SV Brandenburger Blätter ab 28.12.2018

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Brandenburger Blätter Historie | Kultur | Natur | Gegenwart

Goldene Zeiten für die Kunst Rudolf Belling, der 1925 diesen Messingkopf schuf, gehörte damals zu den Idealisten, die mit ihren Werken etwas in den Köpfen verändern wollten. Wie Berlin diese experimentierfreudige „Novembergruppe“ gerade wiederentdeckt, lesen Sie auf den Seiten 8 und 9. Foto: bpk/Berlin Museum/Berlinische Galerie

Nr. 263 • 28. Dezember 2018


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BRANDENBURGER BLÄTTER

Liebe Leser, an dieser Stelle ausnahmsweise mal etwas in eigener Sache: Seit vielen Jahren liegen die „Brandenburger Blätter“ regelmäßig Ihrer Tageszeitung bei, und dass es dieses Heft so lange gibt, ist Ihnen zu verdanken, den Lesern. Ihr Zuspruch hat den Verlag nun ermuntert, Ihnen noch mehr „Brandenburger Blätter“ anzubieten. Und zwar jede Woche. Ab Sonnabend, dem 12. Januar 2019, werden wir, was bisher als Doppelseite in den „Brandenburger Blättern“ erschienen ist, ebenfalls als Doppelseite im Wochenend-Journal Ihrer Tageszeitung veröffentlichen. So haben Sie nun „Brandenburger Blätter“ im Wochenrhythmus. Und all diese Beiträge werden zur Jahreswende 2019/2020 als Buch erscheinen. Denn immer wieder haben Leser gefragt, warum es die „Brandenburger Blätter“ nicht ab und an auch in dieser Form gibt. Nichts ändern wird sich an jener Art, wie wir Ihnen die Themen der „Brandenburger Blätter“ präsentieren. Und auch der Fokus wird so bleiben wie bisher. Wir wollen nur versuchen, den Liebhabern dieser Publikation etwas mehr davon zu bieten. Wir werden 2019 natürlich das Fontane-Jahr begleiten und arbeiten gerade an einem Buch der Reihe „Einst und jetzt“, das in den Blick nimmt, wie sich Fontanes Orte verändert haben, seit er sie in seinen „Wanderungen“ beschrieben hat. Erscheinen soll dieser Band im Mai. Wir werden an 100 Jahre Bauhaus erinnern, weil es nicht nur durch die ehemalige Gewerkschaftsschule in Bernau, die nun Weltkulturerbe ist, mit Brandenburg und Berlin verbunden bleibt. Zunächst aber werden wir uns in der Ausgabe vom 12. Januar mit dem Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg beschäftigen, der sich dann zum 100. Mal jährt. Wir werden dabei auch schauen, wie Luckau an Liebknecht erinnert, wo er von November 1916 bis Oktober 1918 inhaftiert war. Liebknecht, der zu den schärfsten Gegnern des wilhelminischen Systems gehörte, hatte vorher auf einer Demonstration „Nieder mit dem Krieg!“ und „Nieder mit der Regierung“ gerufen und war wegen Hochverrats verurteilt worden. Am 19. Januar befassen wir uns mit dem Briefwechsel von Eva und Erwin Strittmatter, den ihr Sohn Erwin Berner herausgeben hat und der an diesem Tag erscheint. Alles Gute für Sie, liebe Leser, im neuen Jahr – und bleiben Sie den „Brandenburger Blättern“ bitte auch 2019 gewogen.

König unter Gottes Gnade Das neue „Ottonianum“ erinnert an Otto den Großen und seine Frau Editha

Mit König Editha das Bett zu teilen, konnte zu unangenehmen Hautreizungen und bösem Juckreiz führen. Denn die von ihrem Gemahl Otto dem Großen innig geliebte Herrscherin war nachts von Bettwanzen umlagert. Das wissen wir, weil sie sie mit in ihr Grab in Magdeburg genommen hat. Entdeckt wurden Reste dieser Wanzen in einem Bleisarg, den Wissenschaftler 2008 in Edithas prunkvollem Hochgrab fanden, das an der östlichsten Stelle des Magdeburger Domes steht. Bis dahin hatte man angenommen, die kunstvoll aus gelbem Sandstein gearbeitete und aus den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts stammende Grabstätte sei im Inneren ihres mit Wappen, Ranken, Ornamenten und Figuren aufwendig verzierten Kubus leer. Bedeckt wird er von einer Platte, auf der Editha in einem in kunstvolle Falten gelegten Gewand auf einem Kissen ruht, die Hände vorm Körper verschränkt. Die Königin ist tot – und ist es doch nicht, denn die Entschlafene liegt mit offenen Augen da – zum Zeichen ewigen Lebens. Dass Editha um 1510, also etwa 550 Jahre nach ihrem Tod, diese aufwendig gestaltete Grabstätte bekam, kann nur bedeuten, dass sie bis zur Reformationszeit in Magdeburg wie eine Heilige verehrt wurde. Als sie das neue Grab bekam, hat man ihre sterblichen Überreste aus ihrer alten Ruhestätte entnommen und in eine kleine Bleikiste umgebettet, auf der Demütiger Stifter: Diese Elfenbeinschnitzerei aus dem 10. Jahrhundert zeigt Otto I., wie er, vom eine lateinische Inschrift mit- heiligen Laurenzius geleitet, ein Modell des Magdeburger Doms zu Christus trägt – und damit Foto: Uwe Stiehler teilte: „Hier sind die Gebeine das Erzbistum Magdeburg gründet. der gottseligen Römischen Königin Editha verborgen, einer Tochter Eg- 1923 errichtet hat. Es galt damals als eine zeugte er wohl im jugendlichen Alter von munds, des Königs von England, deren der sichersten Banken Europas. Die Tre- 16 Jahren mit einer slawischen Adligen, Frömmigkeit ihren Gemahl, den gottse- sorräume lagen versteckt in zwei unter- vielleicht war sie als Geisel an Heinrichs ligen Kaiser Otto den Großen, dazu be- irdischen Geschossen und konnten nur Hof gekommen, einen Sohn, Wilhelm. Er wogen hatte, diese Kirche zu bauen. Sie über ein verzwickt verwinkeltes System wurde später Erzbischof von Mainz, der starb im Jahre 946“. Damit ist vieles ge- von Treppenhäusern und Gängen erreicht Stellvertreter des Papstes und damit der sagt, aber nicht nichts bewiesen. Der Blei- werden. Das sollte es Einbrechern schwer wichtigste Kirchenmann in Ottos fränsarg und sein Inhalt kamen nach Halle, machen, die Schatzkammern des Hau- kisch-sächsischem Reich. um dort wissenschaftlich untersucht zu ses zu finden. Wo früher Geld ein- und Was aus Wilhelms Mutter wurde, verwerden. Das hat zu Protesten in Magde- ausgezahlt wurde, wird nun erzählt, wie schweigen die Quellen. Sie berichten aber, burg geführt, es gab Befürchtungen, die Otto und Editha Magdeburg zur Haupt- dass Ottos Vater etwa zeitgleich zu dieStadt würde ihrer Editha beraubt. Wurde stadt ihres Reiches machten und wie von ser Liaison für seinen Sohn auf Brautsie aber nicht. dort aus die slawischen Gebiete um Ha- schau ging und eine Delegation nach Ihr Bleisarg und die spannenden Er- velberg und Brandenburg an der Havel Südengland sandte. Daraufhin schickte gebnisse seiner Erforschung bilden nun dem ottonischen Reichskirchensystem an- der angelsächsische König Aethelstan die interessanteste Abteilung eines nagel- geschlossen wurden. zwei seiner Schwestern zur Begutachneuen Museums, das direkt neben dem Otto I., 912 geboren, war ein Sohn des tung an Heinrichs Hof. Otto entschied Dom an Editha, Otto den Großen und die ostfränkischen Königs Heinrichs I. und sich für Editha, die jüngere. Und nachErrichtung des Erzbistums Magdeburg er- von ihm zu dessen Nachfolger bestimmt. dem er sie geheiratet hatte, schenkte er innert. „Ottonianum“ heißt es. Unterge- Heinrich hatte an der Ostgrenze seines ihr Magdeburg als Morgengabe. Das war bracht wurde es in der lichtdurchfluteten Reiches bereits versucht, auf das Gebiet großzügig und zugleich eigennützig geSchalterhalle des ehemaligen Reichsbank- der zwischen Elbe und Oder siedelnden dacht. Denn als Verwalter des Vermögens gebäudes, das der Architekt und Reichs- Slawen zuzugreifen. Vielleicht war Otto seiner Frau hatte er die Verfügungsgewalt bankbaudirektor Philipp Nitze 1920 bis bei diesen Feldzügen dabei. Jedenfalls über sein Präsent.

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DEZEMBER 2018 936 erbte Otto von seinem Vater den che Stiftungsleistung erbringen wollte, die Thron, ein Jahr später gründete der das damals möglich war: die Gründung eines Mauritiuskloster in Magdeburg und hob Erzbistums. Was ihm gegen den heftigen damit die Bedeutung des Ortes noch Widerstand des Erzbischofs von Mainz, einmal an. Mauritius wurde auch zum der die Bistümer Havelberg und BrandenSchutzheiligen des von Otto 968 gegrün- burg an Magdeburg verlor, schließlich gedeten Erzbistums Magdeburg, dem auch lang. In der Ausstellung ist eine quadradie von ihm 20 Jahre vorher eingerichte- tische Elfenbeintafel zu sehen, die Otto ten Bistümer Havelberg und Brandenburg zeigt, wie er vom heiligen Mauritius geunterstanden. Als geistiges und adminis- leitet, Jesus ein Modell des Magdeburger tratives Zentrum des neuen Erzbistums Domes überbringt. Die Tafel wurde noch gehörte Magdeburg zu den wichtigsten zu Lebzeiten Ottos gefertigt. Städten des Reiches und war der Ort, Nicht nur mit dem Erzbistum und dem von dem aus die Christianisierung der neuen Dom, sondern auch mit dessen ostelbischen Gebiete erfolgte und ver- Ausstattung hat Otto Magdeburg so hewaltet wurde. rausgestellt wie keine andere Stadt. Die Dem neuen Erzbistum unterstanden Ausstellung versucht, die Baugeschichte auch die Bistümer von Merseburg, Zeitz des Domareals zu rekonstruieren und und Meißen. Im Meißner Dom sind heute zeigt am Modell, wie der Dom über Jahrnoch die vorzüglichen Stifterfiguren von hunderte gewachsen ist. Otto hatte ihn Otto und Adelheit, seiner zweiten Ge- kostbar ausgestattet, hatte in Italien anmahlin, zu bewundern. Sie werden dem tike Säulen aus Porphyr, Marmor und GraNaumburger Meister oder seiner Werk- nit abbauen und nach Magdeburg transstatt zugeschrieben. portieren lassen. Auch das Taufbecken ist Otto hatte Adelheit von Burgund, die ein antikes Stück und soll Teil eines römiWitwe des italienischen Königs Lothar II., schen Springbrunnens gewesen sein, desfünf Jahre nach Edithas sen Stein ursprünglich Tod geheiratet und daaus Ägypten stammte. Das Taufbecken war mit die schwerste Krise In keiner anderen Kirein römischer che nördlich der Alpen in seiner an kriegerischem Aufruhr reichen Springbrunnen, dessen ist die Dichte an AntiRegierungszeit ausgeso hoch wie im Dom Stein aus Ägypten kam ken von Magdeburg. Außerlöst. Nachdem Adeldem ließ Otto in Italien heit einen Sohn geboren und Otto ihn als seinen Nachfolger glasierte Ziegel brennen, mit denen sein bestimmt hatte, fühlte sich Liudolf, der Dom gedeckt war. Magdeburg ist nördSohn Edithas und Ottos und bis dahin die lich der Alpen der einzige Ort, an dem Nummer eins in der Thronfolge, zurück- für das 10. Jahrhundert solch ein luxurigesetzt. Er zettelte einen Aufstand an, der öses Dach nachgewiesen ist. das Reich fast auseinanderbrechen ließ. Erhalten haben sich ihre Reste allerAls dann noch die Ungarn mit ihrer ge- dings nicht im Dach. Nachdem Ottos Dom fürchteten Reiterarmee einfielen, drohte 1207 abgebrannt war, wurden sie in dem Ottos Regentschaft zu kollabieren. Immer nun begonnenen gotischen Neubau als wieder waren die Ungarn nach Westen Fußbodenbelag wiederverwendet. In den vorgestoßen und hatten sich plündernd neuen Dom wurden auch die kostbaren durch Europa gekämpft. Diesmal aber Antiken wieder eingebaut. Zu sehen sind sollte es anders kommen. Otto vernich- die Säulen und Kapitele dort heute noch. tete ihr Heer 955 in der Schlacht auf dem Einige Bruchstücke bereichern nun zuLechsfeld bei Augsburg. So ein Triumph dem das Ottonianum gegenüber. über diesen gefürchteten Feind war vor Und wie die Inschrift auf Edithas Bleiihm noch keinem geglückt. Für seine Rit- sarg belegt, wurden auch Edithas Gebeine ter und für Otto war dieser Sieg von Gott von dem alten in den neuen Dom umgeund dem heiligen Mauritius geschenkt. bettet, müssen vom Mauritiuskloster also Noch auf dem Schlachtfeld sollen ihn vorher schon in den ottonischen Kirchenseine Kämpfer zum Kaiser ausgerufen bau überführt worden sein. haben. Zum Kaiser krönen ließ sich Otto Im Zuge dieser Umbettungen gingen et962 in Rom. Sein Reich erstreckte sich liche Teile Edithas verloren. In ihrem Bleinun von Oberitalien bis an die Nordsee. sarg fehlten ihre Füße, Teile der Hände Er war die mächtigste weltliche Instanz und das Meiste vom Kopf, als die Forin Mitteleuropa und so angesehen, dass scher das Kistchen vor zehn Jahren öffder Kaiser von Byzanz seine Tochter mit neten. Dafür fanden sie zu ihrer ÜberraOttos Sohn, Otto II., vermählte. schung über 1000 Jahre alte Insektenreste. Otto I. zeigte sich erkenntlich, indem er Neben den Bettwanzen nagten auch zu Gottes Ruhm und Ehre die größtmögli- Speckkäfer an Editha, die sich damals vor allem in Räucherkammern einnisteten. Vielleicht befand sich eine in der Nähe von Edithas Schlaf- beziehungsweise Sterbezimmer. Wahrscheinlich wurde die Königin nicht nur in Seide, sondern auch in Pelze und Leder gekleidet, als man sie bestattete. Darauf lassen die Diebskäfer in ihrem Sarg schließen, die sich bevorzugt davon ernähren. Auch Schimmelkäfer fanFaksimile der Gründungsurkunde des Erzbistums Magdeburg: den die Forscher, Links unten neben dem Siegel sieht man das Signum Ottos und schlossen dardes Großen aus, dass Editha auf

Abbild der ewigen Lebens: Edithas Grabplatte von etwa 1510, unter der bis heute die Gebeine der 946 gestorbenen Königin ruhen. Fotos: Uwe Stiehler einer Strohmatte gelegen haben muss. Und schließlich legen die in dem Bleisarg entdeckten Flügel der Kornkäfer nahe, dass man Edith eine kleine Menge Getreide mit ins Grab gab. Ferner stießen die Wissenschaftler auf Eichenreste aus dem 10. Jahrhundert und konnten anhand der Knochen und der Zähne feststellen, dass die Tote Mitte 30 war, etwa 1,56 groß, in Südengland aufgewachsen war, sich in ihrer Kindheit und ihrer Jugend sehr viel von Fisch ernährte und offenbar viel geritten ist. Darauf weist die Abnutzung ihres Hüftgelenks hin. Was typisch ist für das Reisekönigtum der damaligen Zeit. Passt also alles zusammen. Damit zweifelt heute niemand mehr, dass die Gebeine in dem Bleisarg, die inzwischen in einen Titansarg im Dom in Edithas Hochgrab liegen, zu Ottos erster Frau gehören. Zum ersten Mal erfährt sie im Ottonianium eine umfangreiche museale Würdigung. Das Haus erinnert aber nicht nur an sie und Otto den Großen, der ebenfalls im Dom bestattet wurde. Sein Hochgrab

wurde Mitte des 19. Jahrhunderts einmal geöffnet. Man registrierte: Der Tote muss ein großer, kräftig gebauter Mann gewesen sein. Dann zeichnete man den Schädel mit der auffallend fliehenden Stirn und verschloss das Grab wieder. Die Zeichnung ist im Ottonianum ausgestellt, wo auch an das Wirken der Magdeburger Erzbischöfe erinnert wird, in deren Reihe einige Hohenzollern wie Albrecht von Brandenburg zu finden sind. Die brandenburgische Fürstendynastie konnten ihre Ambitionen auf das Erzbistum Magdeburg schließlich durchsetzen, das nach der Reformation in ein weltliches Herzogtum transformiert wurde. 1680 fiel es durch eine Erbregelung an Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Und bis 1918 nannten sich die Kurfürsten von Brandenburg und Könige von Preußen nebenher auch Herzöge von Magdeburg. Uwe Stiehler Dommuseum Ottonianum, Domplatz 15, Magdeburg, Mo–So 10–17 Uhr, Tel. 0391 99017421


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Wer schreibt, der bleibt

Vor 1000 Jahren starb der Bischof Thietmar von Merseburg, der aus Sorge um sein Seelenheil zum wichtigsten Chronisten seiner Zeit wurde Nur durch Falschheit, Bestechung und Intrigen sei dieser Kirchenfürst ins Amt gekommen. Er sei auch kein Hirte seiner Schafe gewesen, sondern nur ein „auf sein Emporkommen erpichter Krämer“. Diese Anklage schmeckt nach Martin Luther, ist aber 500 Jahre älter und richtet sich gegen Erzbischof Giseler von Magdeburg. Aufgeschrieben hat sie der Merseburger Bischof Thietmar in seiner Chronik, die zu den berühmtesten und bedeutendsten Geschichtswerken des Mittelalters gehört. Kein Geschichtsstudent, der nicht schon im Grundstudium über Thietmars Aufzeichnungen stolpern würde, auch das neue Ottonianum in Magdeburg (Seiten 2 und 3) zitiert ihn immer wieder. Seine Chronik zählt zu den wichtigsten Quellen des Mittelalters und bestimmt bis heute unser Bild von d e r sächsischen Kaiserzeit des 1 0 . Jahrhunderts

maßgeblich. Wie sich Otto I. als junger König gegen ein Heer von Widersachern durchsetzte, wie er die Ungarn 955 vernichtend schlug, wie das damals als direktes Eingreifen Gottes empfunden wurde, wie Otto das Kaisertum erneuerte und zum mächtigsten Herrscher Zentraleuropas wurde, w i e sein

Vater und er die slawischen Gebiete öst- Hauptteil seines Textes in die Feder diklich der Elbe tributpflichtig machten tierte. In dem letzten Teil seiner Chronik und zu christianisieren begannen, wie allerdings fehlen seine Randbemerkundie Slawen 983 sich erfolgreich gegen gen. Vermutlich war er gestorben, bevor er diese Fremdherrschaft erhoben und ihr diese Abschnitte noch einmal durchsehen Aufstand im heutigen Brandenburg los- konnte. Seine letzten Zeilen sind Kaiser brach, dass die Wikinger, wenn sie ange- Heinrich II. (973 oder 978–1024) gewidtrunken und übellaunig waren, ihren Ge- met, den Thietmar für einen schwachen fangenen Nasen und Ohren abschnitten Herrscher hielt. Denn Heinrichs „Säulen und wer zu seiner Zeit des Reiches“ waren in den höchsten weltdamals „leider zum Er berichtet von lichen und kirchlichen größten Teil gestürzt“. Intrigen, Wunderdingen Wen Thietmar damit Kreisen des Reiches meint, bleibt unklar. intrigierte, hat Thietund sich seltsam mar in seiner ChroNun sei der Kaiser verhaltenden Wölfen nik aufgezeichnet. Sie von Männern umgeben, „die Treue heuerlaubt Einblicke in Herrschaftsstrukturen, in die Kirchenge- chelten“, doch „im Verborgenen mit Hilfe schichte Mittel- und Ostdeutschlands Fremder gegen ihn zu arbeiten suchten“. und – noch besser – sie ist wie ein Zeit- Heinrich konnte, resümiert der Bischof, kanal, der in den Kopf eines Bischofs „seines kaiserlichen Amtes nicht recht aus dem Mittelalter führt. Denn Thiet- nach freiem Willen walten“. mar zählt nicht nur die Ereignisse Dem mächtigsten Herrscher und Führer auf, er kommentiert und bewertet. der Christenheit eine gewisse Ohnmacht Er spricht in kritischem Spott über zu attestieren, zeugt von Thietmars unsich und seine Sündhaftigkeit und abhängigem Geist und seinem Selbstbebaut immer wieder Wunderge- wusstsein. Und es beweist, dass er nicht schichten in seinen Text ein, de- im Auftrag des Kaisers schrieb. In wesren Wahrheitsgehalt er nicht sen dann? In seinem eigenen. Mit seiner infrage stellt. Im Gegenteil. Chronik verfolgte er zwei Ziele. Einmal An ihnen zu zweifeln, hieße wollte er damit die Geschichte seines 981 blind zu sein für das Ein- für seinen Begriff widerrechtlich aufgelösgreifen Gottes. Ein Stern ten und 1004 restaurierten Bistums wievon noch nie gesehener dergeben, um daraus die alten Rechte Helligkeit, sich seltsam und Grenzen seiner nun verstümmelten verhaltende Wölfe, Erd- Diözese abzuleiten. beben und sonstige ErZum zweiten wollte er sich mit seischütterungen – das nem Buch unvergessen machen. Wobei alles interpretiert er nicht nach Ruhm im Sinne der PopThietmar als göttli- kultur aus war. Er schrieb seine Chronik che Zeichen. aus Sorge vor dem, was nach dem Tod Gestorben ist er auf ihn wartet, und aus Angst vor ewivor 1000 Jahren am ger Verdammnis. Seine Amtsbrüder und 1. Dezember 1018 Nachfolger sollten sich durch die Chroetwa im Alter von nik an ihn erinnern und nicht aufhören, 43 Jahren. Bis zu- für sein Seelenheil zu beten. So wie er letzt dürfte er an sei- das seinerseits für andere Kleriker tat. ner Chronik gearbeitet Vornehmlich für solche, die seinem haben. Wobei er Hilfe Stand entsprachen. Thietmar war kein hatte. In seiner in Dresden Volksbischof, kein Prediger, der wie Luaufbewahrten Originalhand- ther die Menschen mit seinen Worten ins schrift sind neben Thietmar Herz zu treffen beabsichtigte. Er war und acht Schreiber nachgewie- blieb elitär. Seine Familie gehörte zu den sen, die den Text aufmalten, einflussreichsten des sächsischen Adels. als wäre er gedruckt. Trotzdem Wobei mit Sachsen nicht das heutige Bunkonnten Schriftexperten die unterschied- desland gemeint ist, sondern die Kernrelichen Handschriften gion dieses zwischen unterscheiden. Von Elbe und Nordsee sieDie 1000 Jahre alte Thietmar stammen delnden Stammes, Originalhandschrift die Korrekturen am der sich einst am entschlossensten der Rand und kleinere beweist, dass er acht Textpassagen. Dass Missionierung Karls Schreibern diktierte wir auch noch nach des Großen wider1000 Jahren seine setzt hatte. Erst in Handschrift kennen, ist etwas sehr Be- späterer Zeit wanderte der Name dieses sonderes. Von den Verfassern der Urkun- Herzogtums infolge dynastischer Verquiden und Annalen aus dieser Zeit sind ckungen die Elbe aufwärts und blieb an uns in der Regel nicht einmal die Na- der Mark Meißen kleben. men bekannt. Der Stammsitz von Thietmars Familie So bleibt auch im Dunkeln, wer die war Walbeck, das westlich von MagdeSekretäre waren, denen Thietmar den burg, ganz in der Nähe der ehemaligen innerdeutschen Grenze liegt. Die Grafen von Walbeck sind im 10. Jahrhundert imGrübelnder Bischof: So hat Ulmer wieder in der engsten Umgebung rich Janku den Chronisten Thietder sächsisch-fränkischen Könige und mar für das Merseburger DomKaiser zu finden. Sie beteiligten sich unstift zeitgenössisch interpretiert. ter anderem 928/29 am Slawenfeldzug Foto: dpa/Hendrik Schmidt König Heinrichs. Thietmar berichtet, dass einer seiner Vorväter damals vor Lenzen an der Elbe fiel. Die Walbecker waren


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DEZEMBER 2018 auch an Verschwörungen gegen Otto I. beteiligt. Zweitweise dienten sie als Markgrafen der Nordmark, zu der die Gebiete zwischen Elbe und Oder gehörten. Thietmar, 975 oder 976 geboren, erhielt eine der besten und gründlichsten Ausbildungen, die seinerzeit möglich waren. Zunächst unterwies ihn eine kränkelnde Großtante im Reichsstift Quedlingburg, wo er bereits das Schreiben lernte, das damals nur eine winzige Elite beherrschte. Dann setzte er seinen Unterricht im Kloster Berge bei Magdeburg fort und kam schließlich an die Magdeburger Kathedralschule, die zu den besten Bildungseinrichtungen des Reiches zählte. Bereits mit 14 oder 15 wurde er Domherr in Magdeburg, war also eine Art Kirchenbeamter, stand als Probst dem gräflichen Familienstift in Walbeck vor und wurde 1004 vom Magdeburger Erzbischof Tagino zum Priester geweiht, der Thietmar fünf Jahre später auch auf den Bischofsstuhl von Merseburg lancierte. Es war kein Amt von besonderem politischen Gewicht. Dass Thietmar irgendwie auf die Reichspolitik eingewirkt hätte, lässt sich nicht nachweisen. Er gehörte auch nicht zum Tross, der mit dem Kaiser nach Italien zog. Und doch finden wir ihn immer wieder in der Nähe des Kaisers, der sehr oft in Merseburg weilt. Das Bistum mag uns in der Rückschau klein, ärmlich und bedeutungslos erscheinen, aber als Tor nach Osten, als Aufmarschbasis für die Slawenmission und die Kriege mal mit, mal gegen Polen war Merseburg für den Kaiser nicht unwichtig. Im Bistum selbst lebten nach Einschätzung heutiger Historiker damals vor allem missionierte Slawen. So heißt es auch in dem vorzüglichen Sammelband „Thietmars Welt“, der zum 1000. Todestag des Bischofs erschienen ist. Über seine slawischen Untertanen schreibt Thietmar, sie würden zwar Christus anerkennen, daheim aber weiter zu ihren Hausgöttern beten. Wahrscheinlich beherrschte Thietmar die slawische Sprache seiner Untertanen, wobei sein Kontakt zu den Slawen und Altsorben wahrscheinlich auf deren Oberschicht begrenzt blieb. In seiner Chronik widmet er sich nur diesen Kreisen näher, denen er ohne Vorbehalte begegnet. So despektierlich wie der Chronist Widukind von Corvey zuweilen über die Slawen schrieb, äußerte sich Thietmar nicht.

Literarische Spuren: Das Merseburger Sakramentar mit der kunstvollen T-Initiale ist von Thietmar vor gut 1000 Jahren benutzt worden. Er hat in der wertvollen Handschrift seine Randnotizen hinterlassen. Fotos (2): dpa/Hendrik Schmidt Was Thietmar an den Slawen störte, war nicht ihre Ethnie, sondern ihr Unglaube. Und er zeigte sogar Verständnis dafür, dass sie 983 zu den Waffen griffen und sich in einigen östlichen Marken gegen die deutsche Oberhoheit erhoben. Denn sie seien bedrückt gewesen „durch die Überheblichkeit“ des sächsischen Herzogs Dietrich. Thietmar schildert, wie die Slawen in Havelberg und Brandenburg an der Havel die Bischofssitze stürmten, die Priester umbrachten, die Kostbarkeiten der Kirchen raubten und wie diese „habgierigen Hunde“ selbst die Leiche des im reichen Ornat bestatteten Bischofs Didlo plünderten. Thietmar vergisst allerdings auch nicht zu erwähnen, dass besagter Didlo drei Jahre zuvor „von den Seinen“ erdrosselt worden war. Die Kirche selbst war in seinen Augen nicht frei von Missständen und an dem

983 über sie hereinbrechenden Desaster mit schuld. Thietmar stilisiert diesen Aufstand in seiner Chronik zu einem Gottesgericht, das als Strafe auf die Zerstörung des Bistums Merseburg folgte, die eingangs erwähnter Giseler zusammen mit Herzog Dietrich nach Thietmars Ansicht aus reiner Habsucht betrieben hatten. Die reichsrechtlichen Hintergründe dieser Aufhebung blendet Thietmar aus. Natürlich ist er kein objektiver Erzähler, sondern gerade in den Dingen, die sein Bistum betreffen, immer parteiisch. Er schreckte auch nicht davor zurück, Fakten umzubiegen und Urkunden zu fälschen. Wobei er sich da ganz auf der Höhe seiner Zeit befindet. Urkunden zu manipulieren und zu erfinden, war damals ein übliches Mittel, um beanspruchte Rechte geltend zu machen. Was Thietmar allerdings von seinen Zeitgenossen unterscheidet, ist das Unrechtsbewusstsein, das bei ihm einsetzt. Sich Kirchenämter zu erkaufen, war damals so üblich wie das Frisieren von Urkunden. Auch Thietmar bezeugt in seiner Chronik, dass er seinem Onkel mit einem Grundstücksdeal entgegenkam, um Probst der Familienstiftung zu werden. Thietmar hat das in seiner Chronik allerdings selbst als einen Fall von Simonie, als unlauteren Ämterkauf, publik gemacht. In seinem Buch geht er überhaupt sehr auffällig mit seiner Sündhaftigkeit in die Öffentlichkeit. Für die Nachwelt sind diese verbalen Selbstkasteiungen ein Glücksfall, denn sie zeichnen ein Bild Thietmars aus einer Zeit, in der uns von keinem Kaiser und keinem Bischof ein reales Porträt überliefert Immer wieder umgebaut: Der Merseburger Dom mit der imposanten Ladegast-Orgel, dessen Grund- ist. Berühmt ist die Stelle, in stein Thietmar 1015 selbst legte. der er zunächst die treffli-

chen Männer lobt, denen er in Magdeburg begegnen durfte, deren „löblichen Lebenswandel“ er aber nicht pflichtschuldig nachgeeifert sei. Er dagegen sei ein „Elender ohne jedes Verdienst“ und „in meinen Sünden schon fast tot“. Zum Wollen fehle ihm das Vollbringen, und im Büßen sei er auch kein Meister. Dann kommt es: „Nun sieh dir doch den vornehmen Herrn an, lieber Leser! Da siehst du in mir ein kleines Männlein, die linke Wange und Seite entstellt, weil hier einmal eine immer noch anschwellende Fistel aufgebrochen ist. Meine in der Kindheit gebrochene Nase gibt mir ein lächerliches Aussehen. Doch über das alles würde ich gar nicht klagen, hätte ich innere Vorzüge. Aber ich bin nichtswürdig, sehr jähzornig, unlenksam zum Guten, habsüchtig, spottlustig trotz meiner Lächerlichkeit… Ich bin ein Schlemmer und Heuchler, ein Geizhals und ein Verläumder … Ich bin schlimmer, als man sagen oder glauben mag.“ Wie intensiv diese Selbstkritik seine Nachfolger für die Rettung seiner Seele beten ließ, wissen wir nicht. Literarisch unsterblich gemacht hat sich Thietmar jedenfalls mit seiner Chronik. Auch wenn sie stilistisch keine Glanzleistung ist, so wie er politische Ereignisse, persönliche Erlebnisse, Kommentierungen, Träume, Wunderdinge und Todesfälle zu einem Text zusammenpresst. Da retten auch die Versuche wenig, diese Stopfwurst mit Versen zu verzieren. Andererseits kommt man dem Mittelalter in kaum einer zeitgenössischen Quelle so nahe wie mit Thietmars Chronik. Uwe Stiehler „Thietmars Welt: Ein Merseburger Bischof schreibt Geschichte“, hrsg. v. Markus Cottin, Lisa Merkel u.a., Michael Imhof Verlag, 528 S., 69 Euro


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Das Genie findet seinen Meister: Emanuel Lasker (r.) wurde nach 27 Jahren als Weltmeister vom Kubaner José Raoul Capablanca mattgesetzt.

Foto: dpa

König des Schachs

Der 1868 geborene Emanuel Lasker war 27 Jahre Weltmeister. So lange wie kein anderer. Als Landwirt in Thyrow hatte er weniger Erfolg Mit 23 Jahren fordert Emanuel Lasker den Nürnberger Arzt Siegbert Tarrasch heraus, der 1892 als heißer Anwärter auf den Titel des Schachweltmeisters gilt. Der lehnt damals noch mit den verächtlichen Worten ab, sein junger Landsmann solle erst mal ein „bedeutendes Turnier“ gewinnen. 1908 kommt es endlich zum Duell der beiden. Gespielt wird in Düsseldorf und in München. Lasker geht nach fünf Partien mit 4:1 in Führung und erteilt seinem Kontrahenten eine klatschende Ohrfeige. Am Ende steht es 8:3 für Emanuel Lasker. Tarrasch soll so sauer gewesen sein, dass er außer „Schach und Matt“ kein Wort mehr mit seinem Gegner wechselte. Schachkennern ist dieser Emanuel Lasker ein Begriff. Er ist nicht nur der einzige deutsche Weltmeister, er hatte diesen Titel auch sage und schreibe 27 Jahre inne. So lange wie kein anderer. Die von ihm geschriebenen Bücher „Gesunder Menschenverstand im Schach“ (1895) und sein „Lehrbuch des Schachspiels“ (1925) sind bis heute Standardwerke. Damit nicht genug. Veröffentlichte er doch auch philosophische Bücher wie „Kampf“ (1909), „Das Begreifen der Welt“ (1913) sowie einen Band mit dem abgehackten Titel „Die Philosophie des Unvollendbar“ (1919). Zusammen mit seinem Bruder Berthold, der neun Jahre mit der Dichterin Else Lasker-Schüler verheiratet war, brachte er noch ein Theaterstück heraus, das Drama „Vom Menschen die Geschichte“ (1925). Ein echter Tausendsassa muss dieser Emanuel Lasker gewesen sein. Auf die Welt kam er vor 150 Jahren, am Heiligen Abend 1868, im pommerschen

Berlinchen (heute Barlinek in Polen) als Folge. Am Ende steht es 10:5. Nach dem Sohn eines jüdischen Kantors. Schon letzten Spiel erhebt sich Wilhelm Steinitz als Fünfjähriger verblüfft Emanuel sei- mit den Worten: „Dreimal Hurra für den nen Mathematiklehrer, wie Martin Breu- neuen Weltmeister!“ Von 1894 bis 1921 kann Lasker seinen tigam in seinem Buch „Genies in Schwarzweiß“ (Verlag Die Werkstatt, 208 Seiten, Titel verteidigen. Ein Rekord für die Ewig14,90 Euro) berichtet. Deswegen schickt keit. Da es noch keinen Weltverband gibt, der Vater seinen Sohn mit elf Jahren nach sind Herausforderer darauf angewiesen, Berlin, wo schon sein älterer Bruder Me- dass der Weltmeister sich ihnen stellt. dizin studiert. Der bringt ihm mit zwölf Zunächst gewinnt Lasker 1896 in Mosdas Schachspielen bei. Was zur Folge kau die Revanche gegen Steinitz klar mit hat, dass Emanuel bald nicht mehr zur 10:2. Danach macht er erst einmal eine Schule geht und sich nur noch dem Kö- Wettkampfpause, um Mathematik zu stunigsspiel widmet. Bis dieren. Im Jahre 1900 spätabends spielt er promoviert er, hält Von 1894 bis 1921 kann in den Tee- und SpielVorlesungen in Enger seinen Titel salons der Stadt und land und den USA. Sein großer Wunsch verdient sich so seiverteidigen – ein Rekord nen Lebensunterhalt. aber, zum Professor für die Ewigkeit Das gefällt dem Vater berufen zu werden, gar nicht, weshalb er wird sich nie erfülden Sohn zurückholt und in Landsberg len. Auch nicht, nachdem er 1905 „Zur an der Warthe aufs Gymnasium schickt. Theorie der Moduln und Ideale“ veröfDort macht Emanuel mit 19 sein Abitur. fentlicht hat. Ein Jahr später wird er Meister des DeutAlso widmet er sich wieder dem Schach, schen Schachbundes. schlägt nacheinander die Herausforderer Nun ist er nicht mehr zu halten. Er zieht Frank Marshall (1907), Siegbert Tarrasch nach London, weil es sich als Schachspie- (1908) und David Janowski (1910). Legenler dort besser leben lässt, bekommt bald där ist sein WM-Kampf 1910 gegen den Einladungen zu Turnieren nach New York Wiener Carl Schlechter. Der führt schon und Havanna. Eigentlich will er ja Mathe- 5:4. Im letzten Moment gewinnt Lasker matiker oder Philosoph werden. „Nicht die letzte Partie und holt das Remis, das aus Leidenschaft kam er zum Schach, zur Titelverteidigung reicht. sondern aus Not“, schreibt sein Biograf 1911 heiratet Lasker die SchriftstelleJaques Hannak später. rin Martha Bamberger und kehrt nach 1893 fordert Lasker den Weltmeister Deutschland zurück. Er wird MitgrünWilhelm Steinitz heraus. Im Frühjahr der des Internationalen Schachbundes 1894 kommt es zu Duellen in New York, und gründet einen Fond für in Not gePhiladelphia und Montreal. Nachdem es ratene Schachmeister. Zeitlebens hat er 3:3 steht, gewinnt Lasker fünf Partien in Angst, im Alter an Armut zu leiden wie

Wilhelm Steinitz, der vor ihm Weltmeister war. Deswegen fordert Lasker immer wieder hohe Startgelder. Der legendäre Pole Akiba Rubinstein hat nie genug Geld, um ihn zu fordern und wird darüber verrückt. 1920 kommt aus demselben Grund ein WM-Kampf gegen den Kubaner José Raoul Capablanca nicht zustande. Lasker will schon freiwillig auf seinen Weltmeistertitel verzichten, als sich doch noch Sponsoren finden und die geforderten 11 000 Dollar aufbringen. Der Showdown steigt auf Kuba. Nach vier verlorenen Partien und zehn Remis gibt Lasker auf. Die tropischen Temperaturen setzen dem 20 Jahre älteren Deutschen zu. Lasker zieht sich zurück in seine Wohnung in der Aschaffenburger Straße in Berlin-Wilmersdorf und in sein Sommerhaus in Thyrow bei Trebbin (Teltow-Fläming). Zeitweise versucht er sich dort als Bauer. Jedoch mit mäßigem Erfolg. Also widmet er sich der Philosophie und dem Go-Spiel. Auch Bridge und Poker spielt er. Und er erfindet mit „Lasca“ sogar ein eigenes Strategiespiel. Als die Nazis an die Macht kommen, muss er als Jude das Land verlassen. Er flieht über England zunächst nach Russland, wo er wieder Turniere spielt, um sich über Wasser zu halten. In Moskau landet er mit schon 66 Jahren einen späten Achtungserfolg und wird Dritter – immerhin vor seinem Kontrahenten Capablanca. 1938 schließlich flieht er nach New York, wo er am 11. Januar 1941 – wie befürchtet – in ärmlichen Verhältnissen stirbt. Die letzten Worte Laskers zu seiner Frau Martha sollen gewesen sein: „König des Schachs“. Welf Grombacher


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Schnelle Autos, deutsche Helden Die Berlinische Galerie entdeckt den Fotografen Heinz von Perckhammer wieder Es sieht so aus, als würde der Scharfrich- die Munition ausgegangen ist. Die Mänter den Todeskandidaten mit dem Pisto- ner kommen in japanische Kriegsgefanlenlauf am Hinterkopf kitzeln. Nein, das genschaft. In dieser Zeit beginnt Perckist kein Spaß. Das Foto soll den „letz- hammer zu fotografieren. Erst 1920 wird ten Augenblick“ zeigen. Eine Hinrichtung er entlassen, bleibt in China und arbeitet in China, aufgenommen von Heinz von in leitender Funktion bei der Kodak-NiePerckhammer. Er hat das Lächeln chine- derlassung in Tiensin. Er unternimmt aussischer Henker und den Oberkomman- gedehnte Reisen und fotografiert – zum dierenden der chinesischen Exekutions- Teil im Auftrag der Regierung – Land und abteilung in protziger Pose fotografiert, Leute: die Große Mauer, kaum bekleidete aufgenommen aus der Froschperspek- Bauern am Lagerfeuer, Kinder, Garköche. tive. Diese extreme Untersicht soll das Es sind zeitlose Aufnahmen eines FotoMonströse und Übermächtige dieses grafen, dem es gelingt, Momente einzuGebieters über Leben und Tod betonen. fangen, in denen sich die Menschen unWahrscheinlich ist damals kein westli- beobachtet fühlen und ganz bei sich sind. cher Bildreporter den chinesischen HenWarum er China 1927 verlässt, bleibt kern so nahe gekommen wie Heinz von im Dunkeln wie so vieles in seiner BioPerckhammer. grafie. Vielleicht flieht Er ist wohl auch der Er kommt chinesischen er vor dem beginnenerste Fotograf, der die den Bürgerkrieg, der Nacktheit chinesischer Henkern so nahe erst 1949 endet. Über Sibirien kehrt nach EuFrauen inszeniert. Mit wie kein anderer ihm habe die Aktfotogra- westlicher Reporter ropa und Meran zurück, wo er Herta Willamowfie in China begonnen, ski heiratet. Über sie ist sagt Kathrin Schönegg. Niemand ist über Perckhammer besser nicht viel mehr bekannt, als dass sie aus im Bilde als sie. Im Rahmen des Tho- Ostpreußen stammt. Perckhammer zieht nun in die wichmas Friedrich-Stipendiums für Fotografieforschung hat sie das Perckham- tigste Zeitungsstadt des deutschsprachrimer-Konvolut der Berlinischen Galerie gen Raumes: nach Berlin. Seine in China Rasant modern: Wie bei diesem Foto rückte Heinz von Perckhammer gern seinen SportFotos: Berlin Museum/Berlinische Galerie wissenschaftlich aufgearbeitet, die Perck- aufgenommenen Aktfotos und Serien wagen mit ins Bild. hammer-Schau kuratiert, die das Haus über das Leben in dem riesigen Reich der zurzeit zeigt, und ihre Forschungsergeb- Mitte öffnen ihm die Türen zu Verlagen möchte Kathrin Schönegg ihn trotzdem ner Ghetto lachende Männer und Frauen mit Augen voller Angst. Eines der Bilder nisse in einem mit Perckhammers Aufnah- und Agenturen. Er ist gut im Geschäft, wie nicht zählen. Für sie ist etwas anders an Perckham- sowjetischer Gefangener schafft es, vom men reich bebilderten Band veröffentlicht. seine Teilnahme an der Zepplin-Weltreise So viel Aufmerksamkeit haben Leben beweist. Sein Aufnahmen bekommen et- mer bemerkenswert: wie es ihm gelingt, Quer- ins Hochformat gepresst, auf eine und Werk des lange in Berlin arbeitenden was Avantgardistisches. Er sucht die Dia- nach der Gleichschaltung der Presse im Titelseite. Unter dem Bild steht, das sei Fotografen seit Jahrzehnten nicht mehr gonale, inszeniert Schaufensterpuppen NS-Staat oben zu bleiben. Nun arbeitet er das Gesicht des Feindes, der mehr Beserfahren. Er ist ein Vergessener, dabei zu surrealen Gruppenbildern und spielt den Leitthemen der Propaganda zu. Zum tie als Mensch sei. Hat Perckhammer gegehört er in der Weimarer Republik und mit Schattenwürfen auf nackter Haut. Beispiel wenn es um die neuen Autobah- wusst, wozu seine Bilder benutzt werden? im NS-Deutschland zu den etabliertes- Er experimentiert mit den Stilmitteln der nen geht. Perckhammer, der eine Vorliebe Wollte er Propaganda oder nur dokumenten Fotografen. Seine Aufnahmen wer- Moderne, zur Avantgarde der Fotografie für schnelle Autos hat und seinen Sport- tieren? Hatte er diese Menschen aus Mitwagen gern mit ins Bild rückt, foto- gefühl fotografiert oder um sie zu diffaden dutzendweise auf Titelseiten grafiert deren Bau als Heldenarbeit. mieren? Diese Fragen lassen sich nicht und als Bildserien veröffentlicht. Als einziger Fotograf darf er 1929 Er porträtiert sogar Reichspropa- mehr beantworten, denn Perckhammer gandaminister Joseph Goebbels sehr hat so gut wie keine Aufzeichnungen und die Weltumrundung des Luftschiffs Graf Zeppelin LZ 127 begleiten. Eiprivat, wie er an der Ostseeküste mit Selbstauskünfte hinterlassen. Außerdem nige der dabei entstanden Aufnahseiner Tochter spielt und im Strand- haben Fotografen wie er ihre Bilder an korb in lässiger Hollywood-Pose Zei- Pools verkauft, aus denen sich die Vermen zeigt Kathrin Schönegg sowohl in der Ausstellung als auch in ihtung liest. Wie nah steht Perckham- lage bedient haben. Hat er bis zum Kriegsmer den Nazis? Er taucht in keiner ende dabei mitgespielt oder sich doch rem Buch. Sie weisen PerckhamLister der Partei und der Reichspres- irgendwann verweigert? Nach 1942 vermer als einen Fotografen aus, dem sefotografen auf. War er distanziert? liert sich seine Spur jedenfalls für einige das Künstlerische, der ungewöhnliche Blick, das besondere Licht und Eher involviert und sehr gut vernetzt, Jahre. Nach dem Krieg taucht er wieder das Spiel mit grafischen Elemenmeint Kathrin Schönegg. Sie verweist in Meran auf, eröffnet dort ein Fotoatedarauf, dass Hitler selbst die Porno- lier und verkauft Postkarten. Am 3. Deten mehr reizen als reine Reportagefotos. grafie-Anklage gegen Perckhammer zember 1965 stirbt Heinz von PerckhamZu Hause ist Perckhammer in niederschlägt, dass Perckhammer völ- mer an einem Herzinfarkt. Uwe Stieher Südtirol. 1895 wird er in Meran gekische Botschaften wie die vom glückboren, das damals noch zu Österlichen Landleben visualisiert und mit Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124– reich gehört. Sein Vater Hildebrandt seinen kunstvoll inszenierten und mit 128, Berlin, Mi–Mo 10–18 Uhr, Tel. 030 von Perckhammer betreibt dort ein starken Kontrasten aufgeladenen Auf- 78902600 Fotoatelier. Er stirbt, als Heinz 16 nahmen von Geschützen und Soldaist. Zwei Jahre später, 1913, heuten den Krieg zum Kunstwerk stilisiert Kathrin Schönegg: ert der Sohn als Steuermatrose auf oder ihn als Abenteuer verharmlost. „Heinz von Perckdem Kreuzer „SMS Kaiserin ElisaGroßformatig werden diese Fotos in hammer. Eine FoZeitschriften abgedruckt. beth“ an, mit dem er nach Ostasien tografenkarriere Seit Kriegsbeginn reist Perckhamdampft. Als der Erste Weltkrieg auszwischen Weimarer mer als Kriegsberichterstatter durch Republik und Natibricht, liegt das Schiff vor der Küste Europa und bis nach Lappland und Chinas und ist in kleinere Scharmütonalsozialismus“, zel verstrickt. Im November 1914 Russland. Er fotografiert das Lehrsg. v. Berlinische Galerie, 80 S., wird es von der eigenen Mannschaft Überhöhte Schaufelei: So verherrlichte Heinz von ben hinter der Front, auch russische Kriegsgefangene und im Lubli24,50 Euro vor Tsingtau versenkt, nachdem ihr Perckhammer 1937 den Autobahnbau.


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BRANDENBURGER BLÄT

Müllgrubenkunst attackiert

Die Berlinische Galerie erzählt mit einer großen Ausstellung die Geschichte der Novembergruppe, zu der Künstler w

Was den Künstler vom Rest der anderen Herren stehen in aufgeMenschheit unterscheidet? Viel- räumter Pose drumherum, und leicht ist es die Gabe der Prä- die einzige Dame in der Runde, destination. Ein Beispiel: 1925 Emy Roeder, schaut als lachende malte die hochbegabte, stets aus Büste aus Kiste Nummer zwei in den Sujets ausbrechende Han- die Kamera. nah Höch ein Bild, auf dem sie Zu sehen ist dieses Foto nun sechs Herren versammelte. Der auch in einer großen Schau, mit eine hat ein riesiges Ohr, einen der die Berlinische Galerie die gewaltigen Riecher und dazwi- kurze Geschichte und die Werke schen ein monströses Auge. Und der Novembergruppe reflektiert. auch die anderen fünf sehen ver- Das ist insofern ein komplizierschroben aus. Einer von ihnen tes Unterfangen, weil es so viele könnte mit seinen extraterrestri- und so unterschiedliche Künstschen Glubschaugen aus einem ler in diesem Bund gab, die sich Stars-Wars-Film entflohen sein. an den unterschiedlichsten Stilen Die anderen sind mit ihren ver- und Techniken versuchten. Exschobenen Gesichtern, ihren un- pressive Malerei gehört dazu, Abgleichen Augen und ihrem kal- straktes und Konstruktivistisches, ten Lachen Zombies ähnlicher als figürliche und ungegenständliche Menschen. „Journalisten“ hat die Bildhauerei, gewagte architektoMalerin dieses Bild genannt. Sie nische Entwürfe, der experimenzweifelt mit ihm an der Lauterkeit telle Film, ja sogar die Dadaisten der Schreiber. Was soll man ange- haben in die Novembergruppe sichts des Erdhineingewirkt. bebens sagen, Diese VielAuch Dadaisten und das gerade von gesichtigkeit experimentelle der renommierzeigt die Austen „Spiegel“stellung sehr Filmemacher Redaktion ausschön. Noch schlossen sich an gehend die ausführlicher deutsche Presist sie in dem selandschaft erschüttert? Han- hervorragenden, zu dieser Schau nah Höchs vor 90 Jahren fixierte erschienenen Katalog beschrieZweifel an den Journalisten las- ben. Noch nie wurde die Gesen sich, leider, bis heute nicht schichte der Novembergruppe so aus der Welt räumen. facettenreich aufgearbeitet, wie Gezeigt hat Hannah Höch die- in diesem großformatigen Band. ses Bild 1925 bei einer AusstelKann man aber angesichts lung der Novembergruppe bei der dort wiedergegebenen Vielder Berliner Secession. Die No- falt überhaupt von einer Gruppe vembergruppe war ein mal en- sprechen? Unbedingt, sie hat sich gerer mal loserer Zusammen- ja selbst so empfunden und deschluss von Künstlern, die die finiert. Den Namen „Novemberneue Zeit nach dem Ende des gruppe“ hatte sich das Brückedeutschen Kaiserreichs durch Mitglied Max Pechstein angeblich ihre Arbeit mitzugestalten und zu während der Revolutionswirren beeinflussen versuchten. Wobei ausgedacht. Sein Kollege Heinman sich uneins war: Sollte die rich Richter-Berlin erinnerte sich Kunst nun radikal politisch sein oder sich radikal aus der Politik heraushalten, um maximale Freiheiten für sich zu beanspruchen? Was die Künstler dann doch zusammenfinden ließ, war das Gefühl, der neuen Zeit einen neuen Ausdruck geben zu müssen, war die Lust am Experiment, das Gefühl, gemeinsam die Avantgarde beflügeln zu können, die Aussicht auf bessere Vermarktung und größere Präsenz – und eine gewisse Verspieltheit. Bei einer ihrer ersten großen Ausstellungen ließen sich die Novembristen so fotografieren: Cäsar Klein dirigiert mit einer Art Bleistift, Wilhelm Schmidt schaut hockend aus einer Kiste und tut so, als wäre sein Spazierstock Schule des Neuen Sehens: Arthur Segal hat ein Geigenbogen. Die rahmen ausgedehnt.

Kämpfer für die neue Freiheit des Ausdrucks: Bei der Großen Berliner Kunstausstellung 1920 versammelt bergruppenbild César Klein (v.l. stehend), N.N., Rudolf Belling, Heinrich Richter-Berlin, N.N., Heinz Fuchs, M sitzend), N.N., Emy Roeder, und Herbert Garbe. Foto: Stiftung St an diese Zeit so: „Als die Revolution ein paar Tage alt war, versammelten sich immer viele Leute mittags auf dem Potsdamer Platz, um Neues zu hören. Beim Überschreiten des Platzes traf ich auf Max Pechstein. Er hatte ei-

nen Plan. Er glaubte, man solle neu anfangen. Ich solle meine Leute zusammenbringen, und er würde die Brücke bringen. Er hatte auch schon einen Namen: Novembergruppe.“ Während die beiden so miteinander sprachen, brauste ein Lastwagen heran, voll beladen mit Matrosen und Gewehren. Die Matrosen riefen: „Bürger, Genossen, bewaffnet euch, leistet Widerstand!“ Die Potsdamer Garnison sei im Anmarsch, um die Revolution zu zerschlagen. Noch einmal Heinrich Richter-Berlin: „Zehn Meter weiter von uns entfernt hatten der Bildhauer Leschnitzer und der Grafiker Leni gestanden. Als ich mich umsah, verschwanden sie in die Untergrundbahn. Max Pechstein hielt es für besser, das Gleiche zu tun. Ich war ganz seiner Meinung. So sah die Geburtsstunde der Novembergruppe aus.“ Ihre Mitglieder, so bestätigt es diese sein „Helgoland“ (1923) bis über den Bild- Anekdote, sahen sich Foto: Berlinische Galerie/Kai-Annett Becker als Kunstschaffende,

die nicht daran dachten, Seite an Seite mit revolutionären Arbeiten, Soldaten und Matrosen die Gewehre zu schulterten. Ihr Kampflatz war nicht die Straße, sondern die Kunst. Mit deren Mitteln wollten sie den gesellschaftlichen Umbruch begleiten – und mitgestalten. Sie waren überzeugt, dem neuen Staat und seiner Gesellschaft durch ihre Arbeit wichtige Impulse geben zu können, ohne sich an Schießereien zu beteiligen. Der Name der Gruppe, der an den Monat erinnert, an dem 1918 die Revolution ausbrach, war – ein bisschen gemogelt. Was keinesfalls heißt, in der Novembergruppe hätten sich nur unpolitische Geister getummelt. Vielen ging es so wie Pechstein. Die Kriegserfahrung hatte sie politisiert und mitunter radikalisiert. George Grosz zum Beipsiel sympathisierte offen mit den Kommunisten. Er ist in der Berliner Ausstellung mit seinem Bild „Stützen der Gesellschaft“ (1926) prominent vertreten. Da versammelte er das ganze konservative Personal, das seine Legitimation 1918 selbst verspielt hatte: die rechte Presse, Männer, die nur Kriegsgerassel, Nationalismus und dampfende Scheiße im Hirn haben, eiskalt grinsende Pastoren, das


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die Stützen der Gesellschaft

wie Max Pechstein, Otto Dix und Hannah Höch gehörten – und weltbekannte Architekten wie Mies van der Rohe

ten sich für dieses lockere NovemMoriz Melzer; Wilhelm Schmid (v.l.

tadtmuseum Berlin/bpk/Nationalgalerie/SMB

Militär, an dessen Säbeln das Blut klebt. Dass es im Hintergrund brennt und lodert, sieht keiner von ihnen. Und keiner kommt und löscht. Grosz reagierte mit diesem Bild auf die vergiftete Atmosphäre der Weimarer Republik und auf eine Gesellschaft, die der Hass blind macht und zerfleischt. In seiner Autobiografie schrieb er dazu: „Überall erschollen Hassgesänge. Alle wurden gehasst: die Junker, die Kommunisten, das Militär, die Hausbesitzer, die Schwarze Reichswehr, die Kontrollkommissionen, die Politiker, die Warenhäuser und nochmals die Juden. Es war eine Orgie der Verhetzung. Und die Regierung war schwach, kaum wahrnehmbar.“ Also musste die Kunst die Stimme erheben. Zu denen, die meinten, sie solle es laut tun und „tendenziös“ sein, gehörte der Maler Georg Scholz. Auch ihn hatte die Kriegszeit radikalisiert und den Kommunisten in die Arme getrieben. Auf der Ersten Internationalen Dada-Messe in Berlin zeigte er sein heute verschollenes Werk „Hindenburgsülze“. Dessen Titel schon sagt, wogegen es politisch zielt. Im Frühjahr 1921 legte er mit dem Bild „Industriebauern“ nach, das er bei der Großen Berliner Kunstausstellung

einreichte, bei der die Novembergruppe mit vielen Werken vertreten war. Ihre expressiven, ins Abstrakte hinübergleitenden Arbeiten, ihre Respektlosigkeit, mit der sie sich von der reinen Schönheit der Kunst abwandte, und die Frechheit, die sie besaß, gefielen vielen nicht. Der Journalist Otto Koester beschrieb die Werke der Novembergruppe als „Müllgrubenkunst“ und griff das Kulturministerium aufs Schärfste an, weil es „solche Groteske von einzigartiger Lächerlichkeit“ auch noch mit staatlichen Geldern gefördert habe. An dieser Lächerlichkeit allerdings verschluckte sich die konservative Öffentlichkeit, als sie vor Scholz’ „Industriebauern“ stand. Der Maler hatte der Novembergruppe schon vor der Ausstellung mitgeteilt, er verspreche sich von diesem Bild „einige Wirkung auf das Publikum“ und lag damit sehr richtig. Schon beim Eröffnungsrundgang mit Reichspräsident Friedrich Ebert versetzte dieses Bild die konservativen Gemüter in große Aufregung. Einige rechte Abgeordnete waren so empört, dass sie die Ausstellung verließen. Denn Scholz hatte die Bauern nicht als bescheidenes, die Scholle bieder beackerndes Häuflein gemalt, sondern als bigotte Familie von schmatzender Raffgier. Dem Vater wuchern echte Aktienscheine aus dem Schädel – die Collagetechnik hatte sich Scholz von den Dadaisten abgeschaut. In dümmlicher Wurstigkeit sitzt seine Frau daneben und presst ihre dicken Finger um ein Ferkel, während der Sohn nur Kunststroh im Schädel hat. Da ist nichts mehr übrig von dem in Eintracht mit der Natur lebenden Landmann, hier geht es um Bereicherung, um blinde Industrieanbetung, um Land- und Tierausbeutung. Fast 100 Jahre ist dieses Bild alt und wirkt wie den heutigen Kritikern der Agrarindustrie zum Munde gemalt. Trotz der Proteste, die dieses Bild auslöste, durfte es in der Schau bleiben, aber Werke von Otto Dix und Rudolf Schlichter musste die Novembergruppe auf Druck der Ausstellungsleitung entfernen. Das wurde zur Zerreißprobe der Vereinigung. Einige ihrer Mitglieder, wie der Dadaist Raoul Hausmann, erklärten ihren Austritt, weil ihnen das Kompromisslerische aufstieß. Auch Scholz wandte sich von der Gruppe ab, kehrte aber schnell wieder zurück, weil er ihre Ausstellungsmöglichkeiten schätzte. Dass sich dieser Bund immer wieder groß präsentieren konnte, hatte er der Regierung der jungen Republik zu verdanken, die die junge Moderne protegierte. Auf der anderen Seite haben sich Künstler der Novembergruppe ge-

rade in den Monaten nach der Revolution von der Übergangsregierung für deren Propaganda einspannen lassen. Sie gestalteten in expressionistischem Stil Plakate, die dazu aufriefen, die Ruhe zu bewahren und besser nicht zu streiken. Wobei hier die aufgeregte Form und der beschwichtigende Inhalt doch weit auseinander lagen. Allerdings gehörten zur Gruppe auch Maler und Bildhauer, die mit ihrem Schaffen weniger die Welt,

Sie gestalteten für die Regierung Plakate, die dazu aufriefen, nicht zu streiken sondern die Kunst retten und sie befreien wollten. Man sieht in der Ausstellung in der Berlinischen Galerie sehr schön, wie wichtig die Novembergruppe für die Etablierung der Moderne in Deutschland war, wie sie den Kunstbegriff und das Sehen erweitert hat und in den 20er-Jahren bereits vorwegnahm, womit Männer wie Gerhard Richter ein halbes Jahrhundert später berühmt wurden. So zeigt die Ausstellung neben dem Verismus von Scholz, Dix und Höch, wie der Bauhäusler

Laszló Moholy-Nagy, wie Fritz Stuckenberger, Otto Freundlich und Paul Klee das rein Abstrakte salonfähig machten. Und nicht zuletzt, auch das beschreibt die Schau, gingen aus der Novembergruppe spektakuläre Ideen, für das Neue Bauen hervor – auch wenn sich die Architekten ab 1927 von der Novembergruppe ab und dem Bauhaus zuwandten, das mit der Gründung seiner Architekturklasse beschäftigt war. In der Schau ist unter anderem ein Modell von Mies van der Rohes schwungvollem Glashochhaus zu sehen – ein um Jahrzehnte vorausgedachter Entwurf. Die Zeitschrift „Bauwelt“ schrieb damals einen hellsichtigen Artikel, wie sehr die neuen Formen und die neue Kunst die Gesellschaft zwingen, sich ihnen zu öffnen und anzupassen, um nicht als „Revolutionär von vorgestern“ zu gelten. Die neuen Formen seien fremd, hieß es da, aber deshalb nicht feindlich. Das Bedürfnis nach zeitgemäßem künstlerischem Ausdruck komme „mit geschichtlicher Notwendigkeit“ und müsse kommen. „Wir werden uns also in die neuen Formen hineinsetzen müssen“. Die Architekten waren nicht die letzten, für die die Novembergruppe die Startbasis für eigene

Wege war. Die Gruppe dünnte so aus, dass sie als Organisation finanziell völlig am Ende war, als Hitler an die Macht kam. Die Nazis wurden nicht müde, die Novembergruppe als Speerspitze des „Kulturbolschewismus“ und deren Mitglieder als „entartet“ zu diffamieren. 1935 wurde sie aus dem Vereinsregister gelöscht. Etliche Novembristen verloren ihre Professuren und öffentlichen Ämter. Einige krochen der NSDAP unter den Rock und versuchten, sich so über die Zeit zu retten. Eine Neugründung der Gruppe scheiterte nach 1945. Der November war längst vorbei, der Optimismus von damals Geschichte. Uwe Stiehler Bis 11. 3. 2019: „Freiheit. Die Kunst der Novembergruppe 1918– 1935, Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, Berlin, Mi– Mo 10–18 Uhr, Tel. 030 78902600; „Novembergruppe. Die Kunst der Freiheit“ (Ausstellungskatalog), hrsg. v. Thomas Köhler, Ralf Burmeister und Janina Nentwig, Prestel, 256 S., 48 Euro

Revolutionäre Ansätze: Während die Architekten Walter Gropius und Adolf Meyer mit ihrem Entwurf des „Tribune Towers“ das Neue Bauen propagierten, schoß George Grosz mit seinen „Stützen der Gesellschaft“ eine Breitseite auf die alten Eliten ab. Fotos: Bauhaus-Archiv Berlin/Nationalgalerie/SMB


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BRANDENBURGER BLÄTTER

Dauergast aus der Südsee Harry Maitey war der erste Hawaiianer, der nach Preußen eingewandert ist

„Der Maitey ist klein und unansehnlich und qualifiziert sich nach meiner Ansicht durchaus nicht zum Hoflakayen. Er scheint ein gutmütiger Mensch zu sein, aber im Übrigen wenig Fähigkeiten zu besitzen …“ Diese wenig freundlichen Zeilen, am 26. Juni 1830 vom Hofmarschall von Maltzahn an König Friedrich Wilhelm III. geschrieben, beziehen sich auf den ersten Hawaiianer in Preußen, Harry (Henry) Maitey. Er war mit dem Vollschiff „Mentor“ nach dessen Weltumsegelung im September 1824 in Swinemünde angekommen, nachdem er in Honolulu den Kapitän gebeten hatte, ihn nach Deutschland mitzunehmen. Maitey sagte, er sei Vollwaise und Verwandte habe er auch keine. Das rührte offenbar das Herz von Christian (von) Rother, dem Präsidenten der Preußischen Seehandlung und späteren Finanzminister. Denn er kümmerte sich persönlich um den Auswanderer. Nachdem er am 22. September 1824 an den König geschrieben und diesen über die Ankunft des Insulaners informiert hatte, nahm Rother ihn in seiner Wohnung in der Nähe des Berliner Gendarmenmarkts auf.

Die „Vossische Zeitung“ berichtete über die „wohlgebildeten Lippen“ des Fremden Vom prominenter Hand gezeichnet: Johann Gottfried Schadow, der Präsident der königlichen Kunstakademie, hatte „Harry von Es dauerte nicht lange, da wurde die den Sandwichinseln“ persönlich um 1825 porträtiert. Foto: SMB/Kupferstichkabinett Öffentlichkeit auf den Exoten aufmerksam. Johann Gottfried Schadow, der DiAls Maitey auch dort im SprachunWegen der mangelnden Deutschkennt- wendung im Bedienungsfach vereitelte rektor der königlichen Kunstakademie, terricht keine sonderlichen Fortschritte nisse scheiterte auch Rothers wiederholtes und Maitey auch eine Eignungsprüfung zeichnete ein Porträt von ihm, die „Vos- machte, verschaffte ihm sein Gönner Bemühen, Maitey bei Hofe unterzubrin- als Kanzleibote nicht bestand, bot ihm sische Zeitung“ widmete dem Mann aus mit Wilhelm von Humboldt einen pro- gen. Daher blieb Rother nichts anderes die im Sommer 1830 erfolgte Zuteilung der Südsee einen ausführlichen Artikel minenten Nachhilfelehrer. Allerdings be- übrig, als seinen Schützling schließlich zum Personal der Pfaueninsel eine Zuund schrieb, dass er zwar nicht zu den fasste sich der Gelehrte weniger damit, 1828 endgültig in die Erziehungsanstalt kunft. Auf der Insel wurde der Hawaiier „Negern“ gehöre, aber ihnen durch seine die Deutschkenntnisse seines Schülers übersiedeln zu lassen. Die Trennung be- dem Maschinenmeister Friedrich unterschwarze Hautfarbe und „etwas platte auf Vordermann zu bringen, als ihn als lastete Maity sehr, betrachtete er sich doch stellt, der ihn zum Drechsler, Schlosser Nase“ ziemlich nahe stünde. Ansonsten Probanden für eigene Zwecke zu benut- als Adoptivsohn Rothers. und Tischler ausbildete und ihn in seinem Dessen Familie allerdings war bald des Haus wohnen ließ. Umsonst war das jebesäße er jedoch „wohlgebildete Lippen“ zen. So gab er eine kleine Schrift über und „glattes, langwachsendes weiches die „Sandwich-Sprache“ heraus und er- Gastes müde. Er badete ihr viel zu oft doch nicht. Friedrich entdeckte nämlich, Haar“. Was dem Autor des Artikels indes wähnte Maitey im Titel derselben, von und zu ausgiebig und sprach noch im- dass sein Lehrling ein geschickter Holzmissfiel, war Maiteys Sangesfreude. So sei Erfolgen eines wie immer gearteten mer kaum Deutsch. Wobei sich die Ro- schnitzer war und soll dessen Miniatuer, wenn er einmal zu singen angefangen Deutschunterrichts aber ist nichts über- thers wohl genauso wenig bemühten, die ren als seine eigenen Werke ausgegeben habe, nur mit guten Worten davon ab- liefert. Sprache ihres Gastes zu lernen. Als Maity und verkauft haben. zubringen und mache mit den dabei angetrunken bei einem Diner vor Mit dem Leben auf der Pfaueninsel ausgeführten Bewegungen den Einden anderen Gästen mit einem Die- beginnt Maiteys letzte Lebensphase. Sie druck, „als ob man einen Irren sah.“ ner aneinandergeriet und die Rothers verhalf dem Entwurzelten immerhin zu So wurde Maitey wahrgenommen: damit blamierte, sah sich der Haus- persönlichem Glück. Denn der Insulaner Der Exot, der auf einer unteren Kulherr zu einer Bestrafung gezwun- hatte sich mit einem Tierpfleger namens gen. Der Leiter der Erziehungsan- Becker angefreundet und sich in dessen turstufe steht. Er wurde als Kuriosität stalt wurde aufgefordert, Maitey bei Tochter Dorothea verliebt. Heiraten konnherumgereicht. Sein Mentor bemühte sich indes, ihm ein neues Zuhause Wasser und Brot einzusperren und ten die beiden aber erst, nachdem Rother zu schaffen. Maitey war mit Rothers ihm mehrere Stockhiebe zu verab- dem Hofmarschall ein Einverständnis abreichen. Der weitsichtige Anstaltsdi- gerungen hatte. Sohn befreundet und fuhr mit der Familie öfter auf deren Gut nach Schlerektor verhinderte die Prügelstrafe. Das Paar bezog eine Wohnung in KleinFür Harry Maitey war der Zwi- Glienicke und wurde sogar einmal dem sien. Der vornehme Lebensstil seiner Gasteltern gefiel ihm so gut, dass er schenfall eine beschämende Ange- König vorgestellt. Seine Arbeit beim Mabegann, sich nach der Mode zu kleilegenheit. Er hoffte, der Präsident schinenmeister Friedrich allerdings verlor den und auf teure Anzüge und elewürde ihm verzeihen. Ein Lichtblick Maitey wegen Unzuverlässigkeit. Fortan gantes Schuhwerk zu achten. immerhin war der Umstand, dass arbeitete er für den Garteninspektor FinOffen blieb die Frage seiner künfer am 23. April 1830 in der Neuen telmann und gründete eine eigene Fatigen Beschäftigung. Da er sich beim Kirche am Gendarmenmarkt getauft milie. Drei Kinder wurden dem Ehepaar Servieren geschickt anstellte, hoffte und konfirmiert wurde. Mit seinem zwischen 1837 und 1846 geboren, wobei neuen Taufnamen Heinrich Wilhelm nur der zweite Sohn Eduard seine Eltern Rother, ihn bei Hofe unterbringen konnte der mittlerweile 23-jährige überlebte. Harry Maitey starb am 26. Fezu können. Doch Maitey war weder Christ, noch hatte er bisher aussich endlich um eine Anstellung in bruar 1872 in Klein-Glienicke an einer königlichen Diensten bewerben und Pockeninfektion. Er ist auf dem Friedhof reichend Deutsch gelernt. Rother brachte ihn deshalb in der „Erzie- Wurde Maitys Arbeitsplatz: das verwunschen gele- wurde darin von Rother unterstützt. der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolshungsanstalt vor dem Halleschen gene Maschinenhaus auf der Pfaueninsel bei Pots- Wenngleich die Beurteilung des Hof- koe in Berlin-Wannsee begraben. Tor“ unter. dam Foto: Andreas von Klewitz marschalls von Maltzahn eine VerAndreAs von Klewitz


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Während der Predigt bespitzelt Vor 250 Jahren wurde der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher geboren Weil er die Stelle als Lehrer in Breslau nicht bekommt, geht der neunzehnjährige Friedrich Schleiermacher im Herbst 1788 zu seinem Onkel Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, der Prediger im nordöstlich von Frankfurt (Oder) gelegenen Drossen ist. Dort in der Provinz aber wird Schleiermacher nicht glücklich. „Man kann hier nichts nutzen als was man selbst hat. Hier gibt es wenig Bücherfreunde also auch wenig Bücher und ganz Frankfurt hat keine ordentliche Lesegesellschaft und keine Bücherverleiher – so bleibt man nicht nur mit den neuesten Begebenheiten in der gelehrten Welt lange Zeit unbekannt.“ Auf diese Weise zurückgeworfen auf sich selbst, stürzt er sich in seine philosophischen Studien. Seine ganze Jugend war eine einzige Glaubenskrise. Am 21. November 1768 als

auseinander. Sein ganzes Leben wird Schleiermacher eine Synthese von subjektiver Frömmigkeit und aufklärerischer Vernunft suchen. Die Fragen, die Schleiermacher sich stellte, sind heute, in einer Zeit, in der Religion immer weniger eine Rolle spielt, nicht mehr gegenwärtig. Mit seinen Thesen sind nur noch wenige vertraut. Umso verdienstvoller erscheint es, wenn zum 250. Geburtstag dieses Theologen, Philosophen, Staatstheoretikers und Pädagogen jetzt Ganz Frankfurt, ein Buch erscheint, das sich klagte er, habe keine mit seinem Werk auseinandersetzt. Andreas Arndts „Die Reordentliche formation der Revolution“ ist keine Lesegesellschaft Biografie. Über das Leben Schleiermachers, der seines sprechenden Sohn eines reformierten preußischen Feld- Namens wegen von seinen Kritikern predigers in Breslau geboren, soll auch oft verspottet wurde, erfährt der Leser aus Friedrich Schleiermacher ein Prediger nur am Rande etwas. Im Mittelpunkt stewerden. Die Eltern schicken ihn deswegen hen seine Reden und Abhandlungen, die in die Anstalten der Herrnhuter Brüderge- Arndt – der selbst Philosoph ist, in Bermeinde in Niesky und später ins sächsi- lin an der Humboldt-Universität lehrt und sche Barby. Schon dort begegnet der junge die Schleiermacherforschungsstelle an der Friedrich dem religiösen Enthusiasmus Berlin-Brandenburgischen Akademie der seiner Erzieher mit einer rationalen Skep- Wissenschaften leitet – erklärt und in ihre sis. Statt Bibel zu lesen, gründet er einen Epoche einordnet. Das alles ist ihm etwas philosophischen Club und verschafft sich zu akademisch geraten, weswegen sein heimlich Bücher wie Wielands Gedichte Buch ein breites Publikum wohl kaum oder Goethes „Werther“, die auf dem In- erreichen wird. Das allerdings war bei dex stehen. Auch später beim Theologie- Schleiermacher auch nicht zu erwarten. studium in Halle noch liest er vor allem Eine Hofpredigerstelle in Schwedt lehnt die Philosophen und setzt sich mit Kant Schleiermacher 1798 ab. Noch einmal will er sich die märkische Provinz nicht antun. Auf die Salons in Berlin und die Bibliotheken dort will er nicht mehr verzichten. Das Warten lohnt sich. Erhält er doch im Februar 1799 auf königlichen Befehl hin eine Predigerstelle an der Garnisonkirche in Potsdam. Dort predigt er vor Friedrich Wilhelm III. Als er sich aber auf eine Affäre mit der verheirateten Eleonore Grunow einlässt, Frau eines lutherischen Amtsbruders am Berliner Invalidenhaus, und sie zur Scheidung drängt, um sie heiraten zu können, ist er in seinem Amt nicht mehr zu halten. Schleiermacher flieht 1802 ins Pommersche Stolp und tritt dort eine Hofpredigerstelle an. Jetzt also doch die Provinz. Immerhin hat er dort die Zeit, sich seinen Studien zu widmen. Von der Statur war er kleinwüchUnsere dicke regierende Fleischmasse: So nannte sig, weil seine Schwester ihn als Schleiermacher Friedrich Wilhelm II. Foto: DHM Kind hatte fallen lassen. Trotzdem

wurde er zu einem Giganten der Goethezeit. Schleiermacher ist Prediger an der Charité, als er 1796 im Salon der Henriette Herz den jungen Friedrich Schlegel kennenlernt, mit dem er in Berlin bald in eine FrühromantikerWG vor dem Oranienburger Tor zieht. Gemeinsam „symphilosophieren“ die beiden und publizieren in der Zeitschrift „Athenaeum“ – meist anonym. Darf man sich in Preußen doch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Von König Friedrich Wilhelm II. hält Schleiermacher wenig. Er nennt ihn 1789 „unsere dicke regierende Fleischmasse, diese Mixtur von Wollust, Schwachheit und Andächtelei.“ Äußerungen wie diese sind es, die dazu führen, dass Schleiermacher später von so manchem als Oppositioneller und Jakobiner gescholten wird. Außerdem erwecken seine Besuche in den jüdischen Salons der Stadt Misstrauen bei seinen kirchlichen Vorgesetzten. Als er 1809 Prediger an der Berliner Dreifaltigkeitskirche ist, sitzen die Spitzel in seinen Gottesdiensten und schreiben mit. 1823 kann er seine schon unterschriebene Amtsenthebung gerade noch durch eine an den König geschickte Verteidigungsschrift verhindern. Die Französische Revolution begrüßt Schleiermacher, auch wenn er die Terrorherrschaft der Jakobiner ablehnt. Religion äußert sich seiner Ansicht nach nicht in der Tradition, oder in toten Buchstaben, sondern in den „Andeutungen und Stimmungen“ und in den

War nicht für Andächtelei zu haben: der Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Foto: epd „Äußerungen und edlen Taten Gottbegeisterter Menschen“. In seiner Abhandlung „Über die Freiheit“ (1792) setzt er sich mit Kant auseinander. 1799 folgt als eines seiner Hauptwerke seine Schrift „Über die Religion“. Später entwirft er eine neue Kirchenverfassung und begründet mit seinen „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn“ (1808) nicht nur die Konzeption der neu gegründeten Berliner Universität, sondern ist zugleich Mitglied ihrer Einrichtungskommission und hilft nach den Napoleonischen Kriegen, die Königliche Bibliothek wieder aufzubauen. Ihm kommt so auch, wie Andreas Arndt schreibt, eine herausragende Stellung in der deutschen Bildungsgeschichte zu. 1834 stirbt Friedrich Schleiermacher und wird auf dem Dreifaltigkeitskirchhof II in Kreuzberg beerdigt. Seine Grabstelle ist heute ein Ehrengrab des Landes Berlin. Welf Grombacher Andreas Arndt: „Die Reformation der Revolution. Friedrich Schleiermacher in seiner Zeit“, Verlag Matthes & Seitz, 300 S., 30 Euro


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Sklavenschiffe made in Brandenburg In Havelberg an der Elbe ließ Kurfürst Friedrich Wilhelm eine Werft bauen, die seinen kolonialen Träumen zuarbeiten sollte

eine namenlose Jacht Heute ist von der kurfürstlichen Werft in Hamit der Baunummer velberg nichts mehr 15 sein. Sie wurde zu erkennen. Davermutlich 1694 auf bei spielte die in den Kiel gelegt, musste 1980er-Jahren in Resjedoch aufgrund von ten noch vorhandene Geldmangel in HamAnlage eine herausraburg zum Verkauf angende Rolle in der Regeboten werden. Die Veräußerung zog sich gierungszeit Friedrich Wilhelms von Branhin. 1698 klagte ein denburg (1620–1688). Zeitzeuge, dass sieEr hatte sie für den ben brandenburgische Segler, darunter Ausbau seiner Flotte die besagte Jacht, unerrichten lassen und mit dem Projekt einen ausgerüstet und nutzlos in der Hansestadt ambitionierten Unternehmer aus dem hollägen, Unterhaltung ländischen Middelburg kosteten und nichts brächten. beauftragt: Benjamin Raule (1634–1707). Wenngleich die HaVom Großen Kurfürsvelberger Schiffsbauer ab 1695 keinen Neuten 1675 mit einem Kaperbrief ausgestatbau mehr auflegen tet, unternahm Raule konnten und die Werft schließlich 1702 ganz eine Reihe erfolgreicher Freibeuterfahraufgegeben wurde, ist ten gegen die Schwedie Bauleistung von den, die ihm in seiner 15 Schiffen in der Heimat den Vorwurf kurzen Zeitspanne der Seeräuberei einebenso beachtlich wie brachten und ihn das unermüdliche Ennach Berlin flüchten gagement Benjamin ließen. Dafür wurde Raules, der die Ausrüstung und das Perer von seinem neuen Dienstherrn reichlich sonal besorgte und entschädigt. 1675 ereigenes Geld in den nannte ihn der Kurfürst Betrieb schoss. Dass zum Marinerat, 1676 Bauplatz einer expansiven Politik: Das Bild erinnert an die Ende des 17. Jahrhunderts gegründete Werft in Havelberg, er in Havelberg einen zum „Schiffsdirecteur“ die Hochseesegler baute. Im Hintergrund ist auf der Anhöhe der Havelberger Dom mit seinem mächtigen Westwerk zu eigenen Holzhandel Fotos: Andreas von Klewitz betrieb und Schiffe für und „Oberdirecteur un- erkennen. serer Seesachen“ und eigene Zwecke baute, betraute ihn mit dem Aufbau der kur- kurzem Wege über die Elbe zur Ausrüs- voi zur brandenburgischen Kolonie Groß wurde ihm später von seinen Widersatung nach Hamburg bringen. Fachkräfte Friedrichsburg in Westafrika, ging jedoch chern zum Vorwurf gemacht, die ihn webrandenburgischen Marine. Zunächst vermietete Raule Schiffe an rekrutierte Raule vornehmlich unter sei- zwei Jahre später verloren. Ihr folgte 1688 gen angeblicher Misswirtschaft und Undie Brandenburger, die unter anderem nen Landsleuten. die Galiote „Margarete“. Im gleichen Jahr terschlagungen einsperren ließen. Das erste in Havelberg auf Kiel gelegte entstand der wohl bedeutendste Havelber1677 bei der Belagerung Stettins, 1678 Der eigentliche Grund für das Scheitern bei Stralsund und bei einem Überfall auf Schiff dürfte die Brigantine „Castell Fried- ger Bau, die Fregatte „Friedrich III.“ Al- der Havelberger Werft dürfte aber eher Rügen zum Einsatz kamen. Auch der Ka- richsburg“ gewesen sein. Sie segelte 1692 lein die Fertigstellung des 45 Meter langen an der chronischen Geldnot des Fiskus perkrieg gegen Hamburg und Spanien im Auftrag der Handelskompanie im Kon- Rumpfes dauerte über zwei Jahre, bevor und an den hohen Transportkosten gele1679 und der Ausbau überseedas Schiff Anfang 1690 nach Ham- gen haben. Hinzu kam, dass Friedrich III. ischer Handelsbeziehungen truburg gelangte und anschließend im zwar die Flotte und Handelskompanie gen seine Handschrift. Im FebSklavenhandel eingesetzt wurde. seines Vaters fortführte, seine Prunksucht ruar 1681 zum „Generaldirecteur Später folgte die Fregatte „Schloss und sein Streben, die preußische Königsder Marine“ im Rang eines ObOranienburg“, krone zu erlangen, risten ernannt, gründete Raule aber bald andere Pridie für UnterChronische Geldnot und im Folgejahr die „Brandenburnehmungen in oritäten setzten. 1701 segelten nur noch elf gisch-Afrikanische Compagnie“ Westafrika und veränderte Prioritäten und legte damit den Grundstein Westindien vorKriegsschiffe unter ließen das Havelberger für den brandenburgischen Hangesehen war. Sie brandenburgischer blieb jedoch unFlagge, 1711 wurden del mit Westafrika und den AufProjekt scheitern bau kolonialer Stützpunkte in vollendet und die Marine und die Westafrika. wurde nach „BrandenburgischDa für die weitreichenden 18 Jahren Liegezeit in Hamburg ver- Afrikanische Companie“ aufgelöst. 1717 Pläne des Großen Kurfürsten steigert. 1692 lief denn auch der erfolgte der Verkauf des afrikanischen KoAuftrag für ein erstes Prunkschiff, lonialbesitzes an die Niederlande. ständig neue Schiffe benötigt eine kurfürstliche Galeere, in Hawurden, waren entsprechende Raue war bereits zehn Jahre vorher gevelberg ein. Sie war für Berlin be- storben. Nach dem Tod des Großen KurFertigungsanlagen notwendig. Während Friedrich Wilhelm solstimmt und wurde aus der Hofscha- fürsten der Unterschlagung verdächtigt, tulle bezahlt. war er ein erstes Mal inhaftiert worden. che bereits in Kolberg und Pillau Weitere Havelberger Schiffe wa- 1697 wurde er erneut verhaftet, auf der unterhielt und 1682 eine Werft in ren das 1693 auf Kiel gelegte und Festung Spandau eingesperrt und sein Berlin dazukam, entstand unter 1705 in Hamburg verkaufte Heck- Vermögen eingezogen. 1702 mit der AufRaules Aufsicht 1687 ein Bootsbauplatz in der alten Hansestadt boot „Sieben Gebrüder“, die Barken lage begnadigt, sich umgehend nach EmHavelberg. „Postillon“ und „Jäger“, schließlich den zu begeben, verbrachte Raule die Über die Verbindung zu Spree eine 1694 begonnene und 1702 ver- folgenden Jahre dort auf einem Schiffsund Elbe war dort eine schnelle kaufte Schaluppe sowie eine von wrack, bevor ihm 1705 eine Umsiedlung Benjamin Raule auf eigene Rech- nach Hamburg gestattet wurde. Dort starb Zufuhr von Bauholz möglich, andererseits ließen sich dort ge- Wollte Brandenburg zur Seemacht machen: der Große nung gebaute Fregatte. Das letzte er völlig verarmt am 17. Mai 1707. baute Schiffsrümpfe auf relativ Kurfürst Friedrich Wilhelm AndreAs von Klewitz in Havelberg gefertigte Schiff sollte


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Denkfabrik für die Zukunft Das Institut für Neue Industriekultur untersucht die „Unbekannte Moderne“ in Ost- und Südbrandenburg

Was wird eigentlich aus den industriellen Landschaften der Lausitz? Wie könnte eine Weiternutzung stillgelegter Fabriken und Brachflächen im Osten Brandenburgs und darüber hinaus aussehen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich der Architekt und Landschaftsplaner Lars Scharnholz schon seit vielen Jahren. Seit seiner Gründung arbeitet der promovierte Architekt am INIK, dem Institut für Neue Industriekultur. Seit 2011 ist er dort Geschäftsführer. Die Aufgabe des Instituts, das sich aus der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land (2000–2010) heraus entwickelte, sieht Scharnholz vornehmlich in den Bereichen Forschen, Planen und Bauen. Und das bislang vor allem unter dem Aspekt der Wiederbelebung alter Industriestandorte. Das INIK bietet das ganze Paket: von der Bauforschung und Wirtschaftlichkeitsanalyse bis zur baulichen Umsetzung in allen Leistungsphasen. Ein dem Institut angeschlossener Verlag gehört auch dazu. Wir wollen „eine Denkfabrik sein, die in die Zukunft wirkt und die die Dinge auch umsetzt“, sagt Scharnholz. Zusammen mit seinem Geschäftspartner Sebastian Hettchen hat Scharnholz inzwischen ein achtköpfiges Team um sich geschart. Darunter Landschaftsplaner, Denkmalpfleger, Kulturwissenschaftler, Architekten und Umweltplaner. Alles Absolventen der Cottbuser Universität. Die zahlreichen Projekte zeigen heute die Bandbreite der INIK-Arbeit. So die Nachnutzung der Furnierhalle in Görlitz, wo im Herbst dieses Jahres Richtfest gefeiert wurde, die Umnutzung der Sendehalle „Europe 1“ im Saarland sowie die Reaktivierung eines alten Umspannwerkes in Berlin-Pankow. Auch die denkmalgerechte Sanierung und Neunutzung der bekannten Borsig-Halle in Eberswalde und die Erweiterung der denkmalgeschützten Theodor-Fontane-Schule in Fürstenwalde sind Teil der INIK-Arbeit. Für die Kupferhaussiedlung in Eberswalde hat das Institut schon vor vielen Jahren ein touristisches Konzept entwickelt. Dass Scharnholz und das INIK-Team grenzübergreifend arbeiten, ist für den 49-jährigen Architekten und Denkmalpfleger, der unter anderem in Cottbus und Seattle studierte, etwas Selbstverständliches. So nutzt das INIK den deutschpolnischen Kulturraum der Lausitz als

Möchte alte Industriestandorte wiederbeleben: der Architekt und Landschaftsplaner Lars Scharnholz Chance. Im kommenden Jahr steht hierbei das Bauhaus ganz vorne. Dann wird gefeiert. Zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum arbeitet das INIK mit dem Brandenburgischen Landesmuseum für Moderne Kunst aktuell an einer Ausstellung zu den Bauten der Weimarer Moderne zwischen Cottbus und Frankfurt (Oder). Hierbei denkt Scharnholz zum Beispiel an Henry van der Veldes „Sanatorium Trebschen“, 100 Kilometer von Frankfurt entfernt, und an das Theater in Grünberg (Zielona Gora) von Oskar Kaufmann aus dem Jahres 1931. Aber zuerst natürlich an die Villa Wolf, die einst auf der anderen Seite der Neiße, im heutigen Gubin, stand. Unter seiner Mitwirkung wurden

Soll wieder aufgebaut werden: Mies van der Rohes im Krieg zerstörte Villa Wolf. Von einer Baukopie hält Scharnholz allerdings nichts. Repro: Arthur Köster

Foto: Michael Helbig

im Jahre 2001 Teile des Kellergeschosses Der Instituts-Chef sieht aber – über freigelegt und vom Museum of Modern das wissenschaftliche Thema hinaus – Art in New York vermessen. Die Villa Wolf noch einen anderen Aspekt: den Leuten sei ein wesentlicher Impulsgeber gewesen Mut zu machen für die Zukunft, ihnen für die moderne Architektur des 20. Jahr- eine Rückblick anzubieten auf eine Zeit, hunderts, so Scharnholz. Mies van der in der hier Wichtiges, Schönes und ReRohe baute sie von 1925 bis 1927 für die volutionäres entstand. Das war auch der Grund, weshalb das Familie des Gubener Industriellen Erich Wolf. Die Kampfhandlungen des Zweiten Landesmuseum für moderne Kunst den Weltkrieges überstand der Bau nicht. In Fachmann angefragt hat, ob er dessen den vergangenen Jahren wurde der Wie- Bauhaus-Projekt nicht unterstützen wolle. deraufbau des Klinkerbaus am Neißehang „Unbekannte Moderne“ soll es heißen immer wieder kontrovers diskutiert. Von und soll sich mit mehr als zwei Dutzend einem Kopiebau hält Projekten in BrandenScharnholz jedoch burg befassen. DaDas Landesmuseum wenig. „2001 einigbei werden, so sagt bat ihn ten sich die Stadträte es der Titel, weniger von Guben und Gubin die großen populären um Unterstützung für per GemeinschaftsbeObjekte wie die Gedas Bauhaus-Jubiläum werkschaftsschule in schluss auf einen zentralen Ansatz“, so erinBernau von Hannes nert er. „Mit dem Beschluss ging es ganz Meyer im Mittelpunkt stehen, sondern bewusst weder um die Rekonstruktion eher kleinere, bisher wenig bekannte Arnoch die Erhebung des Ortes zu einer ar- chitekturen. Mit einem „Reiselesebuch“, chäologischen Ruhestätte. Eine Reihe von das alle wichtigen Informationen enthält, massiven Veränderungen bestimmt die können die Objekte besucht werden. Mit Geschichte des Hauses Wolf, und an eben dem Auto, dem Zug oder, wenn möglich, diese Veränderungen sollten wir heute per Fahrrad. Die Villa Wolf ist natürlich mit einem ganz neuen Ansatz erinnern.“ dabei, das Theater in Grünberg, der BisEtliche Beispiele belegen, so Scharn- marckturm in Burg im Spreewald und die holz, dass die Region – im heutigen Os- Bahnhofsanlage mit Wasserturm in Zbasten Deutschlands zwischen Schwedt und zynek (Wojewodschaft Lebus). Auch das Haus des Cottbuser LandesGörlitz gelegen – Wegbegleiter war für die Moderne: vom Haus Schminke (Hans museums für Moderne Kunst, Ende der Scharoun in Löbau) bis hin zu Frankfurt 20er-Jahre als Dieselkraftwerk errichtet, (Oder), wo der Architekt Konrad Wachs- gehört zu den markanten Bauten jener mann geboren wurde und er schon zu Zeit. Im nächsten Jahr soll es verstärkt DDR-Zeiten, nach seiner Überführung Anziehungspunkt sein – nicht zuletzt für aus seiner Zweitheimat USA, auch bei- Gäste, die auch mal eine weitere Reise gesetzt wurde. unternehmen. Thomas KlaTT


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Wissen ist Macht

In der frühen Bronzezeit soll es zwischen Harz und Spree den ersten Staat in Europa gegeben haben. Als Beweis dient die Himmelsscheibe von Nebra Vergessen wir Babylon, vergessen wir Ägypten – das interessanteste Staatsgebilde der frühen Bronzezeit entstand: bei Pömmelte-Zackmünde. Weil es ohne Schrift auskam, wahrscheinlich weniger despotisch war als die Reiche am Nil und am Euphrat. Und weil niemand annehmen würde, dass dort, 20 Kilometer südlich von Magdeburg, der Keim für den ältesten Staat Mitteleuropas lag. Gegründet etwa ein halbes Jahrtausend vor dem Trojanischen Krieg und 1000 Jahre, bevor die Anfänge Roms aus dem Dunkel der Geschichte hervorschimmern. Derart geadelt wird PömmelteZackmünde von Harald Meller, dem Landesarchäologen von Sachsen-Anhalt und Direktor des Museums für Vorgeschichte in Halle an der Saale, und dem Wissenschaftsjournalisten Kai Michel in ihrem nun erschienenen Buch „Die Himmelsscheibe von Nebra“. Es dürfte so ziemlich das Spannendste und Streitbarste sein, das in den vergangenen Jahren über unsere Frühgeschichte veröffentlicht wurde. Es liest sich als Wissenschaftskrimi trotz seiner 400 Seiten auf einen Rutsch weg, ist äußerst unterhaltsam, aber eben auch kein Produkt windiger Autoren und kruder Spekulationen. Meller und Michel bleiben auf dem Boden der Wissenschaft, stützen sich auf Grabungsfunde, Materialanalysen, Vergleichsproben, aktuelle Forschungsergebnisse. Allein, sagt Meller, hätte er das so nicht hinbekommen und wäre ins staubige Wissenschaftsdeutsch abgeglitten. Um das zu verhindern, suchte er sich Michel als Co-Autor. Der Historiker und Literaturwissenschaftler hat als Wissenschaftsredakteur unter anderem für die „Zeit“ gearbeitet. Er weiß, wie man die Leser mit Geschichte packt. Meller und er wollten die Welt der Himmelscheibe so erklären, dass auch Laien sie verstehen – und davon fasziniert sind. Das ist ihnen hervorragend gelungen. Wie sie aus fundierten Forschungsergebnissen ihre These vom Nebra-Staat destillieren, ist noch fesselnder als der Krimi, den sie über den Raub und die Rettung der Himmelsscheibe erzählen, die einzigartig ist auf der Welt. Nirgendwo wurde bisher etwas Vergleichbares gefunden. Wieso lag sie ausgerechnet auf einem Hügel in Sachsen-Anhalt vergraben? Wer war ihr Schöpfer? Was bezweckte er mit ihr? Und wie muss man sich die Gesellschaft vorstellen, die so etwas zeitlos Schönes hervorbrachte? Die Simp-

Instrument zur Kalendersynchronisation: die aus der frühen Bronzezeit stammende Himmelsscheibe von Nebra Foto: Juraj Lipták lizität, mit der Mond, Sterne und der chronologisch auf 1630 v. Chr. datieren Sternenhaufen der Plejaden auf diesem konnten. Ein sensationell alter Fund aus geschmiedeten Himmel dargestellt sind, einer Gegend, in der nach den Vorstelpasst eher in unsere rationale Welt, als lungen römischer Autoren nur primitive in die Zeit, in der er entstanden ist. Da- Barbaren hausten, die vorzugsweise in mals seien Himmelskörper immer mysti- kalten Flüssen badeten, viel Milch tranfiziert als Götter dargestellt worden, sagt ken, aber keine kulturellen AnnehmMeller. So kenne man lichkeiten kannten es aus Ägypten und und sich der Schrift Am Ende dem Zweistromland. verweigerten. Dafür des Gerichtsprozesses seien sie, schrieb CäDagegen erinnere die Himmelsscheibe sar in seinem „Galist die Scheibe echter, lischen Krieg“, auch in ihrer Reduziertals sie es vorher war heit und Rationalinoch nicht so verweichlicht. Mitten in tät an ein Verkehrsschild. Trotzdem steht außer Frage, diesem Areal der Rohheit und der wildass sie ein Kultobjekt war. Und als den Sitten wollen Meller und Michel eisolches wurde sie etwa 1600 Jahre nen Staat ansiedeln, der blühte, als Rom vor Christus auf einem Hügel in der Nähe noch gar nicht erfunden war. Doch wäre unser Geschichtsbild nicht von Nebra rituell beerdigt. Das Alter weiß man so genau wegen der revolutionär herausgefordert, hätten am Dinge, die ihr mit gegeben wurden. Dar- Sonntag, dem 4. Juli 1999, nicht zwei unter waren zwei Schwerter, und an dem Schatzräuber aus dem Mansfelder Land Schaft des einen haftete noch ein winzi- auf dem zwischen Nebra und Memleben ges Stück der uralten Ummantelung aus gelegenen Mittelberg zufällig eine sensatiBirkenrinde, das Wissenschaftler dendro- onelle Entdeckung gemacht, also sie dort

mit Metallsonden nach lohnender Beute suchten. Auf der Kuppe des Hügels gab eines ihrer Geräte Großalarm. So stießen sie auf die senkrecht im Boden verankerte Himmelscheibe, bei der zwei Schwerter, zwei Beile, ein Meißel und Armringe lagen – alles aus Bronze. Die Schatzräuber beschädigten bei ihrer Wühlerei nicht nur die zwei Kilogramm schwere Scheibe, sondern zerstörten auch den Fundort, was ihnen Archäologen bis heute verübeln. Dann riefen sie Achim S. an, einen windigen Bekannten aus dem Rheinland. Der arbeitslose Kunststoffschlosser borgte sich 32000 Mark zusammen und kaufte den Findern ihren Schatz ab. Zuhause versuchte er die Himmelsscheibe mit Stahlwolle zu reinigen. Alles andere hatte nicht geholfen. Dabei zerkratze er die Goldeinlagen. Mit schlechten Fotos bot er den Fund Wilfried Menghin an, dem Direktor des Berliner Museums für Urund Frühgeschichte – für eine Million D-Mark. Hätte er Menghin nicht erzählt, dass die Sachen aus Sachsen-Anhalt stammen, vielleicht lägen sie heute in Berlin. Menghin hatte für sein Museum auch den berühmten Goldhut im Hinterzimmer eines Schweizer Hotels angekauft. Ein kostbares, aber unenträtselbares Stück, weil nichts über den Fundort, die Fundumstände und die Beifunde bekannt ist. Wahrscheinlich ist der Goldhut eine Art Kalender gewesen, heißt es in der Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“ im Berliner Martin Gropius Bau, wo er noch bis 6. Januar mit der Masterkopie der Himmelsscheibe zu sehen ist. Als Menghin hörte, woher die seltsame Scheibe stammte, lehnte er ab. SachsenAnhalt ist ein Bundesland mit Schatzregal. Alle dort im Boden liegenden archäologischen Kostbarkeiten gehören dem Staat. Er zeigte die Fotos aber Harald Meller, den die Bilder sofort elektrisierten. So etwas wie die Scheibe hatte er noch nie gesehen. Meller begann, den Fund zu jagen. Schließlich saß er als Lockvogel in einer Hotelbar in Basel zwei Hehlern gegenüber, die Achim S. 230 000 D-Mark für den gesamten Fund gezahlt hatten, den sie Meller für 700 000 Mark verkaufen wollten. Aber dann schnappte die Falle zu. Die Hehler wurden verhaftet, vor Gericht gestellt und gingen in Berufung. Der Himmelsscheibe hätte nichts Besseres passieren können. Denn während dieses zweiten Prozesses setzte die Verteidigung alles daran die Zweifel an der Echtheit der Scheibe zu nähren. Denn bei Fälschungen greift das Schatzregal natürlich nicht. Meller und sein Wissenschaftlernetzwerk aber hielten dagegen und bewiesen anhand von archäologischen Funden und Materialanalysen, dass das für die Bronze


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sprach: Dort gibt es die verwandte Kupfer etwa 1800 vor Christus in den fruchtbarsten Böden in Europa. österreichischen Alpen abgebaut wurde, wähWorüber die Autoren allerdings nur sperend das Gold etwa zur gleichen Zeit aus Cornkulieren können, ist well kam und die Patina die Frage, wie die auf uralt sein muss. Und die der Himmelscheibe fiArchäometallurgen führxierte Weltformel nach ten bei dem Prozess vor, Mitteldeutschland kam. dass so eine Scheibe mit Wurde sie durch eine reisende Elite vom Euden vor 4000 Jahren phrat an die Saale mitzur Verfügung stehenden Techniken hergegebracht? Hatte das stellt werden konnte. Am Reich von Nebra einen Ende des Prozesses sagte Prinzen auf Bildungsreise geschickt? der Richter, die Scheibe sei nun echter, als sie es Meller und Michel vorher war. sehen in der Scheibe Als diese Zweifel beein Zeugnis für die seitigt waren, wurde Melerste Wissensgeselller immer mehr von der schaft in Europa. Ihre Frage herausgefordert, ob Herren, die metallurdie Scheibe nicht dazu gisches, astronomizwingt, die Legende vom sches und alchimistibarbarischen Norden zu sches Wissen besessen haben mussten, wusskorrigieren. Zunächst galt es herauszufinden, welten, dass Wissen Macht ches Geheimnis auf dieist und enorme Reichser Scheibe kodiert war. tümer verspricht. Sie Astronomen halfen, das hätten die Scheibe als Rätsel zu lösen. Auf der Zeugnis ihrer intellekScheibe, sagen sie, wäre tuellen Überlegenheit die Weltformel des Alterzur Schau gestellt, sie tums dargestellt, nämlich aber auch umgearbeiwie sich Mond- und Sontet. Was davon zeugt, dass dieses Wissen nur nenjahr synchronisieren lassen. Denn: Der Mond Fundort der Himmelsscheibe: Auf dem Mittelberg, wo sie 3600 Jahre in der Erde steckte, steht heute dieses Besucherin kleinstem Kreis geist elf Tage schneller dazentrum, das die Welt der Bronzezeit erklärt. Die Scheibe selbst liegt in Halle im Museum. Foto: dpa/Jan Woitas speichert wurde, wesmit fertig, sich zwölf Mal halb es leicht verloren um die Erde zu drehen, scheibe, doch andere Funde tun es nicht. kontrollierte. Er blockierte den Export von gehen konnte. als die Erde braucht, um einmal die Sonne Und so geraten die sich unweit von Ne- Kupfer nach Skandinavien, weshalb dort Als ein Goldschmied die goldenen zu umrunden. Wir lösen das Problem bra befindenden bronzezeitlichen Grab- die Bronzezeit erst später einsetzte und Horizontbögen auf der Himmelsscheibe mit ungleich langen Monaten und einem hügel in den Blick. In ihnen wurden, das sich die Menschen dort in ihrem unge- anfügte, entfernte er dafür einen der 32 Schalttag alle vier Jahre. Zurzeit der Him- haben Grabungen seit dem 19. Jahrhun- stillten Hunger auf Metall damit behalfen, Sterne – und entstellte damit die 32-Tagemelsscheibe wurde etwa alle drei Jahre dert bestätigt, für die Reise ins Jenseits auf ihren Steinbeilen Gießnähte nachzu- Formel. Die Bögen übrigens passen geein Schaltmonat eingefügt, um zu verhin- reich ausgestattete Fürsten bestattet. Aber ahmen. Während in die andere Richtung nau zum Mittelberg. Sie stehen so, dass dern, dass der kalendarische Frühlings- keiner von ihnen hatte solche Kostbarkei- Bernstein kaum über den Raum der mit- sich von dort über den Kyffhäuser und anfang irgendwann mal in den Herbst ten dabei, wie sie Ende des 19. Jahrhun- teldeutschen Mittelgebirge hinauskam. den Brocken die Sommer- beziehungsIn jenem Gebiet, das wir heute Mittel- weise Wintersommerwende bestimmen rutscht. Wann es Zeit für einen Schaltmo- derts in Dieskau auftauchten. Der dort nat war, ließ sich am Stand des zuneh- entdeckte Goldschatz war angeblich ein deutschland nennen, verorten Meller und lässt. Deshalb ist der Fundort auch kein menden Frühjahrsmondes zu den Pleja- aus einem Wasserloch gehobener Zufalls- Michel ihren bronzezeitlichen Staat, der Zufall. Die Scheibe sei dort in der letzden ermitteln. Zog er im Frühjahr nicht als fund. Für Meller und Michels dagegen engste Beziehungen nach England unter- ten Phase des Nebra-Staates rituell gehauchdünne Sichel, sondern so dick, wie sprechen die Indizien zwingend dafür, hielt. Das beweist Pömmelte-Zackmünde. opfert worden, meinen die Autoren. Als auf der Himmelsscheibe dargestellt, an dass das Gold aus dem mit Abstand größ- Denn dort haben Archäologen vor weni- Auslöser der Krise, die zu seinem Untergen Jahren eine Ko- gang führte, vermuten sie einen gewaltidem Siebengestirn vorbei, war es Zeit für ten Grabhügel Mittelpie von Stonehenge gen Vulkanausbruch im Mittelmeerraum. einen Schaltmonat. Man kann es auch an- deutschlands stammt In Pömmelte-Zackmünde ders berechnen. Wenn vom letzten Neu- und zutage kam, als ausgegraben, die Folgte darauf ein sich über Europa ausgruben Archäologen lichtmond des Winters 32 Tage vergingen, er im 19. Jahrhundert nicht mit Steinen, breitender vulkanischer Winter? Das Buch lässt das offen. Und gerade bis Mond und Plejaden zusammen am komplett abgetragen sondern mit Holzeine Kopie Himmel erschienen, musste ein Schalt- wurde. Der Mann, der pfählen aufgebaut das ist seine Stärke. Er reißt durch seine von Stonehenge aus war und wo Frauen Frage Türen in neue Denkräume auf, monat eingefügt werden. 32. So viele gol- dort begraben lag, ist dene Sternenpunkte waren in der Urver- nach ihrer Interpretaund Kinder auf grau- ohne Antworten zu erzwingen. Und es sion auf der Himmelsscheibe um Mond tion ein König gewesen, dem vermut- same Art geopfert wurden. Auch das passt ruft mit diesem undogmatischen Ansatz lich nicht nur reichlich Gold mitgegeben zur Staatstheorie des Nebra-Buches. Denn dazu auf, unser Geschichtsbild zu erweiund Plejaden herum verteilt. Damit stand die nächste Frage im wurde, sondern die Asche einer ganzen, Staaten seien in ihren Frühphasen nicht tern und Schriftlichkeit nicht zur BedinRaum: Ein solches Zeitmanagement und ihm zu Ehren verbrannten Siedlung, un- selten grausame Despotien gewesen, gung von Kultur und Geschichte zu maZeitwissen ist bisher nur von spezialisier- zählige große Mahlsteine und Tonnen meint Meller. Erst wenn die Macht ge- chen. Sich wie die Germanen so lange so ten, staatsähnlichen Gesellschaften be- der fruchtbarsten Schwarzerde, die sei- festigt sei, entspanne sich die Lage. His- erfolgreich der Schriftlichkeit zu widersetkannt. Als frühes Beispiel kennen wir das nen Grabhügel bedeckte und immer wie- torisch lassen sich dafür viele Beispiele zen, sei auch eine ungeheure kulturelle aus dem Zweistromland, in dem die Regel- der neu aufgetragen wurde. Es muss also finden – bis ins 20. Jahrhundert hinein. Leistung, sagt Meller. Dass sie alles anmäßigkeit von Abgaben ohne standardi- Strukturen gegeben haben, die eine Erin- Denken wir an Sowjetrussland. Und so dere als stupide waren, hätten sie in der sierte Zeit und Kalender nicht zu gewähr- nerungskultur pflegten. So etwas ist ty- wüst stalinistisch wie in ihren Anfangs- Varus-Schlacht bewiesen. Als sie vor 2000 leisten ist. Aber zwischen Harz und Elbe pisch für Monarchien, um ihre Legitimi- jahren war die DDR in ihrer Spätphase Jahren drei der besten Legionen der besvermutete bisher niemand solche durch- tät zu untermauern. ten Armee der Welt nicht mehr. Dass sie ihr Volk einmauGrabungsfunde belegten nun, dass es erte, ist für Meller und Michel übrigens vernichteten. organisierten und streng hierarchisch gegliederten Gesellschaften in der Bronze- in der frühen Bronzezeit in Mitteldeutsch- sehr typisch für Despotien, die immer Uwe Stiehler zeit. Die Himmelsscheibe ist für Meller land einen Zeitraum von etwa 400 Jah- darum kämpfen müssen, dass ihnen ihr und Michel aber nur erklärbar, wenn man ren gab, in dem es eine Kriegerkaste – Volk wegen der Repressionen nicht daHarald Meller, Kai sich einen Staat dazudenkt, der sich ihrer also ein Gewaltmonopol – gegeben haben vonläuft. In Mesopotamien und am Nil Michel: „Die Himmelsscheibe von NeFormel bedient. Und da beginnt das Prob- muss, in dem Gräber streng hierarchisch habe die Wüste den Käfig ersetzt, schreilem. Ein Staat ist nach der Definition des ausgestattet wurden und in dem es auch ben sie. Der Nebra-Staat aber mit seinem bra. Der Schlüssel großen Soziologen Max Weber durch ein den einfachen Menschen relativ gut ging. nach allen Seiten offenen Gelände sei anzu einer untergegangenen Kultur im HerStaatsgebiet, ein Gewaltmonopol und ein Zudem fällt auf, dass zwischen Harz und ders gewesen, eine gemäßigte Despotie, Herrschaftsverhältnis definiert. Zu allen Spree jemand den Handel mit Bernstein sonst wären ihr die Menschen davongezen Europas“, Propydrei Punkten aber schweigt die Himmel- und Kupfer monopolisierte und effektiv laufen. Was außerdem für diese Region läen, 384 S., 25 Euro


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BRANDENBURGER BLÄTTER

„Integriert doch erst mal uns!“

Petra Köpping, Lukas Rietzschel und andere Autoren untersuchen, wie ostdeutsche Verletzungen der Wendezeit bis in die Gegenwart schmerzen damit sich dort kein anderer politiNehmen wir Eisenhüttenstadt. Dort gab es nicht nur das EKO, sondern scher Konkurrent etabliert, ist doppelt gescheitert. Das Nazi-Problem auch ein Fleischkombinat, eine Möwurde so nur größer, und mit der belfabrik, eine Molkerei, ein ZeNPD und später mit der AfD wurde mentwerk ... Das EKO hat den Undie CDU trotzdem rechts überholt. tergang der DDR überstanden. Die anderen Betriebe sind Geschichte. Petra Köpping allerdings warnt in So wie das berühmte Nähmaschiihrer Streitschrift davor, die Sachsen und alle Ostdeutschen pauschal in nenwerk in Wittenberge, die Chipfabrik in Frankfurt (Oder) und die Zudie Nazi-Ecke zu stellen, wenn unter ckerfabriken im Oderbruch. ihnen massive Zweifel an der bunOder schauen wir nach Sachsen. desdeutschen Demokratie zu finden So eine in die Bedeutungslosigkeit sind. Diese Kritik am System habe mit Ausländerfeindlichkeit und Peabgerutschte Kleinstadt wie Döbeln gida mitunter weniger tun, als mit an der Freiberger Mulde war bis 1990 vollgestopft mit Industrie. Ardem heftigen und als Kolonialisiebeit gab es in Zulieferbetrieben für rung empfundenen Einbruch bunden Auto- und den Landmaschinendesdeutscher Verhältnisse in den Osten, meint Köpping. bau, einer Druckgießerei, in Wurst-, Tabak-, Süßwaren- und SeifenfabriSie nennt ein Beispiel: Etwa ken. Die Luft stank im Winter we90 Prozent der ostdeutschen Betriebe, des ehemaligen Volkseigengen der Kohleöfen und dem, was tums also, wurden von Westdeutdie Industrieschlote ausspuckten. Die graue Brühe der Mulde dünstete schen übernommen. Und zwar im Sommer übelste Gerüche aus. unter Bedingungen, die mitunter Im 19. Jahrhundert soll es in dem alles andere als demokratisch und Fluss noch Lachse gegeben haben. transparent waren. Ostdeutsche Bewerber hatten kaum eine Chance. Döbeln ist, wie so viele KleinDas war politisch gewollt, um alte städte in dem einst industriell hochgezüchteten Sachsen, fast zur deSED-Seilschaften auszubremsen. Dafür habe die Treuhand mit zweiindustrialisierten Zone geworden. Ähnliche Beispiele lassen sich in felhaften Deals geholfen, dass westBrandenburg finden. Sicher, einen deutsche Unternehmen ostdeutsche Strukturwandel hat es auch in Westnur deshalb kauften, um einen Kondeutschland gegeben. Aber längst kurrenten plattmachen zu können, nicht so eiskalt, in diesem Tempo klagt Köpping an und beruft sich daund nicht mit dieser alles dahinreibei auf Historiker und Zeitzeugen. ßenden und Brachen zurücklassenAllerdings ist es schwierig, an stichhaltige Beweise zu kommen, weil den Wucht einer Naturkatastrophe. die Treuhandakten noch unter VerIst vorbei, Schwamm drüber. Eben nicht, sagt Petra Köpping und Woher kommt dieser Zorn? Dass Regierungspolitiker in weiten Kreisen Ostdeutschlands einen so schluss gehalten werden. Aber die meldet sich mit einer Streitschrift, schlechten Ruf haben, dass sie wie hier in Dresden öffentlich verfemt werden, sieht Petra Köp- Indizien, die Köpping vorlegt, belasin der sie nun, fast 30 Jahre nach ping als Folge der bis heute umstrittenen Treuhandpolitik. Foto: dpa/Arno Burg ten die Treuhand schwer. Das Köpdem Ende der DDR, eine Aufarbeiping zuweilen polemisch wird und tung der Nachwendezeit fordert. „Integ- men, in dem ein Mitarbeiter eines Sicher- selbst überlassen. Die Generationen le- sich auf gefühlte Wahrheiten beruft, unriert doch erst mal uns!“ heißt das Buch. heitsdienstes einen Ausländer totprügelt, ben aneinander vorbei. Die Kinder wis- tergräbt allerdings die Glaubwürdigkeit Sie habe es geschrieben, weil die Wun- der gerade dabei war, eine Journalistin se- sen nichts vom Wende-Sturm, der über ihrer Argumentation. den, die die Wendezeit in sehr viele Ost- xuell zu bedrängen. Was genau passiert, die Eltern hereinbrach. Die Eltern bekomSie sagt, sie wolle keinen neuen Keil Biografien gerissen hatte, noch immer lässt der Autor im Dunkeln. Er beschreibt men nicht mit, was ihre Jungs machen, zwischen Ost und West treiben. Ihr gehe nicht verheilt und viele Traumata aus die- dafür, wie sich eine Gruppe von Men- wie sie aus Langeweile und aus Neu- es um die Rettung der Demokratie, um ser Zeit noch immer nicht aufgearbei- schen radikalisiert, die das Gefühl ver- gier nach rechts abdriften. Die Radika- eine neue Form der Glaubwürdigkeit und tet seien. Und über viele Ungerechtigkei- bindet, Opfer einer diffusen Ungerech- lisierung erfolgt aus Einsamkeit, Blind- um die Zukunftssicherung der Bundesreten und Schurkereien der Nachwendezeit tigkeit geworden zu sein. heit und Dummheit – alles nur Spaß, publik, die mit dem demografischen Umwerde noch immer geschwiegen. wir sind keine Nazis – bruch und der Digitalisierung vor einem Lukas Rietzschel Petra Köpping ist seit 2014 sächsische wiederum hat gehört man. Und da ist neuen Strukturwandel stehe. Doch wie Auch da, wo Rietzschel niemand, der kontert, soll der gelingen, wenn im Osten noch Staatsministerin für Gleichstellung und rade den bemerkensseinen Roman maßregelt und sankti- nie die Folgen des letzten politisch und Integration und bringt natürlich viele Bei- werten Roman „Mit spiele aus ihrem Bundesland. Sie schaut der Faust in die Welt oniert. Lehrer, Eltern, historisch aufgearbeitet wurden? Lukas spielen lässt, ist selbst die Polizei – al- Rietzschel hat das vorausgedacht. Wenn aber nicht nur auf Sachsen, sondern ge- schlagen“ vorgelegt, deindustrialisierte Zone nauso nach Thüringen, Brandenburg und den er irgendwo in les soziale Schlaffis, sie man die Sache so wie bisher laufen lässt, schauen weg, wiegeln endet es in Frust, Landflucht, Resignation Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Buch der Oberlausitz zwiund Radikalisierung. Uwe Stiehler taugt zur Pflichtlektüre im politischen schen Kamenz und Bautzen spielen lässt. ab oder haben resigniert. Unterricht – in Ost- wie in Westdeutsch- Auch da: deindustrialisierte Zone. In ZeitWas Lukas Rietzschel hier in einer paland. Die einen erfahren etwas über die sprüngen rückt das Buch fast bis an die ckend verknappten Sprache literarisch Lukas Rietzschel: „Mit der Faust in die Brüche im Leben ihrer Eltern und Groß- Gegenwart heran. Im Jahre 2000 setzt die aufarbeitet, davon berichtet dokumen- Welt schlagen“, Ullstein, 320 S., 20 Euro; eltern, den anderen könnte es helfen, die Geschichte ein. tarisch das von Heike Kleffner und Mat- Petra Köpping: „Integriert doch erst mal Wir schauen auf Familien, die sich ab- thias Meisner herausgegebene Buch „Un- uns! Eine Streitschrift für den Osten“, Chr. Ursachen für eine politische Entfremdung zu verstehen. strampeln, um für sich das versprochene ter Sachsen“. Es untersucht, aus welchen Links, 208 S., 18 Euro; Allerdings ist Petra Köpping nicht als ostdeutsche Wirtschaftswunder wahr morastigen Quellen sich das nazistische Heike Kleffner, Matthias Meisner (Hg.): Einzige auf die Idee gekommen, einmal werden zu lassen. Mit Muskelhypotheken Übel speist, das Sachsen nun so in Miss- „Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willwirklich nachzubohren, warum sich Pe- werden Eigenheime gebaut. Man schaut kredit bringt. Da wird im Großen diagnos- kommen“, Chr. Links, 312 S., 18 Euro gida ausgerechnet in Sachsen formierte, auf Bekannte und Nachbarn mit leicht tiziert, was Rietzschel im Kleinen beobob der politische Rechtsruck etwas mit misstrauischem und neidgefärbtem Blick. achtet hat. Die Regierung Biedenkopf und den Verwerfungen der Nachwendezeit Wie schickt baut er, wie kann er sich das alle nachfolgenden CDU-Regierungen hazu tun hat und wie sich deren Erschüt- leisten? Das Ziel ist: raus aus der Platte ben das Problem kleingeredet und haben terungen in der Gesellschaft und den Fa- und wohnmäßig auf die Seite der Gewin- mit ihrem Wegschauen die Rechtsradikamilien bis heute fortsetzen. ner übersiedeln. Wer in der Platte bleibt, len so lange ermutigt, bis sie als politische Lars Werner hat Anfang des Jahres in ist zweitklassig, Unterschicht. Während Kraft in den sächsischen Landtag eingeFrankfurt (Oder) den Kleist-Förderpreis die Erwachsenen sich nun des Wohlstands zogen sind. Die Politik der CDU, Wähfür sein Stück „Weißer Raum“ bekom- wegen abstrampeln, sind die Kinder sich ler auch am rechten Rand abzufischen,


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