetischen Raupen der Geistermotte. Er lässt sich nichts anmerken, schaut aus dem Fenster und redet nicht. Nickt ab und an. Vermeidet Blickkontakt. Sie sucht ihn. Immer öfter fängt sie EDs Augen, als finde sie dort etwas. Hat sie ihn schon erkannt? Die Sonne steht am Horizont, es ist Abend. Die beiden sind da. Sie bezahlt und steigt aus. Ob sie ihn erkannt hat, weiß er nicht. ENDE? Dann ging alles sehr schnell. Jemand reißt die Fahrerintür auf. Schlichter fällt beinahe aus dem Taxi heraus, wie die Taxifahrerin aus dem Taxi gefallen war, als er die Fahrerintür gewaltsam öffnete, diesmal reißt jemand Fremdes seine Tür auf und er fällt beinahe heraus. “Taumeln, nichts als Taumeln, betäubtes trunkenes Taumeln.” “Herr Ernst Edwin Schlichter”, brüllt der Fremde in das Taxi, hält eine auf Schlichter gerichtete Pistole in der Hand, “sie werden des Mordes an Albertina von Salome bezichtet und sind hiermit festgenommen.” “Kein Wort vom ermordeten Taxifahrerin.” “Keine Widerrede, alles was sie nun sagen, kann gegen Sie verwendet werden.” “Aber die Taxifahrerin, ich habe den Taxifahrerin getötet!”, schreit der empörte Schlichter. “Ich zähle nun bis 3, wenn Sie bei 3 nicht aus dem Fahrzeug gestiegen sind, muss ich Gewalt an wenden.” Inzwischen umkreisen Beamte das Taxi.

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