Nr. 1/2003
www.fritz-und-fraenzi.ch
Das Magazin f端r Eltern schulpflichtiger Kinder
Mein letzter Wille Wenn Jugendliche nicht mehr leben wollen
SUIZID
Lebensmüde DIE ZAHL DEPRESSIVER JUGENDLICHER IST ERSCHRECKEND HOCH. SCHLIMMER NOCH: VIELE UNTER IHNEN SIND GAR ZUR SELBSTTÖTUNG BEREIT. FRITZ UND FRÄNZI LÄSST BETROFFENE UND ANGEHÖRIGE ZU WORT KOMMEN UND BEFRAGT FACHLEUTE ÜBER GRÜNDE, FRÜHERKENNUNG UND BETREUUNG.
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FRITZ UND FRÄNZI 1/2003
Text: Adrian Zeller Fotos: Bruno Helbling
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in Kind durch Suizid zu verlieren ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann. Das Ausmass einer solchen Tragödie sei für nicht betroffene Menschen kaum nachvollziehbar, berichtet eine Mutter, deren Sohn sich mit 19 das Leben nahm. Jedes Jahr wird für viele Mütter und Väter in der Schweiz der Todeswunsch ihres Kindes zur quälenden Realität: Selbsttötungen sind – nach Verkehrsunfällen – die zweithäufigste Todesursache bei Heranwachsenden. Von den rund 1400 Menschen, die sich jährlich das Leben nehmen, sind rund 150 zum Zeitpunkt ihres Todes jünger als 25.
Fragen und Selbstvorwürfe «Für uns brach damals eine Welt zusammen», erzählt Susanne B., deren Sohn als Ausweg aus seiner Krise nur noch den eigenen Tod sah. Unbeantwortete Fragen und Vorwürfe quälen sie und ihren Mann bis heute. Ein Suizid hinterlässt auch im Umfeld grosse Fassungslosigkeit. Susanne B. erinnert sich: «Freunde, seine Studienkollegen, die Lehrer, alle waren schockiert und konnten das Geschehene nicht einordnen.» Lebensüberdruss bereits in jungen Jahren ist für viele unverständlich. «Warum so etwas, wo seine ganze Zukunft doch noch vor ihm lag?» Das ist eine der ersten Fragen, die Freunde und Angehörige bewegt, wenn sich ein junger Mensch das Leben nimmt.
Grenze zwischen Spiel und Ernst Längst nicht immer sei ein Selbsttötungsversuch als solcher auch eindeutig zu erkennen, weiss der St. Galler Psychotherapeut Rolf Jud. Er ist im Umgang mit so genannt lebensmüden Jugendlichen sehr erfahren (siehe Interview Seite 50). Besonders während der Pubertät von Buben seien bisweilen lebensgefährliche Mutproben eine ausgesprochen verlockende Freizeitbeschäftigung. Die Suche nach ultimativen Grenzen, das Finden der eigenen Identität sowie übertriebenes Imponiergehabe gehören bei vielen Heranwachsenden zum Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Oft kommt dabei erschwerend eine sehr gefährliche Gruppendynamik
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zum Tragen. Durch halsbrecherische Fahrweise im Strassenverkehr, risikoreiches Verhalten bei Trendsportarten oder auch beim Konsum von betäubenden Substanzen kann es zu Zwischenfällen kommen, die tödlich enden. Manche Jugendliche bekennen gar unumwunden, dass sie das Schicksal herausfordern und eine Art russisches Roulett spielen wollen.
Verunsicherung und Beziehungsschwierigkeiten Die Pubertät und die damit verbundene Ablösung vom Elternhaus verunsichert viele Jugendliche zutiefst. Nicht selten überspielen sie dies dann mit Arroganz und Übermut. Sie wollen auf eigenen Füssen stehen und stellen sich Fragen nach dem Sinn des Lebens. Wo ist der richtige Platz auf dieser Welt? Viele Pubertierende leiden unter enormen Stimmungsschwankungen. Manche erleben ihre ersten Enttäuschungen in der Liebe oder müssen ständig um ihre Position in einer Clique kämpfen. In dieser sehr fordernden – und gelegentlich überfordernden! – Lebensphase keimt bei einigen der Gedanke, dem Leben und ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Wenn sie in dieser schwierigen Zeit niemanden haben, dem sie vertrauen, oder keinen finden, der ihnen genug Zeit und Aufmerksamkeit schenkt, kann es zur persönlichen Katastrophe kommen. Wenn ich von Zeit zu Zeit das Grab meiner Mutter besuche, bleibe ich meistens für einige Momente auch an der Ruhestätte eines Bekannten aus meiner Jugendzeit stehen. Er war ein angenehmer Mensch, der sich sehr für die Natur interessierte und sich für eine intakte Umwelt engagierte. Er war oft zu Spässen aufgelegt ... Eines Tages war er tot. Niemand in seiner Umgebung hatte erahnt, dass hinter der heiteren Fassade ein sehr unglücklicher Mensch steckte. Die folgenden Seiten sollen dazu beitragen, dass unsere Sensibilität und Kompetenz gegenüber jenen jungen Menschen erheblich wachsen können, die mit ihrem Leben nicht klarkommen.
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SUIZID
Mögliche Hinweise auf drohende Suizidgefahr Häufige Anspielungen auf Thema Suizid, etwa auch in Form sarkastischer Witze und Bemerkungen. Unerklärliche Verletzungen, die aber von Selbsttötungsversuchen herrühren könnten (z. B. Schnitte an Handgelenken). Herausfordern des Schicksals durch Spiel mit der Gefahr, etwa durch sehr risikoreiches Verhalten im Strassenverkehr oder häufige Aufenthalte nahe der Bahngleise. Ständige Beschäftigung mit Themen wie Sterben, Friedhof und Beerdigung.
«Warum so etwas? Seine Zukunft lag doch noch vor ihm!»
Unerklärliche, häufige Konzentrationsstörungen und Gedankenabwesenheit. Starker Rückzug in sich selbst; Vernachlässigung von Kontakten zu Freunden und Kameraden. Keinerlei Pläne für die Zukunft. Plötzliches Verschenken von geliebten Dingen. Ständige Betriebsamkeit und/oder clownhaftes Verhalten. Flucht in Alkohol und/oder andere Drogen. Verlust des Interesses für eben noch wichtige Hobbys und Liebhabereien. Selbstvernachlässigung. Auffällige Veränderungen in der Persönlichkeit: Verschlossenheit, Aggressivität, Reizbarkeit, gedrückte oder aber euphorische Stimmung. Plötzliche Beruhigung nach einer längeren aggressiven oder depressiven Phase. Starke Veränderungen des Körpergewichts. Äusserungen, die auf Selbstablehnung oder sogar Selbsthass hindeuten. Resignative Äusserungen, Mangel an Antrieb und Initiative.
Zum Begriff «Suizid» Der allgemein verwendete Begriff «Selbstmord» ist bei Fachleuten verpönt, weil er als unzutreffend und bei Betroffenen sowie Angehörigen als diskriminierend gilt: Im juristischen Sinn steht das Wort «Mord» für eine hinterlistige Tötung aus niederen Motiven und zum persönlichen Nutzen. Auch der Begriff «Freitod» ist nicht korrekt: Gemäss Experten steht hinter einer Selbsttötung nur in Ausnahmefällen eine freie Willensentscheidung, etwa bei körperlich Schwerkranken ohne jede Heilungsaussicht. Meist rührt der Drang, seinem Leben ein Ende zu setzen, von einer schweren Kränkung, einer verzweifelten und überfordernden Lebenssituation, einer Depression oder einer Suchterkrankung. Anstelle von «Selbstmord» wird die Verwendung des Begriffs «Suizid» (Altgriech.: sich hauen, sich töten, sich zerschlagen) empfohlen. FRITZ UND FRÄNZI 1/2003
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«Aus dem Leben aussteigen zu können hatte für mich etwas Tröstendes» DER BERICHT VON FLORIAN*, DER MIT 14 JAHREN EINEN SUIZIDVERSUCH VERÜBTE. Aufgezeichnet von Adrian Zeller
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on weit weg drang die Stimme meiner Mutter zu mir. Sie rüttelte mich und rief immer wieder: «Florian! Florian!» Mir war, als rufe sie unzählige Male meinen Namen. Ganz langsam dämmerte mir, was los war: Ich hatte überlebt. Lag im Bett in meinem Zimmer. Nur mit grösster Mühe konnte ich die Augen öffnen, ich sah lediglich verschwommene Bilder. Mir war schwindlig. Ob ich Drogen genommen hätte, fragte meine Mutter in Panik. Ich verneinte und erzählte – oder lallte wohl mehr –, dass ich eine grössere Menge Schlaftabletten geschluckt hatte, weil ich sterben wollte. Dann tauchte ich wieder weg. Jedenfalls erwachte ich erst in der Notaufnahme des Spitals, als ein Arzt mich immer wieder an der Schulter rüttelte und unbedingt wissen wollte, wann genau ich die Tabletten geschluckt hätte. Als ich ihm die Zeit nannte, entschied er, dass es für eine Magenspülung zu spät sei. Stattdessen steckte er mir eine Infusion in den Arm.
Eingewiesen, abgeschoben
* Name geändert
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Einige Tage später, als ich körperlich und geistig wieder einigermassen okay war, holte mich ein Oberarzt in sein Büro. In väterlichem Ton überzeugte er mich davon, dass es für mich das Beste wäre, wenn ich in eine psychiatrische Klinik eintreten würde. Dort gäbe es erfahrene Fachleute, die mir helfen könnten, mein seelisches Tief zu überwinden. In jenem Kanton, in dem ich damals lebte, gab es keine stationären Einrichtungen für Jugendliche mit psychischen Problemen, so musste ich in eine Klinik für Erwachsene.
Weil die Klinikärzte befürchteten, ich könnte mir wieder etwas antun, brachten sie mich in einer geschlossenen Station unter. Dort hatte ich wenig Bewegungsfreiheit und durfte vorerst nur in Begleitung einer Schwester oder eines Pflegers an die frische Luft. In jener Station war verschiedenen Patienten an ihrem Aussehen und Verhalten anzumerken, dass sie sehr krank waren. Von den einen vernahm man mit der Zeit, dass sie schwere Alkoholprobleme hatten, andere wiederum sprachen kaum je mit einem Menschen. Es gab auch einige Jugendliche auf der Station. Die meisten von ihnen waren jedoch sehr mit sich und ihren Problemen beschäftigt.
Wohl kaum eine richtige Betreuung Nach anfänglicher Skepsis liess ich mich von meiner Klinikärztin davon überzeugen, dass mir Medikamente gegen Depressionen helfen würden. Die Gespräche mit ihr waren meist sehr kurz. Sie ging kaum auf mich und das, was vorgefallen war, ein. Ich hatte den Eindruck, dass ich lediglich einer von zahlreichen Fällen war, die sie halt zu betreuen hatte. Damals hätte ich aber wohl vor allem einen Menschen gebraucht, der mir zugehört und mir geholfen hätte, mein inneres Gedanken- und Gefühlschaos zu ordnen. Die Tabletten hatten kaum eine spürbare Wirkung, ich fühlte mich weiterhin elend. Meine Eltern kämpften später darum, dass ich aus der Klinik entlassen wurde, denn die Behandlung brachte wenig. Durch Vermittlung meiner älteren Schwester kam ich auf einen Bauernhof in der FRITZ UND FRÄNZI 1/2003
Westschweiz. Ich hatte die Natur schon immer sehr gern und glaubte, die körperliche Arbeit mit Tieren und Pflanzen würde mir gut tun. Leider war es ein Betrieb, der vor allem auf Rendite und Ertragssteigerung ausgerichtet war: von romantischem Landleben keine Spur. Der Knecht, dem ich zugeteilt war, hetzte mich dauernd herum. Schon nach wenigen Tagen hielt ich es nicht mehr aus und setzte mich nach Hause ab. Ein therapeutisch eingerichteter Hof wäre wahrscheinlich eher das Richtige für mich gewesen.
Gefühle, die nicht wahrgenommen werden Meine Eltern erreichten darauf, dass ich weiterhin zur Schule gehen konnte. Dass ich in eine neue Klasse kam, gab mir die Chance für einen Neuanfang – mit andern Mitschülern, neuen Lehrern. Durch die Empfehlung einer Bekannten kam ich schliesslich in die ambulante Therapie zu einem sehr engagierten Psychiater. Er trainierte mit mir immer wieder, meine Aufmerksamkeit auf meine Gefühle zu richten: Ich sollte lernen, sie besser wahrzunehmen. Anfangs verstand ich gar nicht, was er eigentlich von mir wollte. Doch nach zahlreichen Sitzungen begann ich allmählich so etwas wie Schmerz oder Traurigkeit zu spüren; Gefühle, die ich vorher kaum kannte. Dass ich mich damals selbst nicht richtig wahrnehmen konnte, hat sehr viel mit meinem Vater zu tun: Aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte er es mit ungeheurer Selbstdisziplin in seinem Beruf und auch im Sport sehr weit gebracht. Er war durch und durch Willensmensch. Dass das Leben auch noch anderes zu bieten hat als Projekte, Sitzungen und Arbeit, hat er mit der Zeit völlig vergessen. Mit seinem immensen Ehrgeiz übte er einen starken Druck auf die ganze Familie aus. Meine Schwester setzte sich, so früh sie konnte, aus dem Elternhaus ab, mein Bruder unterwarf sich halbwegs dem Willen des Vaters. Ich, der Jüngste, war der sensible und kreative Typ, damit kam mein Vater gar nicht klar, denn für ihn muss alles plan- und berechenbar sein – letztlich eben eine Frage des Willens. Ich fühlte mich zwar nicht gerade als das schwarze Schaf in der Familie, aber immerhin als eine Art Aussenseiter.
Bedürfnisse, die nicht wahrgenommen werden Bei meiner Mutter fand ich wenig Rückhalt: Kurze Zeit nachdem ich eingeschult worden war, begann sie wieder zu arbeiten. Die Firma, in der sie einen Job hatte, begann innert kurzer Zeit dermassen zu florieren, dass aus ihrer ursprünglichen 30-Prozent- rasch eine 100-Prozent-Stelle wurde. Daneben musste sie noch den ganzen Haushalt erledigen. Durch die 44
Doppelbelastung war sie wohl ziemlich überfordert. Ich erlebte sie häufig als erschöpft und entnervt. Wohl wurden wir Kinder mit Kleidung und Essen versorgt. Zärtlichkeit, Geborgenheit oder fröhliche Unbeschwertheit habe ich aber in unserer Familie kaum erlebt. Sogar in den Ferien herrschte ständig der Leistungsgedanke vor, bei sengender Sommerhitze mussten wir auf die höchsten Berge kraxeln. Nach meinem Suizidversuch vor zehn Jahren hat der ungeheure Druck, den mein Vater auf uns alle ausübte, etwas nachgelassen. Er ist etwas ins Grübeln gekommen, als er feststellen musste, dass Druck nicht nur zu Erfolg, sondern auch zu Selbstzerstörung führen kann. Ein Wort der Anerkennung oder des Lobes habe ich aber bis heute nie gehört. Im Rückblick würde ich sagen, dass alle in unserer Familie in Sachen Gefühle sehr unbeholfen waren.
Hoffnungslos, überflüssig, unerwünscht In der Zeit vor meinem Suizidversuch lief in meinem Leben ohnehin immer mehr schief. In der Schule war ich in manchen Fächern überfordert und geriet immer mehr in Rückstand. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren. Irgendwann gab ich mir keine Mühe mehr. Gleichzeitig erwartete mein Vater von mir überdurchschnittliche Leistungen. Und manchmal gab es Streit zwischen uns. Doch je mehr Druck er aufsetzte, desto mehr rebellierte ich. Weil ich zu Hause kaum Rückhalt fand, suchte ich Bestätigung bei Mädchen. Doch die liessen mich meist ziemlich unsanft abblitzen. Das tat weh. Auch bei Kollegen fühlte ich mich oft als fünftes Rad am Wagen. Ich hatte immer mehr den Eindruck, auf dieser Welt überflüssig und unerwünscht zu sein.
Wenn nur noch der Tod einen tröstet Als der Gedanke, Schluss zu machen, das erste Mal auftauchte, verwarf ich ihn gleich wieder. Doch in den darauf folgenden Tagen kehrte er immer wieder zurück. Für mich war es mit der Zeit wie ein Spiel, wenn auch ein ziemlich makabres. Abends im Bett begann ich zu fantasieren, wie es wohl sein würde, wenn ich bei der Beerdigung im Grab läge und meine Eltern, meine Lehrer und die Klassenkollegen weinen würden. Wenigstens dann interessierte sich endlich jemand für mich! Es mag seltsam klingen: Der Gedanke, dass ich ja jederzeit aus meinem Leben aussteigen konnte, hatte für mich etwas sehr Tröstendes. So begann ich, mich mehr und mehr von meiner Umgebung zu lösen und zu verabschieden. Nach ein paar Monaten war der definitive Entschluss, aus diesem Leben auszusteigen, gefasst. Und ich beschaffte mir die Schlaftabletten. FRITZ UND FRÄNZI 1/2003
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Hier gibts Hilfe Hilfe für Jugendliche Telefon 147 www.147.ch Jugendseelsorge Zürich Auf der Mauer 13 8001 Zürich Telefon 01 266 69 24 www.kath.ch/zh/jugend
Anonyme Beratung von Jugendlichen und Eltern SMS-Seelsorge 076 333 00 35 www.seelsorge.net
«Langsam dämmerte mir, was los war: Ich hatte überlebt»
Hilfe für überforderte Eltern Elternnotruf Region Basel 061 261 10 60 Region Zug 041 710 22 05 Region Zürich 01 261 88 66 Region Ostschweiz 071 244 20 20 www.elternnotruf.ch
Weitere mögliche Anlaufstellen Jugendberatungsstellen, schulpsychologische Dienste, regionale und kantonale kinder- und jugendpsychiatrische Dienste sowie Kinderspitäler. Letztere haben in der Regel Erfahrung im Umgang mit suizidgefährdeten Jugendlichen und verfügen über eigene Fachleute oder arbeiten eng mit externen Experten aus dem Bereich Jugendsuizid zusammen. Frei praktizierende Kinder- und Jugendpsychiater, Adressen aus der ganzen Schweiz unter: www.doktor.ch/kinderpsychiater/index.htm
Betreuung von Angehörigen nach einem Suizid Dem Verein Regenbogen Schweiz sind verschiedene Regionalgruppen von Eltern angeschlossen, die ein Kind durch Suizid verloren haben. Weitere Informationen erteilt das Sekretariat: Verein Regenbogen Schweiz Ursula Beerli Glärnischstrasse 11 8632 Tann Telefon 055 241 15 05 www.verein-regenbogen.ch Stiftung Begleitung in Leid und Trauer Telefon 052 269 02 12 www.leidundtrauer.ch Die Stiftung Pro Mente Sana berät bei sozialen, juristischen und wirtschaftlichen Problemen, die sich im Zusammenhang mit psychischen Krisen ergeben können. Beratungstelefon: 0848 800 858 www.promentesana.ch
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Helfen Sie mir! VOR EINEM SUIZIDVERSUCH SUCHEN JUGENDLICHE OFT HILFE. VIELE WENDEN SICH AN EBO AEBISCHER IN MURI BEI BERN. Bericht: Adrian Zeller
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wanzig bis fünfzig Jugendliche in schweren Lebenskrisen wenden sich pro Jahr vor allem per E-Mail oder SMS an Ebo Aebischer. Der evangelische Pfarrer ist Mitarbeiter der Internet-Seelsorge und gehört zu einem ehrenamtlichen Team von rund dreissig Theologen und Psychologen beiderlei Geschlechts. Seit 1995 werden per E-Mail und seit 1998 auch per SMS Ratsuchende jeden Alters in verschiedenen Sprachen kostenlos betreut. Gemeinsam mit seiner Frau, einer ebenfalls ausgebildeten Theologin, nimmt sich Ebo Aebischer innerhalb der Internet-Seelsorge speziell jener Menschen an, die sich mit Suizidgedanken beschäftigen oder sich in einem Trauerprozess befinden.
Vertrauen aufbauen Internet-Seelsorger Ebo Aebischer. Foto: Stephan Hanslin
Bei den Jugendlichen, die ihn wegen Selbsttötungsabsichten kontaktieren, handle es sich in der Mehrzahl der Fälle um Mädchen, erzählt Aebischer. «Sehr häufig melden sie sich anfangs unter einem Pseudonym. Oder sie schreiben, sie hätten eine Freundin, der es schlecht ginge, und sie wüssten nicht, was sie ihr raten sollten. Haben sie dann aber aufgrund unserer Antworten Vertrauen gefasst, stellt sich bald heraus, dass es um sie selber geht.» Ab diesem Moment korrespondieren die Jugendlichen dann auch unter ihrem richtigen Namen und schicken gelegentlich sogar Fotos von sich. Nicht immer haben diese Halbwüchsigen im Alter zwischen 13 und 18 Jahren eindeutige Suizidabsichten. Das Ehepaar Aebischer versucht jedoch in jedem Einzelfall herauszufinden, ob allenfalls bereits konkrete Ausführungspläne bestehen.
Egal, wie – Hauptsache, dass ... E-Mail und SMS sind reichlich unverbindliche und oberflächliche Kontaktebenen. Kann man auf diesen 46
Hightech-Kommunikationskanälen Menschen, die ihr Leben beenden wollen, tatsächlich wirksam helfen? Wichtig sei für die Hilfesuchenden in erster Linie, dass überhaupt jemand ihre Not zur Kenntnis nehme, betont der Berner Theologe. «Und wenn sie das dann erfahren, entwickelt sich ein reger Austausch.» Bisweilen sei der Online-Kontakt zwischen den Hilfesuchenden und den beiden Beratenden sehr intensiv, gelegentlich würden mehrmals am Tag Botschaften hin- und hergeschickt. Und oft erstrecke sich die Beziehung über mehrere Tage und Wochen.
Begleitung ohne Vorurteile Was führt denn dazu, dass junge Menschen Suizid als Möglichkeit in Betracht ziehen? Es gebe selten eindeutige Hintergründe, antwortet Aebischer. «In der Regel handelt es sich um eine komplexe, vielschichtige Entwicklung.» Oft seien die Jugendlichen Opfer sexueller oder körperlicher Gewalt. «Häufig zeichnen sich auch psychische Erkrankungen ab.» Weiter seien schlechte schulische Leistungen, Krach im Elternhaus oder zerbrochene Liebesbeziehungen zu nennen. Dabei sei schwer zu unterscheiden, ob es sich um «Ursachen» oder «Auslöser» suizidaler Gedanken handelt. Das völlig urteilsfreie Zuhören ist ein zentrales Element der Internet- und SMS-Seelsorge. «Wir fragen nach, wie es nach der Meinung der Hilfesuchenden dazu hat kommen können, dass der Tod als Ausweg in Betracht gezogen wird. Danach bieten wir diesen Menschen an, gemeinsam ein Stück ihres Weges zu gehen, bis sie wieder das Gefühl haben, alleine weitergehen zu können.» Auf diesem gemeinsamen Wegabschnitt versucht das Ehepaar Aebischer, mit den Menschen in Not die Schwierigkeiten oft auch ganz praktisch in den Griff zu bekommen. «Das geht bis zu unserer Intervention bei Eltern, Erziehenden, Lehrkräften oder Ärzten.» FRITZ UND FRÄNZI 1/2003
«Gott hat uns vergeben» SUSANNE B. VERLOR IHR ZWEITES VON VIER KINDERN, ALS ES 22 JAHRE ALT WAR: DURCH SUIZID. SIE ERZÄHLT, WIE SIE DIESEN SCHICKSALSSCHLAG ERLEBTE.
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atthias war gross, kräftig und intelligent. Er wirkte sehr sensibel, steckte gleichzeitig voller Tatendrang und hatte einen starken Willen. Er war ein begeisterter Sportkletterer. Nach seiner Berufsausbildung als Gärtner nahm er für ein Jahr eine Stelle in Genf an. Anschliessend leistete er einen Sozialeinsatz in Afrika. Wieder in Genf, besuchte er das Technikum. Er fand gute Freunde und verbrachte viel Zeit in den Bergen. Uns erschien er damals beinahe hyperaktiv: Ein Wochenende mit ihm bei uns zu Hause war für die ganze Familie ein Stress. Er griff oft zum Telefon oder war auf dem Sprung zu einem Termin. Aber er wirkte auf uns immer fröhlich. Dann verliebte sich Matthias in ein 17-jähriges Mädchen. Er war im siebten Himmel und überzeugt, die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Ob diese junge Frau mit seiner Überaktivität und seinen hohen Erwartungen überfordert war? Jedenfalls trennte sie sich nach ein paar Monaten von ihm. Für Matthias brach eine Welt zusammen. Er sagte, dass er nicht mehr leben wolle. Er klagte mir stundenlang am Telefon seine Not und weinte. Meinen Vorschlag, einen Arzt aufzusuchen, da er vielleicht in eine Depression gefallen sei, lehnte er kategorisch ab. Seine Begründung war, dass er über Depressionen gelesen habe und wisse, wie gelähmt die Betroffenen seien. Da könne man nichts mehr unternehmen. Doch in diesem Zustand be-
finde er sich nicht. Er spüre einfach, dass ihn Gott verlassen habe. Mein Mann und ich haben einen festen Halt im Glauben und lehrten unsere Kinder, dass Gott sie liebt und dass sie mit allen Problemen zu ihm kommen können. Seine mehrmaligen Aussagen und Andeutungen, dass er «nicht mehr leben wolle», machten mir sehr Angst. Ich suchte verzweifelt Hilfe. Unter anderem sprach ich auch mit dem Jugendpfarrer in Genf, der Matthias gut kannte. Doch dieser nahm mich nicht ernst. Ein so aktiver junger Mann könne doch nicht depressiv sein, erklärte er. Meine Sorgen seien die einer überängstlichen Mutter. Schliesslich reiste Matthias’ jüngerer Bruder nach Genf, um mit ihm zu sprechen. Er fand ihn tot in seiner Wohnung. Seit seinem Tod sind neun Jahre vergangen. Wir haben eine unsagbar schwere Zeit hinter uns: Trauer, Wut und Schuldgefühle zerrissen uns oft schier das Herz. In all dem Schweren haben wir immer wieder Gottes Hilfe erfahren. Er hat uns durch liebe Freunde getröstet, und vor allem hat er uns unsere Schuld vergeben. Dank dieser Gewissheit hat unser Leben wieder Sinn und Ziel bekommen. Wir können nun auch andere Menschen in Not besser verstehen. Trotzdem bleiben viele Fragen unbeantwortet. Doch damit müssen wir leben. Aufgezeichnet von Adrian Zeller
Gefährliche Grauzone MARGRITH GIGER GLAUBT, DASS ES HEUTE BEI EINER WACHSENDEN ZAHL VON JUGENDLICHEN ZU EINER SUIZIDGEFÄHRDUNG KOMMEN KANN.
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ie Geschäftsführerin des Vereins Kinder- und Jugendhilfe mit Beratungsstellen in Sargans und der Stadt St. Gallen führt aus: «Viele Jugendliche leben in einer Art Grauzone. Ihnen geht es nicht wirklich schlecht, dennoch ist die Frage eines Suizids immer wieder ein Thema.» Margrith Giger ist Sozialarbeiterin HFS und Paar- und Familienberaterin. Sie weiss, dass diese Jugendlichen kaum richtig erfasst sind. Es seien Heranwachsende, die sich selbst stark in Frage stellen und dabei in eine Isolation geraten. «Mit den elektronischen Medien und dem Internet kann die Illusion, mit anderen verbunden zu sein, lange aufrechterhalten bleiben. Dabei merken die Jugendlichen nicht, dass diese Kontakte kaum Tiefe und Tragfähigkeit besitzen.» Nicht nur ein fehlendes verlässliches Beziehungsnetz, auch die gewaltige Informationsflut könne für Jugendliche zur Belastung werden. Reisserisch aufgemachte Berichte über gesell48
schaftliche Probleme wie etwa die künftige Sicherheit der Arbeits- und Ausbildungsplätze lösen bei manchen Jugendlichen Ängste aus; die beunruhigenden Meldungen treffen sie in einer ohnehin schwierigen Lebensphase. «Während der Pubertät bricht das Familiengefüge auseinander, ohne dass gleichzeitig gesellschaftliche Auffanggefässe vorhanden sind.» Viele Jugendliche würden dadurch gewissermassen den Boden unter den Füssen verlieren. Weiter belastend wirkt nach Margrith Giger für viele Heranwachsende auch, dass sie einem starken Gruppendruck ausgesetzt sind: «Wer in sein will, muss gut ankommen, muss sich für Technomusik begeistern und so weiter.» Wer den Erwartungen und Werten nicht entspricht, sei heute schneller out als noch vor einigen Jahren. Bericht: Adrian Zeller
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SUIZID
Eine Selbsttötung kommt nicht aus heiterem Himmel Norbert Hänsli, Psychologe FSP und Theologe, begegnet innerhalb seiner Tätigkeit bei der Jugendseelsorge Zürich immer wieder suizidgefährdeten Jugendlichen. Er schildert, was hinter dem Todeswunsch junger Menschen stecken könnte. «Aktuelle Konflikte und Beziehungsprobleme spielen zwar eine entscheidende und auslösende Rolle für eine suizidale Handlung, meist ist dem aber schon eine lange Geschichte von Enttäuschungen und Entwertungen vorausgegangen.» Und nach einem weiteren traumatisierenden Ereignis kann dann die Grenze zum Suizidversuch überschritten werden.
Was wir zur Vorbeugung beitragen können
«Er war überzeugt, die Frau fürs Leben gefunden zu haben»
Norbert Hänsli weiss aus Erfahrung: «Viele Jugendliche sprechen im Vorfeld über ihre Suizidabsichten, oder sie zeigen deutliche Verhaltensänderungen. Beim geringsten Verdacht sollte die Frage nach der Suizidneigung mit einfachen Worten angesprochen werden. Dabei sind Offenheit, Verständnis, Hilfsbereitschaft gefragt – keinesfalls Moralisieren!» Ein solches Gespräch könne oft bereits sehr entlastend wirken. Das weit verbreitete Vorurteil, dass das Reden darüber die Gefahr eines Suizides erhöhe, sei falsch, hält der Psychologe fest. Er ist überzeugt, dass dem Ansprechen des Themas «Suizid» in Schulklassen oder Jugendgruppen eine wichtige vorbeugende Wirkung zukommt, falls dies in kompetenter Art und Weise erfolgt. Auf breiter Front sensibilisieren. Informieren. Auf Warnsignale hinweisen. Gesprächskompetenzen erhöhen. Und erläutern, wohin man sich wenden kann. Das sind nach seiner Ansicht die wichtigsten Schritte, um Selbsttötungen von Heranwachsenden vorzubeugen. Im Weiteren müsse nicht nur gegen die Tabuisierung, sondern auch gegen die Heroisierung von Suizidhandlungen angetreten werden: «Der Nachahmungseffekt wird noch immer häufig unterschätzt. Findet im Freundeskreis ein Suizid statt oder berichten die Medien in sensationsheischender Art über Kinderselbstmorde, lässt dies die Suizidrate ansteigen.» Dennoch sollten nach Ansicht des Jugendberaters Suizide nicht verschwiegen werden: «Reine Schlagzeilen schaden, differenzierte Information aber wirkt präventiv.»
Bücher Ebo Aebischer-Crettol
Aus zwei Booten wird ein Floss Suizid und Todessehnsucht Haffmans Verlag, Fr. 36.– Marianne Rutz
Utopia Blues Depression, Manie und Suizid im Jugendalter Pro Juventute Verlag, Fr. 24.80 FRITZ UND FRÄNZI 1/2003
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Jedes Signal ernst nehmen! FRITZ UND FRÄNZI BEFRAGTE LIC. PHIL. ROLF JUD. DER FACHMANN FÜR PSYCHOTHERAPIE FSP ARBEITET SEIT ÜBER ZWANZIG JAHREN MIT SUIZIDGEFÄHRDETEN JUGENDLICHEN UND IHREN ANGEHÖRIGEN.
Interview: Adrian Zeller
Herr Jud, warum wollen sich Jugendliche das Leben nehmen?
Zum einen spielt Überforderung eine wichtige Rolle, zum anderen können auch Spannungen innerhalb der Familie, mit denen die Jugendlichen nicht klarkommen, Auslöser sein. Es gibt auch immer wieder Kinder, die sich in einer Aussenseiterposition befinden: Sie fühlen sich ausgeschlossen oder gar in einer Sündenbockrolle. Manche haben auch keinen richtigen Ansprechpartner, oder aber die Signale, die sie aussenden, werden von der Umgebung nicht richtig wahrgenommen. Oft ist es ein Zusammenspiel verschiedener solcher Belastungen, die schliesslich Suizidgedanken auslösen. Gibt es heute, in der sehr leistungsorientierten und schnelllebigen Zeit, mehr suizidgefährdete Jugendliche als früher?
Rolf Jud sorgt sich um das sinkende Alter Suizidwilliger. Foto: Stephan Hanslin
Das heutige Tempo verhindert mit Sicherheit, dass Kinder dazu kommen, Erlebnisse und Eindrücke genügend zu verarbeiten. Dies fördert die Ausgangslage für eine Suizidhandlung deutlich. Selbsttötungen von Kindern und Jugendlichen gab es allerdings schon in vergangenen Zeiten. Damals wurde darüber meist geschwiegen. Heute werden solche Ereignisse vermehrt öffentlich wahrgenommen, die Einstellung der Öffentlichkeit hat sich verändert. Gibt es in Bezug auf die Suizidgefährdung geschlechtsspezifische Unterscheide zwischen Burschen und Mädchen?
schon mal etwas «dramatischere» Wege wählen. Pauschal lässt sich die Frage aber nicht beantworten, denn es gibt in diesem Zusammenhang grosse individuelle Unterschiede. Gibt es bestimmte Gruppen bei den Heranwachsenden, die besonders gefährdet sind, vom Todesdrang erfasst zu werden?
Nach meinen Erfahrungen gibt es in allen sozialen Schichten Menschen, die sich ausgestossen fühlen. Sorge bereitet mir die Tatsache, dass das Alter derjenigen, die sich das Leben nehmen wollen, seit einigen Jahren sinkt: Heute gibt es bereits Achtjährige, die sich umbringen wollen. Warum, glauben Sie, sinkt das Alter der Suizidwilligen?
Wir stellen auch beim Drogen- und Alkoholmissbrauch fest, dass die Konsumentinnen und Konsumenten immer jünger werden. Dasselbe scheint für Suizid zu gelten. Kinder leben heute nicht mehr im selben Mass in einem geschützten Rahmen wie früher. Sie werden heute mit vielen Themen viel früher konfrontiert. Gut möglich, dass Kinder auch beim Medienkonsum auf die Idee kommen, Suizid sei ein möglicher Ausweg aus schwierigen Situationen. Fernsehen funktioniert leider oft als Erziehungsersatz. Und die Kinder werden mit den Fragen, die sich aus den gezeigten Szenen ergeben, oft allein gelassen.
Bei den Mädchen ist es eher so, dass sie still und leise aus dieser Welt gehen wollen, während Buben 50
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Gehört denn die Auseinandersetzung mit Gedanken an Suizid nicht einfach auch zum pubertären Entwicklungsprozess?
Die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen gehört sicher zur Pubertät. Viele Jugendliche haben in der Regel auch aus ihrem Umfeld Kenntnis von Personen, die sich das Leben nehmen wollen oder bereits genommen haben. Das Thema ist ständig präsent. Andeutungen und Signale von Jugendlichen sollten von Eltern in jedem Fall und vom ersten Moment an ernst genommen werden. Sie sollten darüber reden. Es kann nämlich vorkommen, dass das erste Signal bagatellisiert wird – das nächste Signal ist dann vielleicht bereits nicht mehr so stark. Gelegentlich ist die Meinung zu hören, dass viele Jugendliche, die Suizidabsichten äussern, gar nicht wirklich sterben, sondern vielmehr auf eine schwierige Situation hinweisen oder Aufmerksamkeit erregen wollen. Deckt sich diese Behauptung mit Ihren Erfahrungen?
Pauschal kann ich diese Frage nicht beantworten. Jeder Einzelfall muss für sich betrachtet werden. Jugendliche neigen ja auch dazu, gefährliche Dinge auszuprobieren, von denen sich im Nachhinein kaum zweifelsfrei sagen lässt, ob es sich hier um einen klaren Selbsttötungsversuch gehandelt hat oder einfach «nur» um eine Mutprobe. Doch kann man Folgendes festhalten: Während Erwachsene, die Suizidhandlungen vornehmen, in der Regel eher entschlossen sind zu sterben, kommt es bei Jugendlichen durchaus vor, dass die Botschaft «Helft mir!» dahinter steckt. Was raten Sie Eltern, die Angst haben, Ihr Sohn oder Ihre Tochter könnte sich etwas antun? Sollen sie ihre Befürchtungen offen aussprechen? Sollen sie Hilfe bei einer Fachperson suchen?
Eltern sind mit einer solchen Situation häufig überfordert. Sie reagieren tendenziell etwas panikartig. Deshalb kann es durchaus sinnvoll sein, gemeinsam mit einer Fachperson zu schauen, was die Hintergründe und Auslöser der aktuellen Situation sein könnten. Die Unterstützung einer Fachperson kann den Eltern zu mehr Sicherheit in ihrem Handeln verhelfen. Das direkte Ansprechen kann eben auch bewirken, dass der betroffene Jugendliche abwehrend reagiert. Er zieht sich noch mehr in sich zurück und 52
wird schliesslich kaum mehr ansprechbar. Ob die Fachperson direkt einschreitet oder sich im Hintergrund hält, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Ein Patentrezept gibt es für solche Situationen nicht. Bei akuter Suizidgefährdung ist eine Noteinweisung in eine Klinik oft die einzige Möglichkeit. Und eine solche Einweisung muss ohnehin von einer Fachperson veranlasst werden. Wenn Kinder sich das Leben nehmen wollen, plagen sich die Eltern oft mit Selbstvorwürfen. Wie werden sie mit diesen fertig?
Obwohl bei Suizidalität von Buben und Mädchen oft eine ganze Reihe von verschiedenen Faktoren als Auslöser mitspielen, sind diese Gefühle bei den Eltern ganz klar vorhanden. Schwierig kann es werden, wenn Mütter und Väter aus diesen Schuldgefühlen heraus zu handeln beginnen. Unter Umständen bedrängen sie den Jugendlichen und bewirken, dass er sich noch mehr in sich zurückzieht. Es ist deshalb sehr sinnvoll, wenn auch die Eltern fachliche Unterstützung erhalten, um Distanz zu diesen Gefühlen zu bekommen. Suizidabsichten oder ein konkreter Suizidversuch lösen nicht nur bei den Eltern, sondern auch bei weiteren Familienangehörigen sowie auch bei Lehrmeistern, Lehrpersonen und Freunden Hilflosigkeit aus.
Für Angehörige und Freunde – und natürlich insbesondere für die Eltern – ist in erster Linie wichtig, dass sie ihre Gedanken und Gefühle aussprechen. Innerhalb der vertieften Aufarbeitung können – eventuell zusammen mit dem betroffenen Jugendlichen – Ansatzpunkte für eine künftige Verbesserung der Situation gefunden werden. Dazu braucht es meist eine intensive Beratung und Begleitung durch eine Fachperson. Je nach Situation kann es auch nötig sein, dass sämtliche Beteiligten für eine gewisse Zeit individuelle Betreuung in Anspruch nehmen, um so mit ihren Gefühlen fertig zu werden, bevor gemeinsam eine zukunftsgerichtete Lösung erarbeitet werden kann. Solange noch Schuldgefühle vorhanden sind, können diese die Beziehung zwischen Kind und Eltern nachhaltig stören: Der Jugendliche kann sich schuldig fühlen, weil die Eltern Schuldgefühle haben.
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SUIZID
Therapiemöglichkeiten
«Wichtig ist ein ruhender Pol. Jemand, der sich nicht so schnell aus der Fassung bringen lässt»
Was ist für die Therapie von suizidgefährdeten Jugendlichen besonders wichtig? In erster Linie müsse zwischen den Betroffenen und den Beratenden ein Vertrauensverhältnis entstehen können, betont Rolf Jud. «Es ist letztlich eine Frage der Beziehungsmöglichkeiten.» Der Experte für jugendliche Suizidgefährdete glaubt auch, dass es bei der Therapie von Jugendlichen, die Hand an sich legen wollen, wichtig ist, dass sich die behandelnde Person in dieser Thematik gut auskennt. «Es muss jemand sein, der als ruhender Pol wirkt und sich nicht so schnell aus der Fassung bringen lässt.» Wer als Fachperson in diesem Bereich bereits Erfahrungen gesammelt habe, gehe ganz anders an die Situation heran.
Sich Zeit nehmen Wichtig ist für den St. Galler Psychologen im Weiteren, dass die Therapeutin oder der Therapeut mit einer Methode arbeite, bei der es bei Bedarf auch möglich sei, die Eltern und andere Bezugspersonen direkt in die Beratungsgespräche einzubeziehen. «Ob eine stationäre Unterbringung angebracht ist, muss im Einzelfall entschieden werden.» Das hänge nicht zuletzt von der Wiederholungsgefahr ab. Auch ob eine Einnahme von Psychopharmaka als ergänzende Behandlung sinnvoll sei, müsse von Fall zu Fall individuell geprüft werden. «Medikamente können unter Umständen helfen, eine Situation zu beruhigen», meint Jud. Eines aber weiss er aus seiner Erfahrung ganz klar: «Wenn es um eine Suizidproblematik geht, ist praktisch immer eine langfristige therapeutische Begleitung erforderlich.»
℡ HOTLINE
IHRE FRAGEN ZUM THEMA JUGENDSUIZID beantwortet der im Umgang mit suizidgefährdeten Jugendlichen sehr erfahrene Psychologe Rolf Jud. Und zwar am Mittwoch, 12. März 2003, von 14 bis 16 Uhr.
Telefon 071 433 20 43 FRITZ UND FRÄNZI 1/2003
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SUIZID
Hey, Mausi, nimm doch lieber gleich ne Knarre MAKABER, PERVERS UND GEFÄHRLICH: SUIZID PER MAUSKLICK. IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM GIBT ES GEGEN ZWANZIG FOREN UND CHATROOMS, WO SICH – WOHL NICHT NUR – SUIZIDGEFÄHRDETE JUGENDLICHE TREFFEN.
I
m Zeitalter des Internets ist Unglaubliches möglich, daran müssen wir uns gewöhnen. Sagt man. Nichtsdestotrotz dünkt einen die Tatsache wohl eher befremdlich bis pervers, dass es spezielle virtuelle Treffpunkte gibt, deren einziges Thema Suizid ist. Wer in eine Suchmaschine Begriffe wie «Selbstmord», «Suizid» oder «Freitod» eingibt, trifft mit wenigen Mausklicks auf Sites, wo Jugendliche einander über verschiedene Möglichkeiten, sich selbst auszulöschen, informieren und sich in unverblümter Sprache mit Gleichgesinnten unterhalten. Für tatsächlich suizidgefährdete Heranwachsende kann das zur akuten Gefahr werden.
Gefährliche Gruppendynamik Fachleute wie Ulrich Hegerl, er ist Professor an der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, sehen in diesen Internet-Räumen eine nicht zu unterschätzende Gefahr für depressiv Erkrankte. Der häufige Online-Kontakt mit anderen Menschen in ähnlicher seelischer Verfassung kann auch bei Jugendlichen die Suizidabsicht erheblich verstärken, bei denen der Drang, das eigene Leben zu beenden, nur schwach vorhanden ist. Vereinzelt planten zwei Menschen das eigene Sterben via Internet genau, und sie vollzogen den Suizid anschliessend tatsächlich. In einigen dieser virtuellen Räume herrsche eine sehr spezielle Gruppendynamik, weiss Solveig Prass, die sich intensiv mit den Treffpunkten für jugendliche Lebensmüde im Cyberspace beschäftigt. Nach den Erfahrungen der Geschäftsführerin der «Eltern- und Betroffenen-Initiative gegen psychische Abhängigkeit Sachsen e. V.» stehe am Anfang oft Neugier, Langeweile, Frust oder die Suche nach Nervenkitzel. Selbstverständlich gibt es aber auch tatsächlich Jugendliche, die aufgrund einer momentanen Stresssituation in der Familie oder in der Schule diese einschlägigen Treffpunkte im Internet aufsuchen. Andere gelangen durch entsprechende Mund-zu-Mund-Propaganda in diese Foren.
Beziehungs- und Identitätsverluste Solveig Prass glaubt, dass es bei manchen jugendlichen Forumsbesuchern zu einer Art Suchtverhalten kommen kann. Die virtuelle Welt dränge sich immer mehr in das Leben des 54
Abhängigen, und die reale Umgebung büsse dabei mehr und mehr an Bedeutung ein. «Es kommt zu Verlusten von Beziehungen, sozialen Bindungen und von Wahrnehmungen der realen Welt. Denken und Sprachform passen sich der neuen Welt an.» Websites mit Suizidinformationen können bei einzelnen Jugendlichen sogar eine Art pervertierten Kultstatus erreichen, schildert Prass. Da die Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer im Internet in der Regel mit Pseudonymen, so genannten Nicknames, auftreten, bleibt ihre wahre Identität verborgen. Gelegentlich tritt dieselbe Person sogar mit unterschiedlichen Namen auf, ohne dass die anderen merken, dass sich immer derselbe Mensch äussert. Die Verwendung von Tarnnamen ermöglicht auch, dass die Forumsbesucher sehr viel ungehemmter diskutieren können. In einigen dieser Gesprächsräume geht es gelegentlich sehr zynisch und aggressiv zu und her, es kommt sogar zu mobbingartigen Verhaltensweisen gegen einzelne Teilnehmer. Diese sind emotional oft bereits so stark in das Online-Beziehungsnetz eingebunden, dass sie sich nicht mehr ohne weiteres ausklinken können.
Pseudo-Selbsthilfe Neumitglieder eines Forums müssen oft erst durch entsprechende Äusserungen beweisen, dass sie «würdig» sind, in den harten Kern einer Suizid-Clique aufgenommen zu werden, weiss Solveig Prass. Und Ulrich Hegerl ergänzt: «Die Nutzer der Foren sind eine regelrecht verschworene Gemeinschaft. Es lassen sich geradezu subkulturähnliche Merkmale beobachten.» Besonders gefährlich erscheinen dem Psychiater diese Suizid-Sites, weil sie vordergründig wie eine Art Selbsthilfegruppe wirken, aber den Suizid – gelegentlich mit zweifelhaften philosophischen und theologischen Begründungen – als einen Akt freier Wahl darstellen. Doch den unabhängigen Willensentscheid gebe es bei Selbsttötungen kaum, betont der medizinische Experte. Ein Suizid stehe in neun von zehn Fällen in unmittelbarem Zusammenhang mit einer ernsthaften psychischen Erkrankung, etwa einer Depression, einer Schizophrenie oder einer Sucht. Bericht: Adrian Zeller
FRITZ UND FRÄNZI 1/2003