Von realen und auch virtuellen Mauern

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OV-Extra

Oldenburgische Volkszeitung

Montag, 12. August 2019

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Von realen und auch virtuellen Mauern Einreise nach China für Gruppe problemlos – nicht so für die Autos Der Dammer Martin von den Driesch macht für sein nächstes Buchprojekt eine ungewöhnliche Reise. Von Martin von den Driesch

Peking. Wir sind jetzt in Eren Hot, China, eine Kleinstadt unmittelbar an der Grenze zur Mongolei, in der Wüste Gobi gelegen. Bei der Grenzüberquerung haben uns die Chinesen beeindruckt: die Beamten sind freundlich und effizient. Wie vieles andere scheinen sie sich auch die Technik am Grenzübergang von den USA kopiert zu haben: zuerst ein elektronischer Finger- und Gesichtsscan, dann eine kurze Passkontrolle, ein zackiger Stempeleintrag: „Have a good time in China“. Nur die Autos lassen noch auf sich warten – die Beantragung der Einfuhrgenehmigungen für China ist komplizierter als gedacht. Ein Teil der Gruppe fährt daher schon in Minibussen bis nach Peking vor. Der Minibus-Fahrer ist ein wahrer Multitasker: Er befördert nicht nur unsere Gruppe von acht Personen bei 120 km/h, sondern chattet gleichzeitig mit Freunden und nimmt gelegentliche Anrufe entgegen. Und zu guter Letzt findet er immer wieder eine freie Hand, sich noch eine Zigarette anzuzünden. Wir überlegen, ob ein Hinweis zum „verantwortungsvollen Fahren“ helfen würde. Da sein Englisch aber genauso limitiert ist wie unser Chinesisch, belassen wir es bei strafenden Blicken und beobachten alle zusammen sorgfältig die Straßenlage. Unser Fahrer setzt jetzt gleichzeitig zum Überholen und zum Verfassen einer Sprachnachricht an, die sehr emotional zu sein scheint. Ich muss an die warnenden Plakate an deutschen Autobahnen denken und hole meine Kamera heraus, um den Wahnsinn zu fotografieren.

Acht Stunden später kommen wir wohlbehalten in Peking an. Unsere erste Aktion hier gilt der Beschaffung neuer Russland-Visa, da die bisherigen zweifachen Einreisevisa abgelaufen sind. Auf der Visastelle heißt es zuerst: „Das wird mindestens sieben Arbeitstage dauern“. Jetzt kommt der große Auftritt von Wassili, ein Reiseteilnehmer aus Usbekistan, der uns freundlicherweise bei diesem Behördengang begleitet und der wegen seines lauten Tonfalls intern auch „Adi“ gerufen wird. Wassili verlangt den Leiter der Visastelle zu sprechen. Es wird kurzfristig sehr laut, man sieht manchen Chinesen förmlich an, dass sie ihr Reiseziel Russland nochmals überdenken. Aber Wassilis Einsatz für uns ist von Erfolg gekrönt: Plötzlich werden wir wie VIPs behandelt, innerhalb einer halben Stunde sind alle Dokumente ausgefüllt, und es heißt: „Am nächsten Tag können sie ihre Business-Visa abholen“. Am nächsten Morgen fahren wir zusammen an die Große Chinesische Mauer, in die Region Mutianyu, 70 Kilometer nordöstlich von Peking. Es ist schwül und heiß, und obwohl wir um 8.30 Uhr ankommen, sind schon zahlreiche Touristen dort. Die folgenden Stunden verbringen wir mit der Begehung dieses gut erhaltenen

Abends ist der Klassiker auf dem Programm: Peking-Ente Mauerabschnitts. Ein ziemlicher Kraftakt, vielleicht hätte ich meine Fototasche nicht so beladen sollen. Nach drei Stunden Spaziergang auf der Chinesischen Mauer geht es mit einer Art Rodelbahn herunter zum Parkplatz – ein großer Spaß! Abends steht im Restaurant natürlich der Klassiker auf dem Programm: Es gibt Peking-Ente! Der Weg zum Restaurant ge-

Selbstbewusst: Ein kleiner Junge zeigt seine Muskeln, in der Nähe des Platzes zum Himmlischen Frieden

staltet sich allerdings schwierig: Es regnet in Strömen und alle Taxis, auch die unbesetzten, lehnen uns ab. Ein chinesischer Freund klärt uns hinterher auf: Taxi-Bestellungen laufen in China fast ausschließlich über eine Online-App. Mit der Hilfe eines Hotelangestellten erbarmt sich nach einer halben Stunde aber doch ein Taxi-Fahrer und nimmt uns mit. Sein Taxameter lässt er ausgeschaltet. Am Ende möchte er 150 Yuan haben, weit über dem üblichen Tarif. Wir sprechen vielleicht kein Chinesisch, haben uns aber vorab über die Preise informiert. Ganz schnell lässt er sich dann auch auf die von uns vorgeschlagenen 30 Yuan ein. Die zubereitete Peking-Ente wird direkt an den Tisch gebracht und dort zerlegt – sie schmeckt hervorragend! Dazu gibt es diverse Snacks. Ein wahrer Leckerbissen ist die Sülze aus Schweinehaut. Tags darauf besuchen wir den Platz des Himmlischen Friedens, wie der Tian’anmen-Platz auch genannt wird. Jeder muss eine Sicherheitsschleuse durchqueren, an der auch der Reisepass gescannt wird. Auch hier sind schon Menschentrauben, vor allem Chinesen aus allen Landesteilen, von denen viele eine rote Flagge mitgebracht haben. Ich fotografiere einen kleinen Jungen, der vor meiner Kamera die Muskeln spielen lässt. Vielleicht ein gutes Sinnbild für die aktuelle weltpolitische Situation. Nach drei Tagen in Peking geht es weiter nach Harbin, eine Millionenstadt im Nordosten Chinas, am Fluss Songhua gelegen. Wir kommen um Mitternacht im Hotel an, wo keiner der Angestellten Englisch, Russisch oder gar Deutsch spricht. Man möchte uns Essen und Trinken anbieten, aber nein, wir möchten nur unsere reservierten Zimmer belegen. Wir versuchen uns per Google Übersetzer verständlich zu machen, dessen Funktionsumfang aber durch die chinesische Firewall – sprich: Internet-Zensur – massiv eingeschränkt ist. Auch eine VPN-App zur Anonymisierung des Standortes hilft nur begrenzt weiter. Eine Dreiviertelstunde später halten wir aber endlich die begehrten Zimmerschlüssel in der Hand. Am Ufer des Songhuas gibt es großflächige Parkanlagen. Überall sind Lautsprecher aufgebaut, aus denen Musik gespielt wird. In kleinen und großen Gruppen finden Tanz- und Bewegungsübungen statt, die Menschen scheinen mit großer Freude dabei zu sein. Am Abend, auf dem Nachhauseweg Richtung Hotel, fotografiere ich einen alten Mann, der vor einem Restaurant fröhlich raucht und Bier trinkt. Er deutet an, dass ich mich dazusetzen soll, und bietet mir eine Zigarette an. Nachdem ich einige Fotos von ihm gemacht habe, möchte er sich meine Kamera um den Hals hängen. Ich helfe ihm dabei, dann werden mir zwei Bierflaschen gebracht (aus irgendeinem Grund kommen immer zwei Flaschen pro Person). Wir stoßen an, der Alte spen-

Beeindruckend: Die Große Chinesische Mauer, circa 70 Kilometer von Peking entfernt. diert mir fortan fleißig Zigaretten und Bier. Und zeigt seiner Frau stolz meine Kamera, die um seinen Hals baumelt. Ich möchte mich gerne verständigen und probiere die Übersetzungs-Software, allerdings vergebens. Ach ja, die verdammte Firewall. Also wird weiter geraucht und getrunken, mit einem Tempo, das selbst beim Dammer Karneval selten erreicht wird. Ich mache eine Handbewegung, die bedeuten soll: „Ich möchte meine Kamera wiederhaben und ins Hotel gehen“. Sie wird aber fälschlicherweise interpretiert als: „Bitte noch eine Runde Bier holen!“ Vier Bierflaschen später kommt ein Junge dazu, der sich als Enkel vorstellt und auch etwas Englisch spricht. „Ich kann nicht mehr Bier trinken, sondern muss jetzt schlafen gehen“ scheint sich aber schwer übersetzen zu lassen – zumindest dauert es noch zwei weitere Bierflaschen, bis ich meine Kamera zurück erhalte und wir uns verabschieden. Zum Abschied kriege ich noch eine Zigarette mit, die letzte in der Packung. Nach fünf Tagen in China ist die Zeit gekommen für eine Lagebesprechung: Die Einfuhr der Autos ist weiterhin kompliziert, jeden Tag werden an der Grenze andere Bedingungen und vor allem Preise genannt. Unsere Gruppe fliegt daher tags darauf weiter nach Wladiwostok, im Fernen Osten Russlands, wo dann auch die Autos ankommen werden. Vom Flughafen Wladiwostok geht es direkt in die Stadt Ussurijsk, wo wir uns in ein Hotel mit dem schönen Namen „Nostalgie“ einquartieren. Endlich sind wir wieder zusammen: die Autos und alle Gruppenteilnehmer.

Viel los: Besucher am Eingang zum Platz des Himmlischen Friedens. Fotos: von den Driesch Von Ussurijsk aus sind es Luftlinie 6500 Kilometer nach Moskau – eine viel größere Entfernung zur russischen Hauptstadt als beispielsweise von Berlin aus. Auch der Zeitunterschied ist viel größer: Wir sind der Moskauer Zeit sieben Stunden voraus. Apropos Zeit: In den nächsten 48 Stunden wird sich entscheiden, ob wir wie geplant nach Nordkorea einreisen dürfen. Es scheint diesmal viel komplizier-

ter zu sein als bei unserer ersten Reise 2014, damals wurden wir sehr unterstützt von der nordkoreanischen Botschaft in Moskau. Unsere Unterstützer von damals sind jetzt zurück in Pjöngjang, was leider bedeutet: Nicht mehr erreichbar. Jetzt sitzen wir im Restaurant „Nostalgie“, essen geräucherten Omol-Fisch aus dem Baikalsee, und stoßen mit Löwenbräu-Bier auf die nächste Etappe an.

Fakten M Martin von den Driesch ist

Fotograf und Filmemacher. Er stammt gebürtig aus Damme. M Nach seiner Ausbildung zum Fotografen hat er mehr als 20 Jahre im Ausland gelebt: 13 Jahre in Moskau, acht Jahre in Dubai. M Er wohnt jetzt mit seiner Frau Julia Kim in Berlin. M Von den Driesch ist vom 9. Juli bis 15. September mit dem Auto von Moskau nach Nord- und Süd-Korea (und

zurück) unterwegs. Die Eindrücke will er in einem Buch mit dem Titel „Crossing Frontiers” verarbeiten. Geplanter Veröffentlichungstermin ist im Herbst 2020. Realisiert werden soll die Idee über ein CrowdfundingProjekt. M Von den Driesch stellt einige Fotos seiner Reise plus weitere Infos auf seine Instagram-Accounts @martinvondendriesch und @crossingfrontiers.


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