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Humpty Dumpty
Humpty Dumpty
Eine Reflektion von Michael Harvey*
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Heute Morgen werde ich über Humpty Dumpty sprechen und auf Zusammenhänge zwischen seiner Geschichte und der von Jesus hinweisen. Zuerst muss ich jedoch etwas über das Wesen des Mythos sagen. Ein Mythos ist die literarische Form, die den zugrunde liegenden Ängsten und Hoffnungen gegeben wird, die in unserer tiefsten Natur verborgen sind. Zum Beispiel sind die griechischen Geschichten über die Unterwelt für uns immer noch von Interesse, weil sie die Angst vor dem Tod zum Ausdruck bringen, die wir alle haben. Die Geschichte von Cocagne, wo einem die Nahrung in den Mund fällt, drückt den Wunsch aus, dass wir alle genug zu Essen bekommen. Heute Morgen werde ich auf zwei Arten von Mythen eingehen. Die beiden Mythen, auf die ich gerade Bezug genommen habe, können wir Mythen des Körpers nennen, die sich hauptsächlich um Geburt, Nahrung, Geschlecht und Tod drehen. Eine weitere Gruppe von Mythen können wir Geschichtsmythen nennen, denn es geht um frühe Erfahrungen der Menschheit mit Naturkatastrophen wie z. B. Überschwemmungen. Die angestammte Erinnerung an die Überschwemmungen in Mesopotamien fand ihren Ausdruck in mythischen Geschichten wie der von Noah oder Gilgamesch. Als um ein solches Ereignis eine mythische Geschichte entstand, wollte diese weniger auf das Ausmaß der Katastrophe hinaus als auf Gottes Beziehung zum Menschen. Zum Beispiel war die Geschichte der Sintflut wichtig, weil sie nahe legte, dass Gott die erschaffene Welt leicht zerstören oder, wenn er es wollte, verschonen könnte. Die Überquerung des Toten Meeres hinterließ ihre Spuren in den Köpfen der Israeliten. Nicht wegen der bemerkenswerten Art des physischen Ereignisses, sondern weil es zeigte, dass Gott eine besondere Absicht mit Israel verfolgte. Betrachten wir die Mythen des Körpers: Eine Erfahrung des Körpers, der wir nicht entkommen können, ist die Geburt. Während sich unser Körper im Schoß unserer Mutter bildete, bildete sich auch unser Gehirn, und als wir dort lagen – zusammengerollt – und die Nahrung aus dem Körper unserer Mutter aufnahmen, wurden wir allmählich besessen von dem einen Wunsch, die Gebärmutter zu verlassen – nach dem Licht zu greifen.
Alice im Wunderland ist ein erstmals 1865 erschienenes Kinderbuch des britischen Schriftstellers Lewis Carroll. Die Geschichte über die Entstehung der Menschheit im Garten Eden und die Vertreibung aus ihr ist ein Mythos, der bei jedem von uns Anklang findet, weil er uns an unsere eigene Geburtserfahrung erinnert, auch wenn wir uns auf der bewussten Ebene nicht daran erinnern können. Geschichten, die sich auf die eine oder andere Weise auf den Geburts- oder Gebärmuttermythos beziehen, sind zahlreich. Besonders beliebt waren solche Geschichten im Mittelalter, als Künstler unermüdlich so genannte Paradiesgärten malten, von einer Mauer umschlossen: Innerhalb der Mauer ist das Leben sicher wie im Mutterleib, aber außerhalb erstreckt sich eine Welt, in der Gefahr lauert. Ummauerte Gärten, wegen der Art und Weise, wie sie den Mythos der Gebärmutter zum Ausdruck bringen, waren in der Fiktion immer beliebt. Der geheime Garten, der Garten von Herrn MacGregor, der Garten in Kapitel eins in » Alice im Wunderland «. Mit der gleichen Gruppe von Mythen verbunden ist das verwunscheneDornröschenschloss, umgeben von undurchdringlichen Dornen, wo die Prinzessin schläft und darauf wartet, durch den Kuss des Prinzen zum Leben erweckt zu werden. Aus ähnlichen Gründen mögen wir alle Geschichten über Tiere, die in gemütlichen kleinen Löchern unter der Erde leben, wie die Kaninchen von » Watership Down (Unten am Fluss) « und Beatrix Potter, oder Dachs und Maulwurf in » Der Wind in den Weiden «. Wir können nicht ewig Beatrix Potter lesen, das Baby muss die Gebärmutter verlassen, der Junge muss die Schule, der Student die Uni verlassen. Das sind auch Geburtserfahrungen. Jede von ihnen bedeutet, die Sicherheit dessen, was wir wissen, zu verlassen und ins Unbekannte zu gehen. Die Israeliten in der Wüste sehnten sich danach, nach Ägypten zurückzukehren, wo sie zumindest wussten, was sie erwartete und wo sie viel zu essen hatten. Aber Mose verlangte von ihnen, sich nicht aufhalten zu lassen, nicht vor dem Schmerz einer neuen Geburt zurückzuschrecken, sondern weiterzumachen, bis sie im verheißenen Land ankamen. Doch nicht immer laufen die Dinge reibungslos für diejenigen, die den Mut haben, mit dem Vertrauten zu brechen: Prometheus bezahlte teuer, dem Himmel Feuer entreißen zu wollen. Ikarus flog so hoch er konnte, aber die Sonne schmolz die Gelenke seiner Flügel und er stürzte ins Meer. Und Humpty Dumpty, nun, ihr wisst, was mit ihm geschah. Er war mutig genug, um die Wand seines Paradiesgartens zu erklimmen, um nachzusehen, was draußen los war. Er krachte hinunter und alle Pferde des Königs und alle Männer des Königs konnten Humpty nicht wieder zusammensetzen. Der Pferde bezug erinnert uns an eine andere Mythenfamilie, die Phasen der menschlichen Geschichte oder Evolution zu markieren scheinen. Eine der ersten Errungenschaften des primitiven Menschen war die Domestizierung von Tieren. Diese Leistung hatte eine besondere Bedeutung, denn dadurch wurde die Beziehung des Menschen zu den Göttern verändert. Nicht mehr Gott war Herr der Natur, sondern der Mensch. Der Mensch erkannte auch, dass er, um zu überleben, nicht nur Tiere zähmen muss, sondern auch das Tier in sich selbst. Sein Geist muss seinen Körper disziplinieren. Aus diesem Grund haben Menschen auf Pferden eine mythische Achtung erlangt, weil sie die Kontrolle des Menschen über seine niedrige Natur und seine niederen Instinkte darstellen.
Als z. B. Abraham Gottes Gebot billigte, seinen Sohn Isaak zu opfern, begab er sich nicht zu Fuß, sondern per Esel zum Opferplatz. Der heilige Georg besiegte die Macht des Bösen in Drachengestalt weil er zuvor das Böse in sich selbst besiegt hatte. Deshalb wird Sankt Georg immer, oder fast immer als Reiter gezeigt. Nicht verwunderlich, dass neue Jungs am Malvern College * die Statue im Viereck mit Jeanne d’ Arc verwechseln: Ohne sein Pferd ist Sankt Georg nicht signifikant. Eines der unbefriedigendsten Dinge am Jabberwocky ist, dass der Junge, der den Jabberwock tötet, nicht reitet. Andererseits weicht er galoppierend zurück und du kannst nur » galumph on some thing like a horse. « Vielleicht fiel der Weiße Ritter immer wieder von seinem Pferd, weil Lewis Carrol fühlte, dass es wirklich dem Jungen gehörte, der den Jabberwock getötet hatte. So erlitt Humpty Dumpty, der versuchte, den Paradiesgarten zu verlassen, um zu sehen, wie das Leben draußen war, ein ähnliches Schicksal wie Ikarus, und es gab nicht viel dagegen auszurichten.
Weil wir alle die gleichen Hoffnungen und Ängste teilen, brauchen wir Mythen, die uns helfen, sie zu verstehen. Ein Mensch, der keinen der Mythen verinnerlicht hat, verkörperlicht in Märchen und Kinderreimen – griechisch oder biblisch –, diesem fehlt ein unschätzbares Werkzeug, das ihm hilft, sich den Hoffnungen und Ängsten zu stellen, die unser kollektives Unterbewusstsein heimsuchen. Dies erklärt zum Teil, warum es das Christentum schaffte, einen solchen Einfluss auf die Vorstellungskraft der Menschen zu erlangen: Von Jesus wird gesagt, dass er in einer Krippe geboren wurde, die wir uns dunkel, warm und schoßartig vorstellen. Mutig verließ Christus die Sicherheit der Kindheit, ließ seine Eltern zurück, um im Tempel zu lehren, und erinnerte seine Zuhörer nachhaltig an die Notwendigkeit, den Bindungen der Familie zu entkommen. Er versuchte nicht, in der Sicherheit Galiläas zu bleiben, sondern zog weiter nach Judäa, wo er genau wusste, welches Schicksal ihn erwartete. In die Stadt Jerusalem ritt er auf einem Esel, um den Monstertod zu besiegen. Nach seiner Kreuzigung – und erst dann – kehrte er in den Mutterleib zurück in der Form eines Höhlengrabes in einem Garten. Indem er dem Leidenspfad gefolgt war, zeigte er uns den Weg in das ewige Paradies, das wahre verheißene Land.
Übersetzte Leseprobe aus Michael Harveys Buch
» Man was made to meditate on things « (engl.),
zu beziehen beim Verlag Aspect Design, 89 Newtown Road, Malvern, Worcs. WR14 1 PD, UK, E-mail: allan@aspect-design.net, Website: www.aspect-design.net
© 1970 – Malvern Urban District Council
Dieses Buch ist eine Zusammenstellung von Reflexionen über das Christentum und die Natur des erfüllten Lebens von Michael Harvey. Die meisten dieser Aufsätze wurden ursprünglich als Predigten oder Adressen während seiner Lehrtätigkeit gehalten und für Michaels viele Freunde und ehemalige Schüler wird die Wiederentdeckung seiner anregenden Analyse und seines Stils viel Freude bereiten. Für diejenigen, die mit seinen Schriften nicht vertraut sind, wartet ein Leckerbissen. Als Sprachwissenschaftler, Lehrer und Schriftsteller, für den Literatur, Kunst und Architektur tägliche Begleiter sind, bringt er in seine theologischen Interpretationen eine Fülle von literarischen und künstlerischen Referenzen und kraftvollen Bildern ein. Es ist nur angemessen, dass der Text von vielen seiner eigenen Zeichnungen sowie Illustrationen aus seinem früheren Studium von Kirchen in der Region Aude begleitet wird, in der Michael und Suse ihre Heimat gefunden haben.
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