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Gisela Pfleiderer
D 64 . 215.482. 36’
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Zur Erinnerung an Gisela Pfleiderer
geb. Aisch (9. 1. 1913 – 28. 5. 2005), genannt „Muttle“
g e s c h r i e b e n von to c h t e r ruth gisela evers, geb. pfleiderer (84)
GLEICH NACH DEM ABITUR
in Fürstenwalde hat Gisela Aisch erst einmal in der Firma Nagler, einem Fachgeschäft für Honig und Bienenwachs, in Berlin gearbeitet, denn ihr Vater, der Bienenvater Pfarrer Johannes Aisch, hatte sich gewünscht, dass seine jüngste Tochter Imkerin wird.
Daraus wurde allerdings nichts. Wie das Schicksal es wollte, arbeitete Gisela mit Firma Nagler auf einem Bauernmarkt, wo sie sehr engagiert Honigprodukte verkaufte, und da gab es einen besonders sympathischen Standnachbarn, das war der Süßmoster Hellmut Pfleiderer, ein waschechter Schwabe aus Stuttgart, der dort seine Obstsäfte anbot, 1932 ein ganz neues, gesundes Getränk. Er engagierte die tüchtige Verkäuferin, und zwar auch gleich als Ehefrau.
1933 war das Jahr der Machtergreifung
Das war im Jahr 1933, dem Jahr der Machtergreifung,womit natürlich nicht die Hochzeit meiner Eltern – um sie geht es hier – gemeint war. 1934 kam ich zur Welt, 1936 kam noch mein Bruder Rudolf dazu und 1939 und 1942 unsere beiden kleinen Schwestern Ingrid und Rotraut. Als Mutter von vier Kindern hat man Muttle sogar einen Orden verliehen, das Mutterkreuz mit Hakenkreuz. 1942 waren wir bereits im dritten Jahr des 2. Weltkrieges. Die Fenster mussten mit schwarzem Papier verdunkelt werden, und nachts schliefen wir im Luftschutzkeller, denn Berlin
wurde bombardiert. Auch unser Mietshaus hätte beinahe einen Bombentreffer abbekommen, die Süßmostfabrik blieb zum Glück verschont.
Mein Vater beschließt, eine zweite Süßmostfabrik mit Obstplantagen im nördlichen Teil Jugoslawiens aufzubauen, das damals von uns Deutschen besetzt war und Oberkrain hieß. Wir zogen also von Berlin nach Veldes (heute Bled), vor Bomben relativ sicher, wo Rudolf und ich mit lauter Slowenen zur Schule gingen, die Deutsch lernen mussten. Einmal hatten wir alle Scharlach, außer Muttle und Anica, unser slowenisches Hausmädchen. Beim Einkaufen wurde Muttle vom Bürgermeister gewarnt, sie verbreite eine schwere, ansteckende Krankheit und solle sich nicht wundern, wenn ihr Tito-Partisanen den Schädel einschlagen würden. Das war schlimm, und so mussten wir nach Radmannsdorf (Radowlica) ziehen in eine Miethaussiedlung mit vielen Deutschen, wo wir uns zunächst wieder etwas sicherer fühlten.
Ein Jahr auf einem Bergbauernhof in Kärnten
Was 1945 geschah, ist bekannt. Das Kriegsglück hatte sich – vorhersehbar – gewendet.Muttle musste in großer Eile unsere wichtigsten Sachen packen, dazu gehörte auch die Nähmaschine, eine zum Treten natürlich. Jeweils zwei Familien, außer uns noch Frau Rotermund und Margritt, bekamen zusammen einen Laster, in dem wir des nachts von Radmannsdorf über Italien nach Österreich
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Weihnachtsengel
flüchten mussten, das ja damals noch zu Deutschland gehörte. Auf dem Wagendach lagen zwei Soldaten zu unserem Schutz. In Berg im Drautal stellte eine Bergbauernfamilie uns zwei leere Zimmer zur Verfügung. Wasser vom Brunnen, das Plumpsklo machte uns viel Spaß, und die Wanzen hatten wir auch bald im Griff. Vor allem bekamen wir zum Glück genug zu essen und täglich Milch von den uns gegenüber wohlgesonnenen Kärntner Bergbauern. Die beiden Mütter bauten an einem steilen Hang Gemüse an, und bei dieser Arbeit konnten sie gemeinsam um ihre Ehemänner weinen, ohne dass wir fünf Kinder es sahen.
Alle vierzig deutschen Volkssturmmänner aus Radmannsdorf waren inzwischen von Tito-Partisanen gefangen genommen und verschleppt worden, auch Vater und Herr Rotermund. Dass sie für immer verschollen bleiben würden, haben wir damals noch nicht geahnt, und so hat uns und
vor allem unsere Mütter noch viele Jahre lang die Hoffnung getragen. Auch noch 1946, als Österreich sich wieder von Deutschland getrennt hatte und wir in Viehwaggons „heim ins Reich“ abgeschoben wurden.
Vaters Geschwister nahmen uns fünf Flüchtlinge im zerstörten Stuttgart auf
Ohne unseren Vater kamen wir in seiner Heimatstadt Stuttgart an, die in Trümmern lag, unangemeldet natürlich, denn esgab noch keine Post. In der Not hat sich seine Familie zusammen getan, und auch noch Muttle und uns vier Kinder zwischen zwölf und dreieinhalb Jahren aufgenommen. Bei Vaters ältester Schwester Margret Felder und ihrem Mann Friedrich Felder durften wir zwei Jahre lang wohnen, in ihrem bombengeschädigten Haus in Stuttgart-Weilimdorf. Dazu gehörte ihre Tochter, die Handweberin Elsemarie Felder und ihr Sohn Hans Felder, der mit einer schweren Kopfverletzung aus dem Krieg heimgekehrt war, damals gerade Theologie studiert hat und später der Vater unseres Vorsitzenden Matthäus Felder wurde, dem vierten von seinen fünf Kindern.
Vaters ältere Schwester Elisabeth (Lise) Pfleiderer, geb. Pfleiderer, Mutter von fünf Kindern, deren Mann Erwin im Krieg geblieben war – ihr ältester Sohn Hans noch lange in Gefangenschaft * – hatte anstelle des total von Bomben zerstörten vierstöckigen Bettenhauses Pfleiderer dort ein eingeschossiges Bettenhaus aufgebaut, und nach der Währungsreform 1948 durfte Muttle auf dem Land für dieses Geschäft Bettwäsche verkaufen, zuerst per Fahrrad,
* vgl. Sommerausgabe des Familienblattes 2018
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Gisela Pfleiderer
später mit der Lambretta, und Tante Lise hat dafür gesorgt, dass sie die nötigen Fachkenntnisse bekam. Das alles waren ganz große Hilfen. Aber die Sorge um unseren Vater blieb. 1950 musste Muttle ihn für tot erklären lassen, um die Kriegerwitwenrente zu bekommen. Wir fingen ein neues Leben an, Muttle war offen für andere Menschen, und zu unseren Freunden gehörten andere Leidensgenossen. Rudolf studierte Elektrotechnik, Ini und ich wurden Sekretärinnen und Roti entschied sich, Lehrerin zu werden.
Weihnachtsengel zu gestalten war ein Beruf, den „Muttle“ selbst erfunden hat
1952 hatte unsere Mutter begonnen, mit uns Kindern zusammen Weihnachtsengelund Krippenfiguren zu basteln, zuerst warendas ganz einfach unsere selbstgemachten Geschenke, später wurden sie verkauft. Die ersten gingen an die Galerie Valentin am Stuttgarter Schlossplatz.
Einige Jahre lang hat Muttle sowohl Engel gestaltet als auch noch fürs Bettenhaus Pfleiderer Bettwäsche verkauft, zu dem auch noch Vaters jüngerer Bruder Markus Pfleiderer gehörte. Viele Jahre lang hatte das „Studio Gisela Pfleiderer“ sogar einen Stand auf der Frankfurter Messe. Nachdem wir Kinder ausgeflogen waren, hat Muttle mit Hilfe von mehreren Heimarbeiterinnen insgesamt fünfzig Jahre lang viele Menschen, über Deutschland hinaus, mit ihren edlen Engeln, Maria und Josef und den lieblichen kleinen
Glücksengeln erfreut. Sie hinterlässt drei Kinder, leider ist unsere Jüngste Roti bereits 1984 gestorben, elf Enkelkinder und vierzehn Urenkel.
Vaters Name „Hellmut Jakob Pfleiderer, geb. 29.11.1901, vermisst 1945“, steht auf dem Grabstein über dem Namen von Muttle. Darüber ist ein ovales Bild der Mutter Maria mit dem Jesuskindlein, das Bild der schönsten Madonna, die Muttle selbst gestaltet hat.
Mit großer Dankbarkeit denke ich an meine Eltern und manchmal träume ich davon, dass sie nach sechzig Jahren der Trennung im Himmel wieder zueinander gefunden haben.
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Foto: Privat
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