Carlo di Professore - Der Mordanschlag Kapitel 1 und 2

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Carlo di Professore

Detektiv wider Willen Der Mordanschlag Erotikkrimi Books on Demand

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© 2016 Carlo di Professore Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 978-3-7386-4722-8

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Detektiv wider Willen Der Mordanschlag Seite 5 93 Fehler! Textmarke

Freitag, 10. Juni 2005 Samstag, 11. Juni 2005 Sonntag, 12. Juni 2005 nicht definiert. Montag, 13. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Dienstag, 14. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Mittwoch, 15. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Donnerstag, 16. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Freitag, 17. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Samstag, 18. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Sonntag, 19. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Montag, 20. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. 3


Dienstag, 21. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Mittwoch, 22. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Donnerstag, 23. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Freitag, 24. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Samstag, 25. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Sonntag, 26. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Montag, 27. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert. Dienstag, 28. Juni 2005 Fehler! Textmarke nicht definiert.

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Übereinstimmungen mit Orten und Lokalitäten sowie Personen öffentlichen Rechts sind nicht ganz ungewollt. Darüber hinausgehende Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und tatsächlichen Begebenheiten sind aber rein zufällig und nicht absichtlich.

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Freitag, 10. Juni 2005

Es war ein selten unfreundlicher Sommertag. Der Himmel schien aufgebrochen zu sein, denn es schüttete wie aus Kübeln. Die Erde war völlig unfähig, diese Mengen an Wasser in derlei Geschwindigkeit aufnehmen zu können. Auch die Kanalisationen schienen für derartige Ergüsse viel zu klein dimensioniert. Innerhalb kürzester Zeit verwandelten sich kurz geschnittene Wiesen in großflächige Seen, aus denen kein Grashalm mehr herausragte. Die geordneten Anlagen einer Gärtnerei zur Aufzucht von Jungpflanzen erinnerten eher an eine Reisplantage in Südostasien. Es war so richtig ein Wetter, bei dem man wie der Volksmund sagt - keinen Hund vor die Tür jagt. Und dennoch gab es Menschen, die gerade jetzt hektisch unterwegs waren. Einige unter ihnen versuchten noch rasch ihr empfindlichstes Hab und Gut ins Trockene zu bringen, andere waren auf dem Weg nach Hause. So konnte man auf den Straßen noch jede Menge Verkehr beobachten und es pflügte sich auch ein ziemlich altes BMW 323 i Cabrio seinen Weg durch die unzähligen Pfützen der Afritzer Bundesstraße Richtung Villach. An die erlaubte Höchstgeschwindigkeit war bei diesem Wetter auf Grund der Aquaplaninggefahr lange nicht zu denken. Die Tachonadel bewegte sich ganz langsam zwischen 40 und 50 km/h hin und her. Ein Blick auf die leuchtenden Ziffern der Digitaluhr im Armaturenbrett zeigte, dass es gerade erst 17:34 Uhr war und dennoch war an ein Fahren ohne Licht nicht zu denken, denn die dicken, dunklen Wolken ließen nicht den geringsten Sonnenstrahl durch und so war es nahezu stockdunkel. Die Insassen eines Fahrzeuges waren immer nur für den Moment eines Augenblicks erkenn-

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bar, wenn sie gerade vom Lichtkegel eines entgegenkommenden Fahrzeuges erfasst wurden. Nun sah man auch, dass der Fahrer des BMW allein unterwegs war. Seine Augenbrauen hatte er weit nach unten gezogen, sein Blick war voll konzentriert und auf die Straße fixiert, damit ihm ja keine Pfütze entging. Ab und zu schweiften seine Augen für einen kurzen Moment nach rechts und links und versuchten zu erspähen, ob sich ein Reh in den Feldern neben der Straße bewegte. Gerade tauchten im Lichtkegel zwei Verkehrsschilder auf. Das eine wies auf eine Schleudergefahr in der nächsten RechtsLinks-Kombination im Straßenverlauf hin und das zweite kündigte erneut die Gefahr eines Wildwechsels zwischen den Wäldern etwas abseits der Straße an. Der Fahrer reduzierte die Geschwindigkeit nochmals ein wenig und fasste den ohnehin schon ordentlichen Griff um das Lenkrad noch etwas fester. Er blickte in immer kürzeren Abständen auf die Uhr: schon 17:36 Uhr. Er schien es eilig gehabt zu haben, doch die Straßenverhältnisse ließen keine Eile zu. Seine Haare waren nass. Ab und zu fiel sogar ein Tropfen aus seinen Haaren auf seine Hose oder er quälte sich langsam an der Wange entlang zum Hals. Der Fahrer hatte gerade erst wenige Minuten zuvor in Feld am See an einer Tankstelle gehalten und den Tank wieder vollgemacht. Die wenigen Meter von der Zapfsäule bis zum Shop und zurück hatten völlig ausgereicht, um ihn trotz der raschen Schritte ordentlich nass zu machen. Den schwarzen Kaffee, den er im angeschlossenen Café bestellt hatte, hatte er schnell getrunken, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Er war ohnehin schon spät dran. Die gute Fahrt, die ihm der Mann an der Kasse der Tankstelle noch gewünscht hatte, konnte er bei diesem Wetter nur allzu gut gebrauchen. Der Mann am Steuer war Pascal Arnstein, 28 Jahre alt, Inhaber des Architekturbüros Arnstein&Partner. Er war gerade auf dem Weg zurück in sein Büro in Klagenfurt. Es

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war Freitag und normalerweise war an einem Freitag um diese Zeit schon längst Dienstschluss. Doch an diesem Tage war alles anders. Im Büro war noch jede Menge los. So alt der BMW auch war, sein Verdeck war dicht und das gesamte Auto noch ganz gut in Schuss. Aber das Highlight war sicher der nagelneue CD-Player im Kompaktformat mit aufklappbarem Display für das Navigationssystem. Dieses benötigte Pascal im Moment aber nicht, denn den Weg nach Hause kannte er bereits im Schlaf. Er war ihn in den letzten Wochen oft genug gefahren. Nun kam Pascal gerade an die Kreuzung mit der Ossiacher Bundesstraße und fuhr bis zur Haltelinie vor. Normalerweise wäre er rechts abgebogen und hätte den Weg über die Südautobahn gewählt, aber heute war eben alles anders. Weil er bezweifelte, dass er auf der Autobahn bei diesem Wetter erheblich schneller fahren könnte als auf der Bundesstraße, entschied er sich den Blinker nach links einzuschalten und den deutlich kürzeren Weg am Ossiachersee entlang über Feldkirchen zu wählen. Drei Fahrzeuge musste er passieren lassen, ehe er seine Fahrt fortsetzen konnte. Der Straßenbelag schien hier etwas besser zu sein und so nahm der Wagen rasch eine Reisegeschwindigkeit von 80 km/h auf. Die Digitaluhr sprang gerade auf 17:41 und Pascal drückte die Kurzwahltaste seines Handys. Sofort schaltete der CD-Player in den Bluetooth-Modus und die ohnehin kaum hörbare Hintergrundmusik schaltete sich komplett ab, ehe ein regelmäßiges Tut-tut aus den Lautsprechern erschallte. Das Klingeln schien unaufhörlich voranzuschreiten und Pascal spielte in Windeseile durch, welche Gründe es haben könnte, dass niemand an den Apparat ging. Hatte er den falschen Knopf gedrückt? War vielleicht gar keiner mehr im Büro? Doch just in dem Moment, wo er eigentlich erwartete, dass sich der Anrufbeantworter einschalten würde, da meldete sich doch noch eine Stimme

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am anderen Ende der Leitung. »Architekturbüro Arnstein&Partner, guten Abend. Weber am Apparat.« »Hallo Bernhard! Ich bin’s«, antwortete Pascal und fuhr fort mit den Worten: »Tut mir leid. Eigentlich wollte ich bis 17 Uhr zurück sein, aber jetzt werde ich es nicht einmal bis 18 Uhr schaffen. Ich denke, dass es 18:20 Uhr sein wird, bis ich im Büro bin.« »Kein Problem«, erwiderte Bernhard Weber. »Ich habe mir schon gedacht, dass es später wird. Leitner hat mich aus Radenthein angerufen und gesagt, dass sie die Arbeiten für diese Woche beenden, weil ein schlimmes Unwetter im Anzug ist und dass du die Baustelle erst vor wenigen Minuten verlassen hast.« Bernhard und Pascal kannten sich schon von der Schulzeit her. Sie waren acht Jahre lang in dieselbe Klasse gegangen. Zwei Jahre lang drückten sie sogar dieselbe Schulbank. Zehn Jahre war es nun her, dass sie gemeinsam maturierten. Danach verloren sie sich aus den Augen und nach Ableistung des Präsenzdienstes trafen sie sich auf dem Universitätsgelände wieder. Beide hatten sich für das Studium der Architektur entschieden und beide hatten sich dafür Wien ausgesucht. Fast im Gleichschritt besuchte man annähernd dieselben Vorlesungen. Ab dem zweiten Studienjahr teilte man sich sogar die Studentenbude. Sie legten auch am selben Tag ihre Abschlussprüfung ab und erhielten gemeinsam die Sponsionsurkunden aus den Händen des Rektors. Zusammen wollte man den Schritt in die Selbständigkeit wagen und gemeinsam das Architekturbüro Arnstein&Weber aufmachen. Doch im letzten Moment bekam Bernhard Weber kalte Füße und zog eine sichere Anstellung dem Risiko der Selbständigkeit vor. So gründete Pascal das Architekturbüro eben alleine und nannte es Arnstein&Partner, um den Anschein von mehr Kompetenz zu erwecken, wenngleich er zu Beginn Arnstein, Partner und Sekretärin in Personalunion war.

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»Habt ihr es inzwischen geschafft, die Unterlagen für die Stadt fertig zu machen?« erkundigte sich Pascal. »Du hast ja keine Ahnung, was heute alles los war«, versuchte Bernhard zu erklären. »Nicht nur, dass der Computer heute schon zweimal im ungünstigsten Moment den Dienst versagte, hat Verena auch noch die richtige CD mit den wichtigsten Daten verlegt gehabt und es dauerte fast zwei Stunden, bis sie diese wieder fand.« Verena war der gute Geist im Architekturbüro - das Mädchen für alles. Sie hatte eigentlich die Funktion der Sekretärin, doch sie war weit mehr. Sie versprühte so viel Fröhlichkeit im Büro, dass das Arbeitsklima einfach bestens war. Selbst die Klienten regten sich niemals auf, wenn die beiden Chefs einmal etwas später von einem Außentermin zurückkamen und sie warten mussten. Verena servierte ihnen dann Kaffee und Kuchen und wusste immer das richtige Thema anzuschlagen. Auf diese Weise verging die Zeit des Wartens wie im Flug. Auch war sie absolut kompetent und konnte den Klienten selbst in Detailfragen stets weiterhelfen. Kein Wunder, dass sie sich so gut auskannte, denn auch sie hatte mit Pascal und Bernhard ab der dritten Klasse Gymnasium zusammen die Schule besucht. Unmittelbar nach der Matura hatte sie sogar ein Jahr vor den beiden Freunden das Architekturstudium begonnen. Weil sie sich in Wien aber ihr Studium selbst verdienen musste, arbeitete sie nebenbei in einem Kino an der Kasse. Dies hatte aber natürlich zur Folge, dass sie nicht alle ihre Prüfungen im gewünschten Zeitrahmen ablegen konnte. So trat sie auch erst gemeinsam mit Pascal und Bernhard zur ersten Studienabschnittsprüfung an und leider war diese Prüfung auch nicht von Erfolg gekrönt. Doch der eigentliche Grund, warum sie daraufhin ihr Studium abbrach, war, dass sie im zweiten Monat schwanger war. Und die Entscheidung zwischen Familie oder Karriere fiel ihr nach diesem Misserfolg nicht schwer. »Das heißt also nein?« hakte Pascal nach. »Nicht fer-

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tig?« »Doch, fast!« erwiderte Bernhard. »Bis du da bist, ist alles auf CD gebrannt. Dauert höchstens noch ein paar Minuten!« »Aber gedruckt sind die Unterlagen noch nicht?« »Nein!« »Gut, macht nichts. Ist der Kleine noch da?« erkundigte sich Pascal. »Ja! Der war uns bis jetzt eine große Hilfe«, bestätigte Bernhard. »Gut, dann könnt ihr beide gehen, wenn die CDs fertig sind. Aber sagt dem Kleinen, dass er auf mich warten soll!« Damit beendete Pascal das Gespräch und drückte den Knopf am Handy. Sofort begann der CD-Player wieder leise Musik zu spielen. Pascal bemerkte erst jetzt, dass die Tachonadel wie von selbst auf 100 km/h geklettert war. Der Regen hatte auch deutlich nachgelassen. In der Zwischenzeit war man im Büro auch nicht untätig. Im Gegenteil, man versuchte in den verbleibenden Minuten bis zu Pascals Eintreffen noch so viel wie möglich zu erledigen. Doch wenn einmal der Wurm drin ist, dann zumeist ordentlich. Jetzt gab zu guter Letzt auch noch der Drucker den Geist auf. Und der Fehler war gleich gröberer Art. Keinesfalls ohne einen sachkundigen Techniker zu beheben. Ein solcher war aber sicher nicht vor Montag aufzutreiben. Etwas hilflos erwartete man Pascal, der auch schon im nächsten Moment durch die Tür trat. »Was, ihr seid noch da? Ich hatte doch gesagt, dass ihr gehen könnt«, wunderte sich Pascal. Daraufhin Verena mit einem schelmischen Lächeln um den Mund: »Wir wollten schon mit dem Ausdruck beginnen, aber dieses Mistding von Drucker muss ja gerade heute den Geist aufgeben.« Pascal begann auch zu lächeln, zwinkerte Verena zu und sagte: »Der Wille zählt fürs Werk. Jetzt aber ab mit euch beiden, ihr habt heute noch etwas vor.«

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»Du aber auch«, warf Bernhard ein. »Und es ist ja auch kein Unglück, wenn wir einmal eine Ausschreibung versäumen. Wir kommen ja sowieso nicht zum Zug!« »Ich weiß auch, dass wir dieses Mal wieder durch die Finger schauen werden, aber es geht ums Prinzip«, betonte Pascal. »Ich will mir niemals den Vorwurf machen: Hätten wir damals teilgenommen, vielleicht hätten wir gewonnen.« »Ja, aber wie willst du dies ohne Drucker hinbekommen?« wollte Bernhard wissen. »Lass das nur meine Sorge sein. Hauptsache ihr beeilt euch. Ihr müsst ja beide noch zuerst nach Hause und wenn ich tatsächlich ein wenig zu spät bin, werdet ihr mich sicher entschuldigen!« »Aber du kommst heute Abend sicher? Versprochen ist versprochen!« fragte Verena noch während sie Pascal mit schief geneigtem Kopf und leicht zugekniffenem rechten Auge anlächelte. »Jaaa!« wurde Pascal etwas lauter. Bernhard holte sein Jackett von der Garderobe und verließ mit einem freundlichen Augenbrauen Hochziehen wortlos den Raum. Verena erhob sich von ihrem Bürosessel, schob die oberste Schublade zurück und eilte Bernhard nach. Er musste sie mitnehmen, da sie selbst nicht mit ihrem Auto zur Arbeit gekommen war. Im Vorübergehen streifte sie noch Pascal über die Schulter als Zeichen des Grußes. Die ganze Zeit über saß David Horner, den alle nur den „Kleinen“ nannten, wenn sie über ihn sprachen, auf der Bank im Empfangsbüro. Dort, wo die Klienten Platz nahmen, wenn sie etwas warten mussten. An jenem Tisch, an dem sie mit Kaffee und Kuchen verwöhnt wurden, auf dem die Fachzeitschriften für moderne Architektur lagen. David hatte darin bis jetzt gelangweilt geblättert. Jetzt, da die beiden allein waren, legte er die Zeitschriften zurück, blickte seinen Chef interessiert an und erwartete, dass dieser ihm einen Auftrag erteilen würde. Und

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tatsächlich sprach Pascal ihn sofort an: »Das wird glaube ich ein langer Abend für uns beide.« Natürlich wusste Pascal, dass David nicht gerade begeistert sein würde, dass er Überstunden machen musste, aber er spürte, dass da noch etwas war, das dem Kleinen zu schaffen machte und er fragte ihn frisch drauflos mit einem fragenden Lächeln auf den Lippen: »Was ist?« Etwas zögernd kam dann: »Ich müsste meiner Freundin Bescheid sagen, dass ich heute nicht kann.« »Das tut mir natürlich leid, aber ruf sie ruhig an«, forderte Pascal ihn auf. »Geht nicht, sie hat ihr Handy verloren«, entgegnete David. »Ich lauf nur schnell runter und sag ihr Bescheid!« »Sie steht doch nicht etwa bei diesem Wetter unten auf der Straße?« bohrte Pascal nach mit einem Blick, der verriet, dass er jetzt nur kein „Ja“ als Antwort hören wollte. »Doch. Ich glaub schon.« »Und seit wann?« wollte Pascal wissen. »Seit 18 Uhr?« war sich David selbst nicht ganz sicher. »Dann lauf schnell runter und hol sie rauf!« herrschte Pascal den Kleinen eindringlich an. Sofort verließ dieser den Raum und ließ die Bürotür etwas unsanft hinter sich ins Schloss fallen. Pascal hingegen schickte sich sofort an keine Zeit zu verlieren, nahm die fertigen CDs von Verenas Schreibtisch und ging in sein Arbeitszimmer. Die acht Disketten waren perfekt und unverwechselbar beschriftet. Schnell setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Er schob die erste CD ein, sprang sofort wieder auf und eilte zum Aktenschrank. In einer Lade, wo einiges Büromaterial lag, suchte er unter Radiergummis, Bleistiften und Heftklammern nach einem USB-Stick. Und tatsächlich, da war er. Schnell wieder zurück an den Schreibtisch und den Stick in den Adapter des Computers gesteckt. Inzwischen war der Computer hochgefahren. Mit einigen flotten Bewegungen der Maus und nach ein paar Klicks kopierte der Com-

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puter schon die ersten Dateien auf den USB-Stick. In dem Moment klingelte es an der Tür. Schnell rannte Pascal hin, um sie zu öffnen. Vor der Tür stand der Kleine und ein nasses Häufchen Elend hinter ihm. Pascal öffnete nun die Tür weit und David trat ein. Pascal forderte das junge Fräulein auf, auch einzutreten. Mit einem kräftigen »Grüß Gott« tat sie dies dann auch. Sie hinterließ eine deutlich sichtbare nasse Spur am Boden. Als sie bemerkte, dass auch Pascal die Spur aufgefallen war, blickte sie ihn schuldbewusst an und stammelte: »Entschuldigung!« Pascal lächelte sie an und erwiderte: »Das ist doch nicht deine Schuld. Aber wenn wir nicht wollen, dass du morgen mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus liegst, dann musst du so schnell wie möglich raus aus den nassen Klamotten!« David wusste nicht was er tun sollte und stand ziemlich verloren herum. Pascal hingegen eilte in die lange Abstellkammer, die als Archiv diente. Dort befand sich auch ein Schrank, in dem einige weiße Arbeitskittel feinsäuberlich zusammengefaltet lagen. Pascal holte einen nach dem anderen heraus und blickte auf die Größenetiketten. XL, XXL, XL, M, L und S. Natürlich war wieder einmal der Letzte der Richtige. Rasch warf er die Übrigen in den Schrank zurück. Von Ordnung war jetzt aber keine Rede mehr. Zumindest hatte er nun den Richtigen in Händen. Schnell zurück ins Empfangsbüro drückte er den Arbeitskittel dem jungen Fräulein in die Hand und schon war er in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Er öffnete die letzte Tür seines Aktenschrankes. Erst jetzt sah man, dass sich dahinter ein Kleiderschrank befand. In diesem hingen ein gebügelter grauer Anzug und ein dunkles Hemd. Schnell öffnete Pascal eine Lade, in der einige noch original verpackte Herren-Boxershorts und mehrere Paar Socken waren. Auch eine helle Krawatte lag daneben. Pascal holte das einzige weiße Paar Socken hervor und eilte wieder zurück. Nachdem er Davids Freundin auch die Socken in die

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Hand gedrückt hatte, setzte er sich hinter Verenas Schreibtisch und öffnete die unterste Schublade. Aus ihr holte er ein Paar medizinische Pantoffel mit federnder Sohle heraus, die Verena eigentlich nur selten trug. Auch diese übergab er dem Mädchen mit den Worten: »Die letzte Tür.« Dabei deutete er mit dem Finger in Richtung des Fensters, wo gleich daneben eine Tür zu sehen war. »Das ist das Badezimmer«, erklärte er. »Dort kannst du dich umziehen!« Dann legte er den Arm um Davids Schulter und zog ihn mit sich in sein Arbeitszimmer. »Wir beginnen inzwischen gleich mit der Arbeit«, redete er auf den Kleinen ein. Vor dem Schreibtisch ließ er ihn wieder los und David blieb wie angewurzelt stehen in Erwartung, dass der Chef ihm jetzt einen Auftrag erteilen würde. Pascal setzte sich an seinen Schreibtisch, holte den USB-Stick aus dem Adapter und legte ihn unmittelbar vor David auf den Tisch. Dieser zog die Augenbrauen ganz nach oben und mit einem fragenden Blick sah er seinen Chef an. Er wollte ihn fragen, was er damit tun sollte. Ein klarer Auftrag wäre ihm lieber gewesen, aber Pascal stieß sich mit den Händen vom Schreibtisch ab und schoss auf den Rollen seines Arbeitssessels nach hinten. Gekonnt vollführte er dabei eine Drehung um 180 Grad und fing sich mit den Händen an der Aktenwand ab. Ohne sich zu erheben öffnete er eine Schublade in Augenhöhe. Er blickte hinein, holte einen Kopfhörer heraus und legte ihn rasch wieder zurück. Danach kramte er ein wenig in der Lade, ehe er wieder etwas herausholte, was David sofort als MP-3 Player erkannte. Lade geschlossen, schnell wieder vom Aktenschrank abgestoßen und nach einer neuerlichen Drehung saß Pascal wieder vor seinem Computer. Er zog die Schutzkappe ab und steckte den Player in den USB-Adapter. Sein Blick war auf den Bildschirm des Computers fixiert, seine Hand schob die Maus in raschen Bewegungen über den Tisch, als er wieder das Wort an David richtete: »Wie heißt deine

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Freundin eigentlich?« Doch ehe David antworten konnte, schallte es wie aus der Pistole geschossen: »Andrea Pöschl!« Das Mädchen war soeben im Türrahmen zum Büro erschienen. In den Händen hielt sie feinsäuberlich zusammengefaltet ihre Wäsche wie ein Tablett. David war froh, dass Andrea es ihm abgenommen hatte, sich vorzustellen, denn er hatte es nicht so mit dem Reden. Er war fleißig, er liebte klare Anweisungen und Aufträge, die er stets zur Zufriedenheit erledigte. Wenn aber Unterlagen zu einem Klienten oder einem Amt gebracht werden mussten und er womöglich auch noch etwas mündlich auszurichten hatte, begann sein Puls zu rasen und es wurde ihm heiß und kalt zugleich. Pascal sprang sofort auf und ging auf Andrea zu mit den Worten: »Andrea also! Ich darf dich doch Andrea nennen, oder?« lächelte er sie fragend an. Andrea nickte stumm. Pascal nahm ihr die Wäsche aus den Händen und eilte damit zum Badezimmer. »Die müssen wir jetzt rasch trocken bekommen«, sagte er noch. Im Badezimmer befand sich neben einem Waschbecken und einer Duschkabine eine Kombinationswaschmaschine, die auch die Funktion zum Wäsche Trocknen hatte. Mit einer Hand öffnete er das Bullauge und legte die Wäsche genau so gefaltet, wie er sie übernommen hatte, in den Innenraum. Er schloss das Gerät und drehte an dem Rad für die einzelnen Programme. Sofort begannen ein rotes und ein orangefarbenes Licht am Wäschetrockner zu leuchten und Pascal ging wieder zurück zu den beiden in sein Arbeitszimmer. Andrea und David standen noch genau an denselben Positionen, als er den Raum verlassen hatte. Es hatte den Anschein, als hätten sie es nicht gewagt, sich zu bewegen. Jetzt erst betrachtete er Andrea etwas genauer. Sie war ein hübsches selbstbewusstes Persönchen, das trotz ihrer doch etwas lustigen Bekleidung keinesfalls ängstlich wirk-

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te. Der noch immer etwas zu große Arbeitskittel, die weißen Herrensocken und die eher einem Sportgerät ähnelnden Gesundheitspantoffel mit den Spiralfedern unter der Ferse - ein köstlicher Anblick. Und dennoch nicht der Funke einer Unsicherheit. Dagegen glich David einem Häufchen Elend, obwohl er perfekt gekleidet war. So machte es ihm unheimlich zu schaffen, dass er nicht wusste, was als Nächstes von ihm verlangt werden würde. Pascal trat an den Schreibtisch heran und griff nach dem USB-Stick. Er nahm ihn auf und richtete erneut das Wort an Andrea: »Willst du uns helfen?« fragte er. »Ja, gerne«, kam es sofort zurück. Pascal verließ den Raum und sagte: »Na, dann kommt mal mit.« Während Andrea gleich mit den Gesundheitsschuhen hinter Pascal her klapperte, war David unsicher, ob auch er gemeint war. Eigentlich hatte er ein „Kommt“ gehört und nicht „Komm.“ Das musste auch ihn betreffen. Aber er war sich unsicher. Er ging zumindest einmal bis zur Tür und lugte den beiden hinterher, wie sie an den Kopierer, der gegenüber der Badezimmertür neben dem Fenster stand, herangetreten waren. Auch der Kopierer hatte einen USB-Stecker und Pascal schob den Stick hinein. Behutsam erklärte er Andrea, welche Tasten sie zu bedienen hatte und dass von allen dreißig Dokumenten jeweils sieben Kopien anzufertigen waren. »Leider ist das Gerät schon so alt, dass es nicht selbständig sortieren kann«, sagte er zu Andrea. »Darum bitte ich dich, genau darauf zu achten, dass dir beim Sortieren kein Fehler passiert! Wir brauchen genau sieben geordnete Dokumentenstapel.« »Das werde ich gerade noch hinbekommen«, antwortete Andrea schnippisch. Dieses Auftreten gefiel Pascal und er ging lächelnd mit einem leichten Kopfschütteln zurück in sein Büro. Zu David, der noch immer in der Tür stand, sagte er: »Und du

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hilfst ihr dabei!« und nach einer kurzen Pause: »Und später habe ich noch einen Spezialauftrag für dich!« Der letzte Satz richtete David wieder etwas auf, denn im Augenblick davor war er doch ziemlich am Boden zerstört gewesen. Der Chef hatte Andrea mit einer Aufgabe betraut und ihn hatte er nur gebeten ihr zu helfen. Dabei war er es doch, der schon seit neun Monaten hier arbeitete. Hatte der Chef so wenig Vertrauen in seine Arbeit? Dachte man, er wäre zu blöd dafür? Aber der Spezialauftrag, das war schon etwas! Doch im selben Moment packte ihn schon wieder die Angst. Was hatte das zu bedeuten? Was musste er tun? Hoffentlich verlangte man von ihm nichts, was er sich nicht selbst zutraute. Auf jeden Fall ging er zügig zu Andrea hin und zeigte ihr gleich, dass er sich hier auskannte. Flink öffnete er das Papierfach des Kopierers. Mit einem prüfenden Blick schätzte er, wie viele Blatt Papier noch im Kopierer waren. Dann fragte er Andrea: »Wie viele Kopien müssen wir machen?« Es klang fast so, als hätte er das Wort „wir“ etwas stärker betont als die Übrigen. »Vorerst einmal 210«, hatte Andrea die Antwort schnell parat. David biss sich leicht auf die Unterlippe, legte seine Stirn in Falten und ging zielstrebig auf das Archiv zu ohne zu vergessen, dass er dabei auch noch Wissen vermittelnd ein langsames Nicken mit dem Kopf folgen lassen musste. Dies hatte er bei Herrn Weber schon manchmal beobachtet und es hatte ihm unheimlich imponiert. David verschwand im Archiv und kam kurz darauf mit einem Paket Kopierpapier wieder. Er war etwas enttäuscht, dass Andrea ihn dabei gar nicht beobachtet hatte, denn ihr Blick war nur auf den Kopierer gerichtet. Aber anscheinend konnte Andrea ihre Aufmerksamkeit mehreren Dingen gleichzeitig widmen. »Solltest du die Tür nicht wieder schließen?« fragte sie David, ohne ihren Blick vom Kopierer zu nehmen.

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»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte David, legte das Paket am kleinen Tischchen neben dem Kopierer ab und verschwand abermals im Archiv. Als er wiederkam, hatte er ein weiteres Paket Kopierpapier unterm Arm und schloss diesmal die Tür zum Archiv hinter sich. In Wirklichkeit waren die Pakete gerade einmal so schwer, dass er sicherlich auch sieben bis acht auf einmal tragen hätte können. Er legte dieses Paket auf das andere und sagte: »Vielleicht sind es ja doch ein bisschen mehr als nur 210!« Diese Zahl hatte er nämlich von seinem Chef nicht gehört. Daher konnte er sich auch nicht erklären, wie Andrea ausgerechnet auf diese Zahl gekommen war. Andrea wiederum bemerkte in seiner Aussage sofort den Unterton, dass David ihr Wissen in Frage stellte und blieb ihm auch nichts schuldig. Ganz beiläufig ließ sie den Satz fallen: »Ganz schön schwer so ein Paket!« David konnte sich keinen Reim auf diesen Satz machen, runzelte seine Stirn und überlegte, ob Andrea damit seine Kraft bewunderte. Hatte sie in der Zwischenzeit versucht das Paket anzuheben? Doch dieses Grübeln hatte jäh ein Ende: Ein lauter Signalton im Kopierer deutete eine Fehlfunktion an. David schob seine Freundin sanft aber doch bestimmt beiseite und blickte auf das Kontrollfeld. Andrea hatte schon längst gesehen, dass da die Worte „Kein Papier“ blinkten. David jedoch starrte noch ein paar Sekunden länger hin und sagte dann: »Wahrscheinlich ist das Papier zu Ende.« Andrea stand hinter ihm und stammelte mit breitem Grinsen ein »So, so?« David öffnete die Tür am Kopierer und zog die Papierlade heraus. Tatsächlich, sie war leer. Er trat einen Schritt zur Seite, damit Andrea das leere Papierfach gut sehen konnte. Rasch holte er eines der beiden Pakete. Geschickt hatte er mit einem Zug die Schutzhülle abgezogen und etwa die Hälfte des Stapels von 500 Blatt in das leere Papierfach eingelegt ohne zu vergessen, dass er diesen Stapel

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zuerst mit jeder Kante nach oben noch zweimal auf den Tisch klopfen musste. Er schloss das Papierfach und die Frontplatte des Kopierers. Während er am Kontrollfeld nachsah, was nun zu tun sei, griff Andrea unter seinen Armen durch und drückte auf den grünen Copy-Knopf. Sofort startete das Gerät mit einem leichten Rattern den nächsten Druckvorgang. Pascal war inzwischen damit beschäftigt seinen MP3Player neu zu formatieren und einzelne Dokumente auf den Player zu laden. Als er damit fertig war rief er David zu sich ins Büro. Dieser erschien auch sogleich in der Tür und eilte zum Schreibtisch. Pascal reichte ihm den MP3Player und listete auf: »Du nimmst jetzt diesen Player, ziehst dich an und gehst hinunter. Warte im Hauseingang. Ich rufe jetzt ein Taxi. Das wird in etwa fünf Minuten da sein. Wenn das Taxi vor dem Haus hält, dann steigst du ein und der Fahrer bringt dich zum Copy-Shop in der Theatergasse. Dort steigst du aus und gehst in den Copy-Shop. Der Taxifahrer wird auf dich warten, bis du fertig bist.« Pascal griff mit der rechten Hand nach hinten in seine Hosentasche und holte seine Brieftasche hervor. Er klappte sie auf und zog eine scheckkartengroße rote Karte hervor, auf der deutlich die Worte „Copy-Shop“ zu lesen waren. Auch diese Karte streckte er David mit den Worten entgegen: »Den Player und die Karte gibst du dem Fräulein an der Kasse. Ich werde sie anrufen und ihr genau sagen, welche Kopien sie anfertigen soll. Du wartest einfach bis du den Player, die Karte und einen Umschlag mit den Kopien von ihr bekommst und fährst mit dem Taxi wieder hierher!« Pascal griff noch einmal in die Brieftasche und holte einen Fünfzigeuroschein hervor. »Vergiss nicht, das Taxi zu bezahlen«, erinnerte er David noch und streckte ihm den Geldschein entgegen. ›Na, das war wieder einmal ein klarer Auftrag‹, dachte David und verließ ohne ein Wort das Büro. Pascal griff rasch zum Hörer und wählte die Nummer

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der Taxizentrale. Schnell war der Auftrag erklärt und das Fräulein am anderen Ende verabschiedete sich mit den Worten: »Ist schon unterwegs!« Nun noch schnell der Anruf im Copy-Shop. »Jedes Dokument in siebenfacher Ausfertigung auf Größe A1, Transparentpapier. Bitte auch falten auf Größe A4 mit Heftrand. Eigentlich so wie immer. Vielen Dank.« Die Leiterin des Shops kannte die üblichen Wünsche und verstand sofort. Pascal legte den Hörer auf, erhob sich aus seinem Sessel und verließ den Raum. Er näherte sich dem Kopierer und fragte Andrea: »Auf welcher Seite bist du schon?« »Seite 21«, antwortete sie flott. »Sehr gut. Und hast du schon alle geordnet?« »Bis zur Seite 20 ja!« »Perfekt«, rief Pascal erfreut. »Die Seiten 1 und 14 bis 18 müssen nämlich laminiert werden.« »Die sieben geordneten Pakete liegen am Schreibtisch.« Mit diesen Worten zwängte sich Andrea an Pascal vorbei und ging zu Verenas Schreibtisch. Sie ergriff den obersten Pack eines Papierstapels, die alle immer wieder um 90° gedreht übereinander lagen und reichte Pascal die Blätter. Er nahm nur das oberste Blatt, legte es auf den Tisch und verschwand im Archiv. Man hörte, dass einige Türen geöffnet und wieder geschlossen wurden. Auch Laden wurden zum Teil etwas unsanft zurückgeschoben. Darunter schob sich noch vollkommen unverständliches Gemurmel, das man keinesfalls als freundlich einstufen konnte. Doch als Pascal aus dem Archiv zurückkam, lächelte er schon wieder und sagte: »Ordnung ist alles!« Er hatte in einer Hand ein Laminiergerät und in der anderen ein gelbes Paket mit Laminierfolien. Er stellte beides auf den Tisch und steckte sofort das Kabel des Laminiergerätes in die letzte freie Steckdose am Tisch. Das rote Licht am Gerät begann zu leuchten und Pascal trat um den Tisch herum. Er nahm eine Folie aus der Box und schob das erste Blatt zwischen

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die beiden Hälften. Während er versuchte, das Blatt genau in der Mitte auszurichten, wechselte die Kontrollleuchte seine Farbe von Rot auf Grün. Andrea hatte das Ganze bis jetzt nur beobachtet, doch plötzlich trat sie ganz frech nach vorne und zwängte sich zwischen Pascal und Schreibtisch. Mit den Worten: »Darf ich das machen?« nahm sie ihm die Folie aus der Hand und schob sie vorsichtig in den Schlitz des Gerätes. Während die Folie mit einem leichten Surren langsam eingezogen wurde, trat Pascal erschrocken einen Schritt zurück und betrachtete das kleine Persönchen verblüfft von hinten. Mit einem Lächeln auf den Lippen bewegte er den Kopf langsam nach rechts und links. Andrea erwartete mit ihren Händen die fertige Folie an der Rückseite des Gerätes. Sie hielt sie prüfend gegen das Licht, drehte sich um und überreichte Pascal die Folie. »Passt das so?« fragte sie keck. »Ja!« lautete Pascals knappe Antwort. Eigentlich war er jetzt überflüssig, denn die Arbeit erledigte sich fast schon von selbst. So trat er einen weiteren Schritt zurück und beobachtete das eifrige Treiben nur noch aus der Distanz. Eine Folie nach der anderen war fertig und Andrea ordnete die Blätter und tauschte einen Stapel mit dem nächsten. Schnell hatte sie die entsprechenden Blätter wieder aussortiert, als ein leiser Piepston vom Kopierer her ertönte. Andrea legte die Blätter beiseite und eilte zum Kopierer. Ein, zwei Tasten gedrückt und das Gerät begann wieder zu arbeiten. Während Andrea wieder zum Schreibtisch zurückeilte, musterte Pascal sie noch einmal etwas genauer. So eine Kombination von hübsch aber auch intelligent hatte er selten gesehen. Außerdem war sie auch noch sympathisch. »Welche Schule gehst du?« fragte er, um die Stille, die nur vom Surren der einzelnen Geräte erfüllt war, zu unterbrechen. »Ingeborg Bachmann Gymnasium«, antwortete Andrea,

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ohne dabei ihre Arbeit zu unterbrechen. »Welche Klasse?« »6 a.« »Und bist du eine gute Schülerin?« war er immer neugieriger geworden. »Geht so«, überlegte sie laut. »In einigen Gegenständen bin ich ganz gut, in anderen wieder etwas faul.« »Kann ich fast nicht glauben, wenn ich sehe, welchen Eifer du hier an den Tag legst.« »Das ist etwas Handwerkliches«, erwiderte Andrea. »Das macht Spaß. Wenn ich dagegen an die vielen Formeln in Chemie denke, ist der Eifer schnell verflogen.« In den folgenden Momenten war es aber wieder still und Pascal betrachtete ihre hübsche Silhouette. Dabei fiel ihm auf, dass sich durch den weißen Arbeitskittel keine exakten Konturen ableiten ließen. Sie konnte schlank, aber auch pummelig sein. Darauf hatte er, als sie völlig durchnässt das Büro betrat, überhaupt nicht geachtet. Und so sehr er sich auch bemühte, er konnte auch keine Konturen eines Büstenhalters oder eines Höschens erkennen. Diese müssten doch wenigstens ansatzweise auszumachen sein. Aber da war einfach nichts zu erahnen. »Wie alt bist du?« Mit dieser Frage versuchte Pascal seine Gedanken wieder in eine andere Richtung zu lenken. »Nächste Woche werde ich sechzehn!« gab sie als Antwort. »Am 17. Juni also?« überlegte Pascal. »Nein am 16.« widersprach sie. »Warum? Wollen sie mir etwas schenken?« Diese kecke Frage brachte Pascal etwas aus der Fassung. Er, der sonst eigentlich nie um eine passende Antwort verlegen war, musste hier durchschnaufen. Aber nach kurzer Pause gab er zurück: »Nein, aber ich habe überlegt, ob man nicht eine dicke Party schmeißen sollte. Man wird schließlich nicht jeden Tag sechzehn. Ein ganz besonderer Geburtstag.«

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Postwendend kam Andreas Ablehnung: »Das wird aber kaum gehen, denn nächstes Wochenende bin ich total ausgebucht. Da jagt ein Fest das andere.« »Ist mir auch recht, denn ich wollte ohnehin nur David beauftragen die eine oder andere Runde in meinem Auftrag zu übernehmen. Ich hoffe, er ist zu den Feiern eingeladen?« Toucher! Damit stand es 1:1. Hier war Pascal an jemanden geraten, der es in punkto Schlagfertigkeit mit ihm durchaus aufnehmen konnte. Ebenfalls etwas zeitverzögert sagte Andrea: »Bei meiner Geburtstagsfeier ist David sicher dabei. Jedoch am Mädchenabend sind Jungs verboten!« »Dann sollte ich vielleicht doch besser am Mädchenabend die Getränkerechnung übernehmen«, hakte Pascal nach. Dem ließ Andrea nur ein nachdenkliches »Vielleicht?« folgen. Mit den Worten: »Ich sehe mal nach, ob die Wäsche schon trocken ist« machte Pascal sich auf ins Bad zu gehen, um dem doch etwas emotional geführten Zwiegespräch eine Ruhepause zu gönnen. In der Zwischenzeit war David mit dem Taxi in den Copy-Shop gefahren. Dort hatte man ihn bereits erwartet und gebeten Platz zu nehmen. Sogar einen Kaffee hatte man ihm angeboten und er dankend angenommen. Obwohl der Kaffee ziemlich stark war und das Fräulein anscheinend auf den Zucker vergessen hatte, grinste er über das ganze Gesicht, während er dieses eklige Gesöff in sich hineinschlürfte. Nach etwas mehr als zwanzig Minuten übergab ihm das Fräulein ein durchsichtiges Kuvert, in dem man schon von außen den MP3-Player, die Copy-Shop Karte, eine Rechnung und unzählige Pläne erkennen konnte. Dann bedankte sich das Fräulein noch bei David dafür, dass er so geduldig gewartet hatte. Gleich darauf verließ David wieder den Shop, stieg ins Taxi und fuhr zurück. Das Trockenprogramm war abgeschlossen und Pascal

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öffnete die Trommel, um die Wäsche herauszunehmen. Sofort waren ihm der oben auf liegende BH und der grelle String ins Auge gesprungen. Beides hatte er beim Beladen des Wäschetrockners einfach nicht gesehen. Pascal konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Danach legte er die Wäsche auf der Waschmaschine ab und kehrte ins Büro zurück. Dabei blickte er auf die Uhr und sah, dass der große Zeiger schon an der Zwölf vorbei war. Ein Blick auf den Stundenzeiger brachte Gewissheit: Es war bereits nach 20 Uhr. Und um 20 Uhr begann die Maturafeier. Er war wieder einmal zu spät. Auf den Tag genau heute vor zehn Jahren hatten alle gemeinsam die mündliche Matura abgelegt. War das ein großer Augenblick, als der alte Studienrat Steiner damals verkündete, dass alle dreißig Schüler der 8 a,b die Prüfung bestanden hatten. Als das extra für diesen Fall vorbereitete Leintuch mit allen Unterschriften am Fahnenmast gehisst wurde … Ein lauter Pieps des Kopierers riss Pascal aus seinen Träumen und während er zum Kopierer starrte, sagte er zu Andrea: »Die Wäsche ist schon fast fertig.« »Die Unterlagen auch«, antwortete Andrea. »Das waren die letzten Dokumente.« Pascal hatte gelogen, denn eigentlich war die Wäsche ja schon fertig, aber irgendwie wollte er die Chance noch aufrechterhalten, sich davon überzeugen zu können, ob Andrea unter ihrem Arbeitskittel tatsächlich nackt war. Andrea holte die letzten Blätter aus dem Kopierer und fügte sie den fertigen Stapeln hinzu. Pascal holte ein Bindegerät aus dem Archiv und stellte es auf dem Schreibtisch ab. Andrea fasste den ersten Stapel fest an und hielt ihn Pascal entgegen. Er aber übernahm ihn nicht, sondern ergriff Andreas Hände, führte sie vorsichtig zum Bindegerät und ließ ihre Hände wieder los. Nun drehte er an einem Hebel und mehrere Messer fraßen sich in den Stapel an Dokumenten. Jetzt verstand Andrea, dass dies wohl eine Arbeit war, die

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eine Person allein nur schwer ausführen konnte, wenn es perfekt sein sollte. Ihr war es zuerst doch etwas befremdend vorgekommen, als Pascal sie an den Händen erfasst hatte. Während der ganzen Zeit, in der sie gemeinsam auch die weiteren Stapel fertigstellten, standen sie sich gegenüber und Pascal versuchte mehrmals durch einen Blick in ihren Ausschnitt Gewissheit zu erhalten. Es war jedoch unmöglich. Der oberste Knopf gab einfach keinen Einblick frei. Daher beschloss er sofort, dass er neue Arbeitskleidung anschaffen würde. In dem Moment, wo der letzte Stapel gebunden war, klingelte es an der Tür. Pascal eilte hinüber und öffnete. David trat ein und überreichte sofort die Unterlagen. Auch drückte er seinem Chef das Restgeld von der Taxifahrt in die Hand. Pascal nahm alles mit den Worten: »Das hast du gut gemacht!« entgegen und verschwand in seinem Büro, um kurz darauf mit den Großkopien wiederzukehren. »In jedes dieser sechs Kuverts kommt eine Dokumentenmappe, eine CD und zwei dieser Großkopien«, sagte er zu Andrea. Sie fragte sofort nach, ob die Kuverts zugeklebt oder nur eingeschlagen werden sollten? »Nur einschlagen!« forderte Pascal und zu David: »Du könntest bitte alle Geräte ausschalten.« »Ja«, antwortete David und ging als Erstes zum Kopierer. Nachdem Andrea die sechs Kuverts verschlossen hatte, erkundigte sie sich: »Und was ist mit der siebenten Mappe?« »Die bleibt bei uns«, antwortete Pascal. »Lass sie einfach liegen.« Dann hielt er Andrea ein noch größeres Kuvert entgegen und bat sie die anderen sechs Kuverts darin zu verstauen. Danach klebte er dieses zu und mit einem fast stöhnenden Seufzer kam ein: »Fertig!« über seine Lippen. »Ohne euch beide und eure großartige Hilfe hätte ich es niemals geschafft, doch noch rechtzeitig fertig zu wer-

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den. Nochmals vielen Dank!« David sah man an, dass er stolz über dieses Lob war und er grinste über das ganze Gesicht. Andrea hingegen sah man an, dass sie ziemlich erschöpft war und ihr Lächeln war doch etwas gequält. »Die Wäsche ist jetzt sicher trocken«, sagte Pascal, worauf Andrea im Badezimmer verschwand. Nun rief Pascal den Kleinen zu sich, holte die Brieftasche aus der Hose und griff hinein. Er holte einen 50 Euro Schein hervor und drückte ihn David mit den Worten: »Ich möchte, dass ihr euch einen schönen Abend macht!« in die Hand. Danach ging Pascal in sein Arbeitszimmer, schaltete seinen Computer aus, räumte noch die letzten Utensilien vom Schreibtisch und schloss sämtliche Laden und Türen des Aktenschrankes. Danach ging er zurück ins Empfangsbüro. Andrea war inzwischen aus dem Bad zurückgekommen und sah in ihrer eigenen Wäsche wieder ganz ordentlich aus. »Ich habe die anderen Sachen auf die Waschmaschine gelegt!« sagte sie. »Sehr gut«, lobte Pascal. »Ich möchte mich noch einmal ganz herzlich bei dir bedanken, Andrea. Ohne dich hätten wir es sicher nicht mehr rechtzeitig geschafft!« Und nach einem Blick auf die Uhr fuhr er fort: »Es bleiben gerade noch mal zwanzig Minuten, um die Post rechtzeitig wegzuschicken, denn um 21 Uhr schließt das letzte Postamt.« Andrea lächelte freundlich zurück, ohne etwas zu sagen. Abschließend merkte Pascal noch an: »Wenn du einmal auf der Suche nach einem Job sein solltest, dann melde dich bei mir. Jemanden wie dich würde ich jederzeit als Mitarbeiter bei mir aufnehmen. So und jetzt wünsche ich euch beiden noch einen wunderschönen Abend.« Fast gleichzeitig war ein »Danke« von David und Andrea zu hören und die beiden gingen auf die Ausgangstür zu. Eigentlich wollte Pascal noch eine Bemerkung wegen Andreas Geburtstag nächste Woche fallen lassen, doch das

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verkniff er sich im selben Moment wieder. Er sah gerade noch, dass David etwas aus der Hosentasche holte und es Andrea leicht verdeckt zeigte. Pascal war sich sicher, dass es der Geldschein war, den er David gegeben hatte und dachte bei sich: ›Der Kleine ist schon ein ganz toller Bursche und wenn man sich die beiden von hinten ansieht, passen sie ganz gut zusammen.‹ Als sich die Tür hinter ihnen schloss, lächelte Pascal, weil er sich sicher war, dass der doch in sehr einfachen Bahnen denkende David in dieser Beziehung wohl kaum den Ton angeben würde. Doch plötzlich durchfuhr es Pascal, dass er es ja eilig hatte. Ganz schnell lief er in sein Büro zurück, holte den Anzug aus dem Schrank und zog sich in Windeseile um. Schnell noch das Aktenkuvert unter den Arm, Licht gelöscht und er verließ keine fünf Minuten nach den beiden auch das Büro. Im Nordwesten der Stadt, unmittelbar neben dem Wörthersee, liegt das Kreuzbergl, der Hausberg der Klagenfurter. Er ist nur wenig mehr als 100 Meter hoch und ein beliebtes Ausflugsziel. Neben den unzähligen Parks entlang des Ringes ist das Kreuzbergl die grüne Lunge der Stadt. An den drei terrassenförmig angelegten Teichen führen zahlreiche Wanderwege vorbei, die von den Bewohnern das ganze Jahr hindurch eifrig frequentiert werden. Auf der Spielwiese tummeln sich am Vormittag Schulklassen der nahe gelegenen Schulen, um ab und zu dem Turnunterricht in den muffigen Turnsälen zu entfliehen und die sportlichen Aktivitäten in frischer Waldluft zu erleben. Doch auch nachmittags ist die Wiese mit Leben erfüllt. Während Mütter ihre Kinderwagen langsam über die Wege hin- und herschieben und sich dabei mit anderen Müttern über allerlei Wichtiges unterhalten, tummeln sich die schon etwas größeren Kinder auf der Rutsche, der Schaukel und dem Ringelspiel oder laufen auf der Wiese einem Ball hinterher. Daneben flattern Enten über den mittleren der drei Teiche und lassen sich mit lautem Ge-

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schnatter auf dem mit Seerosen übersäten Wasser nieder. Gleich unter der Spielwiese befindet sich der Botanische Garten der Stadt. Eine Vielzahl exotischer Pflanzen, teilweise in Gewächshäusern, teils auch im Freigelände, bietet im Spätfrühling ein ungewöhnliches Zusammenspiel verschiedener Düfte und einen selten bunten Anblick einer Blütenpracht. Biologielehrer nützen dann die Möglichkeit ihren Schülern auch einmal die Natur in ihrer ganzen Schönheit zeigen zu können. Wenige Meter weiter steht die Kreuzberglkirche. Sie ist eine beliebte Hochzeitskirche. Ihr Kreuzweg führt schlangenförmig an 14 gemauerten Kreuzwegstationen vorbei, steil nach oben bis zum Kirchenportal. Der Blick von hier auf die Stadt hinunter ist sagenhaft schön. Am Ende der schier unendlich lang erscheinenden und vollkommen geraden Radetzkystraße sieht man den Stadtpfarrturm. Er ist mit 88 Metern Höhe schon seit mehr als hundert Jahren das höchste Bauwerk der Stadt. Und das wird er mit Sicherheit auch noch lange bleiben, denn es bestehen keinerlei Bestrebungen nach monumentalen Bauten mehr. Im Gegenteil: Nach einigen Bausünden in den Sechziger Jahren geht die Anzahl der Stockwerke für Neubauten wieder deutlich zurück. Hoch über der Kreuzberglkirche ist die Sternwarte der Stadt. Von ihr ragt nur die Beobachtungskuppel über die Baumwipfel empor. Der Rest des Gebäudes mitsamt seinem mächtigen Turm ist derart von hohen Bäumen umfasst, dass man das Gebäude erst erblickt, wenn man unmittelbar davor steht. Von all dem war aber jetzt nichts zu sehen, denn es war schon 21 Uhr und die Wolkendecke so dicht, dass kein Stern und auch nicht der Mond den Himmel erhellten. Und so thronte das Kreuzbergl als dunkler Fleck über der Stadt. Nur die hell angestrahlte Kreuzberglkirche mit ihren Kreuzwegstationen war gut zu erkennen. Und dahinter, noch etwas oberhalb der Kirche ließen sich im Schein der Terrassenbeleuchtung die Umrisse des Schweizerhauses erahnen. Das Schweizerhaus war

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ein beliebtes Ausflugsziel und ob seiner guten Küche weithin bekannt. So fand man hier auch den würdigen Rahmen zur Abhaltung der 10-Jahresfeier. Man hatte den Festsaal reserviert und es war tatsächlich ein reges Treiben in dem großen Raum. An einer langen Tafel saßen zahlreiche Personen, von denen man auf den ersten Blick sagen konnte, dass sie alle ungefähr im selben Alter waren. Am Ende der Tafel stand auf einem Podest, welches bei anderen Veranstaltungen als Bühne dienen konnte, ein langer Tisch quer zur übrigen Tafel. An diesem Tisch saßen sechs Männer und eine Frau deutlich älteren Jahrgangs. Darüber hinaus sausten noch einige Kellner und Kellnerinnen um die Tische und brachten allerlei Getränke und Speisen oder waren gerade dabei die Gläser wieder fortzuschaffen. Im Moment war es sogar verhältnismäßig ruhig. Noch vor wenigen Minuten konnte man bei dem lauten Geschnatter kaum sein eigenes Wort verstehen. Es schien als müsste jeder gerade mit der Person ein Gespräch führen, die am weitesten entfernt von ihm saß und ein jeder versuchte den anderen dabei noch zu übertönen. Doch jetzt war gerade so genannte Gefräßige Stille eingekehrt. Derzeit hörte man hauptsächlich ein Löffelkonzert. Jede Art von Besteck schien mehr oder weniger rhythmisch auf Porzellan einzuhämmern. Da und dort noch ein Sessel zurechtgerückt, das Zusammenprosten zweier oder mehrerer Gläser. Das war es dann aber schon. Wenn man auf die Tische blickte, dann stimmte das Sprichwort, dass Geschmäcker eben verschieden sind. Da saß eine Brettljause neben gebackenen Champignons, eine Gulaschsuppe zwischen einem Wiener Schnitzel und einem griechischen Salat. Ja selbst eine Sachertorte mit Schlag unterhielt sich mit einem sauren Wurstsalat. Es war kaum vorstellbar, dass die Speisekarte des Hauses noch weitere Gerichte beinhalten konnte. Da sah es am Tisch auf der Bühne schon ganz anders aus. Hier hielten sich vier Wiener Schnitzel und drei Naturschnitzel mit dreimal Kartoffeln und viermal Reis annähernd die

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Waage. Es war unverkennbar eine Klassenfeier, wo zwei Generationen und Lebenseinstellungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, aufeinander trafen ohne Konflikt zu erzeugen aber auch ohne die geringste Chance auf Annäherung. Da hatte der Oberstudienrat auf der Bühne aber schon gar nichts gemeinsam mit dem jungen aufstrebenden Englischlehrer am Anfang der Tafel. Aber selbst der junge Assistenzarzt links vom Tisch konnte mit dem stellvertretenden Postamtsleiter gegenüber von ihm nicht wirklich etwas anfangen. Und als schön langsam alle mit ihrem Essen fertig waren und das Geschirr geräumt wurde begann man wieder Gespräche zu führen und man unterhielt sich hauptsächlich über die Schulzeit. Die Vergangenheit war die einzige Gemeinsamkeit, die man hatte. In der Gegenwart war man sich doch sehr fremd geworden. Dennoch versuchte jeder äußerst höflich mit seinem Gegenüber umzugehen. Eine richtige Stimmung schien aber nicht aufzukommen. Der eine oder andere blickte auch schon mal auf die Uhr. Dabei war der Abend gerade erst einmal eineinhalb Stunden alt. Eigentlich hatte jeder erwartet, dass es genauso wie bei den vielen feuchtfröhlichen Feiern vor zehn Jahren auch diesmal bis weit nach Mitternacht gehen würde. Doch danach sah es im Moment gar nicht aus. Manch einer grübelte schon, wie er seinen vorzeitigen Abgang inszenieren konnte. Was sollte man als Grund angeben? Hatten die Kinder einen unruhigen Schlaf? War die Mutter krank zu Hause? Ein Termin, bei dem man morgen schon sehr früh raus musste? Dies alles sollte sich aber rasch ändern. Die Uhr zeigte gerade 21:15, als Pascal am Schweizerhaus eintraf. Er hatte zuvor die Postsendung eingeschrieben aufgegeben und danach noch kurz an einem Bankomaten gehalten, um die Barschaft in seiner Brieftasche wieder etwas aufzufüllen. Im Eingangsbereich traf er Peter Berghof, den langjährigen Klassensprecher, der soeben von der Toilette gekommen war.

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Dieser überfiel Pascal gleich mit einer Umarmung und rief erfreut: »Bin ich froh, dass du noch gekommen bist. Jetzt sind wir komplett. Es sind doch tatsächlich alle gekommen, ohne Ausnahme. Nur du hast uns noch gefehlt!« »Aber Verena wird ja wohl ausgerichtet haben, dass es bei mir später wird, oder?« erwiderte Pascal und versuchte sich aus der Umklammerung zu lösen. Doch Peter legte seinen Arm um Pascals Schulter und schob ihn Richtung Festsaal. »Du musst mir helfen etwas Stimmung in die Bude zu bringen!« forderte Peter. Pascal wusste nicht, wie ihm geschah. Er überlegte schon, ob er sich nicht bei einem der Gäste an der Bar festhalten sollte, um nicht wie in einem reißenden Strom mitgezogen zu werden. Doch er wollte den alten Freund keinesfalls beleidigen und so ließ er es geschehen, dass er in den Festsaal gedrückt wurde. Mit einem übertriebenen »Ta-Raaa« kündigte Peter den Ehrengast an. »Der letzte Mohikaner ist eingetroffen!« rief er laut. Es war unverkennbar, dass Peter einige Jahre als Animateur gearbeitet hatte, ehe er die Leitung eines Reisebüros übernahm. Pascal hatte sich schon beim ersten Laut erschrocken und es war ihm auch dieser künstliche Humor vollkommen zuwider. Aber er machte wieder einmal gute Miene zum bösen Spiel. Mit leicht zugekniffenen Augen, die verrieten, dass er einen weiteren Fanfarenton befürchtete, blickte er in die Runde. Eines hatte Peter zumindest erreicht: Sämtliche Augen waren auf Pascal gerichtet und er sah, wie Helmut Krassnig von seinem Stuhl aufsprang und auf ihn zutrat. Als dieser ihn in seine Arme schloss, hatte wenigstens das Schieben von hinten aufgehört. »Mensch, habe ich dich lange nicht gesehen!« rief Helmut. »Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte Pascal in extra langsam gesprochenen Worten. Jetzt musterte er die ganze Tafel und bereute es, dass er nicht pünktlich ge-

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wesen war. Er wusste, dass er wohl kaum umhin kommen würde, jetzt jeden einzeln zu begrüßen. Kurz überlegte er, an welcher Ecke er beginnen sollte und so entschied er sich für Klaus Tragbauer. Klaus war ein Cousin zweiten Grades, den er in den vergangenen Jahren des Öfteren bei Familienfeiern getroffen hatte. Zuletzt vor vier Wochen beim Begräbnis der Großmutter von Klaus. Pascal war auch zur Hochzeit von Klaus und seiner Julia eingeladen. Klaus war aufgestanden und drückte seinen Cousin auf beiden Seiten an die Wange. »Tut mir leid, dass ich nach Omas Begräbnis so schnell aufbrechen musste!« entschuldigte sich Pascal. »Wir sind auch nicht viel länger geblieben als du«, antwortete Klaus. »Den Kindern hat es schon zu lange gedauert.« Pascal drückte seinem Cousin noch einmal die beiden Oberarme und schickte sich an, die Begrüßungszeremonie fortzusetzen. Neben Klaus saß Bernhard Weber. Ihm legte Pascal nur kurz die rechte Hand auf die Schulter. Ein freundlicher Augenkontakt reichte, denn man hatte sich ja vor etwas mehr als drei Stunden zuletzt gesehen. Daneben Verena Hofer. Auch sie hatte er noch vor Kurzem gesehen, doch ihr drückte er ein kleines Busserl auf die Wange. Danach drehte Verena ihren Kopf zu Pascal und lächelte ihn an. Worte waren hier unnötig. Als Nächstes kam Renate an die Reihe. Während der Schulzeit hieß sie Maier. Ob sie inzwischen geheiratet hatte, wusste Pascal nicht. Sie stand auf und wollte in der Herzlichkeit der Begrüßung keinesfalls hinter den anderen zurückstehen und drückte Pascal einen festen Schmatz auf die Wange. »Ich hoffe, dass nicht wieder zehn Jahre vergehen müssen, bis wir uns wiedersehen!« forderte sie noch. Dann ließ sie Pascal wieder los. So ging das nun von einem zum anderen. Jeder verwickelte Pascal in ein kurzes Gespräch und es schien, als wollte jeder, egal ob männlich oder weiblich, die Übrigen in seiner innigen Begrüßung übertreffen. Selbst Andrea,

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die Lebensgefährtin von Peter Berghof, ohne die Peter vermutlich keinen Ausgang erhalten hätte, drückte Pascal an ihre mehr als üppige Brust, obwohl sie sich im Leben noch nie zuvor gesehen hatten. Pascal wusste nicht, wie ihm geschah. Sofort schoss ihm durch den Kopf, was Jesus am Ölberg zu seinem Vater gesagt hatte: ›Herr, lass diesen Kelch an mir vorüberziehen!‹ Doch es war unmöglich, den Begrüßungsreigen hier abzubrechen. Er wollte niemanden brüskieren und so setzte er seinen Weg geduldig fort. Auch Helmut, der ihn ja schon beim Betreten des Festsaales umarmt hatte, stand jetzt noch einmal auf und drückte ihn erneut. Es kam Pascal fast wie ein Déjà-vu vor, als dieser auch noch den Satz: »Mensch, habe ich dich lange nicht gesehen« wiederholte. Pascal vermied es darauf zu antworten und hoffte nur, nicht in einer Zeitschleife gefangen zu sein. In Bruchteilen einer Sekunde ließ er den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ vor seinem geistigen Auge ablaufen und während er in Gedanken durchspielte, dass er, sollte Helmut denselben Satz ein drittes Mal wiederholen, ein Jucken in der rechten Faust verspüren würde, stand er plötzlich vor Alex. Sie hieß eigentlich Alexandra Ebner und war während der Schulzeit Pascals großer Schwarm. Dies hatte er allerdings stets verbergen können. Niemand ahnte etwas davon. Es hätte auch wenig Sinn gehabt, denn Alex war immer schon die Hübscheste von allen an der Schule und war eigentlich ab Ende der vierten Klasse immer in festen Händen. Nicht immer in denselben Händen. Nein, nein! Sie wechselte ihre Partnerschaften recht oft. Mehrmals kam sie mit ihren Problemen zu Pascal, wenn einmal eine Beziehung in die Brüche gegangen war. Dann weinte sie sich oft an seiner Schulter aus. Mehr hatte sie eigentlich nie in ihm gesehen. Er war immer nur ein guter Freund, den man stets um Hilfe bitten konnte. Und nun stand sie nach zehn Jahren plötzlich wieder vor ihm. Gerade ihre Begrüßung war etwas kühl. Gerne hätte er auch von ihr ein Küsschen er-

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halten, doch sie erfasste seine Hände und hielt ihn so geschickt auf Distanz. »Hallo Alex!« sagte Pascal mit einem Lächeln, das ehrliche Freude über das Wiedersehen ausdrückte. »Schön dich zu sehen«, antwortete Alex und »ich hoffe, wir finden heute Abend noch Zeit uns etwas länger zu unterhalten«, fuhr sie fort. Dann ließ sie seine Hände wieder los. Die folgenden drei Mitschüler begrüßte Pascal wie im Schlaf. Eigentlich konnte er sich weder erinnern, wen er gerade umarmt noch welche Worte man gewechselt hatte. Seine Gedanken waren noch immer bei Alex. Warum wollte sie ihn sprechen? War gerade wieder eine Beziehung in die Brüche gegangen? Ja, sie sah eigentlich nicht glücklich aus. Sicher, sie war noch immer bildhübsch, doch unter ihrer Schminke konnte sie vielleicht ganz blass sein. Auf jeden Fall spürte er, dass es ihr nicht gut ging. Auch war sie ihm etwas klein und gebrechlich erschienen. Vielleicht hatte er sie zum ersten Mal seit langem ohne Stöckelschuhe gesehen. Er war in der Zwischenzeit nicht mehr gewachsen. Dessen war er sich sicher. Hoffentlich konnte er ihr bei ihren Problemen helfen. Die zwei Stufen hinauf zur Bühne rissen ihn jedoch wieder aus seinen Gedanken und er stand vor dem Lehrertisch. Professor Vogel, der alte Turnlehrer war der Erste. Mit einem flotten »Grüß Gott, Herr Professor« wandte sich Pascal an ihn. Dieser drehte seinen Oberkörper im Sitzen zu Pascal, streckte ihm seine Hand entgegen und ließ ein langsames »Servus, Herr Arnstein!« folgen. Pascal ergriff die ausgestreckte Hand und schüttelte sie, während er ein deutliches Kopfnicken vollführte. »Ärgerst jetzt wohl keine Lehrer mehr?« fragte der Professor in Anspielung an einen Streich, weil Pascal in der achten Klasse einmal die Sportgeräte mit seinem eigenen Fahrradschloss versperrte, um das Geräteturnen für diesen Tag ausfallen zu lassen.

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»Und sie jagen jetzt nur noch ihre Enkel um den Sportplatz!« gab Pascal zurück, weil er wusste, dass der Professor schon in Pension war und um darauf hinzuweisen, dass es Professor Vogels Spezialität war, die Schüler vor jeder Turnstunde erst fünfmal um den Sportplatz laufen zu lassen. Man ließ die Hände wieder los und Pascal ging zu Professor Walther, dem alten Klassenvorstand. Dieser war schnell aufgestanden und reichte Pascal die Hand. Noch ehe Pascal etwas sagen konnte, fragte ihn der Professor: »Hallo Pascal! Wie geht es dir denn?« und fasste mit der linken Hand Pascals Oberarm. »Sehr gut, Herr Professor! Und Ihnen?« »Doch auch gut.« »Haben Sie nach uns jemals wieder so eine brave Klasse gehabt?« scherzte Pascal. »So brav nicht mehr«, antwortete der Professor, wobei deutlich zu hören war, dass die Betonung auf dem Wort „so“ lag. Der Professor trat etwas beiseite, um es Pascal zu erleichtern Frau Professor Grossmann zu begrüßen. Diese hatte ihren Sessel etwas gedreht, um Pascal besser sehen zu können. Schon während der Schulzeit war zu bemerken, dass es ihr schwer fiel den Kopf zu drehen. Sie drehte zumeist den ganzen Körper. Pascal nahm ihre Hand und zog sie zu seinem Gesicht mit den Worten: »Küss die Hand, Frau Oberstudienrat!« Dies war wie Balsam auf ihre müden Knochen. Keiner hatte sie so begrüßt. Pascal wusste, wie sehr sie auf Titel und Ehrungen stand und er hatte vor zwei Jahren einen Bau zu beaufsichtigen, der unmittelbar an ihr Grundstück anschloss. Zweimal hatte er sie im Garten gesehen, jedoch vermieden, sie anzusprechen. Damals hatte er auch gesehen, dass auf der Klingel stand: Oberstudienrat Grossmann. Ein breites Grinsen überzog nun ihr Gesicht und sie

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antwortete: »Servus Pascal! So höflich kenne ich dich ja gar nicht.« »Ehre, wem Ehre gebührt!« Er wusste ganz genau, was sie hören wollte und so ließ sie seine Hand auch nicht so schnell wieder los. »Was machst du jetzt? Beruflich meine ich«, fragte sie. »Architekt.« »Soso. Interessant. Und bist du verheiratet?« wollte Frau Grossmann wissen. »Zum Glück nicht«, antwortete er mit einem verschmitzten Lächeln. »Zum Glück für wen?« war sie sehr neugierig. »Natürlich zum Glück für die Frau, die meine Launen ertragen müsste!« grinste er. »Na, na. So schlimm wird es schon nicht sein«, meinte sie. »Wer weiß?« sagte Pascal mit weit aufgerissenen Augen. Erst jetzt ließ Frau Oberstudienrat Pascals Hand los und brachte ihren Stuhl wieder in die rechte Position. Während Professor Walther Platz nahm, begrüßte Pascal noch Direktor Greif, Professor Lorber, Professor Weilguny und Professor Haas. Jetzt war aber bald Schluss. Pascal wollte keine Hände mehr schütteln. Zwei Stufen runter von der Bühne und da saßen noch vier Mädchen. Danach war die Tortur endlich vorbei. Zuerst die beiden Streber, Eva und Hanni. Bussi rechts, Bussi links und noch einmal Bussi rechts und Bussi links. Und zu guter Letzt noch Melanie Gruber und Annabelle Gruber, nicht miteinander verwandt und auch vollkommen unterschiedlich. Eine blond, die andere dunkel. Die eine totale Schnatterbüchse, die andere zurückhaltend und still. Beide waren aufgesprungen und auf Pascal zugegangen. Übliche Begrüßung und Melanie sagte: »Ich habe noch einen Platz neben mir für dich freigehalten!« Tatsächlich. Darüber hatte sich Pascal bis jetzt gar keine

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Gedanken gemacht, wo er sich hinsetzen würde. Und dieser Platz war auch ganz okay. Zwischen den beiden Gruber-Mädels, das war auszuhalten. Mit ihnen hatte er sich auch während der Schulzeit gut verstanden. »Das ist aber nett von dir!« So bedankte sich Pascal bei Melanie und atmete tief durch, als er sich setzte. Noch einmal ließ er seinen Blick über die Tafel schweifen. Einige leere Teller verrieten, dass wohl alle schon gespeist hatten. Viele fast geleerte Gläser ließen erwarten, dass das Personal bald wiederkehren würde. Er hatte Durst, aber der Hunger war fast noch größer. Jetzt fiel ihm auf, dass Alex ihm genau gegenüber saß. Er strahlte sie mit einem breiten Lächeln an, während er versuchte zu erkennen, ob er recht hatte, dass es ihr nicht besonders gut ging. Doch da war nicht wirklich etwas zu erkennen und so blieb nur das Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Während Melanie begann Pascal in ein Gespräch zu verwickeln, bemerkte er noch, dass zwei Kellnerinnen den Raum betraten. Es sollte also bald etwas zu essen geben. Während er sich mit Melanie unterhielt oder sollte man besser sagen, dass er einfach nur ihre unzähligen Fragen beantwortete, waren seine Gedanken eigentlich mit vielen anderen Dingen beschäftigt. Zuerst überlegte er, was er bestellen würde, denn der Hunger war groß. Das Schweizer Haus hatte zum Glück bis 23:30 Uhr warme Küche. Das letzte Mal, als er hier war, hatte er eine Hausplatte bestellt. Diese war eigentlich für zwei Personen. Damals war er auch mit seiner Mutter hier. Dieses Mal war er allein, aber er hatte schließlich seit Mittag nichts mehr gegessen und die heiße Leberkäsesemmel war ja auch nicht gerade üppig gewesen. Parallel dazu konnte er die Andeutung, dass Alex noch etwas mit ihm zu bereden hatte, nicht vergessen. Hätte man ihn jetzt gefragt, worüber er sich gerade mit Melanie unterhalten hatte, er hätte es nicht mehr gewusst. Die Kellnerin fragte Melanie, ob sie noch etwas zu trinken wollte.

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»Eine rote Mischung noch«, verlangte Melanie. Nun drehte Pascal sich zur Kellnerin um. Als diese an ihn herantrat, fragte er sie: »Gibt es noch etwas Warmes zu essen?« »Natürlich. Soll ich ihnen die Speisekarte bringen?« wollte die Kellnerin wissen. »Nicht nötig«, behauptete Pascal. »Ich hätte gern eine Hausplatte.« Die Kellnerin notierte es auf ihrem Block. »Und zu trinken?« fragte sie weiter. Pascal blickte über die Schulter zum Tisch und sah, dass Alex vor einem leeren Weinglas saß. Sie hatte auch dankend abgelehnt, als die Kellnerin sie gefragt hatte, ob sie noch einen Wunsch hätte. Der letzte Tropfen im Glas verriet, dass sie wohl Rotwein getrunken hatte. Sich wieder zur Kellnerin drehend bestellte er: »Ein Viertel von einem guten roten Südtiroler und einen Apfelsaft gespritzt auf einen halben Liter.« »Grauvernatsch oder Kalterer See?« fragte die Kellnerin noch einmal nach. »Grauvernatsch!« Mit einem äußerst höflichen »Danke« ging die Kellnerin wieder weiter. Melanie hatte schon darauf gewartet und stellte ihre nächste Frage: »Und was machst du beruflich?« Und während Pascal antwortete: »Ich bin Architekt«, zog er ein breites Lächeln auf und strahlte Melanie an. Im Stillen dachte er sich, dass sie sich nicht ein bisschen verändert hatte. Schon während der Schulzeit konnte sie stundenlang reden ohne Pausen zu machen. Melanie schien seine Gedanken zu erahnen, denn sie blickte ihn fragend an, rümpfte etwas die Nase und stellte die Frage: »Ich rede zu viel?« »Aber nein. Ich könnte dir stundenlang zuhören«, erwiderte Pascal mit einem Lächeln. Melanie strahlte über das ganze Gesicht. Sie beugte sich

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halb zu Pascal hin, halb zog sie seinen Kopf ihr entgegen und gab ihm einen dicken Schmatz auf den Mund. Dann ließ sie ihn wieder los und indem sie ihren Mund zu einem trotzigen Schmollen verzog, sagte sie: »So schön hat das noch nie jemand umschrieben!« Frau Oberstudienrat, die eigentlich seit dem Moment, als Pascal Platz genommen hatte, die Unterhaltung der beiden eifrig mitverfolgte, schüttelte den Kopf und meldete sich zu Wort: »Pascal!« sagte sie in kräftigem Ton, um seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Und als dieser sie mit interessierten Augen ansah, fuhr sie fort: »Also eines verstehe ich nicht. Ich bin heute als eine der Ersten eingetroffen. Nur Peter und seine hübsche Frau waren bereits da. Daher habe ich auch mitbekommen, wie einer nach dem anderen gekommen ist. Und dabei habe ich gesehen, dass die meisten Begrüßungen, vor allem zwischen Männlein und Weiblein doch eher frostig erschienen. Dich aber haben die Mädchen umarmt, gedrückt, geküsst. Du scheinst hier der Hahn im Korb zu sein! Woran kann das liegen?« »Das lässt sich ganz leicht erklären, Frau Oberstudienrat!« holte Pascal aus. »Ab der fünften Klasse, speziell aber ab der Wien-Reise Anfang der siebenten Klasse ist bei uns der Frühling des Lebens ausgebrochen. Da gab es ständig Beziehungen, Liebschaften und dergleichen mit immer wechselnden Partnern. Und jedes Mal, wenn so ein Glück fürs Leben wieder in die Brüche ging, sind oft hässliche Scherben zurückgeblieben. Ich war einer der wenigen, vielleicht sogar der Einzige, der an diesem Schnitzlers Reigen nicht teilgenommen hat. Ich war nie mehr als nur ein guter Freund der Mädchen und das bin ich heute noch«, erklärte er und nach einem kurzen Moment fügte er noch nachdenklich hinzu: »Das hoffe ich zumindest.« Während Frau Oberstudienrat ein verständnisvolles »So, so« folgen ließ, legte Melanie ihren Arm um Pascals Hals, drehte sich mit ihm zum Lehrertisch in Pose und sagte laut: »Ja, immer noch!« Dann drückte sie ihm noch ei-

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nen Schmatz auf die Wange, ehe sie ihn wieder losließ. Nun ergriff auch Alex das Wort und sagte: »Der beste Freund! Der Allerbeste!« wobei sie gerade die Worte Beste und Allerbeste besonders hervorhob. Dabei blickte sie Pascal sorgenvoll aber lächelnd an. Als sich ihre Blicke trafen, zwinkerte Pascal ihr zu, blieb aber stumm. Es war überhaupt sehr still geworden. Denn bisher gab es eigentlich nur Einzelgespräche zwischen Mitschülern. Auch das Lehrerkollegium blieb bei seinen Gesprächen unter sich. Dies war der erste Versuch einer übergeordneten Konversation, als Frau Oberstudienrat sich über Tische hinweg an einen ihrer ehemaligen Schüler wandte und dies hatte die Aufmerksamkeit aller erregt. Zumal das Gespräch auch alle betraf, die seinerzeit an diesem Liebeskarussell eifrig mitgedreht hatten. Einigen dürfte dabei sogar etwas heiß geworden sein, da sie nicht wissen konnten, inwieweit sich Pascal in die Details der Materie begeben würde. Zufrieden registrierten sie, dass keine Namen genannt wurden. Nun schickte sich Helmut Krassnig an, das Wort zu ergreifen. Auch er wollte seinem jahrelangen Mentor seinen persönlichen Dank aussprechen. Pascal hatte mit ihm oft an Nachmittagen gelernt, damit er bessere Noten erzielen konnte. Ganz zu schweigen davon, wie oft er ihn bei Schularbeiten über die Schulter blicken ließ und Pascal hatte nie etwas dafür verlangt. Für Pascal war es einfach selbstverständlich gewesen, seinen Freunden zu helfen. Als Helmut seinen Sessel in Position brachte und sich so halb erhob, starrte Pascal ihn mit weit aufgerissenen Augen an, weil es ihm in Bruchteilen einer Sekunde durch den Kopf schoss: ›Wenn der wieder Mensch, habe ich dich lange nicht gesehen sagt, dann fliegt er in hohem Bogen raus!‹ Doch im selben Augenblick wusste Pascal auch, dass dieser Satz im Moment gar nicht passen würde. So wartete er also gespannt darauf, was Helmut von sich geben wollte. Doch dazu kam dieser aber gar nicht.

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Klassensprecher Peter nützte den Moment der ungeteilten Aufmerksamkeit und ergriff das Wort, während Helmut sich in Zeitlupe wieder in seinen Sessel zurückfallen ließ. »Ich bitte um Aufmerksamkeit!« begann Peter. »Ich werde es ganz kurz machen«, fuhr er fort. Pascal wusste, dass das nicht stimmte. Eigentlich wussten es alle. Peter war da, wo er immer sein wollte. Er liebte es, vor einer größeren Menge zu sprechen und ihnen vorzugeben, was sie zu tun hatten. Eigentlich war schon während der Schulzeit abzusehen, dass er einmal als Animateur arbeiten würde. Doch noch bevor er in seinen Redeschwall verfallen konnte, rief ihm Pascal fragend zu: »Versprochen?« »Was versprochen?« fragte Peter nach. »Na, dass du dich heute wirklich kurz fassen wirst«, lächelte Pascal. Die Stille war damit unterbrochen, denn alle begannen zu grinsen, da und dort lachten einige sogar laut auf. Auch bei den Lehrern sah man ein Schmunzeln in deren Gesichtern und Annabell stieß Pascal mit ihrem Ellbogen leicht in die Rippen und warf ihm einen vorwurfsvollen aber doch freundlichen Blick zu. »Ja, versprochen«, sagte Peter, ehe er in seinem längst vorbereiteten und mehrmals geübten Text fortfuhr. Er war gar nicht fähig, die Ansprache abzukürzen, denn sie war genau abgestimmt, um an den richtigen Stellen Pointen zu setzen. Pascal war es egal, denn er hatte nicht vor, seinen Freund ein weiteres Mal zu unterbrechen. Und als Peter begann: »Sehr geehrte Frau Professor, werte Professoren, liebe Mitschüler! Wir sind heute zusammengekommen, um …«, hatte er schon sämtliche Aufmerksamkeit verloren. Wenngleich es niemand wagte jetzt etwas zu sagen, so waren doch die meisten mit den Gedanken ganz wo anders. Dies bemerkte man daran, dass jeder seinen Blick schweifen ließ oder in verschiedenen Intervallen andere Punkte im Raum fixierte. Manchmal trafen sich auch Blicke. Dann

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lächelte man sich kurz an und wartete weiter auf das Ende des Vortrages. Einzig die Streber Eva und Hanni hörten Peter inständig zu. Sie blickten Peter unentwegt an und ihr zeitgleiches Schmunzeln verriet, dass sie die Pointen in Peters Rede wohl verstanden hatten. Die Tatsache, dass Professor Weilguny dem Direktor Greif etwas ins Ohr flüsterte, zeigte nur, dass ihnen auch schon langweilig wurde. Einmal wurde Peters Redefluss unterbrochen, nämlich als eine Kellnerin mit einem Tablett voll Getränken den Raum betreten wollte. Peter drehte sich nur kurz um und wies sie mit einer Bewegung des Handrückens an, sich wieder aus dem Staub zu machen. Pascal sah ihr traurig hinterher, da der Durst schon sehr groß war. Er blickte kurz nach links, denn er hatte schon seit langem keinen Ton mehr von Melanie gehört. Diese lümmelte gelangweilt in ihrem Sessel, was Pascal ein deutliches Lächeln entlockte. Im Augenwinkel erkannte er, dass Peters Freundin Andrea sich langsam aus ihrem Sessel erhob und vorsichtig zur Anrichte neben der Garderobe schlich. Pascal wusste sofort, dass dies nur ein gutes Zeichen sein konnte: Das Ende war nah. Und tatsächlich schälte Andrea einen Blumenstrauß aus einem unscheinbaren Packpapier und brachte ihn Peter. Dieser nahm ihn aus ihren Händen und schritt langsam der Bühne entgegen. Fast schien er auf jeder der beiden Stufen noch einmal eine ordentliche Pause einzulegen. Doch dann war es so weit. Er überreichte Frau Oberstudienrat den Blumenstrauß. Danach schüttelte er noch dem übrigen Lehrerkollegium die Hand und beendete seine Ansprache mit den Worten: » … Ich danke!« Andrea startete sofort ein übertrieben lautes und temporeiches Klatschkonzert, in das alle Übrigen rasch einstimmten. Einige unter ihnen waren dazu sogar aufgestanden. Pascal weigerte sich da mitzumachen, zumal er sich sicher war, dass die meisten gar nicht wussten, wofür sie applaudierten. Zugehört hatten sie - ebenso wie

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Pascal - ohnehin nicht. Wahrscheinlich freuten sie sich einfach nur, dass die Qual ein Ende hatte. Doch dies war nicht fair. Peter hatte sich große Mühe gegeben. Aber ein Gutes hatte das Klatschkonzert ja doch: Die Kellnerinnen hatten dies als Startschuss verstanden und kamen gleich zu zweit mit bis an den Rand gefüllten Tabletts in den Raum. So langsam hörte der Beifall auf und man begann sich wieder zu setzen. Am Ende standen nur noch der Klassenvorstand Professor Walther und Klassensprecher Peter und unterhielten sich angeregt auf der Bühne. Die Kellnerinnen waren ganz flink und vor allem dürften sie sich alles ganz genau notiert haben, denn ohne nochmals nachfragen zu müssen stellte eine das Glas Rotwein und den Apfelsaft vor Pascal auf den Tisch. Pascal erfasste das Rotweinglas, erhob sich etwas und tauschte es mit dem leeren Glas, welches vor Alex stand. Das leere Glas stellte er auf das Tablett der Kellnerin zurück und setzte sich wieder. Alex war etwas verblüfft. Die Kellnerin hatte sie schon mehrmals gefragt, ob sie noch etwas bringen dürfte. Sie hatte aber stets abgelehnt. Auch als Helmut sie gefragt hatte, ob er etwas für sie bestellen dürfte, hatte sie verneint. Und Pascal hatte überhaupt nicht gefragt, sondern ihr einfach ein volles Glas hingestellt. Und dann noch ein großes Glas. Ein Viertel Rotwein! Sie hatte an diesem Abend überhaupt erst ein Achtel getrunken. Gegessen hatte sie auch nichts. Als Einzige übrigens, denn sie wusste, dass ihre Geldbörse doch ziemlich schwach befüllt war. Was sollte sie von Pascals Geste halten? Auf jeden Fall entschied sie sich ihm dafür ein Lächeln zu schenken und ließ ein »Danke!« folgen. »Ich danke dir!« kam es postwendend von Pascal zurück. »Wofür?« wollte Alex wissen. »Einfach dass du da bist«, lächelte er. Dieser Satz brachte Alex vollends aus der Fassung. Sie

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benötigte Sekunden, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Doch eigentlich konnte dieser Satz nur positiv gemeint sein. Es war ein Kompliment, das sie noch nie zuvor gehört hatte. Nicht nur, dass zu ihr noch nie jemand so etwas gesagt hatte, auch ihre Eltern hatten eigentlich stets nur ein ›Ich liebe dich‹ füreinander parat. Aber die Worte ›Danke, dass du da bist‹ kreisten weiter in ihrem Kopf und sie begann über das ganze Gesicht zu strahlen. Sie spürte, wie ihr heiß wurde. Sie hoffte nur, dass die Errötung, die in ihr jetzt aufstieg, von der Menge an MakeUp noch überdeckt wurde. Pascal, der sie noch immer unentwegt anblickte, glaubte zu erkennen, dass die Traurigkeit in ihren Zügen, die er seitdem er gekommen war gesehen hatte, verschwunden war. Mit den Worten: »Entschuldigung, einen Moment bitte!« riss der Kellner die beiden aus ihren Gedanken. Pascal schwenkte seinen Oberkörper etwas beiseite und der Kellner hatte schnell die Vase und den Aschenbecher beiseitegeschoben, um für die Hausplatte Platz zu schaffen. Dann platzierte er ein Chromgerüst mit zwei Petroleumkochern in der Mitte des Tisches und stellte die Steinplatte mit den angerichteten Speisen darauf ab. Die Hausplatte umfasste verschiedene Schnitzel, zwei Wiener, zwei Natur und zwei Cordon Bleu, darüber hinaus noch gegrilltes und verschiedenste Beilagen. Anschließend stellte der Kellner noch zwei Teller übereinander vor Pascal hin und ein kleines Tellerchen mit zweifachem Besteck. Er verabschiedete sich nicht ohne Pascal noch einen Guten Appetit zu wünschen. Pascal dankte. Er nahm das Anrichtebesteck von der Speisenplatte und begann einzelne Gustostücke von der Steinplatte auf seinen Teller zu platzieren. Da kam ein lautes »Guten Appetit« vom Lehrertisch herüber. Frau Oberstudienrat hatte sich wieder einmal gemeldet. Sofort tönte es gleich von mehreren Seiten »Guten Appetit.« Pascal

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bemerkte, dass er beim Anrichten seines Tellers gleich von mehreren Personen beobachtet wurde. Mit einem »Danke« nach der linken Seite und einem »Danke« nach rechts hoffte er, dass er sich nun weniger beobachtet wieder seiner Speise widmen konnte. Mit einigen weiteren Handgriffen war der Teller genussvoll angerichtet. Er legte das Fleischbesteck auf die Hausplatte zurück und hob den fertigen Teller vom unteren Teller ab. Ohne ein Wort zu sagen, stellte er den Teller unmittelbar vor Alex hin. Diese war zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten sprachlos. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Zum einen roch es herrlich vom Teller herüber. Zum anderen hatte sie aber auf Drängen der anderen stets gesagt, sie wolle nichts bestellen, weil ihr Magen heute nicht so ganz mitmachen würde. Hunger hatte sie aber doch und zwar gar nicht so wenig. Was würden die anderen sich denken, wenn sie jetzt doch plötzlich etwas essen würde? Sie biss sich auf die Unterlippe und blickte Pascal an. Er kam mit seinem Gesicht etwas näher, sah sie eindringlich an und sagte: »Ein Nein werde ich nicht akzeptieren!« Gleichzeitig mit diesen Worten drückte er ihr noch eine Serviette mit dem Essbesteck in die Hand. Selbst das zögerliche »Aber mein Magen«, welches ihr über die Lippen rutschte obwohl sie es eigentlich gar nicht aussprechen wollte, wischte er weg mit einem »Dann werden wir einen Magenbitter auch noch bestellen.« Alex fügte sich lächelnd in ihr Schicksal und nach einem »Danke« ihrerseits nahm Pascal erst wieder ordentlich Platz. Nun begann er von Neuem den zweiten Teller mit eben denselben Speisen zu belegen wie den ersten. Endlich konnte auch er sein Essbesteck in die Hand nehmen. Der angenehme Geruch der gegrillten Speisen vermischt mit dem würzigen Aroma der Beilagen stieg ihm in die Nase und verstärkte sein Hungergefühl ums Vielfache. Mit einem schnellen Schnitt trennte er das erste Fleischstück ab und bestrich es noch mit Kräuterbutter, als er bemerkte,

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dass Melanie an seiner linken Seite eine Nase voll von dem Geruch in sich hineinsaugte. Pascal drehte sich nach links und streckte ihr die Gabel hin. Sie wollte noch sagen, dass sie bereits einen griechischen Salat gegessen hatte, doch sie hatte keine Chance. Hätte sie ihre Lippen nicht sofort geöffnet, er hätte ihr die Kräuterbutter über ihr halbes Gesicht verteilt. Dessen war sie sich absolut sicher. Pascal zog die leere Gabel wieder aus ihrem Mund mit den Worten: »Ich hatte schon Angst, du wolltest etwas sagen.« Annabell, die dieses Schauspiel genau beobachtete, begann laut zu lachen. Gleichzeitig wusste sie aber, dass ihr genau dasselbe blühen konnte. Und nachdem Pascal Melanie noch eine Gabel Pommes gereicht hatte, ging Annabell gleich zum Gegenangriff über: »Mir schmeckt aber das Cordon Bleu besser!« verlangte sie. Wortlos schnitt Pascal ein Stück vom Cordon Bleu ab und streckte Annabell die Gabel entgegen. Diese zog sofort das Stück mit ihren Zähnen von der Gabel und holte sich mit ihren Fingern noch ein paar Pommes vom Teller. Endlich konnte auch Pascal seinen Hunger stillen. Vier Bissen für sich, einen für Melanie, einen für Annabell. In diesem Rhythmus leerte sich langsam der Teller. Pommes und andere Beilagen fischten sich die beiden Mädels selbst mit den Fingern vom Teller. Doch da war noch genug auf der Platte und so wurde der Teller eben nochmals befüllt. Alex schien es auch hervorragend zu schmecken, denn auch ihr Teller leerte sich langsam. Als dann noch Hanni einmal an Melanie vorbeilugte, wurde auch sie sofort gefüttert. Sie bedankte sich artig und ließ es sich schmecken. Der Nächste, der sich meldete, war Helmut: »Kriege ich auch einen Bissen?« fragte er. Wortlos nahm Pascal die Fleischgabel von der Steinplatte, drehte sie in seiner Hand und hielt Helmut den Griff entgegen. Rasch griff Helmut zu und fischte sich eine gegrillte Wurst von der Platte. Die Bissen, die er nun von dem Würstchen herunterholte, untermalte er mit einem deutlich hörbaren »Mmmh, mmmh!«

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Als dann noch Eva von ihrem Platz aufstand, sich zwischen Melanie und Pascal stellte und ihre Hand auf Pascals linke Schulter legte, war die Raubtierfütterung fast abgeschlossen. An dieser Ecke des Tisches war etwas los. Dies beobachteten auch alle Übrigen fast etwas neidisch. Doch lange hielt der Vorrat nun nicht mehr. Nachdem Helmut sich über die letzten Beilagen auf der Steinplatte hergemacht hatte, war dann endlich alles weggeputzt. Pascal dachte bei sich: ›Na, lieber Helmut. Du hast mich nicht nur schon lang nicht mehr gesehen. Du hast auch schon lange nichts mehr gegessen!‹ Aber Pascal erwähnte dies mit keinem Wort. Eva setzte sich wieder und auf einmal war der Bann gebrochen. Plötzlich bildete sich ein übergeordnetes Gespräch unter all jenen Personen, die sich an der Fütterung beteiligt hatten. Pascal fragte Eva, ob sie am Landeskrankenhaus Klagenfurt arbeitete, weil er sie dort einmal auf der Kinderstation gesehen hatte. Sofort begann Eva von ihrer Arbeit als Jungärztin zu erzählen und alle hörten ihr interessiert zu. Helmut fuhr seinen Hals aus und reckte sein Ohr, um alles zu verstehen. Dann ergriff Hanni das Wort und berichtete, dass auch sie als Ärztin am Landeskrankenhaus Villach tätig war und immer mehr Leute hörten ihr genau zu. Als sie dies bemerkte, sprach sie etwas lauter, damit sie auch am Ende der Tafel verstanden wurde. Ab und zu stellte jemand eine Frage, die ihn brennend interessierte und so erzählte dann langsam einer nach dem anderen, was er so in den vergangenen zehn Jahren getan hatte. Es war ein buntes Gemisch, von allein stehend, verheiratet und geschieden hin zu kinderlos, ein Kind oder sogar fünf Kindern. Alles war vertreten. Auch das Lehrerkollegium hörte intensiv den Lebensberichten zu. Direktor Greif meldete sich zu Wort: »Anscheinend haben sich alle aus den Augen verloren und erst nach zehn Jahren heute wieder getroffen.«

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»Das stimmt so nicht!« erwiderte Pascal. »Verena, Bernhard und ich haben uns nicht aus den Augen verloren. Wir haben uns zuletzt vor wenigen Stunden gesehen. Wir sehen uns fast täglich. Wir arbeiten nämlich alle gemeinsam in einem Büro.« Da rief Bernhard laut über den Tisch in Richtung Lehrerkollegium: »Was heißt hier arbeiten gemeinsam? Er ist der Chef« und deutete mit dem Kopf in Richtung Pascal, »und wir zwei arbeiten!« Dabei legte er seinen Arm um Verena. Dies wollte Pascal so nicht auf sich sitzen lassen und konterte: »Deshalb seid ihr beide ja auch heute pünktlich auf der Feier erschienen und ich hab noch länger gearbeitet!« »Das war aber auch das erste Mal«, sagte Bernhard und wusste, dass er mit solchen Bemerkungen seinen Freund so richtig reizen konnte. Aus diesem Grund lachte er auch dabei und freute sich schon auf Pascals nächste Antwort. Und tatsächlich, dies ärgerte Pascal maßlos. War er auch sonst immer besonnen und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen, so ging ihm dieses blöde Gerede doch völlig auf den Geist. Bernhard war es doch, der damals zu feige war, mit ihm gemeinsam das Büro aufzumachen. Bernhard hatte sich damals entschieden eine Stelle bei einem bekannten Architekten anzunehmen. Einen, wie er damals dachte, sicheren Job. Und als sein Vertrag nach zwei Jahren nicht verlängert worden war, hatte Pascal ihm erneut angeboten, bei ihm einzusteigen. Doch er wollte lieber nur angestellt werden, da ihm seine Bank im Falle einer selbständigen Arbeit Schwierigkeiten gemacht hätte. Pascal war bei der Gehaltsverhandlung sogar bis an seine Schmerzgrenze gegangen, damit Bernhard seine Bonität nicht einbüßte. Und die ganze Zeit über hatte Pascal ihn nie spüren lassen, wer der Chef war. Er hatte Bernhard stets wie einen Partner behandelt. Deshalb ärgerten ihn solche Bemerkungen umso mehr. Wenn er sich nach außen

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hin auch nichts anmerken ließ, innerlich kochte er. Besonnen lehnte er sich in seinem Sessel zurück und versuchte extrem ruhig bei seiner Antwort zu bleiben: »Deshalb fährst du auch einen nagelneuen 5er BMW und ich ein 14 Jahre altes 3er Cabrio!« »Dafür ist meiner nur geleast und deiner abbezahlt«, legte Bernhard noch einmal nach und grinste Pascal an, während er seine Zungenspitze im linken Mundwinkel einklemmte. Eigentlich wollte Pascal noch hinzufügen, dass Bernhard in einem Einfamilienhaus wohnte, während er selbst sich mit einer Wohnung zufrieden gab, aber das war unwichtig geworden. Dies hätte Bernhard mit einer weiteren dummen Bemerkung weggewischt. Das Maß war voll. Was konnte er dafür, dass Bernhard über seine Verhältnisse lebte, dass er seine hübsche, aber doch anspruchsvolle Frau durch allerlei teure Geschenke beeindrucken wollte und ihr eine finanzielle Situation vorgaukelte, die so nicht bestand. Pascal wusste nämlich ganz genau Bescheid, wie es um Bernhards Finanzen bestellt war. Für einen Moment schoss ihm sogar durch den Kopf, dass er das nächste Mal, wenn Bernhard um einen Vorschuss bitten würde, weil wieder einmal eine Pfändung abzuwenden war, einfach ablehnen würde. Er bereute sogar schon, dass er seit letztem Monat die Hälfte der Leasingrate für Bernhards neues Auto über das Büro laufen ließ, weil er es ja angeblich so oft für berufliche Fahrten nützte, obwohl er sich vor fast jedem Außentermin zu drücken versuchte. ›Bleib ruhig‹, sagte Pascal zu sich selbst und in diesem Ton erwiderte er auch: »Dafür hast du noch jedes Mal pünktlich am Ersten eines jeden Monats dein Geld auf deinem Konto gehabt und ich sehe immer erst am Jahresende, ob ich das, was ich inzwischen ausgegeben habe, auch verdient habe!« und in breit gesprochenen Worten fügte er noch hinzu: »Und ob ich mir dich überhaupt leisten kann!« Dieser Schlag saß tief. Bernhard hatte genau den tiefe-

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ren Sinn dieser Aussage verstanden. Ihm war klar, dass Pascal damit gemeint hatte, dass Bernhard ja gehen könnte, wenn ihm die Arbeit nicht gefiel. Dies konnte er aber nicht, denn das hätte den sofortigen Zusammenbruch seines Kartenhauses, das er um sein Privatleben aufgebaut hatte, bedeutet. Sein ursprüngliches Grinsen verwandelte sich in ein gequältes Lächeln, wie man es von Familienfotos oder Begrüßungszeremonien mit den Schwiegereltern kennt. Auch fühlte er, dass er etwas rot im Gesicht geworden war. Er konnte jetzt nur noch hoffen, dass Pascal nicht näher auf seine Geldsorgen eingehen würde. Verena legte ihre Hand auf Bernhards Hand und drückte sie gegen die Tischplatte, als wollte sie ihm deuten: ›Jetzt ist aber genug!‹ Ihr passte es überhaupt nicht, dass ihre beiden besten Freunde sich hier so befetzten. Doch Bernhard hatte ohnehin nicht die Absicht gehabt, noch etwas zu sagen. Auch Pascal nicht, denn in dem Moment, wo er die Worte ausgesprochen hatte und den entsetzten Blick in Bernhards Gesicht erkannte, begriff er sofort, wie Bernhard seine Aussage verstanden haben musste. Er selbst hatte zu keinem Zeitpunkt daran gedacht seinen Freund vor die Tür zu setzen. Er wollte damit eigentlich nur klar stellen, dass es gar nicht so leicht war, ein Büro zu leiten, wenn man ständig um eine gute Auftragslage bemüht sein musste, um alle Fixkosten abdecken zu können. Sich von seinem Freund zu trennen - nein, das war ihm wirklich nicht in den Sinn gekommen. Die Zusammenarbeit mit Bernhard war perfekt. Auseinandersetzungen hatte es noch nie gegeben. Ja selbst unterschiedliche Auffassungen wurden stets in einem konstruktiven Gespräch zu einem noch besseren Endergebnis gebracht. Außerdem ergänzten sich die beiden ideal. Pascal war der nüchterne Geschäftsmann, der es verstand den Kunden die Angebote schmackhaft zu machen, Funktionalität und Wirtschaftlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Darin war er gut. Bernhard hingegen

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war der kreative Kopf der Firma. Seine innovativen Formen schienen nur so aus seinem rechten Handgelenk herauszufließen. An den Wänden des Büros hingen lauter Entwürfe von Bernhard. Diese zum Teil utopischen Arbeiten waren ein perfekter Blickfang. Mit den schlichten Einfamilienhäusern konnte da Pascal optisch nicht mithalten. Doch das störte ihn überhaupt nicht. Des Öfteren hatte er seinen Freund den Gianni Versace der Architektur genannt. Manchmal hatte er ihn sogar Kunden gegenüber so vorgestellt. Er verglich ihn vor allem auch deswegen mit dem legendären Modegenie, weil dessen Entwürfe, wenn man die Models damit über den Laufsteg gleiten sah, oft unrealistisch aussahen, als dass man sich damit in der Öffentlichkeit zeigen konnte. Und ebenso war es oft mit Bernhards Ideen. Der Mehrfamilien-Wohnblock, der von Weitem einem landenden UFO ähnelte, war zwar optisch ein Hit, doch waren mehrere tausend Tonnen Stahl und Beton auf sechs zierlichen Stehern nicht realisierbar. Darüber hinaus war eine Rolltreppe, die erst auf Knopfdruck aus dem Gebäude heruntergelassen wurde, doch etwas zu futuristisch. Aber an seiner Genialität konnte man nicht zweifeln. Außerdem ging die Freundschaft der beiden weit über das Berufliche hinaus. Pascal war nicht nur Bernhards Trauzeuge gewesen, nein, auch Bernhards vierjähriger Sohn hieß Pascal. Und das aus gutem Grund. Pascal war schließlich der Taufpate des Kleinen und so gehörte er fast schon zur Familie. Bernhards Frau Kathi hatte ihn nicht nur zu den Geburtstagen ihres Sohnes immer eingeladen, sondern ihm stets auch Einladungen für andere familiäre Feiern ausgesprochen und sie hatte nie den Eindruck erweckt, dass sie es nicht ehrlich meinte. Aus all diesen Gründen lag Pascal nichts ferner, als der Gedanke die Zusammenarbeit mit seinem Freund zu beenden. Und dennoch fühlte er eine gewisse Genugtuung den vorlauten Kerl einmal in die Schranken gewiesen zu haben und er genoss den Moment.

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»Das finde ich ganz toll«, sagte Frau Oberstudienrat. »Es ist das erste Mal, dass ich höre, dass welche meiner Schüler ihre Freundschaft aus dem Schulalltag bis hin in die Berufswelt aufrechterhalten konnten. Ganz toll!« wiederholte sie. Zu diesem Zeitpunkt kam gerade der Kellner und räumte die Hausplatte samt Geschirr wieder ab. Höflich erkundigte er sich, ob die Qualität der Speise zur vollsten Zufriedenheit war. Er war dann doch etwas irritiert, als plötzlich sieben Personen gleichzeitig, fast unisono, mit den Worten wie: »ausgezeichnet«, »sehr gut« oder »hervorragend« antworteten. Er bedankte sich und ging ab. Pascals Gedanken kreisten noch ein wenig um seinen Freund und er sagte zu sich, dass er sich nächste Woche Bernhard einmal zur Brust nehmen musste, weil es so nicht weitergehen konnte. Gemeinsam sollten sie doch einen Weg finden können, um Bernhard aus seinem finanziellen Tief zu holen. Als Pascals Augen dann aber Alex fixierten, wischte er diese Gedanken beiseite, da dies erst nächste Woche relevant werden sollte. Alex aber wollte noch heute mit ihm etwas besprechen. So beugte er sich etwas nach vorne und sah Alex aus tiefen Augen an. Im selben Moment legte Melanie ihre Hand auf Pascals Schulter, als wollte sie seine Aufmerksamkeit bekommen. Pascal aber legte seine rechte Hand vorsichtig auf die ihre und sie verstand sofort die Bedeutung dieser Geste: ›Nicht jetzt!‹ sollte dies wohl heißen. Nun beugte sich auch Alex nach vorne, da sie erkannte, dass Pascal etwas von ihr wollte, was wohl nicht für die Ohren aller gedacht war. »Du wolltest etwas mit mir besprechen«, flüsterte er ihr in halblautem Ton zu. »Etwas später«, wich sie seiner Frage aus. Während Pascal gerade überlegte, warum sie so geheimnisvoll tat, klatschte ihm erneut eine Hand auf die Schulter. Doch diesmal war es sicher keine zärtliche Frauenhand. Pascal drehte sich um und blickte in Peters Ge-

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sicht. Dieser sagte in etwas verstohlenem Ton: »Entschuldige Pascal! Ich müsste dich einmal sprechen.« Pascal war sofort klar, dass Peter nicht hier mit ihm reden wollte und stand schnell auf. Er folgte seinem alten Klassensprecher hinaus aus dem Festsaal. Auch Tobias Schranz war aufgestanden und schloss sich den beiden unaufgefordert an. Tobias war in der letzten Klasse der Klassensprecher-Stellvertreter. Peter lenkte seine Schritte Richtung Theke und stellte sich zwischen zwei freie Barhocker. Pascal blieb neben ihm stehen und Tobias stellte sich auf Pascals andere Seite. Peter kam sofort zur Sache: »Pascal, wir haben ein großes Problem!« Die Tatsache, dass er Pascal persönlich ansprach, zeigte, dass Tobias bereits eingeweiht war. »Ich habe mich total verschätzt«, fuhr Peter fort. »Du weißt, ich habe von jedem zwanzig Euro einkassiert. Damit sollten die Getränke aller und auch die Speisen der Lehrer bezahlt werden. Die Essen der Schüler muss ja sowieso jeder selbst bezahlen. Ich war der Meinung, dass sich das schon ausgehen wird. Aber ich habe gerade eine Zwischenabrechnung machen lassen und wir sind jetzt schon weit darüber und es ist gerade erst einmal 23 Uhr. Und bei der guten Stimmung, die gerade herrscht, geht das locker noch bis weit nach Mitternacht. Was sollen wir jetzt machen?« fragte er und machte eine längere Pause. Pascal neigte seinen Kopf etwas nach vorne, hielt seine linke Hand mit der Handfläche nach oben vor sich und blickte Peter mit aufgerissenen Augen an, was wohl so viel heißen sollte wie ›Und hast du einen Vorschlag?‹ »Wir könnten von jedem noch einmal fünf oder zehn Euro einkassieren«, sagte Peter vorsichtig. »Das können wir auf keinen Fall tun!« erwiderte Pascal schroff. Er hatte absichtlich das Wort „wir“ verwendet und Peter hatte sofort verstanden, dass sich Pascal in die Lösung des Problems einbringen wollte.

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»Ich habe schon mit Tobias gesprochen«, sagte Peter. »Im Moment sind wir um 135 Euro über unserem Budget. Wenn wir drei uns diesen Betrag teilen würden, wäre das für jeden etwa 40 Euro«, fuhr Peter weiter fort und Pascal nickte zustimmend. Peter war die Erleichterung anzusehen und er wurde wieder selbstsicherer. »Ich habe der Kellnerin bereits gesagt«, erklärte er, »dass sie bei den nächsten Bestellungen sagen soll, dass ab jetzt die Getränke selbst zu bezahlen sind«, berichtete Peter. »Das können wir auch nicht machen!« lehnte Pascal diesen Vorschlag ab. Peter war geschockt. Was hatte Pascal damit gemeint? »Sag der Kellnerin, dass alles ganz normal weitergeht und dass sie sämtliche Bestellungen auf die Gesamtrechnung schreiben soll«, verlangte Pascal von Peter. In diesem Moment ging die Kellnerin an den dreien vorbei Richtung Festsaal und Peter sprach sie sofort an: »Sagen sie den Leuten bitte nichts und setzen sie weiter alles auf eine Rechnung.« Die Kellnerin nickte und ging weiter. Peter wendete sich wieder Pascal zu und wollte von ihm nun hören, wie er sich die Lösung vorstellte. Pascal holte seine Brieftasche aus der Innenseite seines Jacketts, schlug sie auf, suchte eine der Scheckkarten aus und zog sie heraus. Nun gab er Peter genaue Anweisungen: »Du bezahlst mit dem Geld, welches du von uns einkassiert hast und alles, was dann noch offen ist und alles, was von jetzt an noch bestellt wird, sollen sie auf eine Rechnung schreiben und von meinem Konto abbuchen!« Mit diesen Worten drückte er Peter seine Diners-ClubKarte in die Hand. Nachdem dieser ihn fragend und gleichzeitig ungläubig anblickte, erläuterte Pascal etwas genauer: »Ich habe in diesem Jahr noch fast gar nichts für Werbung ausgegeben. Ich werde diese Rechnung als Geschäftsessen verbuchen. Sorge dafür, dass die Mehrwertsteuer extra ausgewiesen wird.«

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Tobias, der bislang wortlos dabeigestanden war, meldete sich mit einer Frage zu Wort: »Und unser Beitrag?« Pascal drehte sich zu ihm um und sagte: »Ihr beiden habt das Ganze perfekt organisiert!« Peter ließ diesen Worten ein deutlich erleichtertes »Danke« folgen, während er noch immer Pascals Scheckkarte zwischen seinen Fingerspitzen eingeklemmt hielt. Pascal beugte sich zwischen den beiden hindurch über die Theke und sagte zu dem Barkeeper: »Drei Goldwasser für Erwachsene!« Dieser holte eine Flasche mit einer goldgelben Flüssigkeit von der Wand. Mit der linken Hand ergriff er geschickt drei Schnapskelche und goss vor den Augen der drei Freunde die Gläser voll. Man sah deutlich, dass während des Einschenkvorgangs kleine gold glänzende Blättchen in der Flasche auf und nieder tanzten. Dann stellte der Barkeeper die drei Kelche vor Tobias, Pascal und Peter hin. Jeder von ihnen griff danach. Pascal hielt das Glas vor sein Gesicht und nickte Tobias und Peter zu. Die beiden machten ihm das nach und Peter ließ ein »Prost« folgen. Während Peter und Tobias noch gebannt die tanzenden Blättchen in ihren Gläsern betrachteten, führte Pascal sein Glas an die Lippen und leerte es mit einer ruckartigen Bewegung. Dem wollten die beiden nicht nachstehen und verkniffen sich die Frage: ›Kann man die Blättchen auch trinken?‹ Dazu war es jetzt zu spät. Also runter damit. Pascal wusste wie stark dieses Getränk war und atmete daher bewusst durch den Mund aus, um dem Getränk ein wenig die Schärfe zu nehmen. Tobias und Peter aber hätten diesem lustig blinkenden Saft niemals diese Stärke zugetraut und wurden voll erwischt. Tobias schoss der Alkoholduft voll in die Nase und er kämpfte mit einem Hustenanfall. Peter wiederum zog mit einem übertrieben lauten »Paaah« die Blicke der umstehenden Gäste auf sich. Danach atmete er noch dreimal durch den geöffneten Mund

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kräftig ein und aus. Tobias, als sich sein Hustenreiz wieder beruhigt hatte, hielt sich seine linke Hand vor die Augen und sprach in breiten Worten: »Was war das?« Als er die Hand wieder von den Augen gezogen hatte, blies er noch einmal mit spitzem Mund Luft aus seinem Körper und sagte dann mit ernstem Blick: »Ich hab mir gleich gedacht, dass man das besser zuerst durch ein Sieb schütten sollte!« Pascal lachte und warf dem Barkeeper einen zufriedenen Blick zu. Dieser nickte zweimal. Man verstand sich auch ohne Worte. Peter hatte sich wieder erholt und rief dem Mann hinter der Bar zu: »Die gehen auf mich«, während er in seine Hosentasche griff und einen Zwanzigeuroschein herauszog. Mit einem Klaps auf Tobias Schulter wandte sich Pascal von beiden ab und ging zurück in den Festsaal. Hier schien die Stimmung bestens zu sein. Vor allem hatten sich die starren Sitzordnungen etwas gelöst. Klaus saß plötzlich am Lehrertisch neben Frau Oberstudienrat und schien sich blendend zu unterhalten. Professor Walther stand hinter Michael und Agnes und redete auf die beiden ein, während diese gebannt nach oben blickten und seinen Worten lauschten. Auf Pascals Platz saß Evelyn Kollmann quer auf seinem Sessel und unterhielt sich angeregt mit Melanie. Wenn jetzt ein Platz neben Alex frei gewesen wäre, Pascal hätte sich zu ihr gesetzt. So entschied er sich aber neben Dieter Fugger Platz zu nehmen. Nach einigen Höflichkeitsfloskeln über Privatleben und Berufliches kam Pascal schnell zu dem Thema, welches ihm brennend auf der Zunge lag: »Schlimm, das mit Daniel«, sagte er. »Ja, ganz schlimm!« antwortete Dieter und man sah, dass er ganz nachdenklich wurde. »Es tut mir leid, dass ich nicht auf seiner Beerdigung war. Aber ich habe erst Wochen danach davon erfahren«, entschuldigte sich Pascal. »Es gab auch keine Ankündigung in der Zeitung«, erklärte Dieter. »Es war eine ganz stille Beerdigung in klei-

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nem Rahmen, aber unendlich berührend« und man sah, dass sich Dieters Augen mit Tränen füllten. »Das dachte ich mir, dass du auf seiner Beerdigung warst«, fuhr Pascal fort. »Ihr beide seid immer ein eingeschworenes Team gewesen. Hattest du bis zuletzt Kontakt zu ihm?« »Ja, wir haben uns regelmäßig getroffen«, betonte Dieter. »Weißt du näheres, woran er so jung gestorben ist?« wollte Pascal wissen. »Ja. Er hatte Asthma«, erklärte Dieter. »Er hatte das aber ganz gut im Griff. Er hatte immer ein Spray dabei und sonst merkte man eigentlich gar nichts. Es soll so gewesen sein, dass er aber einen derart schlimmen Anfall und gleichzeitig einen Herzinfarkt erlitten hatte. Auf jeden Fall kam jede Hilfe zu spät.« Nach einer kurzen Nachdenkpause sagte Pascal: »Schlimm, wirklich schlimm. War Daniel verheiratet?« »Ja, mit Erna«, bestätigte Dieter. »Die kennst du vielleicht ohnehin. Sie ist damals eine Klasse unter uns gegangen.« »Erna. Und wie noch?« erkundigte sich Pascal. »Paaah! Keine Ahnung, weiß ich nicht mehr«, musste Dieter bekennen. Pascal überlegte. »Fällt mir kein Gesicht zu diesem Namen ein. Und Kinder?« wollte er noch wissen. »Ja. Eine Tochter«, antwortete Dieter. »Die Valentina ist jetzt drei Jahre alt.« »Und wie geht es Erna?« »Wie meinst du das?« fragte Dieter nach und setzte aber selbst fort: »Also sie macht sich schlimme Vorwürfe, weil sie an diesem Abend nicht zu Hause war. Sie hatte eine Vorlesung im WIFI besucht. Daniel war mit der Kleinen, die damals erst ein Jahr alt war, allein zu Hause. Sie gibt sich selbst die Schuld. Sie glaubt, dass sie, wenn sie zu Hause gewesen wäre, ihm helfen hätte können. Doch glau-

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be mir, selbst ich als Arzt wäre da hilflos gewesen ohne eine Intensivstation in meiner Tasche. So etwas geht so schnell. Doch sie lässt sich ihre Schuldgefühle durch keine Argumente nehmen.« Dieter schüttelte verzweifelt den Kopf und erklärte weiter: »Ob sie einen neuen Freund hat, weiß ich nicht. Die beiden hatten ein kleines Reihenhaus gleich in der Nähe meiner Praxis. Da haben wir uns oft getroffen. Doch nach Daniels Tod hat sie das Haus verkauft und ist mit Valentina in eine kleine Wohnung oberhalb des Flughafens gezogen. Ich hab sie dort auch noch ein paar Mal besucht. Sehr winzig die Wohnung. Sie lebt jetzt nur noch für die Kleine. Auch hat sie mir gesagt, dass sie von da aus, wo sie jetzt wohnt, zu Fuß zu Daniels Grab gehen kann. Und wenn du meinst, wie es ihr finanziell geht?« Dieter machte abermals ein Pause und diese nützte Pascal um nickend einzuwerfen: »Ja, das Finanzielle habe ich gemeint.« Dieter rümpfte die Nase, atmete tief aus und dann: »Da geht es ihr, glaube ich, ganz schön dreckig. Das Reihenhaus war hoch belastet, deshalb hat sie es auch so schnell verkauft. Daniel hatte sicher keine Lebensversicherung abgeschlossen. Ich glaube sogar, dass sie noch immer auf einem riesigen Schuldenberg sitzt. Sie ist rund um die Uhr bei der Kleinen zu Hause. Sie arbeitet nicht. Sie lebt also von der kleinen Witwenpension und Notstandshilfe. Einmal, als ich sie besucht habe, ist gerade eine Dame vom Sozialamt gekommen. Die hat ihr sicher wieder etwas gebracht, weil es einfach hinten und vorne nicht reicht.« »Schlimm«, urteilte Pascal. »Aber sie ist ja auch so blöd. Ich habe ihr schon so oft Hilfe angeboten. Dazu ist sie aber zu stolz. Sie will keine Hilfe.« Pascal schüttelte ungläubig den Kopf und im Aufstehen warf er Dieter noch die Worte zu: »Da müssen wir etwas machen!«

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Pascals Platz war in der Zwischenzeit immer noch nicht frei geworden, doch das war ihm jetzt egal. Er ging trotzdem zurück, wo sich Evelyn noch immer mit Melanie angeregt unterhielt. Als er hinter seinen Stuhl getreten war, sprang Evelyn sofort auf, blieb aber zwischen den Stühlen stehen. Pascal zwängte sich vorsichtig an ihr vorbei, um wieder Platz zu nehmen. Als er endlich wieder saß, setzte sich Evelyn einfach frech auf seinen Oberschenkel ohne auch nur für den Augenblick einer Sekunde ihr Gespräch mit Melanie zu unterbrechen. Pascal lugte Hilfe suchend an Evelyn vorbei zu Alex hinüber. Diese aber lachte nur laut auf und hielt sich, während sie weitergrinste die Hand vor den Mund. Nun ließ Pascal noch einmal seinen Blick durch die Runde schweifen und registrierte zufrieden, dass eigentlich noch nirgends der Anschein zu sehen war, als ob jemand früher gehen wollte. Es war jetzt fast so, als ob es die zehn Jahre nicht gegeben und die Schulzeit erst vor wenigen Tagen geendet hätte. Pascal blickte auf die Uhr: 23:20. Jetzt musste es schnell gehen. Er winkte die Kellnerin zu sich und fragte sie: »Wie viele Indianer habt ihr noch?« »Das muss ich erst in der Küche fragen«, antwortete sie rasch. »Okay«, bestätigte Pascal. Schnell verließ sie den Raum und kehrte nach wenigen Augenblicken wieder. »Einundzwanzig«, berichtete sie. »Bestens«, war Pascal zufrieden. »Dann krieg ich einundzwanzig Indianer mit Schlag.« Die Kellnerin blickte ihn mit großen Augen an. Daher gab ihr Pascal noch etwas genauere Anweisungen: »Jedes Mädchen bekommt einen, auch die Frau Oberstudienrat. Ich will auch einen und die Restlichen verteilen sie an jene, die sich zuerst melden.« Jetzt hatte sie verstanden und war auch rasch wieder in Richtung Küche verschwunden. Evelyn saß noch immer auf Pascals linkem Knie und sie war recht schlau. Sie drehte sich über ihre Schulter zu

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Pascal um und fragte ihn: »Bin ich dir schon zu schwer?« Darauf konnte Pascal nur eine Antwort geben und er gab sie mit einem Lächeln: »Aber nein!«, wenngleich sein linker Oberschenkel bereits höllisch wehtat. Er schob zur Linderung dieses Schmerzes seine Ferse etwas nach vorne, um den Muskel zu entlasten. Durch diese Bewegung gestört rutschte Evelyn mit ihrem Gesäß etwas zurück und saß nun vollends mitten auf Pascals Schoß. Zum einen brachte dies zwar das Ende seines Schmerzes, denn diese Sitzposition war richtiggehend bequem, zum anderen wurde er nun komplett seiner Bewegungsfreiheit beraubt. Er war gefangen auf seinem eigenen Stuhl. Einzig und allein seine Hände konnte er noch bewegen. Doch gerade mit denen wusste er nichts anzufangen. Er konnte sie ja schlecht auf Evelyns Beine legen. Sie aber an ihr vorbei auf den Tisch zu legen hätte fast wie eine Umarmung ausgesehen. So ließ er sie einfach wie tot nach unten baumeln und versuchte an Evelyn vorbei Blickkontakt mit Alex aufzunehmen. Diese fand das anscheinend gar nicht mehr lustig. Denn als Pascals Hilfe suchender Blick sie traf, schüttelte sie mehrmals den Kopf hin und her und ihr Gesichtsausdruck war sehr vorwurfsvoll. Pascal dachte, ob nicht vielleicht Alex selbst lieber an Evelyns Stelle sitzen wollte. Ihm jedenfalls wäre es viel lieber gewesen und er hätte gewusst, dass es Alex nichts ausgemacht hätte, wenn er seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt hätte. Auch wäre seine linke Hand, wie zufällig, auf ihrem Knie gelandet. Dies hätte nichts bedeutet. Eigentlich war Evelyn ein sympathisches Mädchen, durchaus auch hübsch und sie roch wahnsinnig gut. Dieses Parfum hatte Pascal noch nie gerochen. Oder war es das Shampoo? Er beugte sich etwas nach vorne. Seine Nasenspitze berührte schon fast ihr dunkles, langes Haar und er nahm eine ganze Nase voll von diesem Duft. Einfach genial. Aber dabei dürfte er ihre Haare doch berührt haben, denn gerade in diesem Moment bewegte Evelyn ihren

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Kopf rasch nach links und nach rechts. Dabei peitschten ihre Haare durch sein Gesicht. Er musste die Augen schließen, weil es auch so schon ein wenig schmerzte. Nun ergriff Alex das Wort: »Hast du eigentlich auch noch einmal vor, dich wieder auf deinen eigenen Platz zu setzen?« fragte sie Evelyn vorwurfsvoll. »Na, na«, antwortete Evelyn schnippisch, indem sie Alex einen verächtlichen Blick zuwarf. Doch sie stand auf und indem sie sich noch einmal zu Pascal umdrehte und seine Wangen mit den Fingerspitzen ihrer beiden Hände fasste, sagte sie zu ihm mit einem Schmollmund: »Gell, Schatzi. Dir hat es nix ausgemacht, dass ich bei dir gesessen bin!« Das war eine ausgesprochen blöde Situation. Seine Erziehung verbot es ihm Evelyn zu beleidigen, aber konnte er Alex in den Rücken fallen, die wahrscheinlich nur ihm zu Liebe diese Bemerkung fallen ließ? Und nichts zu sagen, hätten ihm voraussichtlich beide übel genommen. So entschied er sich in ruhigem Ton den Satz: »Ein Gentleman schweigt und genießt!« von sich zu geben. Dies schien die perfekte Lösung gewesen zu sein. Denn Evelyn hatte nur das Wort „genießt“ gehört und war überzeugt, dass Pascal damit ihre vorübergehende Anwesenheit gemeint hatte. Alex jedoch waren vor allem die Worte „Gentleman schweigt“ in Erinnerung und sie war froh, dass sie Evelyn zurechtgewiesen hatte. Das dankbare Nicken, welches Pascal ihr noch zuwarf, überzeugte sie vollends, das Richtige getan zu haben. In diesem Moment betrat die Kellnerin den Raum mit vier Tellern in den Händen, gefolgt von noch einer Kellnerin, die vier weitere Teller trug. Die erste Kellnerin stellte ihre vier Teller vor die ersten vier Mädchen hin. Diese blickten verdutzt in die Runde und sagten kein Wort. Als die zweite Kellnerin ihren ersten Teller vor Agnes abstellte, sagte diese sofort: »Das habe ich aber nicht bestellt!« »Aber ich«, erwiderte Pascal.

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Da meldete sich Annabell: »Das sind also die Indianer.« Sie musste das Gespräch zwischen Pascal und der Kellnerin mitbekommen haben. »Ja, Indianer mit Schlag«, antwortete Pascal, indem er sich zu ihr umdrehte. »Ich kenne das als Moor im Hemd«, erklärte Annabell. »Egal. Hauptsache es schmeckt«, sagte Pascal und wünschte den Damen einen »Guten Appetit!« Nun nahmen die Mädchen die Kuchengabeln in die Hand und begannen der Reihe nach vorsichtig davon zu kosten. Frau Oberstudienrat, die ebenfalls eine dieser Süßspeisen erhalten hatte und das letzte Gespräch eifrig verfolgt hatte, blickte Pascal an und sagte laut: »Danke, Pascal!« Pascal verneigte seinen Kopf in ihre Richtung indem er auch kurz die Augen schloss. Sollte so etwas wie ›gern geschehen‹ bedeuten. Danach war ihm auch fast gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen ein »Danke, Pascal« oder einfach nur ein »Danke« entgegengeschlagen. Er hob nur langsam seine Hände und hielt sie zur Abwehr in beide Richtungen. Ihm war dieses ewige Danken lästig. Er hatte die Süßwaren bestellt, weil ihm danach war und nicht weil er den Dank für seine Tat ernten wollte. Da war ihm das »Mmmh, ist das gut« schon viel lieber. Da hatte sich wirklich jemand gefreut. Soeben wurden neun weitere Stücke gebracht. Damit waren die letzten Mädchen versorgt und auch Pascal hatte seinen Indianer bekommen. Melanie nahm ihre Mehlspeise mit den Worten: »Und ich hab schon gedacht, du hast auf mich vergessen!« entgegen. Ein leises »Danke« von Annabell und endlich konnte auch Pascal zu essen beginnen. Die Kellnerin hatte noch zwei Mehlspeisen übrig und fragte in die Runde: »Wer möchte noch einen Indianer mit Schlag?« Direktor Greif war der Erste, der sich meldete. Schnell eilte sie zu ihm auf die Bühne. Ihren auffordernden

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Blick an das übrige Lehrerkollegium wehrten die Herren mit einer Geste der Hand ab. Nur Professor Weilguny nickte zustimmend und sie stellte den Teller vor ihm ab. In diesem Moment kam eine andere Kellnerin erneut mit vier Mehlspeisen in den Saal: »Wer will noch?« fragte sie am Anfang der Tafel. Rasch erhoben sich drei Hände und sie stellte die Teller entsprechend ab. Eine Stimme fragte plötzlich: »Wie viele denn noch?« »Das waren die Letzten«, antwortete die Kellnerin. Noch einmal blickte sie in die Runde. Wer wollte den Letzten? Nun sagte Peter: »Ich nehme ihn gern.« Es war wieder leise geworden. Die meisten waren wieder am Essen und als das große Schmatzen sich dem Ende neigte, war es auch bereits Mitternacht durch. Dies schien Klaus als Erster bemerkt zu haben und meldete daher auch: »Es ist ja schon nach Mitternacht!« Jetzt stand Peter auf und klopfte mit der Gabel auf den Teller. Alle verstummten und blickten ihn an. Er setzte ein betroffenes Gesicht auf und begann nach einer Pause: »Liebe Mitschüler und Mitschülerinnen. ~ Ich danke, dass ihr heute Abend alle gekommen seid. ~ Alle 29! ~ Aber einer fehlt.« Nach jedem einzelnen Satz hatte er wieder eine Pause gemacht und weiter: »Unser lieber Daniel wäre sicher auch lieber in unserer Mitte. ~ Aber leider hat das Schicksal ihn vor zwei Jahren in der Blüte seines Lebens von uns gerissen. ~ Lasst uns in einer Schweigeminute seiner Gedenken!« forderte er auf. Alle senkten ihre Köpfe und blickten starr nach unten. Einige wenige waren sogar aufgestanden. Diese theatralische Szene war Pascal aber vollkommen zuwider und er unterbrach die Stille energisch mit den Worten: »Davon hat Daniel auch nichts mehr!« Erschreckt blickten alle auf und Pascal im selben Ton fortfahrend: »Wenn Daniel wirklich von irgendwoher auf uns runterschaut, dann würde er sich über etwas anderes viel mehr

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freuen!« Jetzt hatte Pascal die ungeteilte Aufmerksamkeit aller und nach einer kurzen Pause sagte er: »Ich habe erfahren, dass es seiner Frau und seiner kleinen Tochter total beschissen geht. Dass sie sich oft nicht einmal die einfachsten Dinge leisten können. Doch sie hat es bisher stets abgelehnt, sich helfen zu lassen. Das kann ich sogar zum Teil verstehen. Sie ist vom Schicksal enttäuscht worden. Aber das dürfen wir nicht zulassen! Wir dürfen nicht tatenlos zusehen. Ich bitte dich, Peter, uns allen noch einmal einen Erlagschein zukommen zu lassen. Und an euch appelliere ich, diesmal nicht für eine anonyme Organisation zu spenden, wo keiner weiß, wem mit diesem Geld geholfen wird. Dieses Mal bitte ich euch einen Betrag für die kleine Valentina locker zu machen. Jeder soll geben, so viel er geben will. Ich erwarte keine Unsummen, aber fünf Euro sollten es wenigstens sein. Jeder Betrag darunter wäre beschämend. Auch Ausreden, wie dass ihr vergessen habt, lasse ich angesichts der Wichtigkeit dieser Unterstützung nicht gelten.« Nun wendete Pascal sich erneut Peter zu und sagte: »Peter, eröffne bitte ein Sparbuch und zahle den Gesamtbetrag, der dabei herauskommt auf dieses Sparbuch ein. Dann rufst du Dieter an und gibst es ihm.« Und zu Dieter: »Dieter, und du bringst es Daniels Frau vorbei. Ganz formlos und sag, dass es von Daniels Freunden für Valentinas Ausbildung ist. Dann wird sie es schon nehmen!« »Eine Superidee!« rief Dieter und einige nickten zustimmend. Als dann noch Frau Oberstudienrat einwarf: »Bravo, Pascal!« waren alle von der Idee begeistert. Nun wandte sie sich noch an Peter mit der Aufforderung: »Schick mir auch einen Erlagschein.« »Mir auch«, sagte Professor Weilguny und Direktor Greif schloss mit den Worten: »Schick uns allen einen« und seine Geste mit der Hand deutete auf das gesamte Lehrerkollegium.

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Die Betroffenheit einzelner war deutlich noch zu spüren, aber schön langsam begann man wieder zuvor unterbrochene Gespräche weiterzuführen. Nun blickte Peters Freundin Andrea auf die Uhr, gab Peter einen Stoß und zeigte ihm, wie spät es war. Peter verließ daraufhin sofort den Saal, um sich zu erkundigen, wie lange man noch bleiben durfte. Als er zurückkam, rief er laut in die Runde: »Wenn noch jemand etwas bestellen möchte, so muss er dies jetzt tun. Danach gibt es nichts mehr!« Diese Ankündigung nahmen einige zum Anlass, dass es für heute genug sein sollte. Denn während manche doch noch etwas bestellten, baten andere um die Rechnung. Peter begab sich zur Bühne und ergriff noch einmal das Wort: »Ich glaube, ich kann sagen, dass der heutige Abend ein voller Erfolg war und …« Nur die wenigsten hörten ihm jetzt noch zu. Die Bestellung oder die Rechnung waren wichtiger. Auch Pascal holte seine Geldbörse heraus und bezahlte seine einundzwanzig Indianer und die Hausplatte. In diesem Moment vernahm er Peters Worte: »… und Dank an Pascal.« Einige nickten Pascal zu. Er hoffte nur, dass dies die Indianer betraf und dass Peter nicht erzählt hatte, dass er auch einen Teil der großen Rechnung übernommen hatte. Das wäre ihm gar nicht recht gewesen. Von nun an verfolgte er Peters Rede ganz genau. Doch dieser dankte nur noch einmal dem Lehrerkollegium für das Erscheinen und kam zum Schluss. Pascal ergriff das Wort und sagte zu Peter: »Peter, du hast ja alle Adressen. Könntest du nicht jedem von uns eine Liste mit den aktuellen Adressen aller zukommen lassen. Man muss ja nicht wieder zehn Jahre warten, bis man sich trifft. Telefonnummern auch, soweit du sie hast!« Allgemeine Zustimmung und ein »Das ist eine gute Idee!« waren zu hören. »Ich würde mich sehr freuen, wenn sich einer von euch bei mir meldet«, verlautbarte Pascal noch in die Runde,

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wobei ihm Evelyn quer über den Tisch zurief: »Dessen kannst du dir sicher sein!« und Pascal ihr zulächelte. Helmut hatte schon bezahlt und begann nun sich von allen mit Händedruck zu verabschieden und Pascal beschloss, dass er als einer der letzten aufbrechen würde. So konnte er sich den Rundgang, den er bei seinem Eintreffen zu absolvieren hatte, ersparen. Als Helmut bei Pascal angekommen war, streckte er auch ihm die Hand entgegen und fragte: »Pascal, darf ich mich auch einmal bei dir melden? Vielleicht können wir dann einmal etwas trinken gehen.« Pascal sprang sofort auf, schob Helmuts Hand beiseite, drückte ihn an seine Brust und antwortete: »Natürlich Helmut, gerne. Wo wir uns doch schon so lang nicht mehr gesehen haben!« »Genau«, bestätigte Helmut mit einem tiefen Seufzer. Ein »Komm gut nach Hause« gab Pascal seinem Freund noch mit auf den Weg. Helmut dankte und war froh, dass er einen so guten Freund wie Pascal hatte. Nun brachen auch einige andere auf. Darunter fast das gesamte Lehrerkollegium. Nur Frau Oberstudienrat und Klassenvorstand Walther blieben. Die Lehrer ersparten sich den Rundgang und verabschiedeten sich mit einem höflichen Pauschalgruß an alle. Die Übrigen aber kamen einzeln vorbei. Jetzt achtete Pascal auf die Verabschiedungen und wenngleich sie absolut nicht frostig waren, so waren sie doch recht förmlich. Nur vereinzelt verabschiedeten sich Mädchen untereinander mit einem Busserl. Er selbst aber hatte sich vorgenommen, sich von allen Burschen mit einem herzlichen an die Brust drücken zu verabschieden und allen Mädchen sogar ein Busserl auf den Mund zu geben. Während Hanni, die sich als erstes Mädchen von ihm verabschiedete, noch etwas überrascht über das Busserl war, wären die übrigen Mädchen wahrscheinlich eher beleidigt gewesen, wenn sie als Einzige nicht so herzlich verabschiedet worden wären.

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Nach dem ersten Aufbruch war wieder etwas Ruhe eingekehrt. »Frau Oberstudienrat, wollen sie sich nicht zum einfachen Fußvolk setzen?« schlug Pascal vor. Wir würden uns ja gerne zu ihnen setzen, aber da oben ist nicht genug Platz.« Sie ließ sich nicht lange bitten, erhob sich sofort und setzte sich zwischen Eva und Melanie auf den freien Platz. Als Professor Walther von der Toilette zurückkam, forderte Pascal auch ihn auf, sich zu ihnen zu setzen. Nun rückten auch die restlichen Verbliebenen etwas näher und es begann ein Plausch in kleinem Rahmen. Sie waren nur noch vierzehn Personen. Nein, fünfzehn, denn soeben kam Peter noch bei der Tür herein. Er sah etwas enttäuscht aus und ging auf Pascal zu. Pascal drehte sich zu ihm um und sah, dass Peter seine Scheckkarte und die Rechnung in der Hand hielt. Ganz leise und bedrückt flüsterte Peter: »Es sind 465 Euro!« »Okay«, erwiderte Pascal und nahm die Rechnung samt der Scheckkarte aus Peters Hand. Dann holte er eine Füllfeder aus seiner Brusttasche und unterzeichnete Original und Kopie der Rechnung. Beide reichte er Peter, während er Scheckkarte und Füllfeder wieder einsteckte. Dann wandte er sich wieder den Übrigen zu. Peter erledigte den Rest. Als dann glücklich alle ausgetrunken hatten, sagte Peter: »Ich glaube, wir sollten jetzt aufbrechen!« und alle standen auf. »Frau Oberstudienrat, sind sie mit dem Auto da?« fragte Pascal. »Nein, mit Werner«, antwortete sie und deutete auf Professor Walther. »Aber danke, dass du fragst.« Die letzten Verabschiedungen folgten. Auch Evelyn verabschiedete sich von Pascal mit einem Busserl und fragte ihn noch: »Gibst du mir deine Telefonnummer?« Wortlos griff Pascal in seine linke Seitentasche, zog eine Visitenkarte heraus und gab sie ihr. Evelyn schien die

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Zeilen des Textes schnell zu überfliegen, gab Pascal noch ein Küsschen und steckte die Karte in ihr Täschchen. Melanie, die sich bereits verabschiedet hatte, fragte: »Hast du für mich auch noch eine?« Pascal zog eine weitere Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihr. Als letzte kam Alex auf Pascal zu, doch bevor es zu einer Verabschiedung kam, sagte er zu ihr: »Wir hatten heute gar nicht Zeit miteinander zu reden.« Alex nickte nachdenklich. »Wie bist du hergekommen?« erkundigte sich Pascal. »Zu Fuß«, antwortete sie. »Darf ich dich dann mitnehmen?« wollte er wissen. »Ja, danke«, war sie froh. Nun verließen Pascal, Alex, Peter und seine Andrea als Letzte den Saal. An der Theke war auch nichts mehr los. Nur das Personal stand noch da und wartete darauf, endlich Feierabend machen zu können. Pascal trat noch an die beiden Kellnerinnen und den Oberkellner heran und drückte jedem einen zehn Euroschein in die Hand. Sie waren auf Grund der Tatsache, dass es eine Gesamtrechnung gab, doch um einiges an Trinkgeld umgefallen. Dankend nahmen sie das Geld an und wünschten den Gästen noch eine gute Nacht, ehe diese das Haus verließen. Zu viert ging man über die Treppen hinunter zum Parkplatz. Da standen nur noch zwei Autos, während Professor Walthers Rücklichter sich entfernten. Ein Kleinbus mit der Aufschrift Carinthian Reisen. Das war Peters Dienstwagen. Er hatte nach Jahren als Animateur ein kleines Reisebüro übernommen. Und dann noch Pascals Cabrio. Einige Worte tauschten die vier noch aus, bevor sie in die Autos stiegen. Pascal wollte nun ganz Kavalier sein und öffnete zuerst die Beifahrertür, damit Alex einsteigen konnte. Er schloss hinter ihr die Tür, ehe er zur Fahrerseite ging und selbst einstieg. Als er startete, dröhnte laute Musik aus den Lautsprechern. Er hatte bei der Hinfahrt gerade seine Lieblings-CD gehört. Schnell drehte er die Lautstärke ganz zu-

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rück, bis man die Musik nur mehr leise hören konnte. Endlich war er mit Alex allein. Würde sie jetzt den Grund nennen, warum sie mit ihm sprechen wollte? Er wollte das Gespräch nicht darauf bringen. Pascal legte den Gang ein und fuhr los. Schon nach wenigen Minuten stellte er Alex die Frage: »Hast du Lust, dass wir noch in ein Lokal gehen oder kommst du mit zu mir?« Die Möglichkeit, dass sie sagen könnte sie wollte nach Hause gebracht werden, schloss er trotz der fortgeschrittenen Stunde aus. Immerhin hatte ja sie von einer Unterredung gesprochen. Tatsächlich antwortete Alex: »Also in ein Lokal möchte ich heute nicht mehr.« Pascal malte sich schon aus, wie er ihr seine vier Wände zeigen würde, wie sie gemeinsam am Wohnzimmerboden liegen würden. »Aber eigentlich bin ich schon sehr müde!« sagte sie dann. BOING! - Dies riss ihn wie ein Keulenschlag aus seinen heimlichen Gedanken. Sie würde ihm jetzt den Weg weisen, wo er sie hinzubringen hatte. Er selbst sagte auf jeden Fall kein Wort mehr. Alex war auch ganz still. Nur die leise Musik spielte im Hintergrund, als sich der BMW langsam durch die Radetzkystraße der Innenstadt näherte. »Wo wohnst du?« fragte Alex leise. »Am Villacher Ring«, antwortete er ganz langsam. »Gut«, schien sie zufrieden. Was sollte das bedeuten? Pascal wusste es nicht. Er wollte es auch gar nicht wissen. Er hatte auf jeden Fall vor, sie mit zu sich nach Hause zu nehmen. Wenn sie woanders hingebracht werden wollte, dann sollte sie dies klar und deutlich sagen. Er war kein Hellseher. Als Pascal in die Tiefgarage einbog, erwartete er noch einmal einen Widerspruch von ihr, doch da kam nichts. War sie eingeschlafen? Er blickte Alex an. Nein, sie hatte ihre Augen weit offen und starrte nachdenklich geradeaus. Langsam rollte sich das Garagentor nach oben zusammen

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und er ließ den Wagen hinunterrollen. Nach einigen starken Lenkbewegungen und einer kurzen Rückwärtsfahrt war das Auto zum Stehen gekommen. Pascal drehte den Schlüssel im Zündschloss und es war vollkommen still geworden. Lautlos öffnete er die Autotür. Schließen ließ sie sich nicht ganz so lautlos und während er um das Auto ging, öffnete sich schon die Beifahrertür und Alex stieg aus. Pascal schloss hinter ihr die Tür. Der Lift war gut zu sehen und außerdem wies ein Pfeil mit großen Lettern in seine Richtung. Alex ging langsam voraus. Fast hatte es den Anschein, dass sie betrunken wäre. Doch das konnte nicht sein. So viel Alkohol war dies keinesfalls gewesen. Oder hatte sie irgendwelche Tabletten genommen und er hatte es nicht bemerkt? Viele Gedanken gingen Pascal durch den Kopf. Als er Alex erreichte, fasste er sie zur Sicherheit fest um die Hüfte. So konnte er sie auffangen, wenn sie zu taumeln beginnen sollte. Er drückte auf den Knopf und die Türen schoben sich langsam beiseite. Beide stiegen ein und drehten sich wieder zur Tür, ohne einander loszulassen. Alex sah, wie Pascal den Knopf für den vierten Stock drückte. Es war der oberste Knopf. Weiter hinauf ging es wohl nicht mehr. Langsam schlossen sich die Türen wieder und der Lift fuhr an. Pascal bat: »Bitte erschreck dich nicht, wenn du meine Wohnung siehst!« Alex begann in Zeitlupentempo zu schmunzeln. In Gedanken ging sie der Bedeutung dieser Worte nach. Man hatte sich nach zehn Jahren wiedergesehen. Kein Wort hatte man bis jetzt über dieses große Loch in der Vergangenheit verloren. Keiner wusste vom anderen, ob er verheiratet war, ob er Kinder hatte? Auf jeden Fall schien Pascal allein zu leben oder zumindest konnten Frau und Kind nicht zu Hause sein, denn sonst hätte er sie nicht um diese Uhrzeit zu sich gebeten. Auch seine Bemerkung, dass sie sich nicht erschrecken sollte, nährte ihren Verdacht, weil ja allgemein bekannt war, dass Junggesellen-

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wohnungen zumeist unordentlich aussehen. Als der Lift stoppte und die Türen abermals aufgingen, stieg man aus und ging zur nächstgelegenen Wohnungstür. Jetzt erst ließ Pascal ihre Hüfte wieder los. Während er den Wohnungsschlüssel aus seiner Hosentasche fischte und ihn in das Schloss steckte, betrachtete Alex das Messingschild über der Türklingel. Da stand in großen Lettern PASCAL. Kein Familienname, kein Titel. Das war originell und während Pascal die Tür öffnete, ihre linke Hand ergriff und Alex mit sich in die Wohnung zog, streichelte sie zärtlich über jeden einzelnen der Messingbuchstaben. Er schloss hinter den beiden die Tür und Alex blickte sich um. Sie war etwas verblüfft. Da war keine Unordnung zu sehen. Sie standen im Vorzimmer. Dieses war so perfekt durchgestylt, dass man denken konnte, man befände sich im Ausstellungsraum eines Designerstudios. Die Fototapete passte haargenau zu der in Chrom glänzenden Garderobe. Es sah so aus, als ob ein Stahlgerüst aus der Skyline einer amerikanischen Großstadt herausragte. Fast hatte man Angst näher heranzutreten, da man den Eindruck bekam, man könnte leicht vom Gerüst in die Tiefe stürzen. Daneben eine Tür, die vermuten ließ, dass sich dahinter die Toilette oder der Abstellraum befinden konnte. Geradeaus befand sich eine Doppeltür. Beide Hälften mit einem großen Glasfenster. Was heißt Glasfenster? Das waren zwei Glasornamente mit derart vielen bunten Glasscherben appliziert, allerlei vergoldeten und versilberten Einlagen, dass sie sich zu einem Gesamtbild fügten, als hätte man die Silhouette jener Großstadt im Lichterschein der Nacht vor sich. Pascal öffnete beide Türen gleichzeitig und der Raum erhellte sich, ohne dass er einen Schalter betätigt hatte. Doch da der erste Schock! Der Raum war riesengroß. Der gesamte Boden war mit wunderschönen rustikalen Fliesen ausgelegt. Vielleicht nannte man dies auch Klinker. Alex wusste es nicht so genau. Sie hatte so einen Boden schon einmal irgendwo gesehen, konnte sich aber nicht mehr er-

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innern wo. Nur derart große Fliesen hatte sie überhaupt noch nicht gesehen. Der warme braune Ton vermittelte wohlige Wärme. Der Boden war wunderschön, aber der Raum war leer. Der riesengroße Raum war leer. Sie überlegte kurz, ob ihre ganze Wohnung überhaupt so groß war, wie dieser Raum. Rechts führte eine geschwungene Treppe in den oberen Stock. Es musste also doch noch einen fünften Stock geben. Die Treppe endete oben in einem langen Gang, von dem aus einige Türen wegführten. An manchen Stellen war dieser Raum gut und gerne fünf Meter hoch. Am Ende des Raumes erkannte Alex wieder eine zweiflügelige Glastür, deren Ornamente aber ein Bild aus Palmen, Sand und Meer ergaben. Links erstreckte sich eine lange Glasfront, doch es war zu dunkel draußen, als dass zu erkennen war, ob man dahinter ins Freie treten konnte. Im Übrigen war der Raum aber leer. Kein Tisch, keine Kommode, kein Sessel, keine Stehlampe, nicht einmal ein Bild an der Wand. Er war einfach nur leer. Pascal fragte: »Soll ich uns eine heiße Schokolade machen?« Das war genau das Richtige in dem Moment. Wie lange hatte Alex schon keine heiße Schokolade mehr getrunken? Das muss wohl noch während der Schulzeit gewesen sein. Ach ja! Und als die Erinnerungen so langsam klarer wurden, fiel ihr ein, dass es am Alten Platz war. In dem kleinen Café, das eigentlich nur ein langer Gang war. Sie war dort im hinteren Teil des Ganges, den man nur über zwei Stufen erreichen konnte, am letzten Tisch gesessen. Sie war dort mit Pascal gesessen und sie hatten gemeinsam jeder eine heiße Schokolade geschlürft. Alex war damals total am Boden zerstört gewesen, weil gerade wieder eine Beziehung in die Brüche gegangen war und sie hatte Pascal ihr Leid geklagt. Sie versuchte sich zu erinnern, mit wem sie damals Schluss gemacht hatte. Doch so sehr sie sich auch bemühte, es viel ihr nicht mehr ein. Sie wusste nur noch, dass Pascal sie damals getröstet hatte. Keine ein-

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zige ihrer Liebschaften hatte ihr im Nachhinein gesehen so viel bedeutet, wie die tiefe Freundschaft zu Pascal. Konnte auch er sich noch daran erinnern? Hatte er genau aus diesem Grund ihr eine heiße Schokolade angeboten? Jetzt erst kam ihre Antwort: »Ja, bitte!« Pascal ging auf die Tür neben der Treppe zu, welche sie bis jetzt noch nicht bemerkt hatte. Alex folgte ihm in langsamen Schritten und ließ noch einmal den Blick durch den Raum gleiten. Als sie hinter Pascal durch die Tür trat, erkannte sie rasch, dass es die Küche war. Diese war aber eingerichtet. Was heißt eingerichtet? Sie war ein Schmuckkästchen, prall gefüllt mit unzähligen Edelsteinen. Alex wusste gar nicht, worauf sie zuerst blicken sollte. Da waren Schränke, an welchen sich durchscheinende Rauchglasfronten mit Keramik ähnlichen Schranktüren abwechselten. Die Küchengeräte aus poliertem Edelstahl, in denen man sich fast selbst schemenhaft erkennen konnte. Der zweitürige riesengroße dunkelblaue Kühlschrank mit eingebautem Eiswürfelmacher, wie man ihn aus diversen amerikanischen Fernsehserien kannte. Von der Decke hing ein moderner Kristallluster, dessen unzählige Kristallelemente auf einer Länge von mindestens zwei Metern von der Decke baumelten. Dazwischen unglaublich viele kleine einzelne Leuchtdioden. Wenn man nach oben blickte, dann zuckten durch die ständig fließende Bewegung der einzelnen Kristallelemente derart viele Lichtblitze in allerlei bunten Farben, deren Muster sich an der weißen Decke wiederholte. Ein solches Schauspiel hatte Alex noch nie gesehen. Und dann war da noch die Theke mit ihren beiden Barhockern. Doch diese Barhocker standen nicht etwa davor. Nein, sie kamen direkt aus der Bar heraus. Ein geschwungener Bogen, der auch zwei Abstellflächen für die Füße beinhaltete, endete in einer mit weißem Leder überzogenen Sitzfläche samt Minirückenlehne wieder aus poliertem Edelstahl. Auf der verfliesten Theke standen auf zwei Keramikuntersetzern, jeweils mit einer kleinen Servi-

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ette belegt, zwei große Keramikkelche in schlichtem Weiß, aber doch etwas ausgefallener Form. Sie waren mit Sicherheit handgemacht, weil sie einander zwar ähnelten, jedoch keinesfalls gleich waren. Auch die Untersetzer konnten nicht maschinell hergestellt worden sein, denn wirklich rund sieht anders aus. Eben erst bemerkte Alex, dass die beiden Kelche beschriftet waren. Auf dem einen war eindeutig der künstlerisch gestaltete Buchstabe „P“ zu erkennen. Den anderen zierte ein ebenso schönes „A“. Alex war verblüfft. Nun wusste sie, welcher Platz für sie vorgesehen war und sie setzte sich auf den rechten Barhocker. Pascal war gerade damit beschäftigt die Milch mittels einer Dampfdüse aufzuschäumen, während Alex‘ Gedanken noch immer um den Kelch mit dem „A“ kreisten. War es reiner Zufall, dass er gerade diese beiden Buchstaben besaß? Fing der Vorname seiner Frau auch mit A an? Gab es diese Buchstaben nur gemeinsam in einem Set? Hatte er das gesamte Alphabet vorrätig? Oder hatte er von Anfang an geplant sie nach der Feier mit in seine Junggesellenbude zu schleppen? – Nein, so war Pascal nicht. Er war ihr doch stets nur ein guter Freund gewesen. Er hatte ihr zu keinem Zeitpunkt gezeigt, dass sie für ihn mehr als nur eine Freundin war. Die Milch war heiß geworden und Pascal rührte noch die Schokolade unter. Dann goss er die Kelche annähernd voll. Anschließend holte er einen Sahneautomaten aus dem Kühlschrank und verpasste den Getränken noch eine weiße Sahnehaube. Etwas Kakaopulver darüber gestaubt. Einige Schokoflocken noch. In einem Café hätte man sich nicht so viel Mühe gegeben. Zum Abschluss stellte Pascal noch eine Likörkaraffe auf die Theke und reichte Alex den langstieligen Löffel, der gleichzeitig auch als Strohhalm verwendet werden konnte mit den Worten: »Lass es dir schmecken!« Lächelnd antwortete Alex: »Danke.«

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Pascal war hinter der Theke stehen geblieben. Er hatte sich nicht neben Alex gesetzt. Er begann Sahne mit Schokoblättchen von seinem Kelch zu löffeln, als Alex ihn fragte: »Ohne Schuss?« Pascal wusste genau, was sie meinte. Damals während der Schulzeit, wenn sie gemeinsam in dem kleinen Café am Alten Platz saßen und den Getränkefalter durchblätterten, dann stand da einmal „Heiße Schokolade“ und unmittelbar darunter „Heiße Schokolade mit Schuss“. Das war dann praktisch dasselbe Getränk, nur eben mit einem Schuss – einem Schuss Alkohol. Damals hatten sie nur ein einziges Mal die heiße Schokolade mit Schuss getrunken. Das war jener Abend gewesen, an dem er Alex ins Kino eingeladen hatte. An den Film konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Er hatte die ganze Zeit über nur seine Freundin angesehen. An diesem Abend war sie noch schöner als an all den Tagen zuvor. Der Film musste derart emotional gewesen sein, denn kurz vor dem Ende standen einigen Leuten Tränen in den Augen und auch Alex weinte still. Damals hatte sie sich an ihn gedrückt. Plötzlich hatte sie ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihn geküsst. Kein Küsschen wie sonst. Nein, es war ein richtiger, langer Zungenkuss gewesen. Am nächsten Tag hatte keiner von beiden diesen Kuss erwähnt. Es war fast so gewesen, als hätte es diesen Kuss gar nie gegeben. Und nach einer Weile war sich Pascal nicht mehr sicher, ob er dies alles nicht nur geträumt hatte. Jetzt, wo Alex diese Frage stellte, lag die Vergangenheit wieder ganz deutlich vor ihm und er fühlte von Neuem den angenehmen Geschmack, den sie damals auf seiner Zunge hinterlassen hatte. Pascal antwortete nicht, sondern wies nur mit einem fragenden Blick und der offenen Handfläche auf die Karaffe, was so viel wie ›Du musst selbst entscheiden, ob du dir eingießen möchtest‹ bedeuten sollte. Alex verstand und griff nach der Karaffe. Jetzt griff auch Pascal danach und Alex ließ sie wieder los. Er wollte

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nicht, dass sie es selbst tat und so zog er den Glasstöpsel ab. Er füllte nur einen kleinen Schuss in den Kelch, was zur Folge hatte, dass die Sahnehaube etwas nach oben glitt. Sich selbst schüttete er nicht ein, sondern verschloss die Karaffe wieder und stellte sie hinter sich ins Regal. Er wollte einen klaren Kopf behalten, falls Alex doch noch auf ihr Anliegen zu sprechen kommen würde. Nachdem man seit Betreten der Wohnung kaum Worte gewechselt hatte, begann Pascal nun zu erzählen: »Wie du gesehen hast, ist meine Wohnung noch nicht ganz eingerichtet. Mir war es wichtig eine große Wohnung zu haben und deshalb konnte ich es mir nicht leisten sie gleich komplett einzurichten. Eine provisorische Lösung wollte ich aber nicht, deshalb richte ich eben erst langsam Zimmer für Zimmer ein.« Alex hörte ihm zu, ohne große Emotionen zu zeigen. Kein Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung war zu erkennen. Sie blickte Pascal die ganze Zeit nur mit einem leichten Lächeln an und nahm abwechselnd einen Löffel voll von der Sahne oder einen Schluck des Getränks, indem sie sich des Strohhalms bediente. Pascal fuhr trotzdem fort: »Die Wohnung ist 230 Quadratmeter groß und hat sieben Zimmer und zwei Bäder. Es gibt noch eine Terrasse und einen Wintergarten. Bisher habe ich nur das Vorzimmer, die Küche und die beiden Bäder fertig. Ach ja, und den Ankleideraum. Sonst nichts.« Alex musste ihm aber doch genau zugehört haben, denn sie fragte entsetzt: »Das Schlafzimmer nicht?« »Nein«, grinste er. »Wo schläfst du dann?« erkundigte sie sich. »Am Boden«, antwortete er verschmitzt. Alex lachte laut auf: »Das gibt’s doch nicht!« »Doch«, bestätigte Pascal. »Das will ich sehen«, rief sie. »Wenn du möchtest, zeige ich dir später noch die ganze Wohnung«, versprach er und nahm wieder einen kräftigen

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Schluck. So langsam leerten sich die Kelche und nachdem Alex noch die letzten Reste aus ihrem Kelch geschält hatte, sagte sie: »Die war aber gut« und hatte die heiße Schokolade gemeint. »Das hoffe ich doch«, antwortete Pascal und nahm die beiden Untersetzer mitsamt den Kelchen von der Theke und stellte sie in die Ecke der Arbeitsplatte hinter sich. Jetzt kam er um die Theke herum, half Alex galant von ihrem Barhocker und führte sie in den großen Raum zurück. »Das ist die Empfangshalle. Hier werden einmal große Feste gefeiert werden«, erklärte er. Dann schritt er voraus in Richtung der beiden anderen Glastüren und Alex folgte. Er öffnete beide Türen und auch in diesem Raum ging wie von Geisterhand das Licht an. Beide traten ein und Pascal sagte: »Das könnte einmal mein Büro werden« und nach einer kurzen Pause: »oder vielleicht ein zweites Wohnzimmer.« Bei diesen Worten dachte Alex an ihre Wohnung. Ein zweites Wohnzimmer? Sie hatte nur ein Wohnzimmer und in diesem schlief sie auch nachts. Tagsüber musste sie dort bügeln und auch gegessen wurde in dem Raum. Sie war hier in einer anderen Welt. Auch wenn dieser Raum nur einen hell gemusterten Boden hatte, den sie sofort als Marmorboden erkannt haben wollte, und der Raum im Übrigen genauso leer war, wie der Raum aus dem sie gerade erst gekommen waren, für sie war dieser Raum nicht leer. Vor ihren Augen sah sie ganz genau wie da hinten eine moderne Wohnzimmerwand hinpasste. Hier eine gemütliche Ledercouch mit einem wuchtigen Tisch und zwei großen Sesseln. Dort musste der Fernseher hin. Da passte noch eine Essgarnitur hin. Dieser Raum war nur ein wenig kleiner als die Empfangshalle. Hier hatten viele Dinge Platz. Vielleicht sogar ein Flügel dort am Fenster. Pascal beobachtete Alex, wie sie so fast hektisch den Raum musterte und mit hochgezogenen Augenbrauen er-

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wartete er, dass sie etwas sagen würde. Doch nach einigen Augenblicken sah sie wieder Pascal fordernd an, als ob sie ihm deuten wollte, dass er mit der Führung durch die Räume fortfahren sollte. Er verstand und ging Richtung Balkontür. Er drückte den Lichtschalter neben der Glastür und schob die Schiebetür gleichzeitig auf. Mit den Worten: »Das ist der Wintergarten« trat Pascal durch die Tür ins Freie. Alex folgte ihm nur bis zur Tür und blickte hinaus. Sechs elektrische Laternen erhellten den Wintergarten. Fliesenboden. Da standen zwei Campingsessel und ein Klapptisch. Als Pascal sah, dass Alex die Sitzgelegenheiten betrachtete, sagte er: »Doch eine Notlösung!« Sie grinste nur und trat auch ins Freie. Bis in die Geländerhöhe war alles gemauert, darüber alles verglast. Sie blickte nach oben. Dieser Wintergarten ging über zwei Stockwerke und da oben sah sie ein Geländer. Man musste auch vom oberen Stock in den Wintergarten blicken können. Außerdem bemerkte sie, dass sie sich unmittelbar über einer Straße befinden musste, denn da kamen mehrere Paare von weißen Lichtern auf sie zu und verschwanden unter ihren Füßen. Auf der anderen Seite entfernten sich dafür rote Lichter, bis sie in der Ferne ganz verschwanden. Pascal sah ihre Begeisterung und sagte: »Ich glaube du verstehst, warum ich diese Wohnung unbedingt wollte, selbst wenn ich es mir noch nicht leisten kann, sie einzurichten.« Alex nickte mehrmals ganz langsam, ohne etwas zu sagen. Pascal schob Alex vor sich her zurück in das Arbeitszimmer, schloss die Tür und löschte das Licht im Wintergarten. Mit dem Finger zeigte er auf die Tür in der Wand gegenüber und erklärte: »Dort ist noch ein kleines Zimmer, ein Archiv oder ein Abstellraum« und führte Alex zurück. Eigentlich hätte sie auch dieses Zimmer gern gesehen, denn sie spürte plötzlich, dass sie sich auch gut als Innen-

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architektin machen würde. Sie wollte aber keinesfalls aufdringlich wirken. Pascal schloss die Glastüren hinter sich und Alex beobachtete genau, ob sich das Licht von selbst löschen würde. Und tatsächlich, es ging in dem Moment aus, als er die Türen geschlossen hatte. Sie blickte ihn eindringlich an und fragte: »Bewegungsmelder?« Er jedoch lächelte und antwortete: »Nein. Zusätzliche Lichtschalter im Türgriff.« Jetzt erst bemerkte Alex tatsächlich einen kleinen Knopf am Ansatz des Türgriffs. Damit konnte man also das Licht an- und ausknipsen. ›Schlaue Lösung‹, dachte sie. »Oben sind die Schlafzimmer«, sagte Pascal und schritt die Treppen hinauf. Alex folgte ihm. Oben angelangt bog er rechts ab und öffnete die letzte Tür. Er trat nicht ein, sondern hielt nur die Türklinke in der Hand und knipste mit der anderen Hand das Licht an. Auf konventionelle Art. »Ein Schlafzimmer«, beschrieb er kurz. Auch Alex betrat nicht den Raum. Sie war sich unsicher, ob man vielleicht den Boden nicht betreten durfte. Sie reckte nur ihren Hals in das Zimmer und sah Parkettboden, ganz leer, von der Decke baumelte nur eine Fassung mit einer Glühbirne an zweifarbigen Stromdrähten. Auf jeden Fall größer als ihr Schlafzimmer. Weit größer. Pascal löschte das Licht und schloss die Tür. Er öffnete die nächste Tür und trat ein. Hier war der Lichtschalter außen. »Das große Bad«, sagte er und ging ganz hinein. Gleich links eine Milchglastür, halb geöffnet, eine Toilette war zu erkennen. Daneben ein Doppelwaschbecken, dann eine Dusche und daneben noch eine Glastür. Kein Klarglas. Erst als Pascal die Tür öffnete, erkannte Alex die Badewanne. Eine Wanne für zwei mit unzähligen Düsen, wahrscheinlich ein Whirlpool oder Jacuzzi. Sie hatte so etwas auf der letzten Freizeitmesse gesehen. Beim Verlassen des Bades registrierte sie noch die künstlerisch gestalteten Fliesen. Die nächsten beiden Räume glaubte Alex

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schon gesehen zu haben. Denn auch wenn Pascal »zweites Schlafzimmer« und dann »drittes Schlafzimmer« sagte, sie sahen haargleich aus, wie das erste. Sie waren sicher gleich groß, hatten alle keine ordentliche Lampe und Parkettboden. Nur das Fenster befand sich eigentlich jedes Mal an einer anderen Stelle. Alex war wegen der vielen Eindrücke, die sie in so kurzer Zeit verarbeiten musste, recht verwirrt. Pascal aber ging den Gang weiter bis zum Ende, wo sich noch zwei Türen befanden. Er öffnete zuerst die rechte Tür und trat ein mit den Worten: »Mein Schlafzimmer.« Alex konnte es kaum glauben. Da baumelte auch nur eine Glühbirne von der Decke. Der Raum war deutlich größer als die anderen Schlafzimmer und hier lag mitten im Zimmer eine riesengroße Matratze am Boden. Sie war mit einem weißen Leintuch umhüllt. Darauf zwei Polster und zwei Decken, bezogen mit hübscher, bunter Bettwäsche. Aber die Matratze lag einfach nur am Boden. Sonst war der Raum wieder leer. Kein Kasten, keine Kommode, kein Spiegel. Doch, da stand noch ein so genannter Stummer Diener im Eck. Über diesem Kleiderständer hingen ein weißes Hemd und eine bunte Krawatte. Pascal ging bis zur Glasfront und knipste einen Lichtschalter an. Jetzt sah man, dass sich hinter den Schiebetüren eine große Terrasse erstreckte. Man konnte vom Schlafzimmer direkt ins Freie treten und dies fünf Stockwerke über dem Boden und mitten im Zentrum der Stadt. Nun knipste er das Terrassenlicht wieder aus und ging an Alex vorbei auf eine Tür zu. Diese Tür hatte sie noch gar nicht entdeckt. Das Schlafzimmer hatte also noch einen Nebenraum. Pascal öffnete die Tür und verschwand mit den Worten: »Der Schrankraum.« Alex konnte es kaum fassen. Der Raum war schmal und lang. Auf beiden Seiten von unzähligen Kleiderschränken gesäumt. Die Türen zu den Schränken fehlten aber. Sie sah, dass nur zwei Schränke gefüllt waren. In einem hin-

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gen Männeranzüge, Hosen, Mäntel. Der andere war mit Hemden und Pullovern gefüllt. Es gab auch noch einige Schubladen. Vermutlich befanden sich in ihnen Socken, Krawatten und Unterwäsche. Ach ja, im Kasten ganz am Ende erkannte man noch verschiedenste Bettwäsche. Die übrigen Kästen waren noch leer. Hier wohnte Pascal ganz sicher allein. Keine Frau, keine Kinder. Pascal verschwand in einer weiteren Tür. Dieser Nebenraum hatte also noch einen Nebenraum: Das zweite Bad. Vollkommen anders als das Erste. Weniger groß, dafür etwas heimeliger. Duschkabine, Waschbecken, Toilette hinter einer Glastür, deren bunte Ornamente als künstlerisch Abstrakt zu bezeichnen waren und eine kleine Sitzbank. Alex war begeistert und folgte Pascal, als er das Bad wieder verließ und das Licht löschte. Dann wartete er, bis Alex aus dem Schrankraum wieder ins Schlafzimmer trat und schloss hinter sich die Tür. Vorsichtig schob er Alex, die mitten im Schlafzimmer stehen geblieben war, aus dem Zimmer hinaus und schloss erneut hinter sich die Tür. Vor ihnen lag nun die letzte Tür. Pascal öffnete und sagte: »Und zu guter Letzt das Wohnzimmer.« Ein großer Raum tat sich vor ihnen auf. Alex glaubte, die gleichen, warmen Fliesen wie in der Empfangshalle im unteren Stock zu erkennen. Nur waren diese etwas kleiner. Fast mitten im Raum stand ein offener Kamin. Von der Decke hing ein mächtiger Kristallluster. Kein so zierlicher, wie sie ihn in der Küche gesehen hatte. Der hier war alt. Der war sicher einmal in einem Schloss oder einer Burg gehangen. Der Raum war auf jeden Fall auch unheimlich hoch. Vier Meter mochten das wohl sein, war sich Alex sicher. Hinter der Glasfront glaubte sie dieselbe Terrasse zu erkennen, welche man schon vom Schlafzimmer aus gesehen hatte. Links vom Kamin befand sich eine Nische. Was heißt Nische? Diese war immer noch größer als ihr

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Kinderzimmer, aber es war eine Art – na ja, Nische eben. Ein etwas abgetrennter Raum. Und da stand ein Großbildfernseher. Der mochte gut und gerne eineinhalb Meter Durchmesser gehabt haben. Dieser stand auf einer Kommode. Es war eigentlich keine Kommode. Es war ein vollkommen modernes Gestell mit viel Glas und Chrom. Und in dessen Fächern blinkte es unentwegt. Alex glaubt da eine Stereoanlage, Verstärker, DVD-Player und allerlei weiteres technisches Zeug erkannt zu haben. In den beiden Ecken der Nische standen noch zwei schlanke Lautsprecherboxen. Diese Dinger standen am Boden und waren vermutlich sogar größer als Pascal. Größer als sie selbst waren sie allemal. Pascal aber zog Alex auf die andere Seite des Kamins, öffnete die Tür in einer Glasfront und schob Alex hinaus. Nun stand sie in einem sehr kleinen Raum mit einem Geländer. Der Raum war so klein, dass gerade einmal zwei Sessel Platz hatten und als Alex sich über das Geländer beugte, erkannte sie unter sich die Gartensessel und den Klapptisch. Sie stand also wieder im Wintergarten, nur dieses Mal im oberen Teil. Als sie ihren Kopf etwas drehte, sah sie auch wieder die Lichter der wenigen Autos, die jetzt noch durch die Nacht fuhren. Alex ging wieder ins Wohnzimmer zurück und schloss die Tür zum Wintergarten. Pascal kniete vorm Kamin und hantierte mit zwei gleißend hell brennenden Holzstäbchen. Vorsichtig schob er sie unter die Holzscheite, welche kunstvoll, einem Indianerzelt ähnelnd, kegelförmig aneinandergestellt waren. Alex beobachtete, wie die Flammen ganz langsam auf die Holzscheite übergriffen. Es knisterte laut auf. Manchmal waren die Knisterlaute so stark, dass der Ton fast einem Klatschen gleichkam. Pascal stand auf und griff nach der Fernbedienung, die auf dem Kaminsims lag. Nun begann die Stereoanlage zu spielen. Ganz leise nur. Als sich Alex konzentrierte, vernahm sie Musik, die sie schon länger

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nicht gehört hatte. Es war eines ihrer Lieblingslieder, die sie während der Schulzeit dauernd gehört hatte. Sie blickte sich noch einmal etwas genauer um und sah, dass im Wohnzimmer aber so etwas wie eine Couch fehlte. Außer den bereits erwähnten Elementen war auch dieser Raum leer. Na, das stimmte nicht ganz. Es lag ein ziemlich großer Teppich auf dem Boden. Er sah schon sehr alt aus, war aber bestimmt ein echter Perserteppich. Und darauf lagen mehr oder weniger geordnet unzählige Polster. Auch diese hatten allesamt vollkommen unterschiedliche orientalische Muster. Manche glänzten mehr, andere wieder weniger. Alles in allem erinnerte sie all das an einen Fernsehbericht über das Leben von Wüstennomaden. In deren Zelten sah es exakt genauso aus. Hier fehlte einzig und allein das Zelt rund um diese Lagerstätte und es fehlte noch der Sand, der von draußen hereingeweht wurde. Alex war müde geworden und mangels einer anderen Möglichkeit hockte sie sich auf einen dieser Polster nieder. Sie war vollkommen überrascht, dass dieser Polster so bequem und weich war. Am liebsten hätte sie sich mitten in die vielen Polster hineinfallen lassen und sie war sich sicher, dass sie binnen weniger Augenblicke eingeschlafen wäre. Sie durfte aber nicht einschlafen. Sie hatte Pascal noch so viel zu erzählen, aber sie wusste nicht, wie sie beginnen sollte. Außerdem war sie sich auch noch nicht sicher, aus welchem Grund er sie mit zu sich nach Hause genommen hatte. War er noch immer der Freund, der einfach nur zuhörte, wenn sie sich bei ihm ausweinte oder hatte er bis jetzt nur noch nie den Mut gefunden ihr seine Liebe für sie zu offenbaren. Ja, sie war sich nicht einmal sicher, ob sie jetzt wollte, dass er sich ihr nähern sollte oder nicht. Ob sie enttäuscht wäre, wenn er es nicht probieren würde. Sie war schon zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen. Auf jeden Fall war es unglaublich romantisch. Das Knistern im offenen Kamin, die leidenschaftliche Musik im Hintergrund und mit dem allerbesten Freund ganz allein.

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Pascal setzte sich jetzt auch zu ihr auf den Boden und winkelte seine Knie an. Er schaute Alex fragend an und sie wusste, dass er nun etwas von ihr hören wollte. Sie war aber noch nicht bereit etwas zu sagen. Schnell setzte sie sich frontal zwischen seine Oberschenkel und schob ihre Beine rechts und links an ihm vorbei, drückte ihn fest an sich und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Pascal wusste gar nicht, was er davon halten sollte. Er hätte sie gerne angesehen, doch das ging so nicht. Alex hielt ihn viel zu fest. Also erwiderte er ihre Umarmung und drückte auch sie vorsichtig an sich. Dies schien aber total das Falsche gewesen zu sein. Alex drückte ihn nun noch fester an sich, presste ihre Wange an die seine und begann bitterlich zu weinen. Erst nur ganz leise, dann immer fester bis sie sogar anfing zu schluchzen. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was er falsch gemacht hatte. Auch wusste er nicht, was er tun sollte. Er ließ sie einfach weiterheulen. Er spürte, wie ihre Tränen seine Wange entlang kullerten und schließlich auch noch seinen Hals trafen. Binnen weniger Augenblicke war er ganz nass. Pascal fragte sich, wer diesem zarten Geschöpf nur so wehgetan hatte, dass es so bitterlich weinte. Er hoffte nur, dass sie nicht unheilbar krank war, denn alles andere hatte er in seinen Händen, um ihr zu helfen. Waren es finanzielle Probleme, so würde er das schon in den Griff bekommen. Hatte sie Eheprobleme, so wäre es genauso wie vor zehn Jahren, wo sie auch kam und er sie trösten musste. Wäre sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, würde er die besten Anwälte besorgen oder einfach mit ihr gemeinsam im Ausland untertauchen. Wäre sie oder eines ihrer Kinder schwer krank, würde er die besten Ärzte einfliegen lassen. Es ärgerte ihn maßlos, dass er nicht wusste, was los war. Er schimpfte sich selbst einen Trottel, dass er noch nicht einmal wusste, ob sie verheiratet war oder ob sie Kinder hatte. Sie war seine beste Freundin gewesen und er hatte sich in den vergangenen zehn Jahren

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nicht ein einziges Mal bei ihr gemeldet. Er bekam immer mehr Wut auf sich selbst. Auch heute Abend hatte er sich um Daniels Frau und Tochter Sorgen gemacht. Doch um seine Alex hatte er sich überhaupt nicht gekümmert. Er hatte zwar mit ihr geflirtet, doch das hatte er gleichzeitig noch mit anderen getan, um sie eifersüchtig zu machen. Aber die Fragen, die ihm jetzt auf der Seele brannten, die hatte er ihr nicht gestellt. Während er sich noch viele weitere Vorwürfe machte, hatte Alex aufgehört zu weinen. Sie atmete nur noch tief. Die Wangen der beiden klebten regelrecht aneinander. Jetzt wollte Pascal den Mut fassen, sie alles zu fragen, was so wichtig war und er versuchte seine Freundin etwas von sich zu drücken, um ihr ins Gesicht zu blicken. Alex wollte aber jetzt weder reden, noch dass er sie so sah und drückte ihn noch fester an sich. Er verstand sofort und verharrte ganz ruhig in dieser Position. Seine Gedanken kreisten weiter um vielerlei Dinge. Zum Beispiel, dass er heute vierzehn Frauen geküsste hatte, was absoluter Rekord war. Er konnte sich gar nicht erinnern, ob er jemals zwei Frauen an einem Tag geküsst hatte. Sicher nicht. Heute waren es vierzehn gewesen, aber er hätte alle gegen eine Einzige eingetauscht. Gegen die, die jetzt in seinen Armen lag. So nah und doch so fern. Pascal erinnerte sich an den einzigen Zungenkuss, den er von ihr bekommen hatte. Welcher Trottel er war, dass er damals die Gelegenheit ausgelassen hatte, ihr seine Liebe zu ihr zu gestehen. Es wäre alles anders gelaufen. Vielleicht hätte er nicht studiert und wäre jetzt ein einfacher Bankangestellter, aber glücklich mit Alex verheiratet. Zwei Kinder, eine kleine Wohnung, jedes Jahr zwei Wochen Urlaub an der oberen Adria. Aber war das wirklich besser? Er wusste die Antwort nicht. Und beinahe wäre er eingeschlafen. Auch er war jetzt müde. Ein Blick zum Fernsehgerät zeigte, dass es 4:51 Uhr war. Kein Wunder, dass Pascal müde war. Alex klammerte

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sich auch nicht mehr so fest an ihn wie zuvor. Noch einmal drückte er sie vorsichtig von sich weg. Diesmal ließ sie es geschehen. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Vorsichtig ließ er sie in seine Arme gleiten. Dann kniete er sich zu ihr hin, ohne sie loszulassen. Nun hob er sie hoch und stand auf. Alex lag wie tot in seinen Armen, doch sie atmete tief. Er sah, wie sich ihr Brustkorb hob und wieder senkte. Er war sich sicher, dass sie schlief. Doch Alex war hellwach. Sie ließ es mit sich geschehen. Sie war neugierig, was Pascal mit ihr vorhatte. Klar wusste sie, dass er sie jetzt vermutlich zu Bett bringen wollte. Aber wie weit würde er gehen? Er musste ja denken, dass sie schläft. Würde er diese Situation ausnützen? Sie war auf jeden Fall gewillt, es mit sich geschehen zu lassen. Eigentlich empfand sie es fast als Beleidigung, dass er in ihr bisher noch nie die Frau gesehen hatte. Sie war für ihn immer nur die gute Freundin gewesen. Ja selbst heute Abend hatte er alle geküsst, außer ihr und … Na, ja. Frau Oberstudienrat hatte er auch nicht geküsst. Bis auf den Handkuss. Alex wollte aber nicht mit der alten Schachtel in einem Atemzug genannt werden. Sie hatte ein Recht auf diesen Kuss. Sie hätte am liebsten jetzt in diesem Moment ihre beiden Arme um seinen Hals geschlungen und ihn lang und innig geküsst. Doch wie würde er reagieren? Fallen gelassen hätte er sie sicher nicht. Aber wie war es denn damals im Kino gewesen, wo sie es war, die ihm einen Zungenkuss gegeben hatte. Er hatte diesen Kuss zwar erwidert, aber dann nie mehr davon gesprochen. Wochenlang hatte sie gewartet, dass auch er ihr einen Kuss geben würde als Zeichen dafür, dass auch er bereit war, aus einer großen Freundschaft in eine Beziehung überzugehen. Und als sie ihn damals nach wenigen Tagen auch ins Kino eingeladen hatte, da hatte er abgesagt. Sie musste ja glauben, dass er sich dafür schämte, ihr einen Kuss gegeben zu haben. Und diese Blöße wollte sie sich nicht geben, dass er sie ein zweites Mal zurückweisen sollte. Daher tat sie wei-

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ter so, als ob sie schlafen würde und harrte der Dinge, die da auf sie zukommen würden. Pascal öffnete vorsichtig mit dem Ellbogen die Tür zum Schlafzimmer. Es war gar nicht so einfach, denn Alex durfte auf keinen Fall aufwachen. Was würde sie sich von ihm denken, wenn sie erkennen würde, dass er dabei war, sie in sein Schlafzimmer zu zerren. Noch vorsichtiger versuchte er sie auf seinem Bett abzulegen. Zum ersten Mal bedauerte er, dass er kein richtig hohes Bettgestell hatte, denn so war es noch schwieriger zu bewerkstelligen, ohne Alex dabei aufzuwecken. Aber es gelang. Sie lag auf der Seite und schlief noch immer tief und fest. Nun öffnete er die Decke der anderen Betthälfte. Kurz überlegte er, ob er sie hinüberrollen sollte, um sie ordentlich zuzudecken. Doch fiel sein Blick zuerst auf ihre Schuhe. Sie hatte ihre Schuhe noch an. Er konnte sie unmöglich mit den Schuhen schlafen lassen. Das war doch völlig unbequem. Alex wiederum wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Er hatte sie ins Bett gelegt und dann an der Bettdecke gezogen. Sie durfte aber ihre Augen nicht öffnen. Nein, sie musste sie fest geschlossen halten. Doch auch mit geschlossenen Augen spürte sie, dass er zu ihren Füßen kniete und sie betrachtete. Nur zu gerne hätte sie ihre Augen wenigstens einen kleinen Spalt geöffnet, doch wenn Pascal ihr in diesem Moment ins Gesicht geblickt hätte, so wäre ihre Tarnung aufgeflogen. Also hielt sie ihre beiden Augen weiter tief geschlossen. Sie spürte, wie ihr Herz immer schneller zu schlagen begann. Sie war sehr erregt und dachte nur noch: ›Los, tu etwas. Berühr mich oder steh auf, aber tu endlich irgendetwas!‹ Als sie vor Erregung fast schon zu zerspringen drohte, erfasste Pascal vorsichtig ihren linken Schuh und zog ihn ihr zärtlich vom Fuß. Ebenso den rechten und beide stellte er lautlos neben sich auf den Boden. Kurz hielt er inne, weil er überlegte, ob er ihr nicht auch noch die Kleidung ausziehen sollte. Es musste doch unbequem sein in der

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Kleidung zu schlafen. Alex waren diese wenigen Sekunden wieder endlos lang vorgekommen. Pascal aber nahm seinen ganzen Mut zusammen und beugte sich über sie. Extrem vorsichtig öffnete er den Reißverschluss an ihrem Rock. Als er begann den Rock nach unten wegzuziehen, war er erfreut und überrascht zugleich, dass dies so leicht zu bewerkstelligen war. Er wusste ja nicht, dass Alex fast unmerklich ihr Becken etwas angehoben hatte. Langsam zog er ihr dann den Rock auch über ihre Beine nach unten hinweg. Nun stand er auf und ging zu dem Kleiderständer im Eck des Zimmers. Er warf sein Hemd und die Krawatte auf den Boden und hängte den Rock feinsäuberlich über die Querstange des Stummen Dieners. Dann packte er diesen und trug ihn vor bis zum Bett. Alex, die bemerkt hatte, dass Pascal sich von dem Bett wegbewegt hatte, öffnete für einen kurzen Moment ihre Augen, um zu erkennen, was er gerade tat. Doch da er in ihrem Blickfeld nicht zu sehen war, schloss sie die Augen schnell wieder. Durch die gelungene Aktion wurde Pascal jetzt mutiger und kniete sich neben Alex aufs Bett. Bestimmt aber doch vorsichtig öffnete er jetzt die Knöpfe ihrer Jacke. Dann hielt er mit der einen Hand ihre Schulter fest und zog mit der anderen den Ärmel ihrer Jacke zügig nach hinten, wobei dieser über ihren Arm abglitt. Danach machte er es ebenso mit dem zweiten Ärmel und holte dann die Jacke unter ihrem Körper hervor. Er warf sie auf die Seite in die andere Betthälfte. Als Nächstes öffnete er ihre Bluse Knopf für Knopf. Alex spürte, wie er jedes Mal ihren Körper berührte. Wenn sie auch bisher nicht gewusst hatte, wie viele Knöpfe ihre Bluse hatte, jetzt wusste sie es: Es waren acht. Sie hatte jeden einzelnen von ihnen genossen. Sie spürte, wie ihr Herz bebte. Davon hatte Pascal aber nichts mitbekommen. Acht Knöpfe, das war auch ihm aufgefallen, denn er hatte bei

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jedem Mühe, ihn so vorsichtig durch die Öffnung zu schieben, damit Alex nur jetzt nicht aufwachte. Sie hätte ihn vermutlich einen Lustmolch genannt, wenn sie ihn dabei ertappt hätte, wie er über ihr kniete und sie befummelte. Warum musste diese Bluse auch noch zwei Knöpfe an den Ärmeln haben? Auch die musste er öffnen, sonst wäre es unmöglich gewesen, die Bluse über ihre Handgelenke zu ziehen. Doch auch das hatte er irgendwann einmal geschafft. Nun schlug er ihre Bluse beiseite und sah, dass Alex darunter nur noch einen BH trug. Dieser war leicht transparent, mit Spitzen besetzt und mit natürlicher Schönheit gefüllt. So hatte Pascal seine Alex noch nie gesehen. Sicher waren sie während der Schulzeit auch einmal gemeinsam im Wörthersee baden gewesen. Dabei hatte sie auch nur einen Bikini getragen. Doch das hier war jetzt etwas anderes. Ihre Brüste mussten seit damals noch einmal um einiges gewachsen sein und außerdem hob und senkte sich ihr Oberkörper bei jedem Atemzug, sodass es aussah, als wollten die beiden Schmuckstücke beim nächsten Mal die Hülle sprengen. In dieser Pose verharrte Pascal für einige Momente, um diesen Anblick voll auszukosten. Alex hingegen kamen diese Augenblicke unendlich lang vor. Ihr Körper wollte, dass Pascal weitermachen sollte. Er sollte sie berühren oder wenigstens weiter entblößen. So war es nur zu verständlich, dass sie sich, als er an ihren Ärmeln zog, abwechselnd von links nach rechts rollte und durch leichtes Anheben einzelner Körperteile das Abstreifen der Bluse kräftig unterstützte. Pascal erkannte in diesen Bewegungen nur eine glückliche Fügung des Schicksals, die ihm die Aufgabe erleichterte. Nun nahm er die Bluse, richtete sich im Knien auf und hängte sie ordentlich über den Wäschebügel des Kleiderständers. Alex öffnete ihre Augen und blickte genau in seinen Oberschenkel. Pascal beugte sich daraufhin über Alex, um die Jacke zu ergreifen. Auch diese hängte er über die Bluse auf den Bügel. Währenddessen hatte Alex die

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ganze Zeit über die Augen offen. Nun, da sich Pascal zu ihren Beinen hinkniete, schloss sie die Augen aber rasch wieder. Er ließ sich wieder viel Zeit und betrachtete sie genau, denn jetzt lag sie in ihrer ganzen Schönheit vor ihm. Er hatte beim Betreten des Schlafzimmers vermieden das grelle Licht einzuschalten und so war der Raum nur durch die Lichter der Stadt, die durch die breite Glasfront drangen, erhellt. Doch gerade dieser sanfte Schein verlieh ihrem Körper eine zusätzlich verführerische Note. Das Bild, das Pascal vor sich sah, hätte perfekt in jede Jubiläumsausgabe des Playboy-Magazins gepasst. Der weiße String, der exakt zum BH passte, schien dank seiner leichten Transparenz jedes feine Haar darunter erkennen zu lassen. Die kleinen punktförmigen Erhebungen im Zentrum beider BH-Schalen stellten die Symmetrie der Oberweite unter Beweis und die ebenfalls in weiß glänzenden, halterlosen Strümpfe rundeten das Gesamtbild noch ab. Als er sich noch einmal aufrichtete, um dieses Kunstwerk aus etwas mehr Entfernung zu betrachten, sah es fast so aus, als ob diese letzten Kleidungsstücke neonartig, einer Leuchtreklame gleich, ganz leicht strahlen würden. Genauso als ob sie wie die Zeiger einer Uhr den ganzen Tag Licht aufgesogen hätten, um sie jetzt zum absolut richtigen Zeitpunkt wieder abzugeben. Dies alles sah Alex aber nicht. Sie spürte nur, dass er jetzt etwas weiter von ihr entfernt war. Es kribbelte in ihren Händen. Alex wollte diese nach vorne schnellen lassen, Pascal fest anpacken und zu sich reißen. Er sollte das Gleichgewicht verlieren und mit seinem Körper voll auf sie fallen. Doch irgendetwas hielt sie zurück. Die Hände waren wie Blei. Sie wäre gar nicht im Stande gewesen, ihre Arme anzuheben. Unter dem Bett musste ein starker Magnet liegen, der ihre Arme unaufhörlich nach unten zog. Diese Situation hätte Pascal ausnützen können. Jetzt hätte er mit ihr machen können was immer er gewollt hätte. Sie hätte sich nicht gewehrt. Nicht wehren können. In

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Gedanken spürte sie schon, wie ihr String über ihre Fußknöchel rutschte. Sie fühlte sogar die Kälte der Schere, als diese ihren Körper streifte und zwischen ihren Brüsten nach oben glitt. Fast war es so, als hörte sie das Klicken, als die Schere ihre Arbeit vollendete, gefolgt von dem gummiartigen Geräusch, welches zwei weit aufspringende Hälften des Büstenhalters verursachten. Ein mikrofeiner Stromschlag riss Alex aus ihren Phantasien. Pascal hatte vorsichtig versucht das Gummiband am oberen Ende ihres halterlosen Strumpfes von der Haut ihres Oberschenkels abzuziehen. Dabei hatte sich eine statische Aufladung wieder entladen. Langsam zog Pascal den Strumpf über das Knie nach unten vom Bein ab und warf ihn gekonnt über den Kleiderständer. Alex spürte noch ganz genau, wo Pascal sie berührt hatte. Es kam ihr vor, als ob auf der Innenseite ihres rechten Oberschenkels, genau an jener Stelle, wo die Entladung stattfand, noch immer eine ganz kleine Nadel in ihr steckte und jemand vergessen hatte, sie herauszuziehen. Und als ob Pascal dies gewusst hätte, wischte er, noch ehe er sich dem zweiten Strumpf widmete, mit der flachen Hand zärtlich über die Stelle, wo die Nadel saß. Im selben Moment war der Schmerz verschwunden. Er musste die Nadel dabei herausgezogen haben. Alex konnte sich zwar keinen Reim darauf machen, warum er sie gestreichelt hatte, da es eine wirkliche Nadel ja nicht gegeben hatte, aber sie war ihm sehr dankbar. Vielleicht hatte er einfach nur das Bedürfnis gehabt sie zu streicheln. Die Entfernung des zweiten Strumpfes verursachte auf jeden Fall keinen Schmerz mehr. Dennoch erwartete Alex, dass Pascal sie wieder streicheln würde. Zu diesem Zweck drehte sie sogar das linke Knie etwas nach außen, um so die Innenseite des Oberschenkels leichter erreichbar zu machen. Doch Pascal dachte nicht daran. Er fasste Alex nur an der Schulter und drehte sie mit einem leichten Druck zur Seite. Dann zog er rasch die offene Decke über ihren Körper und stand auf.

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Von dieser unerwarteten Aktion war Alex so überrascht worden, dass sie den Moment verpasst hatte Pascal festzuhalten. Aber er war ja noch im Raum. Wahrscheinlich würde er sich jetzt auch ausziehen und dann ganz brav zu ihr ins Bett kommen. Die rechte Hälfte des Bettes war ja noch frei. Sie selbst würde sich dann wie zufällig im Schlaf drehen und ihre Körper würden sich berühren. Spätestens dann würde Pascal sich nicht mehr zurückhalten können. Er würde ihre letzten Kleidungsstücke entfernen und vielleicht würde es dann dazu kommen, wozu es schon vor mehr als zehn Jahren hätte kommen sollen. Zumindest würde sie nackt in seinen Armen einschlafen. All ihre Probleme waren zu diesem Zeitpunkt ganz weit weg. Die Tatsache, dass sie hörte, wie Pascal Wäsche aufhob und in den Schrankraum ging, bestätigte nur ihre Annahme, dass nun auch er sich ausziehen würde. Pascal aber hatte nur Hemd und Krawatte, die er zuvor achtlos auf den Boden geworfen hatte, wieder aufgehoben und in den Schrankraum gebracht. Von dort kam er auf leisen Sohlen zurück und nachdem er Alex noch einmal die Decke bis ans Kinn hochgezogen hatte, verließ er lautlos das Zimmer. Alex verharrte noch minutenlang in dieser Position, ehe ihr die Stille unheimlich wurde. Wo war er? Er konnte wieder vor dem Bett stehen ohne einen Ton von sich zu geben und sie beobachten. Vielleicht lag er sogar schon neben ihr im Bett. So öffnete sie erst einmal vorsichtig ein Auge und blickte sich um. Pascal war nicht zu sehen. Nun drehte sie sich auf den Rücken und tastete mit der Handfläche die andere Hälfte des Bettes ab. Es war leer. Sie richtete sich auf und durchspähte das ganze Zimmer. Sie war ganz allein in dem großen, leeren Raum. Nur die Tür nach draußen stand halb offen. Rasch streifte sie ihren String ab und öffnete den Verschluss ihres Büstenhalters, der nach vorne über ihre ausgestreckten Arme abrutschte. Beides hängte sie über den Kleiderständer und legte sich

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rasch wieder hin. Mit dem Gedanken, dass Pascal sicherlich gleich wieder zurückkommen werde, schlief sie ein. Zu diesem Zeitpunkt stand Pascal im Wohnzimmer, stellte seine Schuhe neben den Kamin und hängte sein Jackett und die Hose gefaltet über die halbgeöffnete Glastür der Stereoanlage. Krawatte und Hemd dazu, die Socken in den Schuhen verstaut. Auch er war müde geworden und so legte er sich ein paar der Wüstenkissen zurecht und ließ sich darauf fallen. Während die letzten Holzscheiter im Kamin nur noch glosten und aus den Lautsprechern ganz leise Musik drang, war für ihn trotz der fast unerträglichen Müdigkeit noch lange nicht an Schlaf zu denken. Seine Gedanken ließen den ganzen letzten Abend mit der hereinbrechenden Nacht noch einmal vor sich vorbeiziehen und er bewertete nüchtern, in welchen Situationen er richtig gehandelt hatte und wann er einen schweren Fehler gemacht hatte. Und er stellte sich selbst im Gesamtergebnis als Note ein glattes Nichtgenügend aus. Als es draußen schon langsam begann hell zu werden, schlief auch er ein.

Samstag, 11. Juni 2005

Ein einmaliges Klingeln, das so gar nicht zu ihrem Traum passte, riss Alex aus dem Schlaf. Es hatte nur einmal geklingelt, dann war Schluss. Sie konnte es auch nicht richtig zuordnen. Weder woher es kam, noch ob es ein Telefon oder eine Türklingel war. Als sie dann auch noch langsam ihre Augen öffnete, blitzte ihr ein greller Lichtstrahl ins Gesicht. Rasch drehte sie ihren Kopf zur Seite und versuchte es ein zweites Mal. Es war sehr hell im Raum. Die Sonne war es, die durch die Glasfront das Schlafzimmer so hell erleuchtete. Mit halb geöffneten Au-

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gen blickte Alex nach draußen. In der Nacht hatte sie die Terrasse trotz der Beleuchtung nur schemenhaft wahrgenommen. Jetzt sah sie, dass die Terrasse von einer hohen Mauer umgeben war und dass einige große Pflanzen in riesigen Kübeln etwas Grün vermittelten. Sie wusste nicht, wie spät es war. Die Vermutung lag nahe, dass es schon Mittag sein konnte, weil die Sonne so hoch am Himmel stand. Alex legte sich noch einmal gemütlich in die Daunendecken zurück. Während es ihr nicht gelang sich noch einmal zu erinnern, wovon sie eben noch so schön geträumt hatte, war ihr jeder einzelne Moment des letzten Abends und speziell der letzten Nacht noch ganz genau bewusst. Pascal war schon lange wach, auch wenn er höchstens drei Stunden geschlafen hatte. Es hielt ihn dann nichts mehr im Bett, oder besser gesagt auf den Kissen. Er hatte bereits im großen Bad geduscht und sich auf leisen Sohlen frische Kleidung aus dem Schrankraum geholt. Er war sogar schon beim Bäcker gewesen, um mit verschiedenen Brötchen und Mehlspeisen wiederzukehren. In der Küche duftete es herrlich nach frischem Kaffee. Auch hatte Pascal heute bereits drei Telefongespräche geführt. Einmal hatte ihn Peter Berghof angerufen, um ihm nochmals für den Abend zu danken und um andererseits nachzufragen, ob Pascal Alex gut nach Hause gebracht hatte. Der zweite Anruf kam von Verena, weil sie bat am Montag später kommen zu dürfen, da sie mit ihrer Tochter Lisa zum Augenarzt wollte. Dies stellte natürlich kein Problem dar und Pascal hatte ihr zugesagt. Den dritten Anruf hatte Pascal selbst getätigt. Er hatte seine Mutter angerufen und gefragt, wann er nächste Woche bei ihr vorbeikommen sollte, weil sie seine Hilfe benötigte, wenn ihre neuen Schlafzimmermöbel gebracht werden sollten. Und gerade eben hatte es erneut geklingelt. Pascal war zwar schnell ans Telefon gegangen, aber Alex war dennoch dadurch wach geworden. Evelyn war am Apparat und

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auch wenn das Gespräch annähernd fünf Minuten gedauert hatte, so konnte Pascal danach nicht sagen, warum sie eigentlich angerufen hatte. Wahrscheinlich wollte sie nur überprüfen, ob die Telefonnummer, welche auf der Visitenkarte stand, auch die Richtige war. Vielleicht hatte sie auch erwartet, dass Pascal sie zu einem Treffen einladen würde, aber dazu stand ihm im Moment gar nicht der Sinn. Dennoch hatte er sofort die Nummer, welche am Display zu erkennen war, unter „Evelyn“ in seinem Handy abgespeichert. Einer Verabredung in naher Zukunft war er keinesfalls abgeneigt. Pascal stand in der Küche und bereitete ein Tablett vor. Tasse mit Untertasse, Kuchenteller, Milch, Zucker, auch ein Körbchen mit Gebäck standen schon drauf. Nun noch Messer, Kuchengabel, Kaffeelöffel, die Kaffeekanne, Marmelade und Honig. Zuletzt ging er noch zum Kühlschrank, holte die Butterdose und einen fertigen Teller, belegt mit verschiedenen Wurst- und Käsesorten. Erst musste er noch etwas Ordnung auf dem Tablett schaffen, um auch noch die letzten Dinge unterzubringen. Ein kontrollierender Blick, ob wohl nichts fehlte, und er nahm das Tablett auf. Flott eilte er damit die Treppe hinauf und den langen Gang hinunter zum Schlafzimmer. Mit dem Ellbogen schob er die Tür weiter auf und trat neben Alex ans Bett. Pascal klappte die Beine des Tabletts aus und stellte es auf den Boden. Dann beugte er sich zu Alex hinunter, die eben ihre Augen aufgemacht hatte. Mit den Worten: »Guten Morgen, mein Schatz!« gab er ihr ein Küsschen mitten auf den Mund. Auch Alex ließ dem Kuss ein müdes »Guten Morgen« folgen. Pascals Blick war es nicht entgangen, dass da ein String und ein BH über der restlichen Wäsche baumelten. Er selbst hatte diese da sicher nicht hingehängt. Alex war also nackt unter der Bettdecke. Er sah auch, dass ihre Schultern

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frei waren. Dort, wo üblicherweise die Träger zu sehen waren, da war nichts. Pascal erhob sich wieder und griff nach dem Tablett. »Frühstück am Bett?« fragte Alex. »Frühstück im Bett«, korrigierte Pascal sie und hob das Tablett an. Dann drehte er sich zum Bett hin und hielt das Tablett mit den ausgeklappten Standfüßen darüber. Alex erkannte sofort, dass er das Tablett über sie stellen wollte. Schnell rutschte sie etwas zurück, richtete ihren Oberkörper auf und schob die Decke mit den Händen auf beiden Seiten eng an ihre Oberschenkel heran. Durch diese Bewegung verhüllte die Decke nur noch ihre Beine bis hinauf zur Hüfte. Ihr Oberkörper war nun freigelegt, die Brüste waren ganz nackt. Alex benahm sich so, als hätte sie das noch nicht bemerkt oder es war ihr vollkommen egal, dass Pascal sie nackt sah. Er wiederum starrte, ohne seine Miene zu verziehen voll auf ihre Brüste. »Und, du frühstückst nicht mit mir?« fragte Alex. »Doch, aber nur eine Kleinigkeit«, antwortete er und setzte sich mit dem Rücken zum Bett auf den Boden. So konnte er verhindern, dass er sie unentwegt anstarren musste. Alex überflog die Auswahl an Speisen und schüttelte den Kopf. Als Erstes schüttete sie sich eine Tasse Kaffee ein und begann sich ein Wurstbrot zu richten. Die ganze Zeit über blieb Pascal am Boden sitzen. Nur ab und zu blickte er Alex über seine Schulter hinweg an. Einmal drehte er sich ganz um, fischte sich ein Nusskipferl aus dem Körbchen und aß es genüsslich auf. Während dieser Zeit sagte keiner von beiden ein Wort. Alex war nur ein kleiner Esser und bald fertig. Als Abschluss sagte sie: »Danke! Aber du darfst mich nicht so verwöhnen, sonst gewöhn ich mich noch daran.« »Vielleicht ist das aber meine Absicht!« grinste er. Mit diesen Worten stand Pascal auf und hob das Tablett hoch. Er wollte Alex gerade fragen, ob sie jetzt ein Bad nehmen

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wollte, als sie vom Bett aufstand. Splitterfasernackt stolzierte sie auf Zehen Richtung Terrassentür. Pascal war sprachlos. Zum Glück gab es keinen Spiegel im Zimmer, in welchem sie sein Gesicht hätte sehen können, denn er hielt die Luft an, hatte beide Wangen voll aufgeblasen und es sah so aus, als wollte er ein Wort hinausschreien, das mit einem harten „P“ beginnt. Ganz zu schweigen von seinem Blick. Die weit aufgerissenen Augen drohten fast aus den Augenhöhlen zu springen. Schnell hatte er sich wieder gefangen. »Willst du baden?« fragte Pascal. »Ja, gerne«, antwortete Alex und starrte weiter auf die Terrasse hinaus. »Willst du auf die Terrasse hinaus?« erkundigte er sich nach einer kurzen Pause. »Später vielleicht.« Pascal wusste, dass Alex mit ihm spielte und er war bereit mitzuspielen. Sie war sich ihrer Reize voll bewusst. Plötzlich drehte sie sich zu ihm um, kam näher und als Pascal sich von ihr wegdrehte, hakte sie sich bei ihm ein, wobei er deutlich ihre Brust an seinem Oberarm spüren konnte. So führte er sie hinaus auf den Gang und nachdem er das Tablett auf dem Geländer abgestellt hatte, betrat er mit Alex das Bad. Er drückte zwei Knöpfe an der Wanne, drehte an einem Drehgriff und mit leichtem Getöse strömte Wasser aus unzähligen Düsen in die Wanne. Alex hatte Pascal noch immer nicht losgelassen, drückte sich seitlich von hinten an ihn und lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. »Das dauert jetzt ein wenig«, erklärte er. Alex grinste nur. Pascal befreite sich vorsichtig aus ihrer Umklammerung und ging zum Badezimmerschrank. Dort holte er ein weißes Badetuch heraus. Als er es nur an einer Ecke festhielt und den Rest fallen ließ, sah Alex, dass es ein Bademantel war. Er reichte ihn ihr absichtlich nicht, sondern hängte ihn auf einen Haken. Dann griff er aber-

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mals in den Schrank und stellte zwei Frotteepantoffel vor den Bademantel. »Danke«, sagte Alex und da die Wanne bereits zur Hälfte vollgelaufen war, kletterte sie hinein. Bequem nahm sie in der körpernah geformten Schale Platz und legte ihren Kopf zurück. Das Wasser sprudelte unaufhörlich weiter in die Wanne. Nun drückte Pascal auf einen weiteren Knopf und Luftdüsen begannen dass Wasser durcheinander zu wirbeln. Als er dann noch einen Knopf betätigte, begannen mehrere Lichter im Boden der Wanne zu leuchten und langsam ihre Farben zu wechseln, Dann ging Pascal zu Alex, nahm ihre Hand und führte sie zu vier in den Wannenrand eingelegten Sensortasten. »Du kannst jetzt noch Duftöle dem Badewasser zufügen«, erklärte er. »„T“ steht für Tannenduft, „R“ für Rose, „B“ für Blütenduft und „O“ für Meeresduft«, zählte er auf. »Frag mich aber nicht, warum „O“ für Meeresduft steht. Vielleicht wegen Ozean, aber ich weiß es nicht.« Die ganze Zeit über hielt er ihre Hand mit den Fingern seiner beiden Hände zärtlich fest. Als er sie wieder losließ, damit sie eine der Tasten drücken konnte, gab er ihr noch den Hinweis: »Du solltest dich aber für einen Duft entscheiden, weil ein Gemisch aus Düften nicht so angenehm ist.« Alex blickte ihn tief an und hauchte dann leise: »Kommst du auch herein?« Platz war genug, denn in diesem Sprudelbecken konnten zwei Personen gut liegen oder sogar vier Personen bequem sitzen. Schnell hatte er eine Antwort parat: »Wenn du mich noch einmal besuchen kommst, dann gerne. Aber für ein einmaliges Erlebnis setze ich diese Bilderbuchfreundschaft zwischen uns nicht aufs Spiel!« Er hatte diesen Satz noch nicht fertig gesprochen, da bereute er ihn schon wieder. ›Was bist du für ein Trottel?‹ schrie es in ihm. Er wollte sich die Kleider vom Leibe reißen oder gleich angezogen zu ihr ins Becken springen, doch Alex antwortete viel zu schnell.

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Ihre ersten drei Worte trafen ihn wie ein Keulenschlag mitten ins Gesicht: »Wenn du glaubst …« Es war zu spät. In Bruchteilen einer Sekunde schossen gleich mehrere Möglichkeiten, wie Alex diesen Satz vollenden konnte, durch seinen Kopf. Nur hatten alle ein grausames Ende für ihn bereit. Er hatte sie vor den Kopf gestoßen. Auch ihr schnippischer Tonfall zeigte, dass sie beleidigt war. »…, dass du …« Sie würde ihm die Freundschaft kündigen, ihn nie wieder sehen wollen. »… mich so schnell wieder loswirst, dann täuschst du dich!« Die letzten Worte hatte Pascal fast schon ohnmächtig vor Angst vernommen, aber sofort verstanden. Er war überglücklich und erwiderte schnell: »Ich nehme dich beim Wort.« Nun war jedes weitere Wort überflüssig. In diesem Moment hatten sich beide versprochen, dass sie ihre unsagbar tiefe Freundschaft endlich auf eine höhere Stufe stellen wollten. Dass man dieser Freundschaft, welche die vergangenen zehn Jahre der Trennung ohne den geringsten Schaden überstanden hatte, nun eine ebenso unsterbliche Liebesbeziehung folgen lassen würden und dass man es ganz langsam angehen wollte. Mit einem zufriedenen Lächeln verließ Pascal das Bad und nahm auf dem Weg in die Küche das Tablett mit. Während er den Geschirrspüler belud und die übrigen Frühstückszutaten ordentlich an ihren Platz stellte, kreisten seine Gedanken um eine gemeinsame nahe und auch fernere Zukunft. Er überlegte, wie er ihr den heutigen Tag noch schöner machen konnte. Wohin er sie ausführen sollte. Daneben sah er sich wieder bei seinem Bankberater sitzen und mit ihm einen Finanzierungsplan ausarbeiten. Alex und er konnten unmöglich weiter am Boden schlafen. Das Wohnzimmer, die Empfangshalle. Sie mussten rasch fertig gestellt werden. Er war bereit mit seinen Prinzipien zu brechen. Es durften auch provisorische Lösungen sein, wenn sein finanzieller Rahmen ausgeschöpft war. Die Arbeit war

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bald getan und er stand mit dem Rücken zur Tür, mit den Händen auf beide Barhocker abgestützt und plante in Gedanken. Plötzlich spürte Pascal, dass Alex den Raum betreten hatte. Schnell drehte er sich zu ihr um. Sie sah so schutzbedürftig aus in dem weißen Bademantel. Sie hatte ihn ganz fest zugebunden, die Kapuze über den Kopf bis in die Stirn gezogen und ihre beiden Hände tief in den Seitentaschen vergraben. Pascal stürzte auf sie zu, umfasste sie mit beiden Armen und drückte sie fest an seine Brust. Alex erhob ihren Kopf und streckte ihm ihre Lippen zu einem Kussmund geformt entgegen. Einem herzlichen Schmatz folgte ein minutenlanger Kuss. Während sie sich küssten, war keiner von beiden im Stande einen klaren Gedanken zu fassen und man genoss einfach nur den Augenblick. Als sie sich dann aber doch wieder losließen, führte Pascal seine Freundin zur Theke und half ihr auf den Hocker. Dieses Mal setzte er sich neben sie. Langsam drehte er Alex zu sich herüber und blickte sie tief an: »Bist du verheiratet?« »Nein«, lächelte sie ihn an. »In einer festen Beziehung?« wollte er wissen. »Nein!!« empörte sie sich. »Kinder?« erkundigte sich Pascal. »Ja, zwei.« »Wie alt?« fragte er ganz interessiert. »Michaela ist fünf und René ist zwei«, zählte sie auf. Pascal schmunzelte. »Wo wohnst du?« war seine letzte Frage. »In Krumpendorf.« Danach blickte Pascal sie aus tiefen Augen an, als wollte er sagen: ›Hast du keine Fragen?‹ Und prompt begann auch Alex mit einem fragenden Blick: »Verheiratet?« »Nein!« kam es wie aus der Pistole geschossen. »Freundin?«

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»Nein!« »Kinder?« »Nein.« Mit diesen Antworten war ihre Neugier gestillt und es war für einige Augenblicke still. Dann begann wieder Pascal: »Und wie kann ich dir helfen?« »Nein«, widersprach Alex, »ich wollte eigentlich nicht, dass du mir hilfst, sondern ich wollte dich bitten, ob du nicht meiner Freundin helfen kannst.« »Deiner Freundin?« blickte Pascal sie ungläubig an. »Ja«, bestätigte Alex. »Sie ist erst 19 Jahre alt. Sie hat vor sechs Wochen ihren Vater verloren und dann hat man sie auch noch vor die Tür gesetzt. Jetzt wohnt sie bei mir und weiß nicht, wie es weitergehen soll.« Nun wusste Pascal nicht, was Alex glaubte, wie er ihr helfen sollte. »Sie wohnt bei dir?« fragte er. »Hast du eine große Wohnung?« »Nein, nur drei Zimmer, 68 Quadratmeter und ein ganz kleiner Balkon«, beschrieb sie. »Nicht sehr groß«, erwähnte er nachdenklich. »Nicole schläft im Kinderzimmer«, führte Alex genauer aus. »Meine beiden Kleinen schlafen im Ehebett und ich im Wohnzimmer auf der Couch.« »Keine Dauerlösung«, rümpfte Pascal die Nase. »Nein, wirklich keine Dauerlösung«, gab sie ihm Recht, »aber ich konnte Nicole ja nicht auf der Straße sitzen lassen«, rechtfertigte sie sich. »Natürlich nicht«, stimmte er ihr zu. »Aber nicht, dass du glaubst, dass ich heute nur bei dir übernachtet habe, damit ich sehe, wie du wohnst und du uns bei dir aufnehmen sollst«, versuchte sie aufgeregt zu erklären. Er lächelte. »Nein, nein. Und wenn, wäre mir das egal.« Darauf Alex ganz energisch: »Nein! Nikkis Vater hat ihr eine hohe Lebensversicherung hinterlassen, aber die

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Versicherung will nicht zahlen. Und da habe ich wieder an dich gedacht.« »Danke!« antwortete Pascal fast trotzig. »Ja«, versuchte sie zu erklären. »Ich kann mich noch genau erinnern, wie du damals unseren Direktor unter Druck gesetzt hast, als der kein Raucherzimmer für uns Schüler genehmigen wollte. Sogar mit rechtlichen Schritten hast du gedroht.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Oder weißt du noch die Wienreise in der siebenten Klasse? Zuerst wollten sie Werner aus der Parallelklasse aus disziplinären Gründen nicht mitfahren lassen. Du hast es durchgesetzt, dass er dann doch durfte.« »Meinst du den Werner«, fragte Pascal nachdenklich, »wegen dem wir uns in Wien kaum gesehen haben?« Alex senkte ihren Kopf: »Ja, genau der Werner.« Sie erinnerte sich an ihren kurzen aber heftigen Flirt mit diesem Werner während der Wien-Woche. »Entschuldige!« Pascal war ihr nicht mehr böse. Das alles lag schon so weit zurück. »Deshalb habe ich an dich gedacht, dass du uns helfen könntest. Nikki hat nämlich kein Geld, um einen Anwalt einzuschalten, aber sie würde dich beteiligen, wenn etwas dabei herausschaut.« Alex blickte Pascal fragend an. »Ich werde mein Bestes tun, aber das müsst ihr mir dann alles noch etwas genauer erklären«, gab er sich interessiert. »Finanziell schaut es dann auch nicht so rosig aus?« wagte er eine Behauptung. »Nein, überhaupt nicht«, gab sie ihm Recht. »Wenn meine Eltern mir nicht ab und zu etwas zustecken würden, könnte ich es mir gar nicht leisten Nikki bei mir wohnen zu lassen. Aber sie ist so ein lieber Kerl!« »Und dafür ist sie öfter dein Babysitter?« grinste Pascal. »Ja!« »So, wie heute Nacht?« »Ja«, bestätigte Alex. »Ohne sie hätte ich gar nicht auf die Feier gehen können. So hat sie mich aber sogar ge-

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drängt, weil ich ihr von dir erzählt habe.« Mit fragendem Blick: »Darf ich ihr sagen, dass du ihr helfen wirst?« »Ich werde es versuchen«, wollte Pascal ihre Erwartungen nicht zu hoch schrauben. »Ja, das habe ich gemeint!« Ein zufriedenes Lächeln überzog ihr Gesicht. »Wann musst du nach Hause?« wollte Pascal wissen. »Wie spät ist es?« fragte Alex nach. Pascal sah auf seine Armbanduhr: »Kurz vor 13 Uhr.« »Bald, sehr bald«, antwortete sie enttäuscht. »Na, dann mach dich fertig und zieh dich an«, forderte Pascal sie auf. Er sprang vom Hocker und reichte ihr die Hand. Sie rutschte vom Sitz und Händchen haltend gingen sie bis zur Treppe. Dort schob er sie vor sich auf die erste Stufe und mit den Worten: »Im Bad neben dem Schlafzimmer findest du Föhn und alles, was du brauchst« gab er ihr einen Klaps auf den Po und sah ihr noch nach. Alex warf die Kapuze nach hinten. Man konnte erkennen, dass ihr Haar noch etwas feucht war. Seine Blicke verfolgten sie bis er sah, dass sie am Ende der Treppe nach links abgebogen war. Sie hatte also verstanden, welches Bad er gemeint hatte. Pascal nützte die Zeit, die Alex benötigen würde, dazu das Badewasser auszulassen und das Bett neu zu beziehen. Dann nahm er den Stummen Diener mitsamt der darauf befindlichen Wäsche und trug ihn zu Alex ins Bad. Sie stand da erneut splitterfasernackt vor dem Spiegel und mit ganz hoch gestreckten Ellbogen föhnte sie sich mit der rechten Hand, während die linke mit gespreizten Fingern durch ihr wallendes mittelblondes Haar fuhr. Der Bademantel umhüllte nur mehr ihre Knöchel. Durch den Spiegel lächelte sie Pascal glücklich an und er lächelte zurück. Jetzt stellte er den Diener ab und ging. Im Schrankraum fischte sich Pascal noch einen Sportpullover aus dem Regal und streifte ihn über. Dann noch eine bunte Krawatte schnell selbst gebunden und durch das

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Schlafzimmer hinaus auf die Terrasse. Die Sonne schien steil von oben und als Alex fertig war, kam auch sie zu ihm hinaus auf die Terrasse. »Schön hier oben«, sagte sie. Auf einer Seite der Terrasse war die hohe Mauer durch ein üblich hohes Geländer ersetzt. Von dort hörte man auch Motorengeräusche vorbeiziehen. »Der Villacher Ring«, erklärte Pascal, weil er bemerkt hatte, dass Alex dem Lärm lauschte. »Schön«, wiederholte sie. »Ja?« war er etwas verdutzt, denn der Lärm konnte an Wochentagen während der Schulzeit ganz schön unerträglich sein. »Brechen wir auf?« fragte Pascal. »Ja«, nickte Alex und ging voraus, als ob sie sich schon bestens auskannte in seiner Wohnung. Mitten auf der Treppe fragte sie: »Weißt du, wo ich meine Handtasche hingetan habe?« »Sie ist in der Küche«, wusste er, überholte Alex und kam mit der Tasche aus der Küche zurück. Alex nahm die Tasche mit einem »Danke« und begann darin zu kramen, bis sie ihre Schlüssel fand und ließ diese dann wieder in die Tasche zurückfallen. Bevor sie den Verschluss schließen konnte, drückte Pascal ihr ein Kuvert in die Hand. Alex sah, dass außen sich ein Aufdruck befand und überflog kurz den Text: ›Architekturbüro Arnstein&Partner …‹ Danach öffnete sie den Umschlag und sah, dass sich zwei 500 Euro-Scheine darin befanden. Pascal legte schnell seine Hand auf ihre Hand. »Kein Wort«, herrschte er sie an und drückte ihre Hand samt dem Kuvert in die Handtasche. Alex war total verblüfft und schloss die Tasche wieder. Anschließend verließen Alex und Pascal gemeinsam die Wohnung und fuhren mit dem Lift in die Tiefgarage. Pascal öffnete ihr wieder die Autotür. »Hast du ein Auto?« war er interessiert. Während sie einstieg erwiderte sie: »Nein.«

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Er ging um das Auto herum und stieg auch ein. »Einen Führerschein?« wollte er noch wissen. »Ja«, bestätigte Alex. Pascal startete, fuhr aus der Garage hinaus und hielt an. Dann betätigte er einen Hebel und langsam schob sich das Dach zurück. Nach einigen Sekunden war das Cabrio ganz offen und verriegelt. Nun erst fuhr Pascal wieder los. Die Sonne brannte vom Himmel und nichts erinnerte mehr an das Unwetter vom Tag zuvor. An der ersten Kreuzung öffnete Pascal das Handschuhfach, griff hinein und holte zwei Sonnenbrillen heraus. Eine reichte er Alex, die andere setzte er selbst auf. Die Sonnenbrillen waren bei dem grellen Licht genau das Richtige. Dann griff er in das Seitenfach seiner Tür, holte eine Schildmütze heraus und setzte sie auf. Dieses Ding war wohl ein älteres Modell, aber Alex erinnerte sich an einen Bericht, den sie erst vor wenigen Tagen im Fernsehen verfolgt hatte. Es war ein Bericht über Oldtimer-Rennen. Da trugen alle Fahrer dieser historischen Fahrzeuge ebenso scheußliche Kopfbedeckungen. Sie betrachtete Pascal etwas von der Seite und lachte. Während er losfuhr, griff er erneut in das Seitenfach und holte eine weitere Mütze heraus. Diese war ein wenig zierlicher und die Farbe etwas fröhlicher, doch mindestens ebenso hässlich wie die andere. Als er sie Alex reichte, lachte diese laut auf: »Nein!« »Der Wind«, war Pascals Antwort. Widerwillig setzte Alex die Kappe auf und als der Wagen jetzt rasch an Fahrt aufnahm, bemerkte sie erst, wie störend lange Haare sein konnten. Ihre Haarspitzen wurden abwechselnd von beiden Seiten ins Gesicht gepeitscht. Sie konnte kaum etwas sehen. Schnell nahm sie ihre Kappe wieder ab, ließ sie auf ihre Beine fallen und mit einigen Handbewegungen hatte sie ihre Haare schnell zusammen geschlungen, etwas eingedreht und dann spiralförmig an ihrer Kopfspitze eingerollt. Nun nahm sie die Mütze wieder zur Hand und setzte sie auf. Ihre komplette Haarpracht

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war auf einmal unter der Kopfbedeckung verschwunden. Nur ab und zu hing an einigen Stellen noch ein Strähnchen heraus, das die Haarfarbe erkennen ließ. »Der Wind«, wiederholte sie seine Worte und überlegte, wie viele junge Dinger er in diesem Luxusschlitten wohl schon verführt haben mochte. Auf dem kurzen Autobahnstück zwischen Klagenfurt und Krumpendorf – es ist gerade einmal annähernd zwei Kilometer lang – war eine 80 Stundenkilometer Geschwindigkeitsbeschränkung. Doch Pascal wollte zeigen, dass sein alter BMW noch ganz gut in Schuss war. Und tatsächlich, trotz seiner vierzehn Jahre wurde das Auto stets gut gepflegt. Da war kein einziger Rostfleck zu sehen. Vor ihm hatte das Cabrio ein Arzt aus Velden, der in den ersten neun Jahren nur ganze 14.000 Kilometer damit gefahren war. Er hatte den BMW nur im Sommer bei herrlich schönem Wetter aus der Garage geholt und es jedes Jahr zweimal in die Werkstätte gestellt, um es pflegen zu lassen. Und auch Pascal hatte in den folgenden fünf Jahren keinen Servicetermin ausgelassen. Jedes Mal hatte ihn der Werkstättenleiter gebeten, Pascal möge an ihn denken, sollte er dieses Glanzstück einmal verkaufen wollen. Er dachte aber gar nicht daran. Der Motor hatte erst 84.000 Kilometer drauf und das hörte man auch. Bei offenem Dach röhrte der Sechszylinder mächtig auf, als Pascal das Gaspedal voll durchdrückte An der 80 km/h Marke auf dem Tachometer sauste die Tachonadel nur so vorbei und rasch hatte sie auch die 150 km/h hinter sich gelassen. Alex spürte nur, wie sie nach jedem Schaltvorgang erneut in die bequeme Rückenpolsterung gepresst wurde und legte schnell ihre rechte Hand von oben auf die antike Mütze. Sie hatte Angst, dass der Fahrtwind sie ihr vom Kopf reißen würde. Doch schon war die Ausfahrt erreicht und die Tachonadel wurde von ihrer letzten Position bei 178 km/h brutal zurückgerissen. Der Wagen schoss in einer ruckartigen Rechtsbewegung zwischen einem Kleinbus

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und einem Geländewagen, welche sich vorschriftsmäßig an das Tempolimit gehalten hatten, hindurch auf die Abbiegespur und verzögerte dann mächtig, um die folgenden engen Kurven noch zügig nehmen zu können. Alex schloss ihre Augen, als dieses Manöver startete, denn sie hatte niemals erwartet, dass diese Ausfahrt die Richtige sein konnte, bei dem Höllentempo, mit dem man noch Zehntelsekunden zuvor unterwegs war. Sie öffnete ihre Augen erst wieder, als nach einer kräftigen Links-Rechts-Bewegung, in der sie nur die Kraft des Sicherheitsgurtes im Sitz hielt, der Motor wieder ganz leise zu schnurren begann. Weil Alex sich mit Fahrzeugen nicht so besonders auskannte, war sie auch nicht im Stande das Alter des Cabrios richtig einzuschätzen und durch den perfekt glänzenden Lack und das viele polierte Chrom geblendet war sie sich sicher in der allerneuesten Errungenschaft der Technik zu sitzen. Als man sich der Ortstafel von Krumpendorf näherte, fragte Pascal: »Wo wohnst du in Krumpendorf?« »Kirchengasse 14«, antwortete sie artig. »Die große Wohnanlage unmittelbar hinter der Kirche?« wollte er noch eine Bestätigung. »Ja«, war sie verblüfft. Woher kannte er ihr Haus? »Heißt du immer noch Ebner?« erkundigte er sich, denn das war ihr Mädchenname. »Nicht noch immer, aber seit meiner Scheidung wieder«, erklärte Alex. »Ach so«, lachte er. Sie überlegte, ob er sie dort einmal gesehen und nicht gewagt hatte sie anzusprechen. Auf jeden Fall wusste er genau, wo das war. Umso verblüffter war sie, als er die Abzweigung nach Moosburg einfach rechts liegen ließ und daran vorbeifuhr. Gab es noch eine Möglichkeit, zu ihr nach Hause zu kommen, welche sie nicht kannte? Und diese Verwunderung zeigte sie ihm auch, indem sie ihn ungläubig von der Seite betrachtete. Dies hatte Pascal im Augenwinkel bemerkt und begann

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schelmisch zu grinsen, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Als er in den Kreisverkehr einbog, dachte Alex nach. Vielleicht wollte er sie doch nicht gleich nach Hause bringen und mit ihr in Pörtschach noch einen Kaffee trinken oder ein Eis essen. Doch als er diese Ausfahrt übersah und weiter im Kreisverkehr blieb, hatte sie verstanden, dass er sich einfach nur verfahren hatte. Umso überraschter war sie, als Pascal dann doch abbog und die beiden auf dem Parkplatz eines Lebensmittelgeschäftes landeten. Pascal steuerte den BMW auf einen eben frei gewordenen Platz und setzte seine Mütze ab. Auch Alex war froh, dass sie sich nun von dem hässlichen Ding befreien konnte. Pascal stieg aus und ohne Worte schnallte Alex den Sicherheitsgurt los und folgte ihm. »Ich glaube, du hattest diese Woche noch keine Zeit den Wochenendeinkauf zu tätigen«, erklärte er ihr. »Und ich möchte nicht, dass du die schweren Sachen alleine nach Hause trägst!« »Danke!« Jetzt verstand Alex, warum er wissen wollte, ob sie ein Auto hatte und sie war von der Idee begeistert, weil sie genau wusste, dass ihr Kühlschrank wie auch die Vorratsschränke nur so vor Leere gähnten. Auch Nikki wäre vermutlich ganz froh, wenn sie wieder das Nötigste mitbringen würde. Gerade sie litt fürchterlich darunter, dass im Moment kein Shampoo und kein Haarspray zu Hause waren. Und die Kinder würden sich über Süßigkeiten mächtig freuen. Dieses Mal brauchte sie nicht einmal mitzurechnen, denn sie hatte seit Längerem wieder einmal genug Geld in der Tasche. Ganz verstand Alex nicht, warum Pascal mit den Münzen gleich zwei Einkaufswagen aus der Verankerung holte und einen zu ihr hinschob. Den anderen nahm er selbst und sie folgte ihm in das Geschäft. Vermutlich hatte auch er noch keine Zeit gehabt für sich einzukaufen. Daher die getrennten Einkaufswagen. Als Alex nun mit ihrem Einkauf begann und zögerlich zwei Pakete Zucker in ihren Wagen lud, ging Pascal auf sie zu, holte ganz frech die

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zwei Pakete aus ihrem Wagen und stellte sie wieder ins Regal zurück. »Ich fahre heute kein zweites Mal!« Mit diesen Worten bückte er sich, holte ein noch verschlossenes Paket Zucker hervor, bestehend aus zehn kleinen Paketen, und lud es in seinen Wagen. »Weiter«, befahl er. Jetzt hatte Alex verstanden. Pascal hatte beide Einkaufswagen nur für sie mitgenommen und erwartete, dass sie beide mit einem Monatseinkauf randvoll füllen sollte. ›Wie du willst‹, dachte sie sich und begann frisch und munter drauflos in die Wagen einzuladen. Er folgte ihr wortlos. Ab und zu holte er einzelne Stücke wieder aus ihrem Wagen und ersetzte sie durch größere oder wenn sie zwei Pakete nahm, fügte er noch drei weitere hinzu. Als sie an der Frischwursttheke hielten und darauf warteten, dass sie bedient wurden, sah Alex, dass ihr Freund einen rundum zufriedenen Eindruck machte. »Fünfzehn Dekagramm Salami«, bestellte sie. Doch als sie seinen finsteren Blick bemerkte, besserte sie sich sofort aus: »Nein, lieber dreißig Dekagramm, bitte.« Jetzt vermied sie es, ihn noch einmal anzublicken und bestellte gleich von selbst immer eine größere Menge. Während sie weitere Bestellungen machte und auf deren Fertigstellung wartete, fuhr Pascal mit seinem Einkaufswagen davon. Er kehrte erst wieder, als auch Alex fertig bedient war. Als man dann noch bei den Süßigkeiten tüchtig zugriff, war ihr Wagen endgültig voll. Doch auch in seinem war nicht mehr viel Platz. Bei den Getränken fragte Pascal erst gar nicht lange, sondern stellte eine Kiste Bier unter Alex‘ Einkaufskorb, griff dann noch nach je einem Sechserträger Mineralwasser, Cola und Zitronenlimonade und verstaute diese unter seinem Einkaufskorb. Den Mann, der freundlich grüßend an ihnen vorbeigehen wollte, sprach Pascal sofort an: »Haben sie einen Lehrling, der uns die Sachen nach Hause liefern könnte?« Gleichzeitig holte er einen Zehneuroschein aus seiner

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Brieftasche und hielt ihn etwas vor sich hin. »Es wird mir eine Freude sein, ihnen den Einkauf persönlich zu bringen.« Mit einer Handbewegung wehrte der Mann den Geldschein ab, um zu zeigen, dass er dies keinesfalls für Geld tun würde. Alex verstand, dass es wohl der Filialleiter sein musste und fragte sich, woher Pascal dies wusste. Pascal hielt den Schein noch weiter nach vorne: »Für die Kaffeekasse der Angestellten.« »Vielen Dank«, lächelte der Mann und nahm den Geldschein mit Freuden entgegen. An der Kasse dauerte das Beladen des Förderbandes eine halbe Ewigkeit. Alex wollte auch helfen, doch Pascal stellte sich so hin, dass es ihr nicht möglich war. Bald sah sie auch warum. Er legte die Waren derart systematisch geordnet auf das Band, damit der gesamte Inhalt des Wagens darauf Platz hatte. Während er die bereits eingescannten Waren wieder vom Band nahm, sagte er zum Fräulein an der Kasse: »Eine Kiste Gösser, sechs Vöslauer, sechs Pepsi und sechsmal Sprite.« Pascal war nicht gewillt diese Waren auch noch auf das Förderband zu legen und tatsächlich tippte das Fräulein lediglich einige Nummern in das Tastenfeld und begann daraufhin weiter Waren über den Scanner zu ziehen. Alex hatte inzwischen begonnen auch die Waren ihres Einkaufswagens möglichst geordnet auf das Förderband zu legen. Pascal blickte Alex jetzt so lange an, bis sie erkannte, dass er etwas von ihr wollte. »Rot oder Weiß?« fragte er und deutete auf die Blumen, die neben ihr in mehreren Kübeln gestapelt waren. Und unter einigen bunten Frühlingssträußen waren da tatsächlich zwei Bund Rosen versteckt. Einer in Rot und einer in Weiß. »Rot«, grinste Alex und Pascal deutete ihr, dass sie den Strauß nehmen sollte. Endlich lief die letzte Ware über den Scanner und Alex blickte auf den kleinen Kassenbild-

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schirm, der die Gesamtsumme anzeigte. In diesem Moment sagte das Fräulein aber auch schon: »Vierhundertsechsundzwanzig, vierzig.« Eine solche Summe hatte Alex in ihrem Leben noch nicht für Lebensmittel ausgegeben. Doch noch ehe sie nach dem Kuvert in ihrer Tasche greifen konnte, hatte Pascal schon: »Mit der Karte« gesagt. Er steckte seine Bankomatkarte in das Lesegerät, tippte einen Code ein und schon war alles erledigt. Mit einem »Dankeschön« reichte die Kassiererin ihm noch den endlos langen Kassenbeleg, den er achtlos in einen der Wagen warf. Hinter den Kassen stand schon der Filialleiter. »Wann können wir damit rechnen, dass sie vorbeikommen, denn es sind auch Tiefkühlprodukte darunter?« erkundigte sich Pascal und schob seinen Wagen auf den Mann zu. »Ich fahre sofort los«, bestätigte der Filialleiter. Mit den Worten: »Vielen Dank«, nahm Pascal auch den zweiten Wagen und stellte ihn zu dem anderen. »Kirchengasse 14, Ebner«, sagte er und blickte sich zu Alex um, weil er von ihr eine Bestätigung wollte, dass auch wirklich Ebner auf der Klingel stand. Sie nickte nur. Dann griff Pascal nach den Rosen, überreichte sie Alex und warf ihr gleichzeitig noch ein Küsschen entgegen. Danach holte er noch drei Dinge aus dem Einkaufswagen und nahm diese gleich mit. Erst beim Verlassen des Geschäftes sah Alex, dass Pascal von ihren Blicken unbemerkt einen großen weißen Teddybären mit rotkarierter Krawatte und ein Spielzeugauto eingepackt hatte. Das dritte Paket war kleiner. Sie konnte aber nicht erkennen, was es war. Pascal war einfach perfekt. Er hatte sogar an ihre Kinder gedacht, obwohl er sie gar nicht kannte und Alex wusste, dass sich beide freuen würden. Als die beiden im Auto Platz genommen hatten, bat

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Pascal seine Freundin: »Gibst du mir deine Telefonnummer?« Verlegen antwortete Alex: »Ich habe im Moment kein Telefon. Mein Handy hat letzte Woche den Geist aufgegeben.« Pascal öffnete das Handschuhfach und zog ein Handy heraus. »Da, jetzt hast du wieder eines«, grinste er und drückte es ihr in die Hand. »Das habe ich mir einmal als Firmenhandy zugelegt, aber zwei Handys sind völlig unpraktisch. Es sind nur vier Nummern eingespeichert: Verena, Bernhard, meine und die vom Büro«, zählte er auf. Als er bemerkte, dass Alex es eigentlich gar nicht annehmen wollte, forderte er: »Ich muss dich doch jederzeit erreichen können!« Erst jetzt sah er, dass ihre Ablehnung schwand. Schnell sprang er noch einmal aus dem Auto, öffnete den Kofferraum, holte etwas heraus und kam zurück. Mit den Worten: »Das Ladegerät wirst du brauchen« gab er es ihr. Sie steckte beides in ihre Handtasche. »Welche Wertkarte brauche ich dafür?« wollte sie wissen. »Keine Wertkarte«, lächelte er. »Es ist angemeldet, also brauchst du dich um nichts zu kümmern.« Langsam fuhr Pascal los. Dieses Mal kannte er den Weg genau und fuhr so, wie sie es erwartet hatte, zu ihr nach Hause. Alex öffnete die Wohnungstür mit ihrem Schlüssel. »Komm rein«, forderte sie Pascal auf. Nicole kam gerade aus ihrem Zimmer. »Auch schon da?« lästerte sie. Erst jetzt bemerkte sie, dass Alex nicht allein gekommen war. »Grüß Gott«, sagte sie verblüfft. Alex grinste. Pascal trat auf Nicole zu. »Ich bin der Pascal«, lächelte er und drückte dem hübschen blonden Mädchen, das er höchstens auf 16 oder 17 Jahre geschätzt hätte, ein Busserl auf die rechte Wange. »Ich bin die Nicole«, stammelte sie. »Schade, dass ich nicht Nikki zu dir sagen darf«, bedau-

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erte Pascal. »Doch, ich bin die Nikki«, wiederholte sie und ihr erstaunter Blick wurde freundlicher. Pascal griff in seine Hosentasche und gab Nikki das kleine Paket, welches er mitgebracht hatte. »Für dich Nikki!« »Danke«, war Nikki freudig überrascht. In diesem Moment kam ein kleines Mädchen aus der Küche gelaufen. »Hallo Mama!« rief die Kleine. Alex beugte sich hinunter und umarmte ihre Tochter. »Hallo, mein Schatz.« Auch Pascal hockte sich nieder. »Bist du die Michaela?« fragte er. »Ja«, war die Kleine neugierig. »Das ist gut«, sagte er beruhigt, holte den Bären hinter seinem Rücken hervor und hielt ihn vor sich hin, als wollte er mit ihm sprechen. »Mir hat nämlich jemand gesagt, dass ich die kleine Michaela fragen soll, ob sie nicht auf den Bären aufpassen könnte. Denn bisher war er ganz allein und ist sehr traurig. Er möchte aber, dass ihn jemand lieb hat.« Die Kleine starrte den Bären mit großen Augen an. »Wirst du auf ihn aufpassen?« fragt Pascal und drehte den Bären zu dem Mädchen um. »Ja«, strahlte Michaela. Mit den Worten: »Er heißt Grummel« drückte Pascal ihr den Bären in die Hand. Sie vergrub ihr Gesicht im Bauch des Bären und wiederholte laut: »Grummel.« Dann lief sie wieder in die Küche und stieß fast mit dem Stoppel zusammen, der soeben aus der Küche stolperte. »Mama!« lachte er. Alex streckte ihm beide Hände hin und er lief auf sie zu. In ihren Armen sicher gelandet, drehte er sich sofort zu dem Fremden um. Pascal, der noch immer hockte und so mit dem Knirps fast in Augenhöhe war, holte das letzte Geschenk hinter dem Rücken hervor, riss die Verpackung auf und zog ein kleines rotes Cabrio

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heraus. Der kleine René schob Mamas Hand beiseite, ging mutig zwei Schritte vor und betrachtete das Auto. Pascal gab ihm das Auto und erklärte: »Das ist ein BMW.« »BW«, versuchte René nachzusprechen. Pascal nickte mehrmals kräftig. »Ja, ein BMW«, grinste er. »BW«, wiederholte der Kleine und stellte das Auto auf den Boden. Alex lachte laut auf. Der Zweijährige schob nun das Auto vor sich her. »Brumm, brumm«, sagte er und ab und zu auch wieder »BW«. Pascal richtete sich wieder auf und blickte Nikki an. »Bekomme ich einen Kaffee oder soll ich gleich wieder gehen?« fragte er. »Nein, sie bekommen einen Kaffee«, erwiderte Nikki sofort. Pascal schaute enttäuscht zu Alex. »Ich werde alt«, bedauerte er. »Hast du gehört? Man hat Sie zu mir gesagt.!« Nikki grinste. »Du bekommst einen Kaffee«, besserte sie sich aus und huschte in die Küche. Alex führte Pascal ins Wohnzimmer. »Nimm Platz«, forderte sie ihn auf und deutete auf die Couch hinter dem kleinen Tisch. Daraufhin verschwand auch sie in der Küche. Pascal blickte sich um. Der Raum war gar nicht so klein, aber total vollgeräumt. Da gab es sogar eine Essecke, doch diese war mit zwei Körben voll mit Wäsche verstellt. Auch der Fernseher diente als Ablage. Auf ihm stapelten sich Zeitschriften und unerledigte Post. Wie es hinter den geschlossenen Türen des Wohnzimmerschrankes aussah, mochte er sich gar nicht erst vorstellen. Alex kehrte mit einer Vase zurück, in der sie die Rosen hübsch angeordnet hatte, und stellte diese auf dem Tisch ab. »Danke«, sagte sie nochmals. Pascal lächelte nur. Auch Alex sah die Unordnung: »Entschuldige, dass bei mir nicht alles so ordentlich aussieht.«

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»Dafür sind wenigstens schon alle Zimmer eingerichtet«, betonte er. Alex lachte: »Na, ja.« »Eine Notlösung halt«, erwähnte Pascal. »Ja«, sagte sie bedeutungsvoll. Pascal hätte Alex am liebsten gleich wieder mit zu sich nach Hause genommen, denn der sorgenvolle Blick, den er den ganzen Tag nicht mehr bei ihr gesehen hatte, war zurückgekehrt. Aber er durfte nicht so egoistisch sein. Sie gehörte hierher. Hier waren ihre Kinder und ihre beste Freundin. Er war kein Teil dieses Gefüges. Er konnte nur versuchen, ihr einige Probleme aus dem Weg zu räumen und sie vielleicht ab und zu stundenweise in eine andere Welt entführen, damit sie wenigstens dann die Sorgen des Alltags vergessen konnte. Die Träume, die er sich in den vergangenen Stunden still und heimlich ausgemalt hatte, waren soeben zerplatzt. Er musste sich eingestehen, dass eine gemeinsame Zukunft weiter denn je in die Ferne gerückt war. Vielleicht war sie sogar auf ewig verspielt. Wahrscheinlich lag es an ihm. Das Schicksal hatte für ihn keine traute Zweisamkeit vorgesehen. Er brachte seinen Partnern kein Glück. Er wollte sich gar nicht erst vorstellen, was Alex widerfahren könnte, wenn sich ihre Beziehung vertiefen würde. Ein Klingeln an der Tür holte Pascal aus seinen Gedanken zurück in die Gegenwart. Schnell sprang er auf und eilte hinaus. Im Gang kam ihm Nikki mit einem Tablett voll Kaffeegeschirr entgegen. Er wich aus. »Bin gleich wieder da«, sagte er. Alex hatte den Knopf des Türöffners gedrückt und die Wohnungstür aufgemacht. Pascal schob sie beiseite. »Ich helfe ihm rauftragen«, sagte er noch. Ja, es war der Filialleiter mit dem Einkauf. Als Pascal über die Treppen hinunterlief, versuchte der Mann gerade die Eingangstür zu arretieren. »Welcher Stock?« fragte er. »Erster Stock«, antwortete Pascal.

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»Na, Gott sei Dank«, atmete der Filialleiter durch. »Sie brauchen die Sachen aber nur ausladen«, schlug Pascal vor. »Ich trage sie dann schon hinauf.« Doch dies ließ der Mann nicht zu: »Nein, nein!« Er hatte die vielen Dinge perfekt in sechs Bananenschachteln eingeschlichtet. So konnten die beiden gemeinsam in fünf Durchgängen die Getränke und die Kisten nach oben tragen und im Vorzimmer abstellen. Als sie sich zum letzten Mal nach oben kämpften, fragte Pascal »Einen Kaffee?« »Nein, danke«, lehnte der Mann ab. »Ich möchte das Geschäft nicht allzu lange ohne Aufsicht lassen.« Danach stellte er die letzte Kiste mit dem Hinweis, dass da die Tiefkühlprodukte drin waren, ab. Damit brachte er zum Ausdruck, dass diese Kiste schnell ausgeräumt werden sollte und man sich mit den anderen ruhig etwas mehr Zeit lassen konnte. »Danke!« Damit brachte Pascal ihn noch zur Tür. Nikki lehnte an der Wand und hatte verfolgt, wie eine Kiste nach der anderen hereingetragen wurde. Sie schüttelte mehr und mehr den Kopf, reagierte aber sofort auf die Andeutung mit der Tiefkühlkost und begann diese Kiste auszuräumen. Außerdem suchte sie noch nach Milch. Denn während sie die letzten Reste aus der Kaffeedose genommen hatte, um den Kaffee zu bereiten, so war im Kühlschrank nicht der geringste Tropfen Milch mehr. Bei der Suche nach Milch waren ihr auch noch Kekse in die Hände gefallen. Pascal setzte sich wieder auf die Wohnzimmercouch. Alex verteilte die Tassen und das Besteck. Drei Stück an der Zahl. Also würde sich auch Nikki zu ihnen setzen. Vielleicht wollte sie dann auch ihr Problem mit ihm besprechen. Dazu hatte er aber heute keine Lust mehr. Das Ganze hatte sich nicht so entwickelt, wie er es erhofft hatte. Er sah nicht den Schimmer eines Happyends am Horizont. Man hatte in den letzten 24 Stunden zu viele Sorgen

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vor seinen Füßen abgeladen. Das war er nicht gewohnt. Und das hier war nicht seine Welt. Eigentlich wollte er nur noch raus hier. Doch das konnte er nicht. Er war nie der Typ gewesen, der sich davongeschlichen hatte. Nikki brachte Kaffee und einen Teller mit Keksen, die Pascal sofort als jene erkannte, welche er vor Kurzem noch in den Einkaufswagen geworfen hatte. Alex holte die Milch und die beiden Frauen nahmen rechts und links von ihm auf der Couch Platz. Nikki übernahm die Rolle der Gastgeberin und schenkte Kaffee ein. »Mit Milch?« fragte sie Pascal. »Ja, ein wenig«, antwortete er, griff nach dem Zucker und warf zwei Stück hinein. Nikki wies mit der Hand zum Teller: »Kekse?« »Nein, vielen Dank«, lehnte Pascal ab. In diesem Moment stolzierte Michaela mit dem Bären im Arm ins Wohnzimmer. Als sie den Teller mit den Keksen erblickte, griff sie sofort zu. Alex sah sie böse an: »Zuerst fragen!« Pascal entgegnete sofort: »Nimm nur. Du bist hier zu Hause.« Rasch biss die Kleine in den Keks und lief mit lachenden Augen wieder davon. Wie einfach es doch war, ein Lächeln in ein Kindergesicht zu zaubern. Pascal nahm wieder einen Schluck aus der Tasse. »Habt ihr morgen etwas vor?« wollte er wissen. »Ich würde euch gerne zum Mittagessen einladen.« Und zu Nikki: »Dann können wir auch gleich das Problem mit der Versicherung besprechen.« Nikki fiel ein Stein vom Herzen, denn sie hatte nicht gewusst, wie und wann sie das Gespräch darauf bringen sollte. Pascal war anscheinend wirklich der sympathische Kumpel, wie Alex ihn beschrieben hatte. Nikki beugte sich etwas nach vorne und sah zu Alex hinüber. »Haben wir etwas vor?« fragte sie. Alex dachte kurz nach. »Meine Eltern holen die Kinder

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gegen 11 Uhr«, erklärte sie. »Dann haben wir nichts mehr vor.« Pascal, der auch Alex anblickte: »Na bestens, dann hole ich euch morgen um 12 Uhr ab.« Er nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse. »So, dann werde ich euch verlassen«, sagte er dann. Nikki stand auf und verließ den Raum. Alex war entsetzt. »Wieso denn jetzt schon?« war sie verzweifelt. »Hast du heute noch etwas vor?« wollte sie wissen. »Ich nicht, aber du«, behauptete er. »Du solltest noch etwas zur Ruhe kommen. Die Eindrücke, die in den letzten Stunden auf dich hereingeprasselt sind, haben dich verwirrt. Du solltest erst wieder einen klaren Gedanken fassen, ehe du schwerwiegende Entscheidungen triffst.« Alex verstand. Pascal wollte sie nicht überrumpeln, aber sie bemerkte dennoch eine Traurigkeit hinter seiner lächelnden Fassade. Sie zog ihn sofort zu sich und gab ihm einen heftigen Kuss. Sie ließ ihn erst wieder los, als sie hörte, dass Nikkis Schritte sich dem Wohnzimmer näherten. Pascal stand auf. Nikki umarmte ihn und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Danke für das Geschenk«, lächelte sie. Alex war ganz erstaunt. »Was hat er dir geschenkt?« war sie neugierig. Darauf antwortete Pascal ganz vielsagend: »BoomChicka-Wah-Wah!« Nikki hielt ein rosadurchsichtiges Fläschchen nach vorne und bewegte ihre Hüften wie eine Bauchtänzerin, während sie ihre andere Hand weit nach oben streckte. Alex verstand sofort. Es war der neue Duft, der Männer verrückt machen soll und dessen total vertrottelte Werbung in allen TV-Sendern auf und ab gespielt wurde. Sie schüttelte ihren Kopf, während sie Pascal anlächelte. Er legte zum Abschied seine Hand auf Nikkis Schulter und sagte: »Also bis morgen, ich freue mich.«

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»Ich mich auch«, antwortete Nikki rasch und kam mit ihrem Kopf näher. Beide drückten ihre Wangen erneut mit einem Schmatzlaut aneinander. Alex begleitete Pascal noch bis zur Wohnungstür. Weil Pascal sie schon geöffnet hatte, wagte sie es nicht, ihm noch einen heftigen Kuss zu geben, aber sie fuhr ihm mit gespreizten Fingern von hinten durchs Haar. Das gefiel ihm. Das hatte er zehn Jahre lang schon so vermisst. Pascal drehte sich noch einmal zu Alex um: »Bis morgen, mein Schatz!« »Bis morgen«, lächelte sie ihn an. Sie sah ihm auch noch nach, als er längst schon über die Treppe hinunter ihren Blicken entschwunden war. Auf der Heimfahrt schloss Pascal das Verdeck trotz der brütenden Hitze. Es war ihm im Moment überhaupt nicht nach Summer Feeling und er nahm sich vor, um nicht in Trübsal zu verfallen, dass er an diesem Tag noch viel erledigen wollte und um nicht allzu viel über die Möglichkeiten seiner persönlichen nahen Zukunft nachdenken zu müssen. So stattete er seiner Mutter einen Besuch ab und spielte mit ihr Karten, damit die Zeit verging. Als er endlich zu Hause war, zeigte die Uhr schon 17:58. Nun wollte er sich aber nicht vor den Fernseher setzen, denn er wusste, dass seine Gedanken stets nur um Alex kreisen würden. So beschloss er noch Dinge zu erledigen, die er eigentlich erst für die kommende Woche vorgesehen hatte. Daher rief Pascal seinen persönlichen Versicherungsmakler an: Pascal lehnte auch nicht ab, als Herr Schütz ihm anbot sofort vorbeizukommen. Dessen Büro und auch seine Wohnung waren in unmittelbarer Nähe und so dauerte es nur einige Minuten, bis er an der Tür klingelte. Pascal führte den Mann in die Küche, wo er schon die nötigen Unterlagen bereitgelegt hatte. »Wollen sie einen Kaffee?« fragte Pascal. »Nein, danke«, gab Herr Schütz etwas heftig zurück.

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An seinem sportlichen Fahrraddress erkannte Pascal, dass er wohl nicht mit dem Auto gekommen war. »Ein Mineralwasser?« schlug Pascal vor. »Ja, gerne«, war Herr Schütz begeistert. »Wenn es keine Umstände macht«, gab er sich bescheiden. Während Pascal zum Kühlschrank ging, begann er: »Ich möchte ein Auto anmelden« und als er das Mineralwasser einschenkte, fuhr er fort: »Kaufvertrag, Typenschein und Prüfbericht habe ich schon da.« Herr Schütz griff nach dem Glas: »Na perfekt, dann werde ich es am Montag gleich in der Früh anmelden!« Und nach dem ersten Schluck: »Solche Kunden sind mir die allerliebsten, die mir schon die meiste Arbeit abnehmen.« »Na, na. So einfach ist es aber doch nicht«, gab Pascal zu bedenken und nahm die Papiere in die Hand. »Ich habe das Auto vor drei Monaten gekauft, war mir aber nicht sicher, ob ich es auf mich oder auf das Büro anmelden sollte.« Er legte das erste Blatt verkehrt vor sich auf den Tisch, damit es für Herrn Schütz lesbar vor ihm lag. »Das ist der Kaufvertrag. Verkäufer und Preis sind schon eingetragen. Der Käufer ist noch frei. Jetzt möchte ich das Auto meiner Freundin schenken. Reicht es dazu, dass wir einfach ihren Namen eintragen?« wollte Pascal wissen. »Haben sie bar bezahlt?« erkundigte sich Herr Schütz. »Ja«, bestätigte Pascal. Herr Schütz holte einen Kugelschreiber aus der Tasche und fragte: »Name?« »Alexandra Ebner«, antwortete Pascal und nach einer kurzen Pause: »Kirchengasse 14, 9201 Krumpendorf.« Herr Schütz vermerkte alles im Kaufvertrag. »Und Unterschrift?« erkundigte sich Pascal. »Brauchen wir nicht.« Herr Schütz griff nach dem Typenschein und Prüfbericht, kontrollierte noch schnell die Daten. Dann holte er noch ein zusammengefaltetes Blatt aus seiner Hose und begann darin einige Daten zu vermer-

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ken. Pascal erkannte einen Versicherungsvertrag. Als Herr Schütz mit dem Ausfüllen fertig zu sein schien, fragte er noch: »Zahlungsweise?« »Monatlich mit Abbuchungsauftrag.« Pascal überlegte kurz: »Kontonummer kann ich ihnen aber erst am Montag bekannt geben!« Herr Schütz sprang vom Hocker: »Ich bringe ihnen die Nummerntafeln und die restlichen Unterlagen am Montag kurz vor 11 Uhr im Büro vorbei. Ist ihnen das recht?« »Ja, gerne.« Pascal blickte etwas fragwürdig. »Ich muss mit meiner Gattin heute noch eine Radtour unternehmen«, erklärte der Versicherungsmakler seine Eile. Man verabschiedete sich und wünschte einander noch einen schönen Abend. Pascal war erleichtert, dass er ein Problem gelöst hatte. Den Rest des Abends wollte er den finanziellen Sorgen seines besten Freundes widmen. Das würde sich aber nicht so schnell erledigen lassen. Dazu mussten Telefongespräche geführt, Treffen vereinbart und Unterlagen vorbereitet werden. Doch der Abend war ja noch jung. Weil sich dies alles vom Büro aus besser erledigen ließ, fuhr er noch einmal los. Als Pascal dann völlig erschöpft nach Hause kam, war es schon 22 Uhr. Diesmal warf er seine Kleidung einfach nur auf den Boden und ließ sich in sein Bett fallen. Erst jetzt hatte er wieder Zeit an Alex zu denken und er rief sie sofort an. Das Telefon klingelte zweiundzwanzig Mal. Er hatte mitgezählt. Plötzlich hörte er ihre Stimme: »Ja, Hallo!« »Hallo, mein Schatz«, erwiderte er. »Ich hoffe, dass ich dich nicht geweckt habe.« »Nein«, lachte sie, »aber ich habe an das Handy gar nicht mehr gedacht und so hat es etwas gedauert, bis ich gewusst habe, von wo das Klingeln herkam.« »Das heißt«, sagte er vorwurfsvoll, »dass du deinen Eltern noch gar nicht deine neue Nummer gegeben hast.

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Deine Mutter ist sicher froh, wenn sie dich wieder erreichen kann.« »Ja, ganz sicher«, bestätigte Alex. »Wie ist meine Nummer eigentlich?« wollte sie wissen. »Ist im Telefonspeicher unter Meine Nummer abgespeichert«, gab er ihr zur Antwort. »Und der Code ist 1234.« »Welcher Code?« fragte sie nach. »Wenn du das Handy ausschaltest oder der Akku leer ist, brauchst du nach dem Einschalten einen Code!« erklärte er. »Ach ja!« »Ich wollte dir nur noch eine Gute Nacht wünschen«, flüsterte Pascal. »Ach, ich wäre jetzt gerne bei dir«, seufzte Alex. »Bald wieder, mein Schatz. Ganz bald«, vertröstete er sie. »Gute Nacht!« Alex klang ein wenig traurig. Die Anstrengungen der letzten Nacht und die wenigen Stunden Schlaf zeigten Wirkung und Pascal war nach wenigen Augenblicken eingeschlafen.

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