Mammut Jubiläumsbuch 150 Jahre Mammut Leserpobe 'Die Frage nach dem Glück'

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DIE FRAGE NACH DEM GLÜCK

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Jean-Yves Michellod l Verbier/Schweiz Extremes Skifahren in steilen Hängen, das war mein Ding. Als lei-

gequetscht war. Nach vier oder fünf Monaten fing ich an, aufzu-

können; nicht einen Strich darunter zu machen, sondern zu ande-

denschaftlicher Freerider stieg ich besonders gern auf Gipfel und

stehen und zwischen zwei parallelen Balken zu gehen. Durch

ren Dingen überzugehen – damit meine ich, den Kopf frei zu ha-

fuhr dann auf Linien ab, die absolut unmöglich aussahen. Drei oder

das ständige Training konnte ich auch einen gewissen Gleichge-

ben, um das zu machen, was man mit seiner Behinderung machen

vier Jahre arbeitete ich während des Verbier-Xtreme-Snowboard-

wichtssinn wiedererlangen, sodass ich heute ohne Krücken gehen

kann.

rennens als Sicherheitsbeauftragter, kannte mich also vor Ort gut

kann. Da ich die Füsse überhaupt nicht mehr bewegen konnte,

Es half mir, dass ich vorher so viel Ski gefahren war. Natürlich

aus. Als der Veranstalter Nicolas Hale-Woods 2004 beschloss, das

wurden sie durch Schienen an den Knöcheln fixiert, daher gehe ich

fürchtete ich mich vor dem ersten Mal auf dem Skibob. Um mit ihm

Rennen für Skifahrer zu öffnen, fragte ich ihn, ob ich mich anmel-

etwas gebeugt.

zu schwingen, muss ich etwas Geschwindigkeit aufnehmen und

den könne. Er lud mich daraufhin zum Wettkampf ein, und gleich

Am Anfang meiner Rehabilitation war mein Ziel, es zu schaffen,

um die Kurve rutschen. Doch ich lernte schnell, und eines Tages

beim ersten Mal – damals war ich 27 – gewann ich. So begann mei-

mich allein in meinem Bett aufzurichten und in den Rollstuhl zu

fuhr ich tatsächlich die Pisten von Verbier hinunter, ohne hinzufal-

ne Karriere als Freerider. Aber ich wollte nie ein professioneller

kommen. Als ich die Beine wieder etwas bewegen konnte, keimte

len. Weil der Skibob die Tendenz hat einzusinken, war es im Pul-

Sportler werden, der zu 100 Prozent von Sponsorengeldern lebt,

die Hoffnung auf, wieder normal Ski fahren zu können. Doch ich

verschnee etwas komplizierter – vor allem für meine Freunde, die

dazu bin ich zu wenig ein Geschäftsmann. Mein Beruf als Berg-

hatte beim Laufen so grosse Mühe, dass ich einsehen musste,

mich 30 Mal am Tag wieder aufheben mussten. Es gab nur eine

führer liess mir trotzdem genug Zeit, um mich Steilhänge hinunter-

dass das nicht mehr möglich war. Ich suchte daher nach anderen

Lösung: schneller fahren. Mittlerweile habe ich im Pulver genauso

Alternativen und fand eine Möglichkeit, sitzend Ski zu fahren. Im

viel Vergnügen wie vor dem Unfall. Ich fahre sogar schneller als die

Der 12. März 2006 veränderte alles. Ich fuhr einen rund 45 Grad

Internet stiess ich auf Dualski, einen französischen Hersteller von

gesunden Skifahrer, weil mir die Oberschenkel nicht brennen –

zustürzen. steilen Hang am Mont Fort ab, im Skigebiet Les 4 Vallées, und lös-

Hilfsgeräten für Menschen mit einer Behinderung. Sie fertigten für

man muss mich fast dazu zwingen, anzuhalten. Ich geniesse die

te bei einem Schwung eine Lawine aus, die mich 300 Meter mit-

mich eine Art Skibob an, und im Januar 2007, acht Monate nach

Geschwindigkeit, wie auf einer Kartbahn. Ich kann sogar mit vol-

riss und in die Felsen schleuderte. Sämtliche Rippen brachen, und

meinem Unfall, begann ich wieder Ski zu fahren.

lem Tempo die Kurven schneiden. Obwohl ich in einem Sessel sit-

auch im Rücken hatte ich zahlreiche Frakturen, unter anderem eine

Parafreeriding, so nenne ich es, unterscheidet sich stark vom

am 12. Rückenwirbel. Ich war mehr oder weniger entzweigebro-

traditionellen Skifahren. Ich sitze auf einem Gehäuse aus Karbon,

Letztendlich lebe ich jetzt das Leben eines professionellen

chen. Ich wurde sofort operiert, und es wurden Metallplatten in

das über einen Stossdämpfer mit einem Unterbau verbunden ist;

Freeriders. Ich habe das Glück, dass alle meine Partner zu mir ge-

meinen Körper eingesetzt. Nach einer Woche im Spital verlegte

dieser ist auf zwei Ski montiert, um im Pulverschnee mehr Auftrieb

halten haben, und weil ich weiterhin in Filmen mitwirke, bin ich

man mich zur Rehabilitation nach Sion.

zu haben. Man kann das Gerät mit jedem Skimodell kombinieren.

heute fast bekannter als früher. Ich komme nicht schlecht herum,

Ich hatte mir früher immer gesagt: Das Schlimmste, was mir zu-

Ich habe auch zwei kleine Stützen für die Arme, um das Gleich-

war in Chile und Russland, und ich bin auch in der Jury der Free-

stossen kann, ist, durch einen Unfall querschnittsgelähmt zu wer-

gewicht zu halten. Abgesehen von diesen Hilfsmitteln läuft das

ride World Tour tätig. Ich bin nicht glücklicher als vor meinem Un-

den. Als mir mit 29 Jahren genau das zustiess, ging es mir einige

Skifahren selbst praktisch identisch ab, allerdings kann ich nicht

fall, aber ich kann weiterhin Ski fahren und reisen. Ich denke, dass

Tage psychisch sehr schlecht. Aber ich hatte zu der Zeit bereits

Pflug fahren, um abzubremsen.

viele gern an meiner Stelle wären – nicht in meinem Rollstuhl, aber

ze, fühle ich mich total frei.

eine drei Monate alte Tochter, und als Vater denkt man anders

Wenn du dein Leben lang Ski gefahren bist und dich von einem

darüber nach, man erlaubt sich nicht, an das Ende zu denken. Vor

Tag auf den anderen nicht einmal mehr aufrecht halten kannst, hast

Ich hatte immer eine sehr grosse Leidenschaft für das Ski-

allem half mir, dass ich trotz allem kleine Fortschritte wahrnahm.

du das Gefühl, bei null anzufangen, vor allem mit dem Skibob. Das

fahren, und sie war es, die mich nach vorne schauen liess. Und nach oben: Am 7. Mai 2009 erreichte ich mit der tatkräftigen Hilfe

in meinem Leben.

Die Ärzte gingen davon aus, dass es schon ein grosser Erfolg wäre,

Härteste war, dorthin zurückzukehren, wo ich immer Ski gefahren

wenn ich mich jemals wieder mit Krücken von meinem Bett ins Bad

bin, dorthin, wo mich alle Leute von früher kannten und deshalb

zahlreicher Freunde nach einem mehr als fünfstündigen Aufstieg

bewegen könnte. Ich hatte das grosse Glück, dass einige Muskeln

Mitleid mit mir hatten. Aber auch darüber bin ich schnell hin-

von der Vallothütte auf Krücken den Gipfel des Mont Blanc. Die

im Oberschenkel sowie die Nerven wieder aktiviert werden konn-

weggekommen. Es hat mir bald Spass gemacht. Ich denke, das ist

Schneeverhältnisse waren perfekt, und so konnte ich als Erster die

ten, weil mein Rückenmark nicht ganz durchtrennt, sondern nur

das Wichtigste nach einem Unfall: die Vergangenheit vergessen zu

Nordflanke des Mont Blanc mit einem Skibob befahren.


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