Denkpausen - Inspirationen zu Management und Leadership Edition No. 18.1

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Denkpausen

Inspirationen zu Leadership und organisationaler Resilienz

Dr. Martina Rummel VOLUME I Management School St.Gallen

BETTER BUSINESS

MANAGEMENT. Ein Begriff, zu welchem Sie heute Hunderttausende von Büchern lesen können. Oder Aber millionen von Internetseiten anklicken. Tendenz steigend, Nutzen sinkend. Erfolg ist nicht allein die Kunst, das Wichtige zu wissen. Sondern auch die Fähigkeit, Belangloses zu ignorieren. Nicht allein das Talent, das Richtige zu lernen. Sondern auch das Geschick, Halbwahres und Veraltetes zu vergessen. Die Management School St.Gallen hilft Ihnen dabei. Damit Management in Ihrem Unternehmen eine klare Bedeutung gewinnt. LEADERSHIP.

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Denkpausen

VOLUME I

Inspirationen zu Leadership und organisationaler Resilienz 6 Leadership und organisationale Resilienz Führung im disruptiven Change 14 Der vermessene Mensch 22 Remote Leadership – Führen auf Distanz, Teamgeist und Miteinander 28 Wem gehört die Persönlichkeit? 34 Zukunft von Organisation und Führung Was ist heute anders, und tun wir das Richtige? 42 Leading Leaders – 7 Leads Thesen zu Führung und Wirkung

Was ist gute Führung? Zwei Bände, eine Frage.

Kein Management ohne Leadership – und umgekehrt. Im systemischen Vernetzen von betrieblichen und menschlichen Fragen liegt die Essenz der St.Galler Lehre. Dies widerspiegelt sich auch im Programm der Management School St.Gallen, wo Leadership-Themen fest verankert sind. Grund genug, diesen Themen eine Doppel nummer unserer Edition «Denkpausen» zu widmen, deren erster Band nun offen vor Ihnen liegt. Ich wünsche viel Inspira tion beim Entdecken und viel Erfolg beim Verwirklichen.

Mac James Rohrbach Mac James Rohrbach ist Herausgeber der Schriftenreihe «Denkpausen» sowie Gründer und CEO der Management School St.Gallen. Als Leiter Management Education engagiert er sich für praxisnahe Bildungsprogramme zu Management und Leadership. m.rohrbach@mssg.ch

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Mensch und Team

im Umbruch der Zeiten.

Was würden die «Herren Direktoren» von anno dazumal sagen, wenn sie sich plötz lich in der heutigen Zeit wiederfänden?

Leadership ist agiler, diverser, vernetzter geworden – und der Wandel nimmt kein Ende. Je mehr hierarchische und räumliche Grenzen sich auflösen, desto komplexer werden Führung und Zusammenarbeit. Die Essays auf den folgenden Seiten schaffen Klarheit und stiften Orientierung für Menschen, die mit Menschen umgehen und sie gewinnen möchten für Visionen und Ziele – auch in schwierigen Zeiten.

Dr. Martina Rummel

Dr. Martina Rummel coacht Führungskräfte und Teams in Veränderungs prozessen, mit besonderem Fokus auf lösungsorientierte Kulturen. An der Management School St.Gallen ist sie Fachverantwortliche für die Bereiche Leadership und Resilienz. m.rummel@mssg.ch

Leadership und organisationale Resilienz

Führung im disruptiven Change

Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung ist eine Herausfor derung für alle, besonders für Führungskräfte. In nahezu allen Bereichen erleben wir das, was man «disruptiven Change» nennt – eine Veränderungsanforderung, die plötzlich und aus unerwarteter Richtung kommt. Viele haben angesichts des Klimawandels mit veränderten Temperaturen, Unwettern, Bränden gerechnet – und auch mit strikteren Auflagen für die eigene Ökobalance. Aber Viren? Vorschriften für das soziale Miteinander? Quarantäne? Der Ausschluss von Präsenz? Abstand halten?

In manchen Branchen hat dies zu existenziellen Problemen und Umsatzeinbrüchen geführt, die ein schnelles Umdenken erfor dern. Die plötzliche Existenzbedrohung für viele Organisationen kann nur begrenzt abgepuffert werden. Nicht überall führt dies ins Aus, aber neue Geschäftsmodelle, veränderte Arbeitsprozesse, völlig andere Modelle der Zusammenarbeit und das Forcieren digitaler Lösungen sind an der Tagesordnung.

KRISE UND FÜHRUNG

In Krisen verlangen Menschen verstärkt nach Führung – und leider häufig auch direkt nach «Führern», nach Elternfiguren, die der eigenen Ohnmacht die Aussicht auf Schutz und Rettung entgegensetzen.

Das beinhaltet ein hohes Risiko, in autoritäre oder mindestens zentralistische Muster zurückzukippen – auf allen Seiten: Die «geführten» Bürger und Mitarbeitenden delegieren Eigen verantwortung zurück an die Führung, stellen unrealistische Forderungen nach Schutz und Sicherheit, schotten sich gegen vermeintliche Feinde ab oder denunzieren sie – bisweilen werden auch Nischen ausgereizt zugunsten des persönlichen Vorteils. Für Führungskräfte entsteht die Versuchung, aus den Projektionen der anderen Machtansprüche abzuleiten, die zu Alleingängen und problematischer Besserwisserei führen.

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Die Funktion von Führung

In der Politik wird uns der Unterschied zwischen ruhigem, beson nenem Agieren zugunsten der Allgemeinheit und Hysterie oder gar gefährlicher Grossmannssucht anschaulich vorgeführt. Füh rung ist eine Funktion im System: Es geht darum, Orientierung und Richtung zu schaffen, Leitplanken zu setzen, die das Han deln kanalisieren, und Ressourcen zu mobilisieren. Dies setzt nicht überall direktes Führen durch Personen voraus, wohl aber, dass Ausrichtung und Leitplanken durch geeignete Regeln und ihre Umsetzung gewährleistet und Stützprozesse organisiert wer den. Überlebensrelevant ist dabei immer die Anpassung an die Systemumwelt. Es geht also darum, Anforderungen von aussen nach innen zu «übersetzen» und zu verstehen, welche Kriterien dafür massgeblich sind. Dass der relevante Input hierfür aus der Chefetage kommen muss, ist eines der verbreitetsten Missver ständnisse zum Thema Hierarchie. Der tiefe Sinn von Hierarchie besteht darin, den wirklich überlebensrelevanten Perspektiven zur Artikulation zu verhelfen und dabei konsequent die Gemein schaftsperspektive zu besetzen und zu vertreten – auch gegen über dem Einzelnen, damit nicht gemeinschaftsschädigendes Verhalten zugunsten individueller Interessen überhandnimmt. Die Versuchung, sich «an der Kasse zu bedienen», ist nie grösser als in der Krise. Das Verhältnis zwischen Individuum und Gemein schaft bedarf daher besonderer Aufmerksamkeit. Das gilt auch für Führungspersonen – denn wer Macht hat, ist geneigt, diese zum eigenen Vorteil zu nutzen. Gutes Führen folgt den rele vanten Salutogenese Kriterien – in normalen Zeiten genauso wie in Krisen: Sinnvermittlung und Orientierung, soziale Unter stützung und Gemeinschaftssicherung, Dialog und Handlungs spielraum, Machbarkeit, gesunde Regeln und Angebote sowie Verstehbarkeit durch gute Information. Schlechte Organisation, fehlende Rückendeckung, Gängelung, Misstrauen, Panik und Entzug sozialer Unterstützung wären das Kontrastprogramm. In disruptiven Veränderungen bedürfen die Kriterien gesunden und guten Führens der Ausgestaltung mit neuen Inhalten.

Die Bedeutung von Sinn und Orientierung Wozu? Was genau? Sinnvermittlung und Orientierung erleichtern Veränderung, weil sie der Mobilisierung von Ressourcen und Ini tiative Richtung verleihen. In Prozessen disruptiver Veränderung ist oft keine beruhigende inhaltliche Ausrichtung möglich, weil unklar ist, wohin die Reise geht. Überlebenssicherung rückt in den Vordergrund. Worauf kommt es dabei an? Welche Perspektiven sind für die erforderliche Neuanpassung an das «Aussen», die Systemumwelt, überlebensrelevant – und wie kann dies in das «Innen» der Organisation übersetzt werden? Wie können Gemeinschaftsanliegen mit individuellen Interessen integriert und balanciert werden? Krisengewinnler sind dies immer auf Kosten anderer – insgesamt, sowohl für die Gesellschaft als auch für eine Organisation, rücken jedoch Erhaltungsziele gegenüber Maxi mierungsstrategien in den Vordergrund. Die Kunst, den Worst Case im Auge zu behalten und ihn so zu kommunizieren, dass Dringlichkeit erzeugt wird, ohne Panik zu verbreiten, beherrschen

manche Führungskräfte nicht intuitiv. Sie «unken» oder aber ver wechseln Ermutigung und Zuversicht mit falschem Optimismus. Trügerische Sicherheiten und hohle Versprechungen führen aber schnell zu Enttäuschung und Frustration. Der für Resilienz und Überlebenssicherung wichtige «Schuss Pessimismus» legt eher nahe, mit Best Case /Worst Case Szenarien zu arbeiten und für Situationen eine Roadmap zu entwickeln, die im Zweifel sofor tiges flexibles Umschalten ermöglicht.

Soziale Unterstützung, Verantwortung und Gemeinschaftssicherung Die Legitimität von Zumutungen und Regeln für die Ausnahmesituation ist dabei eine wichtige Grundlage und bedarf intensiver Kommunikation und einer Erhöhung der Kontaktfrequenz. In Kri sen werden Kritik und Grabenkämpfe schnell gefährlich. Regeln, die dem Schutz der Allgemeinheit dienen, sollten daher sorgfältig begründet und rational sein. Irrationale Auflagen und überzogene Massnahmen lösen enorme Reaktanz aus und führen schnell zu Entsolidarisierung und subversivem Handeln. Das Gefühl, unge recht behandelt zu werden, ist ebenfalls sehr schnell da, wenn Nachteile für Einzelne entstehen. Wenn Führungskräfte die mit legitimen Auflagen verbundenen Zumutungen nicht würdigen und kompensieren – wo möglich –, sondern mit moralischen Appellen und Kritik um sich werfen, erzeugen sie hausgemacht mehr Widerstand als nötig.

Dialog und Handlungsspielraum

Überregulierung am falschen Punkt führt nicht nur zu völlig irra tionaler Energieverschwendung nach dem Motto «Wir machen ja was», sondern vor allem zu Verantwortungslosigkeit. Stupide Regelanwendung gewinnt Vorrang vor der Sicherung des Anlie gens selbst. Es ist deshalb entscheidend, den Kern und die Funk tion von Aktionen und Regelungen zu kommunizieren. Den Sinn einer Anforderung zu begreifen, ermöglicht eine flexiblere Wahr nehmung von Eigenverantwortung. Diese Form von «Intention» Management ist besonders wichtig, wo sich der Sinn von Mass nahmen nicht automatisch erschliesst. Nicht jeder kann in jeder Situation alles durchschauen. Zugleich müssen gemeinschafts schädigende Aktionen konsequent sanktioniert werden, um eine Verschlimmerung der Lage zu vermeiden.

In Krisen rächt es sich bitter, wenn das Vertrauen in die Führung ohnehin schon eingeschränkt ist oder umgekehrt das Vertrauen in die Selbstregulierung der Subsysteme bis hin zu den Mitarbeitenden fehlt. Vertrauen ist eine komplexe Zuschrei bung, die nicht nur die Integrität der handelnden Personen betrifft, sondern auch eine Kompetenzvermutung beinhaltet. Expertinnen und Experten in Entscheidungen einzubeziehen und sich (sichtbar!) beraten zu lassen, stärkt in Krisen die Akzeptanz von Entscheidungen, solange das Heft nicht aus der Hand gege ben und der Eindruck erweckt wird, dass die Berater entscheiden. Die Verantwortung von Führung besteht darin, überlebensrele vanten Perspektiven zum Durchbruch zu verhelfen. Die typisch narzisstische Anmassung, sich selbst den vollumfänglichen Durchblick zuzuschreiben und einen militärischen Gestus in die

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Regulationsebene Gesundes Führen Individuelle Resilienz Organisationale Resilienz

Verbundenheit Referenzsystem (Zugehörigkeit)

Sinnvermittlung, Identifikation schaffen

Aktive Sinnkreation (faktisch und mental), Überlebens sicherung

Aktive Sinnkreation, «Raison d’être», relativer Kunden nutzen

Position darin (Rolle, Identität)

Soziale Unterstützung

Soziale Intelligenz, Selbstwert, Gemein schaftsfähigkeit

Position am Markt, Qualität der Kundenbeziehungen Überzeugungen, Interessen

Dialog, Spielräume, Interessenintegration

Lösungsorientierung Pragmatismus, «Verhandlungs» Fähigkeit

Lösungsorientierte Strategie, Flexibilität, Passung mit Eigeninteressen Fähigkeiten, Potenzial Machbarkeit, Lernchancen Kompetenzausbau, Potenzial USP, Kernkompe tenzen, lernende Organisation

Verhalten, Gewohnheiten

«Gesunde» Routinen

Wahrnehmung, Information Überlebensrele vante Information, Berechenbarkeit, Transparenz

Disziplin für gesunde Gewohnheiten, Frustrationstoleranz

Realismus, Akzep tanz der Situation als Ausgangslage

Stabile Basisroutinen, Umsetzungsdiszi plin, organisationale «Fitness»

Beobachtung der System UmweltRelation, Monitoring von Wirkungen

Angelegenheit zu bringen, kann zwar für den Moment einen Pla ceboeffekt auslösen, wenn die Geführten entsprechend unmün dig sind. Nicht zum ersten Mal könnte das aber eine Gefolgschaft mit in den Abgrund reissen, wenn die Berater unqualifiziert oder die Entscheider beratungsresistent sind. Dass im Sturm nur der Kapitän das Sagen hat, wird häufig als Argument gegen Partizipation und Mobilisierung von Eigen verantwortung missbraucht. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass Ansagen im Sturm in erster Linie der Koordination dienen, aber ins Aus führen, wenn die Richtung nicht stimmt. Ausrich tung erfordert Partizipation. Aber wozu wird wer woran in wel cher Form beteiligt? Wenn alle überall mitreden, wird nicht nur die Richtung diffus, man verliert auch Geschwindigkeit und stiftet Verwirrung. Partizipation ist Präzisionsarbeit – und oft sind es die Mitarbeitenden, die relevante Perspektiven besetzen. Sie können Entscheider beraten, wenn sie Entscheidungsebenen differen zieren können und «Feedforward» geben – im Sinne von Rück meldungen zu antizipierten Auswirkungen und nicht (wie beim Feedforward Begriff etwa von Marshall Goldsmith) zu Person und Verhalten. Behalten sie dabei die Entscheidungshoheit für die von ihnen selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten verantworteten Prozesse – in Kenntnis der für die Sicherung der Gemeinschaft relevanten Leitplanken –, steigt die Entscheidungsqualität auf allen Ebenen. In diesem Sinne wäre beispielsweise womöglich das Leben – und Sterben! – vieler Senioren in der aktuellen Pan demie Situation anders verlaufen, wenn Personal und Leitungen von Altenheimen mehr vertraut worden wäre, unter Beachtung der als relevant erkannten Sicherheitsaspekte das Richtige zu tun.

Die klassisch hierarchischen Modelle, die mit operativen Soll Vorschriften für nachgeordnete Ebenen arbeiten, taugen hier eher nicht: Auf funktionierende Selbstorganisation ausgerichtete

Führung muss kommunikativ stark besetzen, welche Schlüsselkri terien am Ende relevant sind (Ausrichtung), was unterwegs nicht passieren darf (Leitplanken und Zusammenhänge) und welche Unterstützung gebraucht wird (Ressourcen). Das ist für viele Führungskräfte, die gern anweisen, was zu geschehen hat, unge wohnt. Neue Organisationsformate, die mit einer Verlinkung der Hierarchieebenen und Milieus sowie der Stärkung lösungsorien tierter Bottom up Kommunikation arbeiten, sind hier eine Hilfe.

Partizipation und Geschwindigkeit

In disruptiven Prozessen kann «Acceleration» enorm wichtig werden. Wo schnelle Entscheidungen getroffen werden müs sen, können für Beteiligungsprozesse digitale Tools zur Erhö hung der Geschwindigkeit sehr hilfreich sein. Die Qualität der Fragen ist dabei entscheidend: Bewertungen sind nur sinnvoll, wo Mehrheitsentscheide getroffen werden müssen. Fallen Ent scheidungen im Cockpit, muss den Beteiligten deutlich vermittelt werden, dass sie Information geben, aber nicht mitentscheiden, denn «Scheinpartizipation» wird übel genommen. Kontinuier liche Feedback Schleifen sind möglich und sichern Transparenz. Inhaltliche Information über faktische und erwartete Auswir kungen und Risiken von Entscheidungsoptionen (Feedforward) ist hilfreich und trägt zur Erhöhung der Entscheidungsqualität bei.

RESILIENZ

Individuelle Resilienz der Führungskräfte

In Krisen sind Führungskräfte noch mehr als sonst Anfeindung, Häme und Kritik bis hin zu massiven Beschimpfungen ausgesetzt, weil ihnen alle Nachteile in den Subsystemen angelastet werden. Die individuelle Resilienz der Person ist ein Leadership Aspekt, der in Krisen deshalb besonders wichtig wird: Wer selbst schnell verzweifelt, allzu kränkbar und anerkennungsbedürftig oder emotional instabil ist, kann negative Projektionen anderer nicht ertragen und nimmt die Dinge zu persönlich. Eitelkeiten, persön liche Abhängigkeiten und Statusdünkel sind inkompatibel mit den Anforderungen, ganz besonders aber narzisstische Störungen, die zu Allmachtsfantasien und Beratungsresistenz führen. Soziale Unterstützung für die Führung besteht in Krisen darin, die Bera tung durch Expertinnen und Experten hochzufahren, individuelle Verantwortung auf dieser Basis einzugrenzen und die Belastbar keit der Führung zu erhöhen. Das gilt auch für alle anderen, die in der Haltung bestärkt werden müssen, ihre Führungskräfte zu tragen und bestmöglich «bottom up» zu kommunizieren, statt Feindbilder zu kultivieren und permanent zu kritisieren. Leider tragen an dieser Stelle die in nahezu in allen Unternehmen als Feedback Kulturen getarnten gemeinschaftsschädigenden Kritik und Bewertungssysteme in keiner Weise zur konstruktiven Kommunikation bei. Alle Beteiligten brauchen viel Resilienz, um hinter unproduktiven Rückmeldungen zur Person den ungelösten Bedarf in der Sache auszumachen und damit umzugehen. Gelingt ihnen das, bleiben sie persönlich stabiler und handlungsfähiger.

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Suchprozesse und Querdenken

Lösungen aus der Krise zu finden – seien es veränderte Arbeits prozesse, veränderte Geschäftsprozesse, Notfallstrategien oder ganz konkrete Fragestellungen –, erfordert Denk Mut. In Krisen geht es darum, Suchprozesse für Lösungen massiv zu unterstüt zen und alles anzunehmen, was die Situation verbessert. Jede wirkliche Lösung ist im Kern innovativ und beinhaltet einen Konventionsbruch. Die Corona Pandemie zeigt, dass vieles mög lich ist, was zuvor undenkbar erschien. In vielen Bereichen wurden Vorbehalte gegenüber mobilem Arbeiten vom Tisch gefegt. Die angeblichen Vorteile von Arbeitsplätzen, die Menschen in Räume zusammenzwingen, werden in Frage gestellt. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wofür körperliche Anwesenheit wirklich erforderlich ist und an welchen Stellen digitale Kommunika tion eine völlig andere Qualität braucht. In manchen Bereichen werden Geschäftsprozesse auf den Kopf gestellt, wo enges Mit einander zuvor entweder durch Prozesse oder Produkte geprägt wurde. Der gesamte öffentliche und private Bildungssektor, die Kultur­ und Unterhaltungsbranche, Gastronomie, Sport und viele andere Branchen müssen um ihre Existenz bangen, wenn krea tive Durchbrüche ausbleiben. Am Ende stellt sich die Frage nach radikalem Wandel nicht nur in den Subsystemen – denn wo die Ökobalance einer Branche nicht gewahrt werden kann, geht es um mehr als um das Überleben einer einzelnen Organisation.

Organisationale Resilienz

Die Schlüsselkriterien für «gesundes Führen», aber auch für indivi duelle und organisationale Resilienz lassen sich auf verschiedenen Handlungsebenen identifizieren. Die Kategorie «Sinn» umschreibt dabei stets die überlebensrelevante erfolgreiche Anpassung an die Systemumgebung. Organisationen, deren Existenzgrund Sinn ergibt, die sich rasch an die Systemumgebung anpassen können, die eine gute und enge Kundenbindung aufweisen, deren Strate gien radikal lösungsorientiert und zukunftsgewandt sind, dürften bessere Überlebenschancen haben. Es erfordert ein Umdenken und ein Umorganisieren der Führung, wenn tief verstanden wird, dass dabei mehr «von aussen nach innen» als «von oben nach unten» gedacht werden muss. Kompetenz im Sinne von Lernfähigkeit nicht nur auf individueller, sondern auf organisationaler Ebene in diesem Sinn zeichnet die «lernenden Organisationen» aus. Die Sicherung (überlebens )relevanter Basisprozesse und eine stabile Arbeitsdisziplin sowie Zugang zu relevanter Informa tion sind entscheidend für das Durchhaltevermögen in kritischen Situationen.

Für Organisationsentwickler und Führungskräfte stellt sich dabei immer wieder die Frage, wie die Balance zwischen individueller und kollektiver Überlebenssicherung hergestellt werden kann und wie Grabenkämpfe und individuelle Vorteilsnahme zugunsten von Zusammenhalt und Stärkung der Gemeinschaft vereitelt werden können. Es reicht nicht, sich betulich um das Wohl des Einzelnen zu kümmern – die Bereitschaft, Eigeninte ressen zuguns ten der Gemeinschaft zurückzustellen, muss im Gegenteil stark mobilisiert werden. Ein alter Begriff kann dabei

helfen: Solidarität. Solidarität ist nicht Märtyrertum, sondern aktives Bemühen um Kompensation an den Stellen, wo die meisten Nachteile entstehen. Empathie für andere und für die Gemeinschaft als Ganzes ist Voraussetzung für solidarischen Ausgleich. Dabei geht es nicht um ein «Gefühl», sondern um die kognitive Leistung der Perspektivübernahme und den Abbau narzisstischer Selbstbezüglichkeit. Diese Qualität geht in Kulturen verloren, in denen man sich in gegenseitiger Bespiegelung und Bewertung ergeht, statt die inhaltliche Kommunikation von Aus wirkungen zu fördern. Wenn der Austausch von Fremdbildern zum Verhalten oder zur Person eingefordert wird und obendrein ein Framing als «Feedback» erfährt, wird Perspektivübernahme regelrecht verlernt – stattdessen breitet sich überhebliche Anmas sung bei innerer Unsicherheit aus. Die aktuelle Situation ist ein Lernfeld für eine deutlich veränderte milieuübergreifende Kom munikation. In andere Welten hineinschauen und sich um die Auswirkungen des eigenen Handelns zu kümmern, erscheint zukunftsweisender als die Verteilung von Likes. Dabei geht es nicht darum, alles zu tolerieren. Im Gegenteil können gemein schaftsschädigende Auswirkungen individueller Verhaltensmuster viel legitimer – nämlich über die Auswirkungen – thematisiert und im Zweifel auch sanktioniert werden. Auch kann bei aller Wür digung von «Zumutungen» relativiert werden: Denn verglichen mit möglichen und bekannten Katastrophen – man denke nur an Krieg und Vertreibung – erscheinen viele Zumutungen der Corona Pandemie verkraftbar.

Wer sich auf dieses Verständnis von Empathie einlässt, wird sofort mit dem Thema Verantwortung konfrontiert. Sich mehr für die Auswirkungen des eigenen Handelns auf andere zu interes sieren als für die selbstbezüglichen Fragen, wie man sich gerade fühlt, ob man wertgeschätzt wird oder wie man bei anderen ankommt, ist ein anspruchsvolles ethisches Programm. Nicht nur auf individueller, sondern auch auf organisationaler Ebene verweist dieses Programm auf die Verantwortungsübernahme nicht nur für sich selbst und das unmittelbare Subsystem, son dern auch für die Systemumwelt und das Kommende. Fehlt dies, verkommen Begriffe wie «Nachhaltigkeit» zur Sprechblase für Moralisten und selbst ernannte «Wertegemeinschaften». Denn Konnektivität auf dieser Ebene erfordert die aufrichtige und deshalb oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit Neben , Rück und Fernwirkungen des Handelns auf allen Seiten. Die beteiligten Menschen zu schonen und gute Absicht zu unterstellen, ohne die eigenen Absichten mit den Ergebnissen zu verwechseln, schützt und entspannt die ernsthafte Kommunikation über diese Auswirkungen. Das macht ökologisch verantwortliches Handeln am Ende aus – und Lösungen wahrscheinlicher. Für die nächste Generation, für eine für alle lebenswerte Zukunft.

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Sind wir bereit, Organi gramme und Rollenmuster hinter uns zu lassen, um ein neues Verständnis von Führung zu erforschen? #leadership

Der vermessene Mensch

Die Verwechslung von Feedback und Fremdbild zieht sich wie ein roter Faden durch gängige Systeme der Unternehmenskommunikation. Dies führt häufig dazu, dass «the dark side of feedback» sich nicht automatisch erschliesst. Statt Menschen zu befähigen, einander zu sagen, was sie voneinander brauchen und wo der Bedarf verfehlt wird – eine Notwendigkeit in der Kooperation –, werden sie systematisch angehalten, einander «den Spiegel vorzuhalten», so als sei es für ihre Entwicklung oder gar zur Erreichung von Organisationszielen relevant, wie man einan der bewertet, findet oder aufeinander wirkt – also welche Fremdbilder man übereinander konstruiert. Die begrifflich unsaubere Einordnung dieses Vorgangs als «Feedback» (Feedback im Wortsinn = Rückmeldung von Effekten – nicht ihre Bewertung oder gar die der auslösenden Quelle!) erschwert es, sich dagegen zu wehren: Denn man braucht ja «Feedback» Wer sich gegen diese gestörte Kommunikation auflehnt, wird nicht selten als «nicht entwicklungswillig» oder «nicht kritik fähig» hingestellt …

Worum gehts?

In Betrieben ist Personen Evaluierung vollkommen selbstver ständlich geworden. Jeder bewertet jeden – direkt, anonym, mit oder ohne Hilfe von Tools und Formularen, in Mitarbeitergesprä chen, Qualitätssystemen, Potenzialeinschätzungsverfahren Wer diesen Megatrend kritisch hinterfragt, findet sich oft (siehe oben) auf verlorenem Posten … Gleichzeitig nimmt der Anteil psychischer Erkrankungen an Arbeitsunfähigkeit und Frühverren tung dramatisch zu. Eine zufällige Koinzidenz?

In einer komplexen Arbeitswelt werden Personenmerkmale wie etwa soziale Intelligenz, Belastbarkeit, Flexibilität immer wichtiger – und es erscheint sinnvoll, diese Qualitäten in Bewer bungsverfahren neben die Einschätzung der Fachkompetenz zu stellen und zu beachten. Wer jemanden auf einer bestimmten Position einsetzen möchte, wird sich über diese Aspekte ein Bild machen und sie in die Entscheidung z. B. über die Wahl eines Bewerbers einbeziehen. Insofern hat der Einsatz von Beurteilungsinstrumenten, Tests und Methoden der «Personen Evaluation» bei Selektions und Platzierungsprozessen einen Sinn, wenn die «Entscheidungsqualität», die damit erzeugt wird, der «Nasenaus wahl» überlegen ist. Auch wenn es im Bereich der Kompetenzein schätzung keinen empirischen Beleg dafür gibt, dass Fremdbilder der Selbsteinschätzung grundsätzlich überlegen seien und die

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Intelligenz von Menschen schon überschätzt wird, wenn sie eine Brille tragen, kann man wohl von der Prämisse ausgehen: Das Fremdbild des Entscheiders begründet seine Handlungen. Es scheint deshalb sinnvoll, dessen mögliche Fehleinschätzungen durch gute Methoden etwas in Schach zu halten. Doch was bedeutet das für die Kommunikation?

Personen­Evaluierung und Veränderung

Die Diagnose der Kompetenz und Leistung einer Person ist ein Fremdbild und umschreibt die Positionierung der Person im sozialen Vergleich hinsichtlich der bewerteten Aspekte aus Sicht des Beurteilers. Fremdbilder – auch zu Person und Leistung – sind die Grundlage für Handlungsentscheide des Beurteilers. Es ist aber nicht unbedingt sinnvoll, die Fremdbilder selbst zu kommu nizieren. Einem Bewerber wird man – etwa bei einer Stellenbeset zung – hoffentlich nicht unaufgefordert die gesamte «Diagnose» zu ihr/ihm selbst mitteilen – sondern man wird sagen, ob man sich für sie oder ihn entschieden hat oder eben nicht.

Wird jedoch die Personen und Leistungsbeurteilung in einer Art «Dauer Assessment» unbefangen als «Leistungsfeedback» kommuniziert, womöglich gar um Prozesse zu verbessern oder Entwicklung anzustossen, entstehen Probleme auf mehreren Ebenen.

Bereits das Diagnostizieren selbst lässt bekannterweise das Feld nicht unbeeinflusst – doch spätestens mit der Kommuni kation der Fremdbilder wird das Feld der Diagnose endgültig ver lassen und das der Intervention betreten. Die Mitteilung einer Diagnose ist eine Intervention. Der Sinn von Interventionen aber muss sich an ihrer Legitimität und Wirkung messen lassen.

Es gehört nun jedoch zu den durchaus gängigen Vorstel lungen, dass die Kommunikation von Fremdbildern und Dia gnosen zur Person ein geeigneter Modus zum Anstossen von Prozessverbesserung sei – also eine nützliche Intervention. Dahin ter steht häufig ein naiver Glaubenssatz zum Thema Veränderung, der lautet: «Man muss erst mal wissen, wo man steht – und wenn jemand nicht weiss, wo er steht, muss man es ihm sagen …»

Muss man?

Der Volksmund könnte hier einwenden: Die Sau wird nicht fetter, wenn man sie wiegt. Oder auch: Man wird nicht hübscher, wenn man in den Spiegel schaut … Kein Geringerer als Einstein hat (unter anderen) hervorgehoben, dass die Beschreibung und Erklärung eines Status quo nicht unbedingt orientierend für eine Veränderung ist. Orientierung ergibt sich immer aus dem zu Erstrebenden, aus dem Zielzustand – nicht aus dem Problem.

Lösungsorientierung: Grundlage konstruktiver Intervention

Worauf kommt es am Ende an? Welche Schlüsselkriterien cha rakterisieren das, was es zu erreichen gilt? Also den Unterschied, der den Unterschied macht? Diese Information wäre tatsächlich orientierend für die Prozessgestaltung. Orientierung in diesem Sinn hat Vorrang vor einer «Spie gelung» des Status quo oder gar Kritik – und erfordert eine

Abstraktionsleistung und die mentale Anstrengung, sich ans Ende der Reise zu stellen, zu erfassen, worauf es «am Ende ankommt» und diese Schlüsselkriterien zu kommunizieren, um sodann einen Weg, ein Wie zu (er)finden.

In diesem Sinn sollte Orientierung in jedem Verände rungsprozess Vorrang vor Kritik eingeräumt werden. Aus einer Status quo Analyse ist nur Orientierung zu gewinnen, wenn sie relevante Parameter der Systemumwelt mit erfasst, an die es sich anzupassen gilt. Denn erfolgreiche Anpassung an die Systemumwelt ist für lebende Systeme letztlich immer der Zielzustand im Sinne des Überlebens. Die Kommunikation von Fremdbildern zur Person erfüllt diese Funktion so gut wie nie.

Fremdbilder: Wer will es wirklich wissen?

Wie kommt es dann, dass Menschen so häufig nach Bewertung und Fremdbildern fragen? Wer fragt: «Wie findest du mich?», ist unsicher. Fragt man Menschen nach dem Sinn von Mitarbeiter beurteilung, Potenzialeinschätzungen oder Fremdbildaustauschs ystemen (die irrigerweise Feedback Systeme heissen), lauten die typischen Antworten deshalb: Man muss doch wissen, wo man steht. Gemeint ist eher: Man muss sich Sicherheit verschaffen, ob der Leistungsabnehmer auch wirklich zufrieden ist und man die Konkurrenz erfolgreich in Schach hält – denn man hängt im Zweifelsfall davon ab.

Sich erfolgreich anzupassen, würde nahelegen, statt retro spektiv nach Bewertung eher zukunftsbezogen nach Bedarf zu fragen. «Was brauchst du von mir, um zu …?» ist in der Zusam menarbeit eine produktivere Frage als «Wie fandest du mich …?». Wer unbedingt wissen möchte, was der andere von ihm hält, kann natürlich fragen – und muss im Zweifelsfall mit der Antwort leben. So gesehen sollte es in der Arbeitswelt das «Recht auf ein Zeugnis» durchaus geben.

Ohne eine entsprechende Anfrage, also unaufgefordert jemand anderem eine Bewertung oder ein Fremdbild zu kom munizieren, erscheint dagegen nicht von vorneherein legitim. Es mag willkommen sein, wenn es sich um ein Kompliment handelt – ansonsten birgt der Vorgang immer auch die Gefahr, als über griffig wahrgenommen zu werden.

«Darf ich Ihnen mal ein Feedback geben?» Wer so angesprochen wird, ahnt deshalb meist schon, womit er zu rechnen hat – nämlich mit einer Attacke auf seine seelische Gesundheit. Denn keinesfalls kündigt dieser Sprechakt wirkliches Feedback an, sondern vermutlich ein Fremdbild. Denn der Spre cher wird mit hoher Wahrscheinlichkeit gleich mitteilen, was er von der Person und ihrer Leistung in einem bestimmten Kontext hält. Besonders perfide erscheint es, wenn dieser «Übergriff» auch noch als «Geschenk» konnotiert wird und die Erwartung damit verbunden wird, dass der oder die so Angesprochene sich für das Traktat bedanken müsse Hätte der Sprecher nämlich «Feedback» im eigentlichen Sinn vor, würde er anders beginnen – ohne Umschweife. Er würde viel leicht sagen: «Haben Sie mal einen Moment Zeit? Wir haben hier

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folgendes Problem bekommen … brauchen deshalb.» Oder auch: «Ich möchte mich noch mal bedanken, es hat alles geklappt!» Feedback im eigentlichen Wortsinn ist die Zurückspeisung der Effekte einer Anwendung ins System – der Effekte selbst und nicht ihrer Bewertung. Schon gar nicht ist damit die Ansicht über die auslösende Stelle gemeint. Die Information über Effekte belastet die Beziehung nicht und reduziert sogar empirisch nach weisbar die Reaktanz, wenn vorher negative Bewertungen abge geben wurden.*

In einem Kooperationszusammenhang bedarf echtes Feed back daher keiner Erlaubnis. Die Kommunikation von Effekten ist durch den Bedarf in einem Kooperationszusammenhang von vorneherein legitimiert, ein «Herumdoktern» am anderen jedoch nicht.

Bestimmte Probleme in Systemen sind natürlich nur von aus sen sichtbar. Aussenperspektiven sind deshalb überlebensrelevant – doch nicht jede Aussenperspektive ist gleichermassen relevant. Sie ist es nur, wenn sie relevante Parameter zur Anpassung an die Systemumwelt mitliefert. Auch an dieser Stelle wird nicht gefragt: «Darf ich …?» Wer jemanden wirklich vor einem Risiko warnen möchte, tut es einfach.

Kleines Beispiel aus der «Comic Kiste»: Sitzen zwei Küken in unterschiedlichen Schachteln. Auf der einen steht von aussen: «Küken zum Liebhaben 5 €» und auf der anderen: «Haifischfut ter 1 €». So wäre eine Aussensicht auf die Schachtelaufschrift für die Küken überlebensrelevant. Vollkommen uninteressant für das Küken ist jedoch ein Fremdbild zu sich selbst Hier erliegen auch geübte Systemiker in der Praxis dem einen oder anderen Denkfehler. Im Angebot wären zum Beispiel:

1. Meine Perspektive ist eine Aussenperspektive.

2. Aussenperspektiven sind immer relevant.

3. Deshalb ist auch meine Perspektive relevant.

4. Deshalb ist es per se nützlich, sie mitzuteilen.

5. Das verstört mindestens.

6. Dazu bin ich berechtigt, weil Verstörung konstruktiv ist.

7. Dann entsteht neue Ordnung, und die ist immer besser als die alte («Weisheit des Systems»).

8. Deshalb spiegele ich, bin aber abstinent in der Lösungsaktivität.

Verwechslung mit Folgen

In der Alltagskommunikation gehen Feedback, Fremdbild und Bewertung der Person oft durcheinander. Mit verkraftbaren Folgen – denn auf Basis gesicherter Beziehungen kann man sich Qualitätsmängel in der Kommunikation erlauben, registriert man Kränkung, entschuldigt sich, bessert nach Ist die systematische Unternehmenskommunikation jedoch mit dem schweren Fehler der Verwechslung von Feedback, Fremdbild und Beurteilung behaftet, potenzieren sich Schäden und unerwünschte Nebenwirkungen. Systemfehler haben hohe Folgekosten.

Statt Menschen zu befähigen, einander «echtes» Feedback zu geben, d. h., einander zu sagen, was sie voneinander brau

chen und wo der Bedarf verfehlt wird – eine Notwendigkeit in der Kooperation –, werden sie in vielen Betrieben und mit zuneh mender Verve systematisch dazu angehalten, einander «den Spie gel vorzuhalten», so als sei es für die Entwicklung oder gar zur Erreichung von Organisationszielen relevant, wie man einander bewertet, findet oder aufeinander wirkt. Die begrifflich unsaubere Einordnung dieses Fremdbildaustauschs als «Feedback» (Feed back im Wortsinn = Rückmeldung von Effekten – nicht ihre Bewer tung oder gar die Bewertung der auslösenden Quelle!) erschwert es, sich dagegen zu wehren: Denn man braucht ja «Feedback» Wer sich dem «Beschuss» mit Fremdbildern entziehen möchte, wird als «nicht entwicklungswillig», «nicht kritikfähig» hinge stellt … ein beliebtes Spiel in «Feedback Systemen», aber auch in Kommunikationstrainings, wo es durch einen Lernrahmen scheinbar legitimiert ist, Menschen mit dieser unerbetenen Form von Rückmeldung zu traktieren. Dieses Framing führt dazu, dass niemand sich artikuliert: Wer gut abschneidet, wird nichts gegen die Methode einwenden, wer schlecht abschneidet und den Mund aufmacht, riskiert, mit dem neuzeitlichen Mode Schimpf wort «unprofessionell» belegt zu werden … Letztlich entsteht so ein gestörtes Kommunikationsschema mit unkalkulierbaren Folgen. Denn Bewertungskulturen bedrohen ununterbrochen die Zugehörigkeit und Identität, indem die Beziehungen strapa ziert werden. Bewertung ist ein hierarchischer Kommunikationsmodus: Im Moment des Urteils stellt sich der Beurteiler über den anderen. Dies prägt die Beziehungen auf eigene Art: Es sichert in Abhängigkeitsverhältnissen womöglich diffuse Anstrengung und Konformität – aber zu einem hohen Preis.

Die Risiken von Personen­Evaluierung Zunächst ein typisches Beispiel: In einer Behörde mit vielen tausend Beschäftigten werden Mitarbeiter systematisch und in regel mässigen Abständen beurteilt. Die Ausgangs «Note» für gute Leistung ist eine 3. Die Vorgesetzten verfügen über ein Notenbudget, welches sie unter Einhaltung der Gauss schen Normalverteilung auch in Teams von etwa 10 Personen vergeben: Die Mitarbeitenden werden innerhalb des Teams «gerankt». Die Führungskräfte werden angehalten, die Möglich keiten des Rankings auszuschöpfen und auf keinen Fall zu gut zu bewerten. Die Beurteilung ist relevant für künftigen Aufstieg, gegebenenfalls auch für die Geldverteilung, und wird gekoppelt an ein Gespräch. Möglicherweise wird der oder die Mitarbeitende auch aufgefordert, seine Selbsteinschätzung mitzuteilen, damit «falsche» Selbstbilder deutlich werden und direkt korrigiert wer den können

Pygmalion Effekt

Menschen tendieren dazu, sich in Bilder hineinzuentwickeln, die andere von ihnen haben. Es besteht also das Risiko einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wie wirkt es sich tatsächlich aus, 80 Prozent der Organisationsmitglieder schriftlich Mittelmass zu

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Mit welchen Folgen ist zu rechnen?

bescheinigen? Die Forschung zum sogenannten Pygmalion oder Rosenthal Effekt legt nahe, dass nicht nur Motivationsrisiken entstehen, sondern unter Umständen sogar die Leistung selbst gefährdet wird.

Bei personennaher Arbeit, Tätigkeiten mit hohen Anforde rungen an Kommunikation und emotionale Arbeit ist Leistungs rückmeldung nah an einer Bewertung des «Wesens» der Person – und schädigt deshalb im Zweifelsfall durch Bedrohung des Selbstwerts direkt die Leistungsvoraussetzung selbst. Wer zum Beispiel die Leistungsfähigkeit einer Erzieherin «feststellt» (statt sie zu mobilisieren), riskiert sogar, dass dadurch Ressentiments gegenüber den Kindern entstehen.

Geschlechtstypische Attributionsmuster im Leistungsbereich legen nahe, dass Beurteilung in Betrieben mit hohem Frauen anteil ein besonderes Risiko birgt. Frauen tendieren noch stär ker als Männer dazu, Rückmeldungen auf der Beziehungsebene einzuordnen, persönlich zu nehmen und negative Leistungsrück meldungen selbstwertschädigend zu verarbeiten. Das Risiko der Gesundheitsschädigung durch Kränkung ist deshalb möglicher weise höher.

Fehlgeleitete Iteration

Der Unternehmensberater Fritz Simon hat schon vor Jahren auf das beurteilungsimmanente Vertuschungsrisiko hingewiesen, das zu extremen Fehlsteuerungen führen kann.* Personen Evaluie rung erzeugt nahezu zwingend Konkurrenz und Rangordnungs kämpfe um die Positionierung im System. Im Zweifelsfall wird es wichtiger, beim Arbeiten gut auszusehen, als tatsächlich gut zu arbeiten. Die Energie wird in Selbstpositionierung gezogen – für Individuen, aber auch Teams oder Abteilungen. Nicht nur för dert dies Konkurrenz nach innen und «Silo Denken», es kann auch dramatische Konsequenzen haben. Ein drastisches Beispiel dafür sind Millionen Hungertote nach einer chinesischen Land wirtschaftskampagne in den 50er Jahren: Die Kader hatten unter dem Druck personenbezogener Beurteilung die Lebensmittel in den Speichern gelassen, um bei den Kontrolleuren einen guten Eindruck zu machen

Kommunikationsstörungen und Schädigung der Kultur Schleicht sich der Denkfehler der Verwechslung von Fremdbild und Feedback in Versuche zur Prozessverbesserung ein, ist mit absurden Kommunikationsprozessen zu rechnen. Wenn in der «Qualitätsentwicklung» von Schulen etwa Schüler offiziell dazu eingeladen werden, statt echtem Feedback («ich verstehe es nicht») Fremdbilder über ihren Lehrer («der Lehrer erklärt nicht gut, macht langweiligen/unterhaltsamen Unterricht») abzuge ben, so ist das nicht nur sinnlos (keine steuerungsrelevante Infor mation), sondern gleich auf mehreren Ebenen brisant.

Nicht nur wird der Schüler direkt dazu eingeladen, etwaige Probleme automatisch dem Lehrer anzulasten. Auch die Rang ordnung wird ohne jegliche Reflexion umgekehrt. Alle Bewer tung, auch «das Loben kommt von oben». Der Lehrer wird also in seiner Autorität direkt angegriffen – und letztlich gedemütigt.

Denn nicht etwa er selbst behält die Souveränität über diesen Vorgang, sondern wird ihm durch Dritte ausgesetzt. Wo tatsächlich Veränderungsbedarf besteht, ist Kränkung und dadurch eine weitere Gefährdung der Lehrer Schüler Beziehung die Regel. Der Demütigung und Attacke auf den Selbstwert (Lehrerseite) steht ein frühes Training in Hochmut und Anmas sung (Schülerseite) gegenüber. Gestörte Beziehungen werden verschlechtert, gute in riskantester Weise angegriffen. Anonymi tät – wie auch im 360 Grad «Führungsfeedback» – rettet das Ganze nicht. Im Gegenteil: Obendrein wird auch noch gelernt, dass offene Kommunikation kritisch sei. Dem Lehrer bleibt besten falls die in anonymen Vorgesetztenbeurteilungen übliche Praxis erspart, auch noch seine Selbsteinschätzung vor den Schülern veröffentlichen zu müssen. Psychologen sind mit der Implementierung derartiger Systeme befasst. Bisweilen verfeinern sie diese auch. Ist die Wei che jedoch falsch gestellt, richtet Genauigkeit und Validität noch mehr Unheil an. Es ist vermutlich gravierender, «wissenschaft lich fundiert» den Verstand oder das Potenzial abgesprochen zu bekommen als im Rahmen einer persönlichen Meinung Spätestens dann wird es auch gesundheitlich brisant – denn eine solche Bedrohung triggert Angst, Stresskrankheiten und Depression. Unterschwellig wird durch das Framing der «Prozess verbesserung» suggeriert und gelernt, dass es hilfreich sei, andere zu bewerten. Verlernt wird, wie man echtes Feedback gibt. Denn es ist nicht ganz einfach, aus einer Kritik eine Bedarfskommuni kation zu machen, es ist anstrengend, aus dem unproduktiven Modus der Kritik auszusteigen und sich stattdessen zu bemü hen, dem anderen in freundlicher Weise zu vermitteln, was man braucht. Es erfordert eine Abstraktionsleistung und einen Per spektivwechsel, das eigene Problem nicht mit einer Fehlleistung des kooperierenden Milieus zu verwechseln.

Stattdessen?

Diese Anstrengung einzufordern, ist jedoch ein Beitrag zur Persön lichkeitsentwicklung und zu einem zivilisierten, wertschätzenden Umgang miteinander – sie ist eine Voraussetzung für Synergie. Alternativen existieren – nicht im Reich der Fantasie, sondern in der Realität. Viele Betriebe schreiben ohne jede Mitarbeiterbeurteilung schwarze Zahlen. Stattdessen praktizie ren sie verbindliche jährliche Mitarbeitergespräche, in denen über Bedarfe und Entwicklungsmöglichkeiten gesprochen wird. Syste matische Führungsbedarfsklärung ist eine empirisch erprobte und erfolgreiche Alternative zur hochproblematischen anonymen Vor gesetztenbeurteilung. Sie korreliert hoch mit dem LMX Index für die Qualität der Führungsbeziehung, welcher seinerseits hoch mit Performance korreliert.

Auch für Nachfolgeplanung und interne Rekruti erung braucht man weder Beurteilungssysteme noch Potenzialeinschät zungen. Mitarbeiterdurchsprachen und Selbstbeschreibung von Kompetenzen sowie sorgfältige Auswahl bei der Besetzung einer vorhandenen Stelle können dies ersetzen. Bühnen, auf denen Mitarbeitende ihre Talente darstellen können, sind eine freund

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Fazit

liche Ergänzung. Lern und Exzellenzkulturen erweitern das Repertoire, wenn die Energie auf Abschauen von Lösungen statt auf Bewertung von Kollegen gelenkt wird. Nützliche kritische (Selbst )Einschätzungen entstehen dadurch von selbst und dis kret. Die selbstverständliche Einforderung von Leistung und Qualität mit dem Grundgehalt, die gesonderte Honorierung von abgrenzbaren Zusatzleistungen, aber auch eine direkte Partizipa tion am Gewinn wäre in weiten Teilen eine Alternative zu platten und im Zweifel sogar beleidigenden Incentive und Bewertungs logiken bei der Geldverteilung.

Es deutet vieles darauf hin, dass wirkliche Exzellenz in Unterneh men mit gängigen Methoden der Personen Evaluierung unver einbar ist. Angesichts der alarmierenden Zunahme des Anteils psychischer Störungen an Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung in den meisten Berufsgruppen könnte es sinnvoll sein, sich die geschilderten Alternativen auch aus psychologischer Perspektive unter dem Gesichtspunkt der betrieblichen Gesundheitsförde rung/Salutogenese näher anzusehen.

Sogenannte Feedback , Beurteilungs , Talent Manage ment und Personalentwicklungs Systeme in Unternehmen bedürfen meines Erachtens keiner Optimierung, sondern eher einer grundlegenden Innovation, wenn es gelingen soll, das Mit einander für Synergie, Leistung und Gesundheit in tragfähigen Gemeinschaften zurückzuerobern. Die geschilderten Alternativen zur Beurtei lungspraxis können dabei hilfreiche Denkanstösse geben. Für manch einen Berater würde das jedoch erfordern, ein Geschäftsfeld preiszugeben – nämlich das, «mit System» ein Problem zu erzeugen, für das man im Anschluss die Reparatur verkaufen kann.

«Der vermessene Mensch» erschien in der Zeitschrift «systema» (IF Weinheim)

Remote Leadership – Führen auf Distanz, Teamgeist und Miteinander

Interview mit Dr. Martina Rummel

Die Corona Pandemie hat einen Schub für das mobile Arbeiten mit sich gebracht. Tabus sind weggefallen, das Arbeiten zu Hause oder an anderen Orten wurde salonfähig, die Bedeutung neuer Kommunikationstechniken wurde unmissverständlich klar. Viele Führungskräfte haben zuvor schon «auf Distanz geführt» – doch jetzt ist «Remote Leadership» für alle ein Thema – auch am glei chen Standort …

Management School St.Gallen: Welche Erfahrungen, Vorteile und Schwierigkeiten schildern Ihnen Führungskräfte zum Thema «Remote Leadership»? Was läuft gut, wo liegen Herausforde rungen?

Martina Rummel: Die Corona Pandemie hat einen wirk lichen Konventions und Tabubruch zum Thema «mobiles Arbeiten» – ob nun zu Hause oder woanders – und zum Thema digitale Kommunikation erzeugt. Was früher undenkbar war, wurde plötzlich notwendig: Von zu Hause aus zu arbeiten, sich in virtuellen Meetings zu treffen, sich selbst zu organisieren … Das ist zunächst einmal sehr positiv. Unsinnige Präsenzforderungen bis hin zum Präsentismus werden jetzt diskutiert. Überflüssige Mobilität mit allen Verkehrsproblemen, die daran hängen, wird eingebremst – ein ökologischer Segen! Die mit dem Wegfall von Wegezeiten verbundene Zeitersparnis – ein grosser Vorteil für viele Menschen. Darin liegt viel Positives. Die Herausforde rungen liegen woanders: für die Mitarbeiter in der stark erhöhten Anforderung an Eigenverantwortung, für die Führungskräfte in den erhöhten Anforderungen an Kommunikation und Präzision bei der Arbeitsorganisation. Wie kann man den Zusammen halt in den Teams sichern, die Gemeinschaft und die informelle Kommunikation pflegen, sicherstellen, dass niemand «abkippt»? Beiträge und Aufgaben müssen viel deutlicher geklärt werden, die Zusammenarbeit ist zeitlich und operativ zu koordinieren. Das geht nur, wenn die Selbstregulation und Vernetzung auch unter den Mitarbeitern ausgebaut wird. Im Prinzip müssen mehrere Distanzebenen überwunden werden: Die physische Distanz führt

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ja nicht nur zu operationaler Distanz, weil man faktisch weniger miteinander zu tun hat. Das Hauptrisiko sind die emotionale Distanz und fehlendes Verbindungserleben.

Auf welche Erfahrungen kann man denn zurückgreifen? Was hilft Führungskräften und Mitarbeitern?

MR: Zunächst gilt es, sich klarzumachen, wofür Präsenz im Sinne körperlicher Anwesenheit tatsächlich gebraucht wird und wofür nicht. Es gibt Arbeitstätigkeiten, die gehen gar nicht ohne Präsenz – bei vielen Tätigkeiten ist das aber anders. Home Office ist kein besonderes Privileg für bewährte Mitarbeiter oder Men schen mit kleinen Kindern, oder ein heimliches Freitagsnachmit tagsgeschenk. Führungskräfte, die immer schon «auf Distanz» geführt haben, sagen ganz klar, dass es arbeitsbezogene Not wendigkeiten gibt, sich persönlich zu treffen, dass es aber auch generell sinnvoll ist, sich wenigstens ab und an zu sehen, um sich auszutauschen, einander besser zu verstehen, sich ken nenzulernen. Die Energie in einem Raum ist eine andere, wenn Menschen sich physisch treffen. Im Alltag würde das bedeuten, Gemeinsames (wie z. B. Meetings) auch wirklich gemeinsam und mit Präsenz zu gestalten, aber nicht immer und um jeden Preis. Die Fokusverschiebung von: «Darf ich einen Tag Home Office machen?» hin zu: «Wozu, in welchen Fällen und in welchem Rhythmus sollte ich persönlich erscheinen?» ist sehr nützlich, weil sie zeigt, dass Home Office kein besonderes Privileg ist, sondern dass es von der Aufgabe und der Arbeit abhängt, ob das geht oder nicht. Wozu und wann wird Präsenz gebraucht? Das ist eine schlichte, aber nützliche Frage, die individuell durchaus unter schiedlich zu beantworten ist. Denn es gibt auch Mitarbeiter, die einen Arbeitsplatz brauchen, weil sie zu Hause nicht vernünftig arbeiten können – sei es, weil die Aufgabe das erfordert, weil sie keine entsprechende Ausstattung haben, weil sie Distanz von der Familie benötigen oder weil ihnen das Bienchengefühl, dass alle um sie herum auch fleissig summen, zur Aufrechterhaltung der Selbstdisziplin wichtig ist. Das alles ist klärbar. Es gibt zahlreiche nützliche Tipps zur Überwindung physischer und operationaler Distanz, den Teamgeist im Sinne psychologischer Sicherheit und Verbundenheit mit dem Team zu sichern, ist aber schwieriger.

Geht denn digitale Kommunikation ganz anders als persönliche Kommunikation? Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unter schiede?

MR: Digitale Kommunikation war zu Beginn der Pande mie häufig nur ein Ersatz für die vorherige Präsenzkommunika tion, mit den Mitteln, die man dort eben auch verwendet hat. Wir haben ja heute mehr technische Möglichkeiten als E Mails, und auch die E Mail Kompetenz hat sich verbessert durch kleine Emoticons und Verständigungshilfen. Meetings mit einer begrenzten Teilnehmerzahl können mit den üblichen Tools, bei denen alle einander sehen, mit etwas Übung genauso moderiert und geleitet werden wie vorher auch. Nicht schön ist allerdings, wenn man den ganzen Tag in virtuellen Meetings verbringt und vielleicht obendrein mit technischen Problemen kämpft. Und

wenn man sich persönlich gar nicht mehr trifft – was für weltweit operierende Teams die Regel ist –, braucht es für den Teamgeist neue Rituale, z. B. Einstiegsrunden, in denen man sich etwas Bestimmtes erzählt, oder auch ein virtuelles gemeinsames Kaffee trinken oder Feierabendtreffen. Hier kann man viel von jungen Leuten lernen, deren Lebensgefährten am anderen Ende der Welt wohnen. Für Teams ist auch wichtig, explizit zu besprechen, wer mit wem was zusammen bearbeiten, regeln, entwickeln muss. Statt Break out Rooms im Netz sind hier oft reale, z. B. bilaterale Treffen nicht nur möglich, sondern auch sehr sinnvoll. Alles, was psychologische Sicherheit bietet und den Zusammenhalt im Team stärkt, ist hilfreich, und dazu haben die Teammitglieder auch eigene Ideen!

Wir müssen lernen, die digitale Kompetenz aller mit der Zeit zu erweitern, indem die vorhandenen Möglichkeiten tat sächlich ausgeschöpft werden, statt Bekanntes nun einfach am PC zu machen. Liquidere Organisationsformen, special Interest Communities, eine stärkere Vernetzung aller, vor allem der Wis sensträger untereinander, der Einsatz von schnellen Tools zur Meinungsbildung, da gibt es viele neue Möglichkeiten – wenn man die Möglichkeiten kennt. Im Prinzip ist alles, was die Parti zipation erweitert, Prozesse effizienter und transparenter macht, Spielräume erhöht und Zeit spart, sinnvoll. Wenn man Menschen nicht auf Effizienz reduziert

Hat zu viel Digitales nicht auch Schattenseiten?

MR: Vieles kann ja gar nicht digital erledigt werden. Dort, wo das geht, liegt die Schattenseite möglicherweise genau in der gesteigerten Effizienz und Geschwindigkeit, wenn es hier keinen Ausgleich im Sinne von Erholung, Kreativität, gemeinsamem Spass und Austausch – und auch Innehalten – gibt. Digitale Kommuni kation ist extrem schnell – das kann leicht in Belastung umkippen. Menschen brauchen Menschen, nicht nur vorm Bildschirm. Sonst vereinsamen sie. Menschen brauchen Bewegung – es ist extrem ungesund, den ganzen Tag vorm PC zu hocken. Menschen brau chen auch Abwechslung in dem, was sie machen, sie müssen sich allseitig betätigen können. Und sie brauchen Pausen zum Inne halten und Spass miteinander.

Was können Führungskräfte konkret tun, um auf Distanz wirklich «gesund» zu führen?

MR: Zunächst müssen Führungskräfte selber Präsenz zei gen – ganz besonders in der digitalen Welt. Man kann digitale Morgenmeetings machen, sich bilateral verabreden, telefonie ren – je weniger realer Kontakt da ist, desto mehr muss man das machen. Im Prinzip gilt ansonsten alles, was auch sonst für «gesundes Führen» gilt, wenn man es in die digitale Welt über setzt. Die Schlüsselkriterien sind: Verstehbarkeit / gesunde Rou tinen und gesunde Angebote / Machbarkeit und Lernmöglich keiten / Handlungsspielraum, Dialog und Interessenintegration / soziale Unterstützung in der Rolle / Sinnvermittlung. Es ist von grossem Nutzen, diese Kriterien inhaltlich zu reflektieren und zu füllen, wenn man auf Distanz führt.

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Verstehbarkeit beispielsweise betrifft den gesamten Umgang mit Information. Hier haben Führungskräfte eine Filterfunktion. Die digitale Welt verführt zu völlig unreflektierter Überflutung mit Information, da bedarf es einer sehr viel präziseren Ausrichtung – das ist aber Arbeit. Gesunde Routinen und Angebote betref fen alle Fragen nach Ergonomie, Pausen, Bewegungsangeboten, Job Enrichment. Das muss in einer virtuellen Welt anders gefüllt werden als sonst. Machbarkeit und Lernchancen: Wie bekomme ich überhaupt noch mit, wenn jemand über oder unterfordert ist? Auch das Thema Handlungsspielraum muss ganz neu gefüllt werden. Wer sich vorher hinter körperlicher Anwesenheit ver steckt hat, wird vielleicht ein besonderes Geschick entfalten, Spielräume auszureizen. Auf der anderen Seite eröffnen Auto nomie und weniger soziale Kontrolle auch Neues – was aber im Dialog «eingefangen» werden muss. Führungskräfte sind hier gezwungen, mehr vom Ende her zu denken, zu besprechen, was herauskommen muss, was nicht passieren darf, welche Leitplan ken bestehen – und Kriterien zu finden für Kontaktnotwendig keiten, z. B. dazu, was ihnen eigenaktiv rückgemeldet werden muss, auch zwischendurch. Denn Mitarbeiter müssen sich mehr äussern, um die soziale Unterstützung zu erhalten, die sie brau chen, um ihre Arbeit zu tun. Schliesslich das ganze Thema Sinn: Sinn vermittelt sich manchmal indirekt in Gemeinschaften, weil man eben gemeinsam etwas tut. Fällt das weg, kann das moti vational schwierig werden. Das erfordert dann mehr bilaterale Kontakte und Aktivität seitens der Führungskraft. Man kann da nicht ständig auf die «Holschuld» der Mitarbeiter verweisen. Führungskräfte sind in der digitalen Welt noch mehr als sonst gefordert, Kontakt zu halten und das Wozu herauszustellen –immer und immer wieder.

Welche Unterstützung brauchen die Führungskräfte selbst? Was könnte hier von Seiten der Organisation, z. B. von HR und Perso nalentwicklung, getan werden?

MR: Organisationen müssen zielgerichtete Vernetzung erleichtern. Wir haben da auch ein Thema mit manchen Daten schützern, deren Ängste zu weit gehen – was dazu führt, dass viele, denen dies in der Arbeit verboten wird, sich über irgend eine App privat vernetzen und dabei alle notwendigen Sicher heiten vernachlässigen. Führungskräfte sollten sich untereinander über Tipps und Möglichkeiten austauschen, auch gezielte Work shops zu diesen Themen sind hilfreich. Systematische Führungsbedarfsklärung, die Frage danach, was die Mitarbeiter und Führungskräfte voneinander brauchen, um gut zu arbeiten, ist bei Remote Leadership ein nahezu unverzichtbarer Arbeitsansatz. HR und Organisationsentwickler tun gut daran, sich Gedanken zu machen, wie Zusammenarbeit «freier» und unabhängiger von Silos gestaltet werden kann. Hier gibt es viele neue Arbeits formate, die sich in Netzwerken bewähren, die aber mit traditio nellem hierarchischem Bereichsdenken nicht kompatibel sind. Das betrifft auch unter Umständen fliessendere Grenzen zwischen «innen» und «aussen»: Es wird künftig mehr Arbeitsplätze ohne definierte Organisationszugehörigkeit geben – eine ganz neue

Führungsanforderung, die weit über die frühere «Leiharbeit» hinausgeht. Peer to Peer Ansätze und co kreative Prozesse sprengen oft traditionelles Bereichsdenken. Mir erscheint es wich tig, diese Prozesse in der Führungskräfteentwicklung nicht nur zu reflektieren, sondern gemeinschaftlich auch die Funktion von Führung neu zu definieren: Hier sind die internen und externen Organisationsentwickler gefordert, das Verhältnis zwischen Indi viduum und Gemeinschaft auszubalancieren und neu zu definie ren.

Wo liegen die Risiken für Organisationen? Welchen Zusammen hang bestehen zu Themen wie Motivation, Identifikation und Resilienz?

MR: Resiliente Mitarbeiter sind bindungsfähig, ohne sich abhängig zu machen. Sie würden mit hoher Loyalität für eine Organisation arbeiten, jedoch Eigenverantwortung für ihr indi viduelles berufliches Schicksal übernehmen. Wenn Unternehmen hier nichts bieten, was Identifikation und Gemeinschaft ermög licht, kann virtuelles Arbeiten sehr oberflächlich werden und in eine flache «Job Mentalität» einmünden. Führen auf Distanz kann diese Ebene von Entfremdung verstärken – dann haben Synergie und Nachhaltigkeit wenig Chancen. Denn in solchen Arbeitswelten wird jeder – analog zur digitalen Vertriebswelt –zum individuellen Schnäppchenjäger – in einer Art modernem Tagelöhnertum, in dem Menschen anonym wie «Freelancer» Aufträge abarbeiten, IT Lösungen generieren, Konzepte schrei ben, ohne sich fürs Ganze oder für die Gemeinschaft verantwort lich zu fühlen. Heute schon gibt es auch ganz real viele unge sicherte Arbeitsverhältnisse dieser Art. Für bestimmte Themen mag eine solche «Job Mentalität» reichen, weil sie bis zu einem bestimmten Punkt ausbeutbar ist. Wer mehr will, wer Innovation, Kreativität, Synergie und echte Schubkraft für Nachhaltigkeit will, kommt um wirkliche Partizipation, gute, loyale Beziehungen und die Frage nach dem Sinn nicht herum – denn das braucht Investi tion in eine sinnstiftende, menschlich verbindende Gemeinschaft. Das ist – wird – ein gesellschaftliches Lernfeld für uns alle.

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Setzen wir unsere Leistungskraft auch unter Stress und in konflikt reichen Situationen frei, als Individuen ebenso wie als Team? #resilienz

Wem gehört die Persönlichkeit?

Andere diagnostizieren zu dürfen ist eine grosse narzisstische Verführung. Die Kulturschäden durch den flächendeckenden Angriff auf den Selbstwert und die gleichzeitige Einladung zum Hochmut sind verheerend. Der Megatrend der PersonenEvaluation findet kein Ende. Wer es wagt, bei diesem Thema die schlichte Frage «Wozu?» zu stellen, katapultiert sich rasch ins Abseits. Die Kritiker, die Zweifler und die psychisch Geschädig ten können sich schlecht artikulieren – man selbst ist immer das schlechteste Argument. Wer profitiert, neigt noch seltener dazu, das Verfahren in Frage zu stellen

Wer in moderne HR Teams und Personalentwicklungsabtei lungen schaut, wundert sich bisweilen, wie selbstverständlich es geworden ist, Persönlichkeit, Potenziale, Wertvorstellungen und persönliche Verhaltenstendenzen zum «Verhandlungsgegenstand» zwischen Arbeitgebern und ihren Mitarbeitenden zu machen. Mitarbeitende und Führungskräfte werden mit Hilfe von Persönlichkeitsmodellen diagnostiziert, in ihren «Potenzia len» evaluiert, in Orientierungscentern auf ihre Defizite aufmerk sam gemacht, mit den Lücken im Selbstbild Fremdbild Abgleich konfrontiert und jährlich personenbezogen evaluiert. Führungs kräfte haben sich an die Mitteilung gewöhnt, dass im Hinblick auf ihre Persönlichkeit grundsätzlicher Entwicklungsbedarf bestünde.

Mephistos Arbeitsansatz: Bedrohung der Zugehörigkeit

Je komplexer die Arbeitswelt, desto wichtiger werden in der Zusammenarbeit zweifellos Aspekte wie Sozialkompetenz, Intel ligenz, Courage und klare Werte. Es verwundert also nicht, dass man diesen menschlichen Qualitäten zunehmend Aufmerksam keit widmet. Wer heute einen Arbeitsvertrag behalten möchte, ist gefordert, sich verschiedensten Prozeduren zur Feststellung dieser Qualitäten zu unterziehen. Belastbarkeit, Flexibilität und gutes Selbstmanagement werden als Leistungsanforderung schon in der Stellen beschreibung genannt. Die Fähigkeit, den Verlust eines Angehörigen in vierzehn Tagen zu verkraften, setzt man bei Leistungsträgern als Selbstcoaching Kompetenz voraus. Assessment Center beziehen sich weniger auf die fachlichen Fähigkeiten als auf Verhaltenspräferenzen in verschiedenen Set tings. Potenzialdiagnostik ist Bedingung für jedes Vorankommen auf der Karriereleiter. Was gerade noch plausibel sein mag, wenn jemand einzustellen ist und eine Entscheidung über seinen Einsatz

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zu fallen hat, wird fragwürdig, wenn das Assessment als Dau erprogramm läuft. Dass Mitarbeitende jährlich beurteilt werden müssen, stellt kaum mehr jemand in Frage. Das Ranking der Mitarbeitenden und ihrer Performance nach der sogenannten Normalverteilung auch innerhalb eines Teams von zehn Leuten erscheint als elegante Idee – selbst noch mit der perfiden Krö nung, die auf dieser Basis festgestellten unteren fünf Prozent als «low performers» aus dem Unternehmen zu entfernen. Die damit verbundene methodische Dummheit ist nachgerade harmlos im Vergleich zu der dahinterstehenden Geisteshaltung. Mephistos Arbeitsansatz für die Störung eines guten Miteinanders ist damit auf den Punkt gebracht: die systematische Verunsicherung in Bezug auf die Frage: «gehöre ich dazu?». Seine Dauerbotschaft lautet: Jeder ist potenziell nicht gut genug. Konkurrenz nach innen und die Drohung, aus der Liga verstossen zu werden, in der man derzeit spielt, sind die Leitplanken, die Überanpassung sichern. Denn auf drohenden Verlust reagiert der Mensch nahezu irrational.

Die Verkleidung: Der Anschein der Selbstverständlichkeit Systeme wirken in sich, und niemand trägt Schuld. Das war und ist stets Mephistos genialste Verkleidung: dass er nicht beim Namen zu nennen ist Dass künftig Kindergartenleiterinnen die Erzieherinnen in ihrem durchaus überschaubaren Kindergarten beurteilen sollen, darf nun freudig erwartet werden, auch wenn die Lebensfreude im Kindergarten daran zugrunde gehen könnte. Auch wenn Schüler sogar ihre Lehrer schon selbst beurteilen können. Welch erfreulich frühe Einübung der für die Systembedienung erfor derlichen Bereitschaft zur Anmassung! Dass damit die Rangord nung vollends ausgehebelt und die ohnehin schon angeknackste Berufsgruppe vollständig depotenziert wird, ist nicht wichtig und fällt ohnehin kaum mehr auf Betriebliche Personendiagnostik ist deshalb stark im Aufwind. Die «naive» Veränderungstheorie dahinter wird nicht erkannt. Obwohl jeder weiss, dass «die Sau nicht fetter wird, wenn man sie wiegt», wird Menschen eingeredet, dass man Veränderungs prozesse damit beginnen müsse, festzustellen, wie der Status quo aussieht.

Überträgt man diese in sich fragwürdige These auf mensch liche Interaktion, kann man leicht zum Fehlschluss kommen, man müsse feststellen, wie die Person ist, damit sie sich entwickeln kann. Statt Menschen zu befähigen, einander klar zu sagen, was sie voneinander brauchen, um Ziele zu erreichen, und wo der Bedarf verfehlt wird – eine Notwendigkeit an jeder Schnittstelle –, werden sie systematisch angehalten, einander «den Spiegel vorzuhalten», so als sei es zur Klärung relevant, wie man einan der bewertet, findet oder aufeinander wirkt. So werden in vielen Kommunikationstrainings Menschen mit Fremdbildern traktiert, die überhaupt nicht danach gefragt haben. Die begrifflich unsau bere Einordnung dieses Vorgangs als «Feedback» vernebelt im Grunde die Übergriffigkeit und Sinnlosigkeit. Der Mensch hat zwar, das ist unbestritten, «blinde Flecken», Zonen, die andere

sehen, ihm selbst jedoch nicht bewusst sind. Daraus jedoch abzuleiten, man müsse Menschen ihre blinden Flecken zeigen (spiegeln), ist sehr gewagt.

Mephistos Waffe: Der Spiegel

Ein netter kleiner Film der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs ist geeignet, die Sinnlosigkeit dieses Vorgangs kritisch aufs Korn zu nehmen: Zwei Piloten besteigen ein Flugzeug in Begleitung ihres Blindenhundes. Das Flugzeug rollt an und erreicht das Ende der Startbahn kurz vor der Küste. Gleich wird es ins Meer stürzen. Die Passagiere merken es und fangen laut an zu schreien. Der blinde Pilot zieht daraufhin sei nen Steuerknüppel an, das Flugzeug hebt ab. Zu seinem ebenfalls blinden Co Piloten sagt er: «Irgendwann werden die Leute zu spät schreien, und dann werden wir alle sterben!»

Wer bereits im Cockpit sitzt, profitiert fürs Fliegen vielleicht gerade noch eben vom Schreien der Passagiere – ein echtes, wenn auch nicht sonderlich qualifiziertes Feedback. Dem Piloten in dieser Situation zu «spiegeln», dass man ihn für blind hält, wäre sinnlos. Das Sehvermögen sollte man feststellen, bevor dieser ins Cockpit steigt. Während des Fluges ist das zu spät und hilft nichts. Das ist der zentrale Denkfehler etwa des sogenannten 360 Grad Feedbacks für Führungskräfte, das gar kein steuerungsrelevantes Feedback, sondern lediglich Fremdbilder enthält. Nicht einmal für die Bühne benutzt ein guter Coach den «Spiegel». Sondern er hilft dem Protagonisten durch «Regieanweisungen» gezielt bei der Verbesserung der Bühnenwirkung. Systematisches Spiegeln ohne Auftrag stellt sich demgegenüber als Ausdruck und Produk tion einer narzisstisch gestörten Kultur dar. Es erzeugt Irritation und Verunsicherung bei den einen, Eitelkeit bei den andern. Nicht mehr, aber leider auch nicht weniger. Ganz im Sinne Mephistos.

Die Strategie: Verführung

Der Mensch ist es gewohnt, Veränderungsanliegen mit Kritik zu beginnen. Das limbische System ist schneller in der Kritik als in der Lösung. Es produziert kontinuierlich Situations Checks und Bewertungen als Handlungsgrundlage für unsere eige nen Entscheide. Einen Kommunikationspartner zu bewerten, wenn man etwas erreichen möchte, ergibt jedoch wenig Sinn. Warum ist Bewertung – den Spiegel vorhalten und urteilen –trotzdem so beliebt? Vermutlich, weil man sich mit dem Urteil über den anderen stellen kann. Goethe schrieb dem Menschen eine Neigung zu, sich über andere zu erheben, um sein Ego zu erhöhen. Nichts eigne sich dazu besser als Kritik. Andere diagnostizieren zu dürfen, ist eine immens narzisstische Ver führung. Heerscharen von Trainern, Beraterinnen und Füh rungskräften sind dieser Verführung kontinuierlich ausgesetzt. Statt in der Zusammenarbeit wirkliches «iteratives» Feedback –die Kommunikation von Effekten und Bedürfnissen – zu fördern, wird systematisch eingefordert, was dem Menschen als spontaner narzisstischer Reflex eigen ist: die Bewertung von Personen und ihrer Leistung. Sinn und Legitimität werden dabei nicht hinter fragt. Die Kulturschäden durch den flächendeckenden Angriff

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auf den Selbstwert und die gleichzeitige Einladung zum Hochmut sind verheerend.

Wer eine Entscheidung treffen will, muss urteilen. Auch über Personen. Der Handelnde macht sich stets «ein Bild». Was aber geschieht, wenn Fremdbilder und Urteile kommuniziert werden, anstelle von Bedürfnissen oder Lösungsvorschlägen?

Selffulfilling Prophecys

Im Moment, in dem der Diagnostiker seine Diagnose ausbreitet, betritt er das Feld der Intervention. Sozialpsychologische Studien zeigen, dass sich selbst stille, nicht einmal kommunizierte Diagnosen oder Erwartungen auswirken, was als «Pygmalion Effekt» bekannt geworden ist. Schüler, deren Lehrer an ihrer Intelligenz zweifeln, machen geringere intellektuelle Fortschritte. Livingston und seine Kollegen konnten zeigen, dass Teams hohe oder niedrigere Leistungen erbrachten, je nachdem, was ihre Vorgesetzten von ihnen hielten. Explizite negative Rückmeldungen können sich noch direkter auswirken als stille Erwartungen. Die Risiken verschärfen sich weiter, wenn die Bewertung sich nicht nur auf eine Verhaltensbeschreibung bezieht, sondern auf die Kompetenz oder sogar die Potenziale einer Person. Blondinen rechnen schon dann langsamer, wenn man ihnen vor einer Rechenaufgabe einen Blondinenwitz erzählt.

Der Zugriff zielt aufs Ganze

Wer in einer Beratung etwas über seine Potenziale wissen möchte, kann danach fragen. Menschen ohne Auftrag ein Potenzial abzusprechen, ist psychologisch illegitim, denn eine Potenzialeinschätzung ist eine direkte, sehr tief greifende Aussage über die Person. Eine sorgfältige Legitimation (Wozu?) und der ausdrückli che Wunsch der oder des Betroffenen nach entsprechender Infor mation (Will ich es wissen?) müssen daher gegeben sein. Dabei ist die Zuverlässigkeit der eingesetzten Methoden keine Hilfe, denn wenn man jemandem «wissenschaftlich fundiert» den Verstand oder das Talent abspricht, macht man es eher schlimmer. Die Schäden durch handgestrickte Verfahren halten sich gerade noch in Grenzen, weil die Unsäglichkeit den Methoden zugeschrieben werden kann. Selbst die Wirkung auf die, welchen im Wettren nen der Talente ein Potenzial zugesprochen wird, ist fragwürdig. Die Frustrationen über vermeintlich uneingelöste Versprechen auf Aufstieg und Karriere nach solchen Verfahren sprechen Bände. Manch einer verlässt sich so sehr auf sein «Potenzial», dass er ein ewiges Talent bleibt.

Und was man alles diagnostizieren kann! Bereits finden sich Organisationen, in denen der «Persönlichkeitstyp» der Mitarbei tenden nach gängigen Verfahren farblich auf dem Namensschild zur Schau gestellt wird: damit man sich «einstellen» kann. Das «Handling» des Gegenübers gewinnt Vorrang vor dem Interesse an der Person. Was läge in der Philosophie eines solchen Vorgan ges näher, als der Typenbeschreibung für die «Einstellung» noch etwas mehr «Effektivität» zu geben, etwa für schnelle Selektion in Richtung Kompetenz oder Intelligenz? Zum Beispiel – als relativ valide Potenzialaussage – durch den Einsatz eines wissenschaftlich

fundierten Intelligenztests für alle? Aktiv «gelebt» mit Auskunft über den IQ und andere Daten auf einem Schildchen an der Kleidung

Genährt durch die Angst jedes Einzelnen, nicht im Besitz des richtigen Schildchens zu sein, würde in einem solchen System die Konformität sicher erhöht. Wie so häufig zeigen erst Extremfälle, worauf solche Systeme im Endeffekt hinauslaufen können und was sie im Kern charakterisiert: die totalitäre Tendenz.

Mephistos Erfolge: Triumph des Narzissmus …

Die Konkurrenz um Märkte und Arbeitsplätze erzeugt ein wach sendes Bedürfnis nach Positionssicherung. Unklar ist das Ausmass der Schädigung des Einzelnen durch permanente Bedrohung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in den zentralen Referenz systemen. Die Zunahme von Depressionen, psychosozialen Erkrankungen, Burnout und Sucht könnte mit dieser Entwicklung zusammenhängen.

Die letzten Bastionen gegen den allgegenwärtigen Main stream der Personen Evaluation fallen. Grundlegendes Misstrauen wird in der Bewertung systematisch institutionalisiert und ersetzt Loyalität, Synergie und Verbindlichkeit in der Kooperation. Dazu kommt die kommunikative Begleitmusik: Wer zweifelt oder sich gar entzieht, gilt als nicht entwicklungswillig oder unprofessionell. Die Wirkung dieses direkten Framing ist immunisierend und schafft neue Tabus. Das Unbehagen der Beteiligten wird deutlich spürbar, aber nicht mehr artikuliert, schon gar nicht von negativ Betrof fenen. Der Zirkel der gleichzeitigen Förderung von Narzissmus, Selbstwertschäden und Anerkennungssucht schliesst sich selbst.

… und Erosion von Gemeinschaft «Resiliente» Menschen – mit «Stehaufmännchen Qualitäten» –sorgen innerhalb dieses Zirkels für sich, jedoch nicht unbedingt für andere. Das Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit und individuellem Beitrag in Organisationen neu zu überdenken, ist deshalb für Organisationsentwickler eine grosse Herausforde rung. Die Erosion kooperativer Beziehungen durch die systema tisch angeheizte Konkurrenz nach innen ist offensichtlich, hat sich jedoch als Thema nicht nennenswert in Theorie und Praxis der Organisationsentwicklung niedergeschlagen.

Wirkliche Wertschätzung und synergetische Gemeinschaft über den Tag hinaus ist auf einer solchen Basis nicht zu haben. Alternative Möglichkeiten zur Personen Evaluation einzufordern, bedeutet keinesfalls, einer betulichen Nischenkultur das Wort zu reden. Wer Hochleistung und Kooperation möchte, tut aber nach dem derzeitigen Erkenntnisstand der Psychologie gut daran, das Potenzial der beteiligten Menschen nicht zu «vermessen», sondern vielmehr allem, was da ist, zur Entfaltung zu verhelfen – für und in Verbindung mit einem hohen Anspruch an Qualität und Leistung und mit gegenseitiger Unterstützung zum Erreichen der Ziele.

Das Miteinander zurückerobern

Die für eine Neuorientierung erforderliche Arbeitshaltung ist die der Lösungsorientierung, die erforderliche kognitive Kompetenz

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die des Perspektivwechsels. Das ist die Grundlage für prozessbe zogene Kommunikation, gemeinschaftliche Zielbezogenheit und Synergie in einer Kultur, der man gerne angehört.

Die gegenwärtigen Systeme der Personen Evaluation sind weder lösungsorientiert noch kooperationsfreundlich. Alterna tive Wege gibt es bereits – sie erfordern aber einen deutlichen Bruch mit Konventionen, die Courage, scheinbare Notwendig keiten zu hinterfragen, und eine grundlegende Veränderung der Organisationskultur. Die Möglichkeit zur Identifikation mit Sinn, der Vorrang der gemeinsamen Ziele vor Egoismen Einzelner, die Orientierung vor der Kritik, die Lösung vor der Bewertung des Status quo und die Synergie vor der Konkurrenz innerhalb der Organisation: All das könnte spielentscheidend werden für die kooperative und erfolgreiche Interaktion in komplexen dynami schen und interkulturellen Welten. Menschen arbeiten in einer solchen Kultur nahezu automatisch gern. Auch an ihrer eigenen «Selbstveredelung». Denn es ist attraktiv, einer Gemeinschaft anzugehören, die eine Exzellenz kultur in diesem Sinn hat und Zugehörigkeit durch «Wahl und Ehre» ermöglicht, statt nach innen einen Dauerkampf um die Selbstpositionierung anzuzetteln. Mephistos Beitrag zu aller Entwicklung ist durchaus nennenswert, solange er nicht die Oberhand gewinnt und das, was wir Motivation nennen, in Korruption und Verführbarkeit ausartet. Wie alle individuellen, um nicht zu sagen egoistischen Bedürfnisse haben auch die Sünden ihren Platz. Neid, Gier und Selbstdarstellungsdrang sind wichtige soziale Motoren, solange sie ethisch und sozial kontrollierbar bleiben. Doch wenn die Mutter aller Todsünden, der Hochmut, nicht gemeinschaftlich in Schach gehalten wird, sondern unbemerkt und schleichend zur Tugend avanciert, könnte uns die Hölle ziemlich nahe kommen. Nicht nur in Unternehmen.

Zukunft von Organisation und Führung: Was ist heute anders, und tun wir das Richtige?

Interview mit Thomas Breitling und Martina Rummel

Management School St.Gallen: Die Bedingungen und Konse quenzen der VUCA ­ Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) sind unter Führungskräften in den letzten Jahren ein intensiv diskutiertes Thema. Ist die derzeitige Krise absehbar gewesen?

Thomas Breitling: Eigentlich können wir doch gar nicht über rascht sein. Die Googles, Apples, Facebooks, Amazons und deren chinesische Pendants stossen seit mehr als 20 Jahren disruptiven Change in unserer Wirtschaft an. Gewissheiten werden in Frage gestellt, Bewährtes hinterfragt, stabil Geglaubtes wird unsicher. Allerdings konnten sich die Unternehmen seit Jahren fast plan voll auf den Wandel durch Digitalisierung einstellen. Die Covid19­Krise trifft die Betriebe unvorbereitet und besonders an ihren empfindlichsten Stellen. Es geht einfach schneller: Geschäftsmodelle, deren Zukunft auch schon vorher bedroht war, sind jetzt heftig betroffen. Covid­19 ist ein gnadenloser Beschleuniger des Wandels. Wenigstens kann man sich damit entschuldigen, wenn man vorher zu zögerlich war.

Martina Rummel: Das Zögern ist verständlich, wenn die Kriterien für eine erfolgreiche Anpassung diffus sind. Traditionelle Vorstellungen von Zielsetzung und messbarer Zielerreichung kommen an ihre Grenzen. Führungskräfte sind gefordert, syste misch zu denken, mit oft unklarer Perspektive und unwägbaren Verläufen zu führen und dabei auch noch Ergebnisse zu erzielen und die gute Laune aller Beteiligten zu erhalten.

Was bedeutet systemisches Denken in diesem Zusammenhang?

TB: Wir erleben hautnah, wie verletzlich unsere globalen Wertschöpfungsketten sind. Gleichzeitig scheitern die linearen Steuerungslogiken an der Unvorhersehbarkeit der Entwicklungen. Wir müssen uns wieder erinnern und auch neu lernen, unsere externen und internen Umwelten als ein gesamthaftes System zu begreifen. Alles greift ineinander. Können wir die Systeme noch vollständig verstehen, in denen wir wirtschaften? Und wenn wir sie nicht vollständig verstehen, wie können wir Einfluss nehmen und Schaden begrenzen, wo wir danebenliegen?

R: Systemisches Denken bedeutet, die Autopoiese – die Eigensteuerung – von Systemen tief anzuerkennen und Selbst regulation zu führen. Auch Führungskräfte glauben manchmal, dass Selbstregulation oder Selbstorganisation nicht geführt wer den müsse. Das ist ein tragischer Irrtum. Was allerdings stimmt,

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ist, dass einfaches hierarchisches Denken nicht funktioniert, weil inhaltliche «Ansagen von oben» nicht mehr hilfreich sind. Wie kann die richtige Richtung gefunden werden, welche Leitplan ken kanalisieren die Selbstorganisation, und welche Ressourcen sind erforderlich? Diese Fragen sind nur gemeinschaftlich lösbar. Thomas, du sprachst in dem Zusammenhang mal von einer «dienenden» Funktion der Führung – Führung muss das erzeu gen, aber nicht «richten».

Das klingt plausibel. Aber wie macht man das? Was muss verän dert werden?

TB: Eine wichtige Voraussetzung ist Veränderung im Kopf. Wir müssen lernen, weniger auf das kurzfristige Erreichen ego zentrischer Ziele zu starren, sondern uns als verbunden wahrzu nehmen. Das «die da» oder das «wir hier» gilt so nicht mehr – wir sind alle Teile desselben Ökosystems. Aussen und innen sind stärker zu verbinden, als wir es gewohnt sind. Organisa tion / Unternehmen und auch wir selbst sind nur Teilsysteme, die unmittelbare und erweiterte Organisationsumwelt das äussere Teilsystem, alles eingebettet in ein globales Gesamtsystem. «Die Ökonomie ist nicht die Lehre vom Geldverdienen, sondern die Lehre von der Erreichung gesellschaftlicher Ziele» (Folkhard Iser meyer). Zu viele haben diesen Grundsatz vergessen.

Was hindert uns daran?

MR: Wir sind individualistisch sozialisiert – wir lernen, dass jeder seines Glückes Schmied ist, dass Zielerreichung und persönlicher Status in unserer Hand liegen, dass wir unseren Einfluss ausdehnen und Kontrolle erlangen sollen über unser Leben und die Welt. Der Kapitalismus, der uns zu Wohlstand und Lebensqualität verhilft, erzeugt gleichzeitig eine Kultur der gegenseitigen Bespiegelung und Konkurrenz bis in die letzte Ritze. Jeder Betrieb und jeder Einzelne ist gezwungen, sich indi viduell zu behaupten, selbst wenn das auf Kosten der Gemein schaft geht. Der Einzelne ist nicht wirklich in der Lage, alleine daraus auszuscheren. Jedes Subsystem kämpft um die eigene Existenz. Das fördert kurzfristiges Denken und Ressourcenver schleuderung. Die Gefahr ist, dass alle zu Schnäppchenjägern werden.

Was kann gutes Führen hier ausrichten?

TB: In Veränderungsprozessen kommt der Sinnvermittlung durch Führungskräfte besondere Bedeutung zu. Der übergeord nete Sinn (Purpose), der in der Organisation geteilt wird, definiert einen Handlungsrahmen, der dem Einzelnen Gestaltungsraum für zielorientierte Initiativen lässt. Der individuelle Gestaltungsraum in jeder einzelnen Rolle ist das Feld für Engagement, Initiative und Selbstverwirklichung für die aktiven Mitarbeiter in jeder Organi sation.

MR: Sinn ist das Einzige, was uns dazu bewegt, individuelle Interessen nachrangig gegenüber Werten oder Gemeinschaften zu sehen. Es geht um das Wozu. Wozu soll ich verzichten, wozu kooperieren, wozu Feindbilder aufgeben, wozu mich überhaupt

anstrengen für irgendetwas? Wir sind durch Sinn motivierbar –aber es muss eine Koppelung mit unseren Wertvorstellungen und den Gemeinschaften bestehen, die uns etwas bedeuten.

Wie weit muss man dabei ausgreifen? Reicht das unmittelbare «Wozu?» nicht aus? Menschen interessiert doch eher ihre eigene, persönliche Umwelt als globalgalaktische Visionen.

TB: Die grossen ökologischen und sozialen Themen signa lisieren uns allen, dass es um mehr geht als um die direkten kurzfristigen Überlebensinteressen des einzelnen Unternehmens – wobei diese kurzfristigen Überlebensnotwendigkeiten schnell alles andere verdrängen können. Wenn man in seinem Umfeld für eine grössere Transformation Resonanz erzeugen möchte, geht es immer auch um die Narrative – um neue, bildhafte Erzählungen vom Weg der Unternehmen in eine gute Zukunft. Wofür möchte das Unternehmen stehen, wofür hat es vielleicht immer gestan den? So stellt sich Unilever in seiner Food Unit mit dem Narrativ «In food business we have to take responsibility from the farm to the fork» auf die Veränderung ihrer bisherigen Wertschöpfungsketten ein. Dabei wird dann intern mehr als nur dem Palmöl der Kampf angesagt werden müssen. Mit J. P. Morgan stellt sich eine der grössten Banken der Welt der Realität («The survival of huma nity is at risk, if we continue on our present course …») und unter stützt nachhaltige Investments. Blackrock fordert gar von Unter nehmen ihres Einflussbereiches zwingend, für einen nachhaltigen Purpose zu stehen, wenn eine gemeinsame Zukunft überhaupt möglich sein soll. Wir merken, es geht um die Transformation unserer gesamten Wirtschaft, es geht um das TransformationsDesign, wie der deutsche Soziologe Harald Welzer es nennt. Wir müssen unsere Unternehmen und Organisationen, aber auch unsere Gesellschaft in die Zukunftsfähigkeit überführen. Das ist in der Tat kein einfaches ChangeProjekt, das ist eine grössere Auf gabe, welche die Bündelung aller Kräfte fordert.

MR: Die Beteiligten müssen dabei ihren Beitrag erkennen –ohne das Gefühl, beizutragen, sinkt das Engagement sehr schnell. Sind eine sinnhafte Ausrichtung und ein Handlungsrahmen erkennbar, wird auch der eigene mögliche Beitrag in Form von zielorientierten Initiativen klarer. Diesen Suchprozess – «Wie kann ich am besten beitragen?» – zu erleichtern, ist eine Führungsauf gabe. Gore Tex versucht, die Suche nach dem «sweet spot», dem bestmöglichen Beitrag, sogar für jeden Einzelnen, zu systematisie ren. Das erzeugt völlig andere Formate für Mitarbeitergespräche und Mitarbeiterdurchsprachen, als wir sie üblicherweise sehen.

Was bedeutet das für das einzelne Unternehmen – wie verändert es die Frage nach Vision und Strategie?

TB: Es bedeutet fundamentalen Wandel. Wir erleben das schon geraume Zeit in der Automobilindustrie. Wie Tourismus und Reisen, wie Mobilität aktuell unter Corona ­ Bedingungen aussehen, ist eine nicht minder spannende Frage. Die ökologische Krise ist eine gigantische Transformationsaufgabe für unsere Energiewirtschaft, unsere Land­ und Ernährungswirtschaft (…), die Liste der Sektoren und Wirtschaftsbereiche ist lang. Grosse,

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globale Unternehmen sind auch deshalb dabei häufig überfor dert, weil ihr herkömmliches Steuerungs ­ und Organisations verständnis vielfach immer noch der Logik des 20. Jahrhunderts folgt. Eines Jahrhunderts, in dem die Weltbevölkerung in den 1960er­Jahren die 4­Milliarden­Grenze noch nicht überschritten hatte. In dieser «leeren» Welt waren alle Ressourcen grenzen los verfügbar, alles, was technisch machbar war, wurde gemacht. Heute, in der «vollen» Welt – wie es Ernst Ulrich von Weizsäcker formuliert –, müssen wir unserer Verantwortung gerecht werden und die neuen Systeme so gestalten, dass Zukunft möglich ist. Diese Zukunft muss nachhaltig sein und die Idee der Sustainable Development Goals (SDG 17) der Uno verfolgen. Die grossen Organisationen tun sich schwer, sind aber zugleich entscheidende Player für das Gelingen dieser Anliegen.

Fundamental gleich radikal? Wie schnell, wie entschlossen müssen wir sein?

TB: Es wird nicht möglich sein, ad hoc das Ruder komplett herumzureissen und dabei alles zu riskieren. So kann eine Trans formation nur scheitern. Aber die Zeit läuft – wenn wir nicht handeln, taumeln wir dem finalen Akt entgegen. Hilfreich ist, quasi zwei Betriebssysteme in den Unternehmen zu schaffen: In der Architektur des Transformationsprozesses, im Transformations Design, kommt es darauf an, in Resonanz zu kommen mit den verfügbaren Ressourcen und gleichzeitig der Entfremdung entge genzuwirken, die zu viele Mitarbeiter und Stakeholder erfasst hat. Dem Modell der dynamischen Stabilisierung, das kontinuierliches Wachstum erfordert, das Modell der adaptiven Stabilisierung entgegenzuhalten, in dem das Unternehmen wächst, aber dabei immer mit seinem Ökosystem in Resonanz bleibt. Wir sind dabei, unseren Begriff von Wachstum neu zu definieren. Dies ist eine grosse Transformationsaufgabe, für welche die Wirtschafts wissenschaft bisher keinen Masterplan vorgelegt hat. Mit der «Theorie U» hat der MIT Wissenschaftler Otto Scharmer dazu einen greifbaren ersten Prozessentwurf entwickelt, den er in sei nem Buch mit dem Titel «Leading from the Emerging Future» treffend überschrieben hat.

Wie geht das in der Praxis, wie könnten erste Schritte aussehen?

TB: Zweite Betriebssysteme – also Inseln, in denen etwas anderes geht – eignen sich dazu, quasi als Selbstorganisations Biotope aufgestellt zu werden, um in der Organi sation Neues auszuprobieren, Routinen zu durchbrechen und Ideen zum Erfolg zu führen – inklusive anderer Führungsformate, die auf wech selnde funktionale Führungskompetenz setzen. Im Miteinander zwischen erstem und zweitem Betriebssystem entscheidet sich die Zukunft der Unternehmen. Was im Lernfeld des zweiten Betriebssystems erprobt wurde, kann vom ersten Betriebssystem skaliert und zum Erfolg geführt werden. Neue Arbeitsformate, veränderte Meeting Formate können verhältnismässig einfach ins erste Betriebssystem transferiert werden. Der eigentliche Schlüs sel der Transformation, die Neuaufstellung der Kommunikation im gesamten Ökosystem, ist anforderungsreicher. In den orga

nisationsübergreifenden Steuerungs oder besser Governance Meetings geht es beispielsweise um die kontinuierliche Optimie rung der Rollen, Rollenzuschnitte, Domains, Verantwortungen und Aufgaben. Dieses regelmässige, gar monatlich stattfindende Meeting Format ist Ausdruck jenes Leitbildes der «fluiden Orga nisation», die das Set up kontinuierlich an die sich aktuell stel lenden Anforderungen anpasst und daraus ihre Zukunftsfähigkeit erarbeitet.

MR: Die kulturelle Transformation, die das begleiten muss, erfordert erhebliche politische Unterstützung von aussen, damit neue Wege wie z. B. Ressourcenschonung nicht wiederum zu erneutem «Mehr» an anderer Stelle verführen oder Einzelne direkt am Wettbewerb scheitern. Im Prinzip braucht es welt weite Standards. Nach innen hin ist eine radikale Veränderung der Führungs und Kommunikationssysteme erforderlich. Die Arbeitslogik des «zweiten Betriebssystems» ist inkompatibel mit gängigen Zielvereinbarungssystemen, mit der Art und Weise der Gehaltsfindung, mit starren Stellenbeschreibungen, mit Karriere wegen, die auf vertikale Entwicklung und Status setzen. An die Stelle individueller Belohnungs­ und Anreizsysteme treten Iden tifikation und Verantwortungsübernahme in Eigeninitiative. Das bedeutet nicht, dass individuelle Leistung nicht honoriert werden kann – aber eher nach einer Dankeschön Logik für besonderen Einsatz, fast schon unabhängig vom Erfolg, an dem wiederum alle direkt beteiligt werden können. Wer vorab berechnen kann, was er bekommt, wenn er dieses oder jenes tut, verliert jede intrin sische Motivation.

Was bedeutet das für die Leadership Diskussion? Wie sieht das Leadership Profil der Zukunft aus?

MR: Wenn mit «Leadership» persönliches Standing, Sou veränität, Glaubwürdigkeit, Integrationskraft, Integrität und Kompetenz gemeint sind, wünscht man sich diese Qualität bei jedem, der eine verantwortungsvolle Rolle hat – im Unterneh men der Zukunft also wirklich bei jedem. Die übliche Leader ship Diskussion ist allerdings traditionell hierarchischem Denken erstaunlich verhaftet, sogar ohne dass man sich dessen bewusst ist. In nahezu jedem «Leadership­Training» und in der gesam ten Literatur ist die Vorstellung der Trennung von Führenden und Geführten immanent gegeben – eine tief hierarchische Sicht weise, auch wenn das Gerede von Partnerschaft und Partizipa tion, Coaching und Förderung durch «konstruktives Feedback» genau das ziemlich erfolgreich verschleiert. Wenn Führung aber bedeutet, die Systemperspektive Gemeinschaft konsequent zu besetzen, auch kommunikativ, entsteht eine andere Ebene von Verantwortung. Die «Förderer», «Coaches» und andere selbst ernannte «Entwicklungshelfer» und Elternfiguren und ihre betu liche Pädagogik machen der erwachsenen Einforderung des Beitrags für die Gemeinschaft in Verbindung mit Spielraum für Entwicklung Platz. Dabei entwickeln sich Menschen in der Regel von alleine. Statt hierarchischer «Belohnungssysteme» gäbe es vielleicht mehr direkte Beteiligung am Unternehmenserfolg? Wenn Führungssysteme auf die Kompetenz und Führungskraft

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vieler in diesem Sinn setzen und dies intelligent bündeln, geht der Einfluss des Einzelnen zurück. In den «Cockpits» jedoch, welche die Systeme erschaffen, wird man Menschen brauchen, die wirk lich systemisch und komplex denken können, die Dinge intelli gent verbinden können, ihr eigenes Weltbild und Temperament nicht mit der Wahrheit verwechseln und in der Lage sind, Risiken und Nebenwirkungen ihrer Aktionen zu erfassen und zu antizi pieren. Begriffe wie Authentizität, Charisma usw. sind hier nicht sehr hilfreich. Manch charismatischer Leader hat seine Gefolg schaft schon in den Abgrund gerissen. Die Frage, wie jemand ins Cockpit gelangt, ist allerdings relevant: Sicherlich muss die Eignung überprüft werden – die Idee einer Verbindung mit Wahl formaten ist bestechend.

Welches Fazit ist zu ziehen? Was würden Sie Unternehmen im ersten Schritt empfehlen?

TB: Ich finde es sehr ermutigend, Organisationen zu erleben, die bereits auf dem Weg sind und Themen wie Sinn, ökologische und soziale Verantwortung auf die strategische Agenda genom men haben. Wir können auf erste Erfahrungen zurückgreifen, welche Muster und Prozesse notwendig sind, um dem Wandel Dynamik zu verleihen. Man kann Unternehmen nur empfehlen, hier in Resonanz zu gehen und intelligent abzuschreiben, die Prozesse immer wieder zu reflektieren und zu versuchen, sie zu verstehen. Die Empfehlung, quasi ein zweites Betriebssystem zu installieren, sich des eigenen Existenzgrundes bewusst zu wer den und die gesamten Lieferketten bezogen auf Ökologie und Nachhaltigkeit ins Auge zu fassen, ist bereits ausgesprochen. In unseren Veranstaltungen versuchen wir, Plattformen für die Wei tergabe der Einsichten zu erschaffen und uns von Moden und Plattitüden jeder Art fernzuhalten.

MR: Der Weg zu einer «Verantwortungskultur» fürs Ganze ist ein ethisch anspruchsvolles Programm. Die Führungs ­ und Kommunikationssysteme in Unternehmen verdienen eine sofor tige Umgestaltung – und das muss eher klug als teuer sein. Verbundenheit nach innen ist immer noch leichter zu lernen als ökologische Verantwortung in Verbundenheit mit Menschen und Werten in der Systemumwelt, womöglich sogar in interna tionaler Perspektive. Unternehmen können sofort hierarchische und dysfunktionale Zielvereinbarungs­, Belohnungs­ und Bewer tungssysteme zugunsten von Formaten zurückdrängen, die das Miteinander in der Sache auf Augenhöhe befördern. Die Frage «Was brauchen wir voneinander, um zu …?» ist, wenn sie nicht an Egoismen und Statusziele (… in die nächste Position zu kommen), sondern an Inhalte und die Realisierung von Werten gebunden ist, ein direktes «Empathietraining» – eine freundliche Einladung zum Perspektivwechsel in Verbundenheit. Am Ende macht wirk lich gute Zusammenarbeit für wirklichen Sinn auch mehr Spass und setzt Energie durch Generativität frei. Diese Entwicklungs anforderung, vom Fokus Nehmen (eigener Profit) zum Geben (Nutzen für andere) zu gelangen, gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Organisationen – und sichert die Zukunft der nachfolgenden Generationen.

In welchem Betriebs klima kann Wir-Gefühl am besten gedeihen –und unternehmen wir genug, um dieses Klima aktiv herbeizuführen? #teamkultur

Leading Leaders – 7 Leads

Thesen zu Führung und Wirkung

These 1 Führen ist eine Funktion im System. Es geht um überlebensrelevante Impulse. Wenn Führung dazu beitragen soll, dass die Organisation über lebt, wäre es interessant, sich um die Frage nach der «richtigen Richtung» vorrangig zu kümmern, um die richtigen Impulse zu setzen. Wo direkte Orientierung nicht zu haben ist – und dies ist immer häufiger der Fall –, können solche Impulse auch in einer Suchbewegung, im Aufbau von Flexibilität nach innen angesichts unklarer Bedingungen oder sogar in Abschottung zur Selbstver teidigung bestehen.

Was auch immer der Impuls ist: Er erfordert Kommunikation. Denn eine Strategie, die keiner kennt, nützt niemandem. Je komplexer die Anforderung, desto dysfunktionaler werden dabei direkte operative Soll Vorschriften und starre Zielvorgaben. Einem komplexen System – wie einem Baum –kann man nicht befehlen, wohin es wachsen soll … Aber man kann Einfluss nehmen durch:

• Ausrichtung («Lichtquelle»): Worauf kommt es am Ende an?

• Leitplanken (Begrenzung, Beschneidung): Was darf nicht passieren?

• Ressourcen («Giessen»): Empowerment, Bedarf?

Der Gedanke der «Leitplanke» beinhaltet, dass es mögli cherweise wichtiger ist, zu zeigen, was nicht passieren darf, als operative Soll Vorschriften zu kommunizieren. Gerichtete Selbstregulation – zum Beispiel im Strassenverkehr – wird durch Regeln und Bordsteinkanten erst möglich. In einer Organisation über Führung nachzu denken, beinhaltet deshalb immer auch, sich über die «Ampeln und Leitplanken» Gedanken zu machen –denn diese «führen». Viele Führungs und Managementsysteme binden Führungsenergie, investieren aber bei näherer Betrach tung nicht in die Gesamtbewegung der Organisation – weil sie überreguliert sind, den «Fluss» behindern oder die Energie in irrelevante Zonen lenken.

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Führen ist immer Führen von Veränderung. Es geht um (Lösungs )Orientierung und Resonanz. Überleben bedeutet für lebende/soziale Systeme, sich immer wieder so zu verändern, dass eine erfolgreiche Anpassung an die Systemumgebung gelingt. Führen bedeutet somit immer Füh ren von Veränderung. Das Prinzip der Äquifinalität in Systemen beinhaltet, dass Systeme sich von beliebigen Ausgangszustän den in (gleiche) Zielzustände hineinentwickeln können. Wenn die Schlüsselkriterien für erfolgreiche Anpassung im Zielzustand nicht vermittelt werden, wird der (synergetische, selbstregulative) Suchprozess für Lösungen erschwert und mehr als nötig chao tisch. Dies hat Implikationen für Führung: Kritik am Status quo enthält keine Orientierung über den Zielzustand und erzeugt, wenn sie Personen trifft, auch keine Resonanz, sondern meist das Gegenteil: Widerstand. Die Orientierung an der Realität kann sehr viel Dringlichkeit schaffen. Diese Orientierung kommunika tiv einzusteuern und in sinnhaftes Tun und Lassen zu «überset zen», wo die Kriterien nicht für alle sichtbar und evident sind, bedeutet, aus der Zukunft (der künftigen Anpassung) heraus zu führen. Das kann ungemütlich sein, fördert jedoch Lösungsorientierung und Realismus auch bei den Mitarbeitenden.

In den Vordergrund rückt damit – auch im Mitarbeitergespräch – die Frage, was gebraucht wird, um diese Anpassung zu leisten. Es spricht nichts dagegen, dabei die «Messlatte» hoch zu legen. Es wird allerdings deutlich, dass Systeme, die Kritik und Personenbewertung in den Vordergrund stellen, mit dieser Logik inkompatibel sind. Gängige Beurteilungs und Personenevaluierungs instru mente geben den Beteilig ten eine Rückmeldung zu ihrer relativen Position im System anhand von Daten aus der Vergangenheit. Dies trägt nicht nur nichts zur Bewältigung der Anforderungen bei, es kann sie sogar behindern. Wer Exzellenz möchte, tut sich keinen Gefallen, im Rahmen etwa eines Mitarbeiter Rankings 80 Prozent der Organisation Mittelmass zu bescheinigen (Pygmalion Effekt der Selffulfilling Prophecy).

These 3 Führen ist das Erzeugen von Entscheidungen. Es geht um die Ermöglichung gerichteter Selbstregulation. «Strategy is about choice»: Systeme müssen bei jeder «Bewegung» zwischen Optionen auswählen – dies erfordert Entscheidungen. Bei zunehmender «Dynaxity» können viele Entscheidungen nicht mehr sinnvoll im Alleingang gefällt werden – und Entscheidungs folgen sind kaum abschätzbar. Die Führungsfunktion besteht hier im Kern darin, Bewegung zu ermöglichen, indem «Entschei dungen über prinzipiell Unentscheidbares» erzeugt werden.

Das Erzeugen von Entscheidungen ist ein komplexer dis kursiver Prozess. Die Entscheidungsqualität von Gruppen bleibt meist hinter der von Individuen zurück (Risk Shift): So, wie geteiltes Leid als halbes Leid gilt, scheint auch geteilte Verantwor tung eine Halbheit zu sein. Das Erzeugen von Entscheidungen gewinnt mehr Qualität, wenn geklärt wird, welche Systemper spektive die grösste Relevanz für das gemeinsame Überleben hat – und wenn Resonanz dafür erzeugt wird, dass diese Perspektive

These 2

den meisten Einfluss auf die Entscheidung erhält. Nicht immer ist diese Perspektive die der Führung oder die externer Berater. Rele vanz besteht bisweilen in Risikoinformation. Das soziokratische Konsentprinzip sichert im Gegensatz zum «basisdemokratischen Konsens», dass gravierende Einwände aus einer relevanten Per spektive heraus im Sinne eines Vetos wirken können – und zur steuerungsrelevanten Leitplanke werden.

Das Überleben von Systemen hängt von der erfolgreichen Anpassung an die Systemumwelt ab. In komplexen Systemen stellt sich daher die Frage, wie die System Umwelt Relation intelligent beobachtet werden kann und wie von dort aus Infor mation effektiv sowie steuerungs und entscheidungsrelevant in die Organisation gespielt werden kann. Damit verändert sich auch das Verständnis der Führungsfunktion – es erscheint zuneh mend wichtiger, statt auf die Führungskraft einzelner Personen lieber auf die Führungskraft intelligenter Prozesse zu vertrauen, die Synergie und Zusammenarbeit sichern. Ein Beispiel für diese Philosophie sind holokratisch organisierte Unternehmen.

These 4 Führen ist Einsatz für nachhaltige Resultate. Es geht um die tatsächlich erzielte Wirkung. Führung, die zu nichts führt, ist als Beitrag vollständig verzichtbar. Resultate erzeugen Sinn, denn sie sind das, was am Ende heraus kommen muss – bisweilen auch im Sinne von Schadensbegren zung oder schlichter Überlebenssicherung. Die Orientierung am Resultat, an der tatsächlich erzielten Wirkung, führt zurück zum Grundsatz der wechselseitigen Bedarfsklärung. Das Monitoring der Resultate ist erneut eine Orientierung an der Realität – und motiviert nahezu automatisch, wenn die zu erzielende Wirkung sinnvoll ist.

Die erzielte Wirkung ins System zurückzuspeisen – also das Monitoring der Resultate –, ist im Übrigen das, was in der Kybernetik «Feedback» genannt wird – also steuerungsrelevant. Feedback ist das Rückspeisen der Effekte einer Regelanwendung in ein System (zum Beispiel der Temperatur ins Heizsystem), nicht aber eine Aussage über die auslösende Quelle (die Heizung).

Der systematische Missbrauch des Feedback Begriffs in Unternehmen (Rückmeldung zur Person statt zu den Auswir kungen ihrer Aktionen – also die Verwechslung von Feedback und Fremdbild, im Beispiel von Temperatur und Heizung) ist tra gisch: Zu besprechen, wie man einander einschätzt und findet, statt wie man zu Resultaten kommt, darf in Arbeitsprozessen getrost als schwere Kommunikationsstörung betrachtet werden.

Die Resultate jedoch – wer profitiert davon? Verteilungs kämpfe in Organisationen drehen sich stets um «Gerechtigkeit» in der Frage, wem die Resultate gehören, wie die Beute (selbst die immaterielle …) zu verteilen ist. Systeme, die zur Verteilung der Beute erfunden werden, verhindern nicht selten, dass der Bär überhaupt erlegt werden kann. Auch für Informations , Kommunikations und Entlohnungssysteme stellt sich die Frage, welche Auswirkung sie tatsächlich haben. Selbst wenn sie die gefühlte Verteilungsgerechtigkeit erhöhen, sind die unerwünsch ten Nebenwirkungen mancher «Performance Beurteilung» für

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die Leistung kontraproduktiv, besonders, wenn es wichtiger wird, beim Arbeiten individuell «gut auszusehen», als tatsächlich gemeinsam etwas zu erreichen (Simon 2004). Führung hat die Funktion, den Vorrang des Resultats vor diesen Aushandlungsprozessen zu sichern, ohne dass die inter nen Verteilungskämpfe Gemeinschaft verhindern.

These 5 Führung ist das Erschaffen und Vertreten von Gemeinschaft. Es geht um die Sicherung der Gemeinschaftsinteressen. Eine Grundfunktion von Führung besteht darin, die Perspektive der Gemeinschaft vor dem Einzelnen zu vertreten und Gemein schaftsinteressen vor Partikular interessen durchzusetzen. Die Gemeinschaft als solche hat keine Stimme, und der Einzelne ist mit der kontinuierlichen Perspektivübernahme zugunsten der Gemeinschaft grundsätzlich und unabhängig von Ethik und Kom petenz überfordert. Die Vertretung der Gemeinschaft erfordert die bewusste und konsequente Besetzung der Perspektive des übergeordneten Systems. Damit haftet jeder Führungsbeziehung eine «Zumutung» im Sinne spezifischer Reibung an. Die notwen dige Begrenzung von Partikular interessen (auch der eigenen) verläuft nicht immer konfliktfrei. Das Veto sichert wiederum, dass bei dieser Begrenzung nicht «über Leichen gegangen» wird. Führungskräfte, denen dies klar ist, müssen nicht «bossy» auf treten – die Gemeinschaftsanliegen zu vermitteln, erzeugt Legi timation, auch in schwierigen Zeiten. Führungskräfte jedoch, die vergessen, dass sie Verantwortung für die Gemeinschaft tragen, der sie vorstehen, und die stattdessen in die eigene Tasche wirt schaften, sind ein Problem und gefährden die Organisation. Die Versuchung ist gross: Eine kleine sozialpsychologische Studie, das Keks Experiment der Machtforscherin Deborah Gruenfeld (Stanford University), zeigt: Wer Macht hat, benutzt sie sofort – auch zum eigenen Vorteil. Gibt man in einer kleinen Gruppe einem Teilnehmer Status macht, indem man ihn Beiträge von anderen bewerten lässt, und stellt im Anschluss Kekse auf den Tisch, kann man beobachten, dass der so positionierte Teilneh mer sich signifikant ausgiebiger an der Keksschüssel bedient –und mehr krümelt Angesichts dessen ist es sinnvoll, nach funktionaleren Wegen in der Nutzung und Kontrolle von Hierarchie zu suchen. In hochvernetzten soziokratisch oder holokratisch geführten Organisationen gelingt dies durch Doppel Links zwischen den Führungsebenen, die eine starke Bottom up Kommunikation sichern. Bearbeitung von ernsthaften Einwänden aus einer Multiperspektive heraus – auch bottom up – sichert, dass Ein zelne sich nicht auf Kosten des Ganzen durchsetzen können, und führt zu einer höheren Entscheidungsqualität im Sinne der Gemeinschaft.

These 6 Führung ist keine Stilfrage Menschen haben einen unterschiedlichen persönlichen Stil im Sinn von Temperament, Einstellung und Lebensphilosophie. Ihre Verhaltensoriginalität fliesst in ihre Arbeitsansätze ein.

Nimmt man die Frage nach der Funktion von Führun g ernst, kann Führung jedoch keine «Stilfrage» sein. Vielmehr käme es darauf an, unabhängig vom persönlichen Stil den tatsächlichen Führungsbedarf herauszufinden – und zu treffen. Dies erfordert in vielen Fällen sogar, den persönlichen, durch Temperament und persönliche Präferenzen geprägten spontanen Ansatz ein zubremsen. Wer beispielsweise sehr schnell, entschlossen und extravertiert ist, mag zur «klaren Ansage» neigen, wer sich kon sensorientiert verhält, mehr zur Partizipation. Je egozentrischer die Perspektive der Führungskraft, desto eher wird sie das eigene Temperament mit dem tatsächlichen Bedarf verwechseln. Die viel gepriesene «Authentizität» reicht dabei nicht aus (man kann seinem Nächsten völlig authentisch ein Messer in den Rücken rammen).

Wer einen Bedarf identifizieren und sich entsprechend aus richten möchte, könnte «zum Äussersten greifen» und schlicht danach fragen – nach der Logik einer «Auftragsklärung» in einer Multiperspektive an allen relevanten Schnittstellen. Dieser ein fachste aller Zugänge findet sich jedoch so gut wie in keinem Mitarbeitergesprächs Leitfaden. Stattdessen wird darüber disku tiert, wie man einander «findet» und einschätzt (dies wird fälsch licherweise als Feedback bezeichnet). Diese Fragestellung belastet in unnötiger Weise die Beziehungen und erzeugt schnell Krän kungen und Risiken. Sich für den wechselseitigen Bedarf in der Zusammenarbeit zu interessieren, ist dagegen nicht nur sehr viel funktionaler, sondern auch sehr viel wertschätzender. Kommuni zierte Bedarfe müssen und können oft nicht eins zu eins bedient werden, sind aber der angemessene Einstieg in den Diskurs. Wäh rend Wünsche und Erwartungen keinen zwingenden Bezug zur Arbeit haben, ist die Frage, was man voneinander braucht, schon sprachlich an einen Sinn, an ein «um zu» gebunden. Dies ver sachlicht die Kommunikation und führt direkter zur Erzeugung von Lösungen.

These 7 Führung wird durch die Geführten realisiert. Es geht um Zugehörigkeit und Sinn. Am Ende wird Führung durch die Geführten – die Follower – rea lisiert. So glaubwürdig Führung sein mag – die Motivation der Follower, soweit sie über die Realisierung der Grundbedürfnisse (Essen, Schlaf, Sicherheit, menschliche Zuwendung) hinausgeht, entsteht aus der Frage, ob für sie dabei Sinn entsteht. Das, was für uns Sinn ergibt, womit wir uns identifizieren, entspringt unserer Zugehörigkeit zu Wertewelten und wichtigen Menschen. Wozu? Für wen und was? Für Organisationen geht es dabei stets um einen relativen Kundennutzen. Entsteht dabei keine Zugehö rigkeit, keine Koppelung an Sinn, entsteht keine Identifikation. Dass die Organisationsmitglieder Sinn in dem sehen, was sie tun, ist nicht nur relevant für die Leistungsfähigkeit der Organisation, sondern nachweislich auch für die individuelle Gesundheit der Beteiligten. Führung ist so gesehen massgeblich Kommunikation von Sinn – oder wenigstens beabsichtigtem Sinn (Intention). Die prinzipielle Informationslücke, die durch unterschiedliche Posi

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tionen im System entsteht, kann dabei nur durch Vertrauen geschlossen werden. Gegenseitiges Vertrauen auf Basis einer gemeinsamen Ausrichtung und hoher Identifikation ist – so verstanden – kein «Wellnessfaktor», sondern ein Geschwindig keitsfaktor für Organisationen.

Ein relativer Kundennutzen, der eine Koppelung an Sinn bietet, weist durch substanzielle Wertschöpfung immer Bezüge zu Humanität, Ethik und Transzendenz auf. Führungspersonen, die diese Bezüge persönlich vermitteln und glaubwürdig dafür einstehen, werden als beflügelnd erlebt, weil sie Menschen dazu einladen, ihr Potenzial für sinnhafte Ziele einzusetzen. Man arbeitet gerne mit ihnen zusammen – und gerne für das, was sie vertreten. Sie schaffen – so hat es Robert Dilts einmal ausge drückt – eine Welt, der Menschen zugehören möchten. Und so gewinnen sie und halten die Besten

Führung in Unternehmen verbessern

Die Funktion von Führung tief zu verstehen, erleichtert das Führungshandeln für alle Beteiligten. In Beziehungen wird Rang ordnung strukturell durch die formale Position, durch Kompetenz/Vermögen und durch Seniorität (Rechte des Älteren) erzeugt. Nicht immer hat eine Person mit Führungsfunktion das Glück, diese strukturellen Rangordnungs Aspekte in einer Person vereinigen zu können. Wenn eine Führungskraft versteht, dass ihre wesentliche Funktion ist, Gemeinschaftsinteressen und «Überleben» zu sichern, Entscheidungen und Resultate zu erzeu gen, kann sie dies immer als «Geländer» nutzen. Argumente, die darauf einzahlen, überzeugen, weil sie nicht machtbasiert sind und Kompetenz und Seniorität von anderen nicht in Frage stellen. Führungskräfte, die aus dieser Verantwortung heraus argumen tieren, müssen nicht aus purer Unsicherheit «bossy» auftreten. Ungleich verteilte Entscheidungsmacht in sozialen Systemen trägt grundsätzlich zur Entscheidungsgeschwindigkeit bei. Fehlt jedoch die beschriebene Koppelung von Macht mit Verantwort lichkeit für die Gemeinschaft, wird Führung von ihrem Sinn, das Überleben der Gemeinschaft zu sichern, entfremdet. Goethes Forderung, die Mächtigen sozial zu kontrollieren, ist ebenso ernst zu nehmen wie Bob Dylans «Don’t follow leaders», wenn diese Kontrolle nicht gelingt.

Ein sehr sinnvoller Weg, Führung direkt und positiv zu ver bessern, ist der gelebte Diskurs über Führungshandeln – gemein sam, aber auch bilateral mit der jeweils eigenen Führungkraft: Dieser Austausch (Wie wollen wir führen? Was ist uns dabei wich tig? Worauf kommt es an?) kann mit Schlüsselkriterien für gutes Führen und Überlebens fähigkeit von Organisationen sinnvoll hinterlegt werden (Rummel 2010). Die gegenseitige Unterstüt zung in Führungsthemen fördert das Bewusstsein, gemeinsam die Organisation zu führen, und beinhaltet eine Absage an organisationsschädigendes Silo Denken.

Dieser Diskurs kann zudem die Einsicht fördern, dass «Führung» nicht immer durch Führungspersonen realisiert werden muss, sondern auch in intelligenten Prozessen der Selbstorganisation auf Basis von Signalen, Regeln und Rollenklarheit

bestehen kann. Wo es gelingt, die Führungs «Kraft» von Statusdenken, Dünkel und Machtfixierung zu befreien, können Führungskräfte auf diese Weise stark entlastet werden, ohne dass sie aus ihrer Verantwortlichkeit «herausfallen». Auch die Verführung zur Überheblichkeit («Die Kekse stehen mir zu»), die mit der Übernahme von Führungsfunktionen (dazu zählen auch Beraterinnen, Ärzte, Coaches, Therapeutinnen …) verbunden ist, bedarf kontinuierlicher und bewusster Eindämmung. An dieser Stelle sind Diskurse nicht unbedingt ausreichend.

Die konsequenteste Variante dieser Eindämmung ist die Möglichkeit der Wahl/Abwahl der Führungsperson durch die Geführten – von einigen Betrieben realisiert (Filmtipp: «Mein wunderbarer Arbeitsplatz»). Auf der anderen Seite ist Führung Teil des Systems: Eine Führungskraft kann nur gut arbeiten, wenn die Geführten sie aktiv tragen. Sogenanntes Charisma, das nur in Projektionen der Geführten besteht, kann an dieser Stelle durchaus gefährlich werden. Funktionales Führen durch aktive Bedarfsklärung erfordert Mündigkeit, sie erzeugt sie aber auch, indem sie sie beansprucht.

Der direkteste Weg, die operative Führungsleistung zu verbessern und gleichzeitig bei den Mitarbeitenden hierar chische zugunsten von funktionalen Kommunikationsmustern abzubauen, ist die aktive Bedarfsklärung an allen Schnittstellen, insbesondere mit den direkt geführten Mitarbeitenden. Wird dieser Arbeitsansatz unternehmensweit implementiert, wird über lösungsorientierte Führungskommunikation die Vernetzungsfähigkeit an allen relevanten Schnittstellen «on the job» trainiert – ein enormer Beitrag zur Weiterentwicklung der Organisations kultur.

Denn wer gut führen möchte, nicht nur aus der Hierarchie heraus, sondern auch «ohne Schulterklappen», tut gut daran, das Ziel der Reise zu klären – und die Geführten unterwegs zu fragen, was sie brauchen, um das Ganze nicht nur zu überleben, sondern so zu bewältigen, dass sie auch die nächste Reise gerne antreten – beim gleichen Veranstalter.

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Haben wir vom Warum unseres Tuns ein genauso klares Bild wie vom Womit – und können sich alle mit diesem Warum identifizieren? #purpose

Fortsetzung folgt.

Wer regelmässig eine Denkpause einlegt, kommt schneller voran: Weitere Editionen unserer Schriftenreihe, die mit dem Swiss Media Award und dem Best of Corporate Publishing Award ausgezeichnet wurde, finden Sie auf der Internet-Plattform der Manage ment School St.Gallen. Ausgewählte Essays und Berichte stellen wir Ihnen auch als Podcast zur Verfügung. Wir würden uns freuen, Sie auch weiter hin zu unserer Leserschaft zählen zu dürfen – und danken Ihnen für Ihre Meinungen und Anregungen. www.mssg.ch/denkpausen

IMPRESSUM

Herausgeber Management School St.Gallen

Redaktion Urs von Schroeder

Konzeption Management School St.Gallen

Gestaltung Ruedi Oetiker, Mac J. Rohrbach

Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Management School St.Gallen unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2022 Management School St.Gallen ISBN 978 3 9525571 0 5

Management, weil wir unsere Leistungen konsequent auf die Praxis fokussieren. School, weil unsere Kernkompetenz im Transfer von Wissen und Können liegt. St.Gallen, weil die systemorientierte Managementlehre unserer Heimatstadt die tragende Säule unserer Arbeit ist.

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Denkpausen

Inspirationen zu Leadership und organisationale Resilienz Dr. Martina Rummel

VOLUME I

BETTER BUSINESS
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