Die Zeltbürger von Sanaa

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Ausland Überall hängen weich gezeichnete Bilder der Gefallenen, Karikaturen des Präsidenten und Plakate neu gegründeter Gruppen: „Revolution English Club“, „Happy Yemen“. Jedes größere Zelt scheint Internetanschluss zu haben. Apfelverkäufer schieben ihre Karren durchs Revolutionäre Souvenirs werWährend Präsident Salih im Ausland seine Wunden heilt, richtet Gedränge. den angeboten, Kat-Blätter in Plastiksich die Protestbewegung in der Hauptstadt ein – sie will tüten portioniert. Zwei Männer halten die Spaltung des Landes überwinden. Von Alexander Smoltczyk sich an den Händen und tanzen zu einer fröhlichen Melodie: „Wir geben jeus dem Sit-in ist eine Stadt gewor- lizen des Stammesführers Sadik al-Ah- den Tropfen Blut / Wir geben unsere den. Drei-, vielleicht viertausend mar sind nicht nur an den ausgebrannten Söhne …“ Es ist eine Mischung aus Karneval und Zelte sind es, die in den letzten Ministerien, den von Schüssen zernarbten vier Monaten auf den Straßen des Uni- Mauern noch zu erkennen. Sie sitzen Volkshochschule, Open-Air-Festival und versitätsviertels von Sanaa aufgeschlagen allen in den Knochen. Sie waren ein Vor- Kirchentag. An den Zelten kleben Zettel: wurden. Mit Apotheken und einer Klinik. griff auf den Bürgerkrieg. Eine halbe Mil- „Der Islam liebt die Sauberkeit“. Hoch Mit vier eigenen Tageszeitungen, Audi- lion Kalaschnikows sollen in Sanaa in den über der Szenerie baumelt, etwas makatorien, einem Garten und schnell hinzementierten Mahnmalen für die Märtyrer. Es ist eine Stadt der Bürger. Ein Vorgriff auf das, was der Jemen sein könnte. Eine konkrete Utopie aus Zeltplanen, Paletten, Satellitenschüsseln und wild gezogenen Stromkabeln, welche die Oppositionellen ungefragt ans Netz der alten Stadt angeschlossen haben. Es gibt ein „Zelt der Diplomaten“ und eines der Schauspieler, es gibt tägliche Dichterlesungen und Demonstrationen – und es gibt ein Gefängnis. Ein Stein des Anstoßes. Riem al-Gaifi ist eine 22-jährige IT-Studentin, die zusammen mit ihrer Mutter und ihren vier Schwestern in der Zeltstadt lebt, vom ersten Tag an. „Braucht unsere Revolution ein Gefängnis?“, fragt sie. Eine Frage, vor der auch Robespierre, Trotzki und Fidel Castro einmal standen. „Nein“, sagt sich Riem al-Gaifi. Und deswegen wird sie heute gegen das Sicherheitskomitee der eigenen Protestbewegung pro- Demonstranten in Sanaa: „Braucht unsere Revolution ein Gefängnis?“ testieren. Freunde von ihr wurden von Soldaten Schränken stehen. Dafür ist es in der ber, eine Puppe im Wind, kopflos und im verhaftet, die sich der Revolution ange- Stadt erstaunlich ruhig. Viele Läden sind Anzug. Dann steigen bis zu den Augen verschlossen hatten. „Das ist der alte Jemen“, geschlossen, die Schulen sowieso. Alles sagt sie. „Es gibt unter uns Gruppen, die ist auf Stand-by. Das Leben hat sich auf schleierte Frauen auf die Plattform. Eine sehr gut organisiert sind und alles kon- die Straßenzüge rund um die Universität hat ein Mikro in der Hand und spricht durch den Nikab, das Tuch vor ihrem trollieren wollen. Aber wir sind die Zu- verlagert. kunft.“ Dann klebt sie einen Zettel an Das Zeltdorf auf dem Tahrir-Platz in Mund, über das Arbeitsrecht in den Proeine Mauer: „Unser Stamm heißt Jemen. Kairo hielt fünf Wochen lang. In Sanaa vinzstädten. Ihre Stimme ist im ganzen Unsere Partei heißt Jemen. Unser Glaube sind es jetzt bald fünf Monate, und jeder Viertel zu hören. Die Zeltbürgerstadt ist auch eine Stadt heißt Jemen.“ Besucher wird auf die Straßennamen des Seit drei Wochen liegt Jemens Präsi- Viertels hingewiesen: „Straße Tunesiens“, der Frauen. Aischa al-Sanit, Lehrerin an dent Ali Abdullah Salih in einem Militär- „Straße Kairos“, „Straße der Gerechtig- der türkischen Schule, sagt, sie habe zum krankenhaus in Saudi-Arabien und ku- keit“. „Sag ihm, es war vorherbestimmt!“, ersten Mal den Mut gefunden, auf einer riert die Wunden eines Bombenanschlags sagt ein Soldat dem Dolmetscher, die lin- Bühne zu sprechen. Sie fühle sich respekaus. Niemand weiß, wann er zurückkeh- ke Backe prall mit Kat-Blättern gefüllt, tiert: „Ich habe hier mit meinen Füßen ren wird und ob überhaupt. dem landesüblichen leichten Rauschmit- die Freiheit gespürt.“ Es gibt auch ein Zeltdorf der Anhänger Die politischen Zustände sind in der tel. Dann nimmt er einen Schluck Wasser Schwebe. Die jüngsten Straßenkämpfe und versenkt einen grünen Strahl in ei- des Präsidenten, gleich neben dem Kulzwischen regimetreuen Einheiten und Mi- nem Blecheimer. turministerium. Täglich gibt es drei MahlJEMEN

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muss sich zurückhalten können“, sagt Ali al-Imad, ein 32-jähriger Telekom-Manager, der für die Huthis im Bündnisrat der Opposition sitzt. „Nach der Revolution ist noch Zeit, von General Muhsin eine Entschuldigung zu verlangen.“ Draußen wird eine Plastikfolie ausgerollt, zig Meter lang, das ist die Tischdecke. Geschäftsleute, heißt es, würden die Zeltstadt mit Spenden finanzieren. Hamid al-Ahmar, Mobilfunk-Milliardär und islamischer Oppositionsführer, soll die Alu-Kochkessel füllen, die jeden Mittag angekarrt werden. Dschamila Raja hält Vorlesungen über Bürgerrechte im „Zelt der Diplomaten“. Die ehemalige Attachée und Eigentümerin des Dichtercafés „Mokka Bunn“ ist zur Revolution übergelaufen, als am 18.

rung“, sagt Tawakul Karman, die populäre Revolutionsführerin. „Wir werden hier auf dem Platz bleiben, bis sie unsere Revolution anerkannt haben. Die Jugend marschiert zum Palast, und wenn sie uns töten.“ Das sind nicht nur Worte. Beim letzten Mal hatte Karman sich nicht an die Abmachungen gehalten und eine Demonstration zum Präsidentenpalast geschickt. Gestorben aber waren andere. Das haben ihr manche nicht verziehen. Karman lässt sich nichts vorschreiben. Sie trägt keinen Nikab und liest einen Grisham-Schmöker, „The Rainmaker“. Außerdem sitzt diese junge Frau auch im Vorstand der islamistischen „Islah-Reformpartei“. Die Islah-Partei ist stärkste Kraft der Opposition. Angeblich betreibt sie auch das Gefängnis, von dem geredet wird wie von einem schlechten Traum. Es wird aber auch bereits jenseits der Plätze verhandelt, in den üblichen Hinterzimmern der Macht. Außenminister Abu Bakr al-Kirbi sei dabei, so heißt es, mit den abgesprungenen Generälen und Stammesführern ein neues Mobile der Macht auszutüfteln. Solange Präsident Salih noch im Krankenhaus in Riad liegt. Der US-Botschafter betreibt das politische Coaching. Auch das Bündnis „Joint Meeting Parties“ ist an den Gesprächen beteiligt. Das ist der Jugend verdächtig. „Wir verhandeln nicht“, sagt Riem al-Gaifi, die IT-Studentin. „Wir sind keine Politiker. Wir machen nur Druck, und die sollen es umsetzen.“ Sie wechselt die Kassette im Recorder und beschallt die Straßenzüge jetzt mit einem der Revolutionsgedichte, die jeden Tag aufs Neue entstehen. Eine Grabesstimme, unterlegt mit Sphärenklängen: „Du musst wütend sein / WÜTEND / Dann wird das Land wie Feuer brennen …“ Neben dem Lautsprecher lagern junge Männer in bühnenbildreifen Posen und haben eine Backe dick. Ein hagerer, ernster Junge drängt sich vor und sagt dem Dolmetscher, er müsse etwas sagen. „Wir wollen Gerechtigkeit. Und den Rechtsstaat. Und Demokratie. Und dass die Menschenrechte beachtet werden.“ Er macht eine Pause. Dann: „Gleichheit. Alle sollen gleicher sein als vor unserer Revolution.“ Der Junge heißt Abdul Rakib, er ist 22 Jahre alt, ohne Arbeit und trägt ein gelbes T-Shirt. Vermutlich wird sein Name nie wieder eine Rolle spielen. Vermutlich wird sich seine Rebellion wieder auflösen in den üblichen Zuständen, so wie eines Tages auch die Zeltstadt, so wie die ganze Revolution. Egal. Er hat gesprochen. ! FOTOS: MARTIN VON DEN DRIESCH / DER SPIEGEL

zeiten und Kat-Blätter umsonst. Da sind die Menschen verlumpt, und man sieht wenige Jüngere, kaum Frauen. Präsident Salih hat gewiss noch eine starke Anhängerschaft. Am Freitag trafen sich Hunderttausende vor der Präsidentenmoschee. Viele haben Angst vor einem neuen Jemen. Aber wenn der Jemen ein Schlangennest ist, wie es Salih einmal umschrieb, dann sind hier vor der Universität derzeit sehr diszipliniert tanzende Schlangen zu beobachten. Jede Provinz hat ihre Zelt-Vertretung und viele der größeren Stämme. Alle kauern nebeneinander auf der Straße, um ihr Curry zu essen und zu beten. Das ist eine Revolution, jedenfalls für den Jemen. „Wir gelten als Analphabeten und Kidnapper“, sagt Scheich Ahmed Salih, Chef

Religiöse Regimegegnerinnen: „Wir sind die Zukunft“

eines Beduinenstamms in der Marib-Provinz. „Aber wir sitzen hier in unserem Zelt, um zu zeigen, wie friedlich wir sind.“ Die schweren Waffen habe er deshalb zu Hause gelassen. In seinem Stammesgebiet, östlich von Sanaa, soll sich der Qaida-Führer Nasser al-Wuhaischi verstecken. „Unsinn. Al-Qaida ist eine Erfindung des Regimes. Wir sind alle gute Muslime.“ Zwei Ecken weiter, auf der Universitäts-Straße, lagern die „Jungen Huthis“, deren Bewegung seit fast sieben Jahren im Grenzgebiet zu Saudi-Arabien einen Guerillakrieg gegen Sanaa führt. Jetzt finden sich die Rebellen auf einer Seite mit ihrem Todfeind General Ali Muhsin alAhmar, der sie mit allen Mitteln bekämpft hat. „Politik ist wie Kunst. Man

März Scharfschützen mehr als 40 Demonstranten töteten: „Interessant ist, wie selbstbewusst Salih wieder auftrat, als sich die Generäle und Stammesführer von ihm abwandten“, sagt sie. „Mit Rebellion kann er umgehen. Mit dem, was hier passiert, nicht. Das ist nicht sein Spiel, da kennt er die Regeln nicht.“ Das Oppositionsbündnis „Joint Meeting Parties“ arbeitet jetzt an einer Liste von Vertrauenspersonen, die anstelle des Präsidenten den Übergang vorbereiten sollen. Ein provisorischer Rat von 70, 80 Menschen soll das Parlament ersetzen und Wahlen organisieren. „Es spielt keine Rolle, ob Salih zurückkehrt. Wir waren es, die ihn abgesetzt haben. Der zweite Schritt ist jetzt die Absetzung seiner Mitgauner in der RegieD E R

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