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Zwischen zwei Welten… oder die fortwährende Suche nach Balance als Film- und Fernsehschauspielerin und -schauspieler
Zwischen zwei Welten…
oder die fortwährende Suche nach Balance als Film- und Fernsehschauspielerin und -schauspieler
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„Was ist die Zeit? Ein Geheimnis — wesenlos und allmächtig.“
Mit dieser Frage beginnt das sechste Kapitel von Thomas Manns Der Zauberberg. Nicht nur Thomas Mann, sondern zahlreiche Geistes- und Naturwissenschaftler, Theologen und Dichter versuchen seit der Antike bis heute, das Wesen der Zeit zu erforschen. Das Phänomen Zeit ist eines der am wenigsten gelösten Rätsel überhaupt.
Gerade in der Filmbranche ist Zeit ein wesentlicher Faktor: ist sie für die Produzenten vor allem ein sehr teures Gut, ist Zeit für Schauspieler*innen - mal sehr knapp, mal zäh wie Kaugummi - ein schwer zu strukturierendes Moment. Die ständige Verfügbarkeit, immer erreichbar zu sein – das sind die ganz `normalen` Bedingungen, die im Fernseh- und Filmbereich herrschen. Jederzeit kann eine, auch oftmals kurzfristige, Einladung zu einem Casting oder einem E-Casting kommen. Wann kommt der Castingtext? Wer hat das Film- und Tonequipment für die Aufnahme und wer spielt für mich an? Schaffe ich es rechtzeitig mich gut vorzubereiten? Schnell von der Probe, dem Nebenjob, einem Drehtag zum Casting. Und dann: Warten... Wie geht man damit um? Hat man das Handy immer bei sich, ist ständig erreichbar, sowohl beim Dreh als auch privat? Oder macht man das Handy auch einfach mal aus? Um sich auf den Moment komplett einlassen zu können, sei es privater oder beruflicher Natur. Und wie priorisiere ich? Diese Aufgabe ist auch für Christoph Bahr, der 6 Jahre am Theater tätig war und nun freiberuflich tätig ist, sehr herausfordernd, wie er uns auf unsere Umfrage zum Thema Zeitmanagement, zeitliche Verfügbarkeit, schreibt: „Es fällt mir schwer, meine Zeit selbst einzuteilen und wenn irgendjemand irgendwas möglichstgestern ganz schnell haben will, hechte ich dem hinterher, weil ich es nicht anders kenne oder glaube, den Auftrag erfüllen zu müssen.“
Ein Drehtag von 15 Stunden und die spontane Abrufbereitschaft, um an einem Casting teilzunehmen, gehören ebenso dazu, wie die Annahme jede Schauspielerin und jeder Schauspieler habe ein kraftvolles Energiereservoir, das – wie ein Brunnen, der sich nie erschöpft – ebenfalls unendlich sei. Aufgrund dieser Annahme ist es oft selbstverständlich, dass sich Schauspieler*innen auch nach einem zwar sehr aufregenden und reizvollen, aber eben auch anstrengenden Drehtag noch auf ein Casting mit 13 Seiten Text, das einen im Anschluss an die Drehzeit erwartet, vorbereiten können. Oder aber genau das Gegenteil tritt ein, mit dem jede und jeder zurechtzukommen hat: Die beglückende und zugleich herausfordernde Drehzeit ist vorbei und was folgt? – Nichts.
Eine ungewohnte Freiheit, die den einen oder anderen mal mehr mal weniger in ein Loch fallen lassen kann. Il dolce far niente – das süße Nichtstun, wie die Italiener zu sagen pflegen, ist in diesem Moment oft gar nicht so süß. Dazu macht sich die Erkenntnis bemerkbar, dass das eigene Energiereservoir anscheinend doch nicht unerschöpflich ist. In diesen Tagen muss man erst einmal einen guten Umgang mit dem enormen Wechsel finden. Oft hilft es, sich selbst eine eigene Struktur für den Tag zu überlegen: sich den Wecker zu stellen, Sport zu machen, sich beruflich oder privat zu verabreden, um eben nicht, sobald der Dreh vorbei ist, unsanft in eine Leere zu fallen. Um mit dieser starken Diskrepanz zwischen Phasen der Überforderung und Perioden, in denen rein gar nichts passiert, in denen man einerseits in der gespannten Erwartungshaltung harrt, dass ein Anruf, ein Drehbuch kommen möge, in denen man die manchmal unerträgliche Ungewissheit aushalten muss und andererseits dieses beschwingende Gefühl erleben darf, dass alles möglich ist, bestmöglich für sich selbst umzugehen, ist wahrscheinlich ein fortwährender Lernprozess. So können die Phasen des `Nichts`möglicherweise auch als wohltuend erlebt werden. Perioden, in denen man einfach mal den Tag so starten kann, wie man möchte, ohne jegliche Erwartung erfüllen zu müssen – außer die eigene. Wobei es natürlich immer darauf ankommt, wie die das jeweilige Leben in den Phasen ohne Dreh aussieht.
Bei vielen reicht die Schauspielerei nicht aus, um davon leben zu können. Daher braucht es Nebenjobs, die einem die bestmögliche Flexibilität erlauben, um sie mit der Schauspielerei vereinbaren zu lassen. Kellnern ist dabei eine beliebte Variante, da man sich die Schichten relativ flexibel einteilen, mit Kolleginnen und Kollegen tauschen und die Schauspielerei somit nach wie vor Priorität sein kann. Auch hier ist es ein gewagter Balanceakt zwischen zwei ganz unterschiedlichen Welten. Schauspielerinnen und Schauspieler mit Kindern vollführen ebenfalls oft einen Drahtseilakt zwischen Familie und Beruf, um den jeweiligen, an sie gestellten Ansprüchen gerecht zu werden. Auch Simone Wagner kennt diesen Spagat nur allzu gut: „Die Zeit ist mein ständiger Feind. Für mich als Schauspielerin und Mutter ist es sehr schwierig, Arbeit und Kind unter einen Hut zu bekommen. Ich habe ständig das Gefühl, ich werde keinem zu 100% gerecht. Entweder habe ich keine Zeit mich voll und ganz auf meine Tochter zu konzentrieren, da ich von einem Casting zum nächsten Job hetze oder mir fehlt die nötige Ruhe für die Vorbereitung, da mein vierjähriger Räuber mich immer dann am dringendsten braucht, wenn ich am wenigsten ZEIT habe. Auch sonst ist die Zeitplanung für Drehtage oder Theaterproben als Mutter sehr schwer umsetzbar.“
Während ein Drehtag organisatorisch noch ganz gut gelingt, erscheinen mehrere Drehtage am Stück geradezu unmöglich. Am Set fehlt eine Kinderbetreuung und in einer fremden Stadt meist auch die Anbindung zu Verwandten und Freunden. Wer kümmert sich dann wann und wo um das Kind? Und wie geht man bei längerfristigen Engagements in einer anderen Stadt um? Reißt man das Kind aus seiner gewohnten Umgebung und nimmt die Familie mit? Das ruft nicht nur einen emotionalen Konflikt hervor, sondern ist auch eine Frage der finanziellen Mittel.
Auf unsere Umfrage zum Thema „Umgang mit zeitlicher Verfügbarkeit und Zeitmanagement“ schreibt Robin Hoffmann: „An manchen Tagen habe ich morgens ein Casting, schreibe mittags tausende Mails und telefoniere mit Agenten/Regisseuren und bereite abends Rollen vor. Im Gegenzug fahre ich dann mal ein paar Tage aufs Land und mache nichts. Oder lege mich vormittags einfach ans Paul Lincke Ufer in die Sonne. Wichtig empfinde ich, sich selbst zwischendurch etwas Gutes zu tun und in all der Dauerverfügbarkeit für die Welt nicht die Verfügbarkeit für sich zu vergessen.“
Auf sich selbst zu achten, sich Raum zum Innehalten und Durchatmen zu verschaffen, ist ein ganz zentraler Aspekt, den Robin Hoffman anspricht. So betonen Psychologinnen und Psychologen immer häufiger die Wichtigkeit von Phasen der Erholung, damit für unser Wohlbefinden und unsere Leistungsfähigkeit gesorgt werden kann. Wie sieht es daher mit der Urlaubsplanung aus? Sich diese Erholungszeiten zu nehmen, ist in der Film- und Fernsehbranche gar nicht so einfach, denn die beliebte Urlaubszeit im Sommer, die Schulferien und die langen Sommernächte fallen auf die Hoch- Zeit der Filmproduktionen, weshalb sich wohl bei den meisten die private Terminplanung nach den Castinganfragen und Drehtagen richtet. Bucht man also gleich zu Beginn des Jahres und sperrt sich den Urlaub mit der Familie, auch falls ein Angebot reinflattert? Oder entscheidet man nur spontan, ob man Urlaub macht, wenn gerade keine Casting- und Drehtage anstehen?
Auf der einen Seite eine große Unsicherheit, Abhängigkeit von Engagements und die Unmöglichkeit zu kalkulieren, auf der anderen Seite das beflügelnde Gefühl „Alles ist möglich“, zu jeder Zeit kann DER Anruf zu einem tollen Rollenangebot kommen, prägen das künstlerische Schaffen. Sich seine eigenen Prioritäten zu setzen, ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit einen guten Umgang mit den Bedingungen zu finden und sich selbst immer wieder an den besonderen Bezug zur Zeit als Schauspielerinnen und Schauspieler zu besinnen. „Auf der Bühne und im Film können wir für die Zuschauer die Zeit stillstehen lassen, sie an vergangene Zeiten erinnern oder für kommende Zeiten inspirieren. Etwas, das nur Kunst vermag!“, so Vanessa Most. Und sich selbst immer wieder an das Privileg zu erinnern, ganz in eine Welt einzutauchen zu dürfen, zu der man als Privatperson keinen Zugang hat – ein Privileg nicht nur ein Leben erfahren zu können, sondern auch das Leben spielen zu dürfen.
Julia Rahmann