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MEDIZIN AUF AUGENHÖHE
Wir haben eine „tolle Medizin“, sagt der Autor und Landarzt Günther Loewit aus Marchegg. „Aber wir haben das logische Denken verlernt.“ Warum wir mehr hinterfragen sollten.
Text: Viktória Kery-Erdélyi Fotos: Lukas Beck
„Achtung. Ein Landarzt warnt. Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden.“ – Die Pandemie ist noch nicht ganz überwunden und schon gar nicht verarbeitet, da mutet das mit negativen Schlagzeilen gespickte Buchcover durchaus riskant an. Der Autor und Arzt Günther Loewit bedankt sich für die offene Anmerkung zu Beginn des Interviews und bleibt elegant gelassen. Ein Platz auf der Bestsellerliste würde ihn freuen – und damit hat er bereits Erfahrung –, aber es gehe ihm nicht primär um Erfolg, betont er. „Ich wollte mir diese Dinge vom ärztlichen Herzen schreiben.“ „Diese Dinge“ sind Kritik an Strukturen und Systemen, aber auch vieles, was den Einzelnen zum Nach- und Umdenken – und sogar zu wohltuender Veränderung motiviert.
Gleich der erste Satz erstaunt: „Meine verblüffendsten Erfolge als Arzt habe ich nicht durch das Verschreiben, sondern durch das Absetzen von Medikamenten erzielt.“ Wie kommt das?
Das Buch entstand nach 40 Jahren Erfahrung mit Medizin und Menschen; ich bin noch immer ein glühender Arzt, aber es hat sich viel verändert. Die Medikationslisten werden länger, ich werde immer wieder gebeten zu schauen, ob alles notwendig ist. Ein Beispiel: Ich wurde zu einem gut
80-Jährigen gerufen, es hieß, dem Opa gehe es schlecht. Ich habe mich eine halbe Stunde mit dem Herrn beschäftigt und gesehen, dass er rund 20 Tabletten einnahm. Die Familie war einverstanden, dass wir bis auf zwei Medikamente, die ich für sinnvoll und lebensnotwendig erachtet hatte, alle anderen weglassen. Der Mann ist aufgeblüht, hat noch drei wunderbare Jahre gelebt und ist aufgrund seines hohen Alters gestorben.
Wir sind in ein Rad geraten, das von Wissenschaft und Pharmakologie angetrieben wird, wo jeder Befund mit einer pharmakologischen Substanz behandelt wird. In Wahrheit wird nicht mehr behandelt, sondern tablettiert. Selbst beim Sterbeprozess.
Ich dachte beim Lesen Ihres Buches an den Tod meines Großvaters: Er hörte einfach auf zu essen.
Alte Menschen sterben nicht, weil sie nicht mehr essen und trinken, sondern sie essen und trinken nicht mehr, weil sie sterben. Die Natur regelt viele Dinge. Ich war kürzlich bei einer 95-Jährigen mit Lungenentzündung. Der Tochter fiel auf, dass der Nierenwert erhöht war. Eine „schlechte“ Niere bewirkt, dass der Körper mehr Endorphine ausschüttet. Verbessern wir konkret in diesem Fall die Nierenfunktion durch medizinische Maßnahmen, arbeiten wir gegen den positiven Effekt der Natur, der eine Empfindungsverbesserung ermöglicht. Wir haben eine tolle Medizin, aber wir müssen uns wieder das Denken erlauben.
Was war Ihre Triebfeder fürs Buch? Ich musste feststellen, dass ich bereits mehr Folgewirkungen der Medizin behandle als Erkrankungen der Menschen.
Sie schreiben: „Medikationsfehler entwickeln sich zum Bestseller unter den Komplikationen der Heilkunde.“ Wieso? Wenn jemand drei Tabletten kriegt, kann man nachvollziehen, wie sich diese gegenseitig beeinflussen, bei 17 nicht mehr. Die Komplexität entsteht, weil wir nicht mehr Menschen behandeln, sondern Befunde. „Sie haben erhöhtes Cholesterin? Zack, da haben Sie eine Tablette.“ – Die Unmenge, die in die Leute gepumpt wird, kann mitunter zu lebensbedrohlichen Nebenwirkungen führen.
Welche konservativen Maßnahmen sind die effizientesten?
Ein Grippekranker braucht keine Tabletten. Natürlich kann man Mexalen oder Aspirin nehmen, aber vor allem braucht man Bettruhe – das Medikament Zeit. So fährt man das Immunsystem hoch. Die Gesellschaft hat durch Hektik und Erfolgsdruck die Basics verlernt; wenn man spürt, dass Fieber kommt, kann man nicht noch drei Tage arbeiten gehen, weil es der Chef erwartet.
Ich bin absolut für die hochtechnisierte, spezielle Medizin – aber dort, wo sie notwendig ist. Wenn ich heute einen dringenden MRT-Befund brauche, weil ich den Verdacht auf Gehirnmetastasen habe, warte ich drei Wochen auf einen Termin. Aber es muss doch nicht jede Verstauchung zum MRT geschickt wer-
Mit Fieber ins Bett: Die Gesellschaft hat durch Hektik und Erfolgsdruck die Basics verlernt.
Dr. Günther Loewit, Autor und Landarzt
den, da kann man mal eine Ruhestellung daraufgeben und zehn Tage warten.
Ich lese jede Zeile, mein Mann ignoriert den Beipackzettel. Was meinen Sie? Bestellen Sie ihm einen lieben Gruß, er ist mir sympathisch (lacht). Im Ernst: Es sollte zwei Packungsbeilagen geben; eine für medizinische Fachleute und eine für Patientinnen und Patienten. Und die sollte von den „Grauslichkeiten“, welche Nebenwirkungen sein können, befreit werden. Durch das juristische Absichern in der Medizin verunsichern wir die Menschen massiv. Wenn ich nur die Tabletten verschreibe, die notwendig sind, nehme ich bewusst in Kauf, wenn eine Nebenwirkung eintritt. Beispielsweise: Es kann schon sein, dass Sie einen Ausschlag kriegen, dafür überlebt Ihr Herz.
Wieso wurden Sie Wahlarzt?
Weil ich an einem Spitzentag 242 Patienten hatte und vor der Wahl stand, selbst einen Herzinfarkt zu kriegen oder Medizin so zu leben, wie ich sie mir vorstelle: mit ausreichend Zeit.
Aus Ihrem Buch: „Keine Erfindung der Medizin hat trotz etlicher Rückschläge und unbestreitbarer kausaler Todesfälle so viele Menschenleben gerettet wie Impfungen. Dass es trotzdem so viele Impfgegner gibt, liegt vor allem am anmaßenden Gehabe der Medizin. Beispiel: die Impfung gegen SARS-CoV-2.“ Was ist schiefgelaufen?
Sobald die Menschen von Gentechnik hören, haben sie Angst; darauf ist man nicht eingegangen. Anstatt der ewigen Werbespots für Solidarität hätte man den Wirkmechanismus der Impfungen so erklären müssen, dass es die Leute verstehen. Medizin darf nicht von oben herab sein; man muss auf die Sorgen der Menschen eingehen. Meine Erfahrung ist: Wenn man Menschen etwas gut erklärt, gehen sie den Weg mit.
Stichwort Psychohygiene: Wären wir gesünder, wenn wir uns mehr um unsere Seele kümmern würden?
Wir sollten wieder Energie darauf aufwenden, die Menschen positiv mit Selbstbewusstsein auszustatten. Ich habe einen Patienten, der dringend zu trinken und rauchen aufhören sollte. Ich frage ihn: Wie weit trauen Sie sich das zu? Wie kann ich Ihnen helfen? So spürt er, dass er eingebunden ist; wir Mediziner sollten stärken und nicht nur ständig analysieren und Fehler herauspicken.
Mehr Psychohygiene brauchen wir auf jeden Fall, mehr Zeit für uns und für Beziehungen. Was kränkt, macht krank. Auf die Frage, was ein Mensch braucht, um glücklich zu sein, antwortete Viktor Frankl sinngemäß: Er muss lieben und arbeiten können.
BUCHTIPP Dr. Günther Loewit: „Achtung. Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden. Ein Landarzt warnt“, edition a, € 22