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BOJANA MEANDZIJA

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KÜCHENKLASSIKER

KÜCHENKLASSIKER

Text: Ulli Wright Übersetzung: Ana Mrvelj Fotos: I. Cepurkovski, privat

LAUF!

Warte nicht auf mich ...

Bojana Meandžija war 13 Jahre alt, als sie der Krieg in Kroatien mitten im Spiel traf. Vier Jahre verbrachte sie mit ihrer Familie im feuchten Luftschutzkeller, wo sie begann, Tagebuch zu schreiben. Heraus kam ihr autobiografischer Roman „Lauf! Warte nicht auf mich ...“

Die ersten Sätze ihres autobiografischen Romans „Lauf! Warte nicht auf mich ...“ schrieb Bojana Meandžija nachts auf kleine Holzlatten eines Schuppens, während die Detonationen der Granaten über der Stadt niedergingen. „Damals habe ich nicht im Geringsten daran gedacht, dass ich tatsächlich den ersten Satz von etwas geschrieben habe, das auf 240 Seiten enden wird“, so die Autorin. Das Buch ist in Kroatien in 16 Auflagen erschienen,

Bojana Meandžija hat seither mehr als 1.000 Lesungen in Schulen in Kroatien,

Slowenien und Bosnien gehalten. Wie sie die Zeit des Erwachsenwerdens während des Krieges erlebt hat und wie es ihr heute geht, wenn sie die Bilder vom Krieg in der

Ukraine in den Medien sieht, hat uns die

Autorin im Interview erzählt.

OBERÖSTERREICHERIN: Bojana, Ihr Leben zwischen 13 und 17 Jahren haben Sie großteils im Schutzkeller verbracht. Was war während dieser Zeit das Schlimmste für Sie?

Bojana Meandžija: Das ist die Zeit des Erwachsenwerdens, wo man beginnt, die Welt zu entdecken und der ersten Liebe mit all ihren Freuden und Enttäuschungen begegnet. Ich musste von einem Tag auf den anderen erwachsen werden und war plötzlich für mein eigenes Leben und das meiner Familie verantwortlich. Sich dieser Erkenntnis zu stellen, war am Anfang das Schwierigste, weil ich ja erst 13 Jahre alt war. Zu erkennen und zu akzeptieren, dass ich keine unbeschwer-

„Wenn dir als Kind so etwas wie ein Krieg passiert, dann hast du das verinnerlicht.“

Bojana Meandžija

te Kindheit mehr hatte, war einer der schlimmsten Gedanken, die mir und meinen Freunden damals durch den Kopf gingen. Man ist kein Kind mehr, sondern jemand, der ums Überleben kämpft.

Gab es in dieser Zeit auch schöne Ereignisse?

Natürlich gab es die :) Wenn ein Fahrradkeller, der bis zum Krieg ein Abstellraum war, in dem Papa die Winterreifen vom Auto gelagert hat, auf einmal dein Zuhause wird, fängst du an, dich auch dementsprechend zu benehmen. Es war kalt und feucht. Neben mir waren circa 200 Leute, Privatsphäre gab es keine. In „ruhigeren“ Momenten, wenn keine Explosionen zu hören waren, haben meine Freunde und ich all das gemacht, was Teenager halt so machen. Wir haben Liebesbriefe an die Jungs geschrieben und unter der Decke des Nachbarn Verstecken gespielt. Wir haben auch Weihnachten und Silvester gefeiert. Anstatt zum Fest, gingen wir in den Keller. Es war uns egal, wohin wir gingen, es war wichtig, uns schick zu machen, uns zu schminken und mit unseren Freunden zusammen zu sein.

Wie geht es Ihnen heute, wenn Sie Bilder des Krieges, der im Moment in der Ukraine tobt, sehen?

An jenem Morgen, als die Medien den Sirenenton ausstrahlten, der die Gefahr eines Angriffs in der Ukraine signalisierte, habe ich den größten „Flashback“ erlebt. Ich zitterte von Kopf bis Fuß und war wie gelähmt. Ich kann immer noch nicht glauben, dass so etwas im 21. Jahrhundert im Herzen Europas passiert. Die Bilder sind schrecklich und wo Krieg ist,

kann man sicher sein, dass jemandes Zuhause, jemandes Leben zerstört wird. Krieg verursacht Tränen, Angst, Leiden, Schmerzen und Abschied, das ist das Grauenhafte. Ich verurteile das in jeder Hinsicht. Denn wer ist dieser jemand, der es wagt, Menschen seine Liebsten wegzunehmen?!

Der Krieg ist in unserer Nähe, wie groß ist Ihre Angst? Wie oft denken Sie noch an diese Zeit zurück?

Sie haben recht, der Krieg in der Ukraine ist sehr nahe und ich habe eine unbeschreibliche Angst. Ich habe den ganzen Tag Fernsehsender laufen, die Eilmeldungen aus dem Kriegsgebiet überbringen. Auch von 1991 bis 1995 haben wir ständig auf Nachrichtensender umgeschaltet, das erinnert mich sehr an diese Zeit. Ein Teil von uns bleibt immer auch Kind und wenn dir als Kind so etwas wie ein Krieg passiert, dann hast du das verinnerlicht, egal wie sehr du auch versuchst, nicht darüber nachzudenken.

Was hat Ihnen persönlich geholfen, diese dramatische Zeit zu überwinden?

Meine Familie! Denn Familie ist die wärmste Decke, wenn es für dich am kältesten ist! Das ist auch der Satz, mit dem ich das Zusammentreffen mit Kindern und Erwachsenen bei meinen Lesungen in der Schule beende. Nur ein Blick von meiner Mutter, nur ein Lächeln von meiner Schwester Marija, die damals erst fünf Jahre alt war, reichte aus, um mich zum Lächeln zu bringen und um mir zu sagen: „Solange wir zusammen sind, ist alles in Ordnung!“ Und dann waren da noch die Freunde. Wir saßen alle im selben Boot und wussten, dass wir zusammen kämpfen und leben müssen. Wir fanden immer eine Beschäftigung. Ich habe im Versteck stricken gelernt und meiner Schwester eine Jacke gestrickt. Ich habe auf die Wände im Keller gemalt, weil wir kein Papier hatten. Diese Illustrationen sind heute noch wie in einem Museum an den Wänden zu sehen und ich habe Lieder und Tagebuch geschrieben.

Und aus Ihren Tagebucheintragungen ist das Buch „Lauf! Warte nicht auf mich“ entstanden ...

Ja, genau. Es sollte eigentlich nur ein Aufsatz für meine Kroatischlehrerin in der 7. Klasse sein, weil wir ja nicht in die Schule gehen konnten. An meinem Geburtstag am 4. Oktober 1991, als der erste und größte Angriff auf Karlovac begann

EIN HERZ UND EINE SEELE.

Bojana mit ihrer Schwester Marija, die während des Krieges in Kroatien erst fünf Jahre alt war. Bojana hat im Luftschutzkeller stricken gelernt und Marija eine Jacke gestrickt.

14.07.1993 – Bis jetzt 70 Granaten in der Stadt ... Ihr Tagebuch begann Bojana auf Holzlatten im Keller zu schreiben. Vier Jahre ihrer Kindheit und Jugend mussten Bojana (rechts) und ihre Freunde sowie die Familien großteils im Luftschutzkeller verbringen.

und unser Wohnhaus von Raketen getroffen wurde und Feuer fing, ging mir folgender Gedanke durch den Kopf: „Wenn wir diese Nacht nicht überleben, dann nehme ich einen Stift in die Hand und hinterlasse irgendwo eine Spur. Vielleicht betritt in 20 Jahren jemand den Keller und erfährt, dass eine Marija und eine Bojana dort ihre Kindheit gelassen haben. Ich habe begonnen, auf die Holzlatten unseres Holzschuppens einen Satz zu schreiben, der dort heute noch neben Hunderten von Nachrichten zu sehen ist. Damals habe ich nicht im Geringsten daran gedacht, dass ich den ersten Satz von etwas geschrieben habe, das auf 240 Seiten enden wird und worüber wir heute sprechen.

Wie hat Ihnen das Schreiben geholfen?

Das Schreiben hat mir sehr geholfen. Gerade in diesem Lebensabschnitt, in dem man sich selbst sucht, weil man in der Pubertät ist, kann man das alles nur „loswerden“, wenn das Papier darunter leidet (lacht). Durch das Schreiben fühlte ich mich irgendwie „befreit“, weil ich „jemanden“ erzählen konnte, was mich quälte und wie ich mich fühlte. Es ist kein Buch, das den täglichen Ereignissen des Krieges folgt, es ist ein Buch über die erlebten Emotionen von einem Kind und allen Kindern um uns herum.

Wie ist es Ihnen gegangen, als der Krieg auf einmal zu Ende war? Diesen Moment werde ich nie vergessen. „Der Krieg ist vorbei, alle Gebiete in Kroatien wurden befreit“, wurde in den Medien verkündet. Wir waren alle im Keller, die Leute weinten und umarmten sich vor Freude. Ich ging mit Mama in die Wohnung, um mit dem Tonband die letzte Sirene, die das Ende des Krieges markierte, aufzu„Die größte nehmen. Plötzlich ging einer der Nach-

Tugend des barn auf den Balkon und fing an, das Lied „Marjane, Marjane“ laut zu singen. In-Menschen ist nicht, zu vergessen, nerhalb weniger Minuten stimmten sondern zu vergeben und unzählige Menschen in das Lied ein und es klang durch die daraus zu lernen.“ ganze Nachbarschaft. Mitten in diesem Lied ertönte die Sirene und verkündete das Ende des Krieges. Ich besitze immer noch die Tonbandaufnahme und wir hören sie bei jedem literarischen Treffen an. Ich weine jedes Mal, weil es einer der berührendsten Momente meines Lebens ist, ein Moment, in dem man einfach nur stolz ist, überlebt zu haben. Es hat mich sehr beeindruckt, dass man in Ihrem Buch keine Spur von Hass, Wut oder Groll findet. Wir alle haben nur ein Leben und wenn wir es so verbringen, dass wir immer wieder in alten Wunden graben, werden wir niemals wahre Liebe und Frieden in uns selbst spüren können. Die größte Tugend des Menschen ist nicht, zu vergessen, sondern zu vergeben und daraus zu lernen, dass ein in Liebe und Frieden verbrachtes Leben das Schönste ist, was einem passieren kann.

Um nicht zu vergessen, haben Sie Ihr Buch herausgebracht und bei mehr als 1.000 literarischen Treffen hörten Ihnen bisher mehr als 80.000 Kinder und Jugendliche zu. Hätten Sie das je erwartet?

Niemals! Ich bin stolz auf jede Begegnung, jeden Händedruck und jede Umarmung, die die Kinder mir geben. Wenn wir uns unterhalten, bin ich nicht die erwachsene Bojana, sondern die 13-jährige Bojana und diese Verbindung zu den Kindern und Jugendlichen ist wunderbar.

BUCHTIPP

Bojana Meandžija Lauf! Warte nicht auf mich … 306 Seiten, gebunden, Lesebändchen ISBN: 978-3-99029-490-1, € 21 www.wieser-verlag.com

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