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Addendum
NR. 12, € 4,20
9190001019680
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ÖSTERREICHISCHE POST AG — MZ 18Z041574 M QUO VADIS VERITAS REDAKTIONS GMBH., HALLEINER LANDESSTRASSE 24, 5061 ELSBETHEN
DIE ZEITUNG
Im Ausnahmezustand „Wenn der Spuk vorbei ist, wird die Kritik an den Maßnahmen kommen.“ (Rudolf Burger, ab Seite 46)
Rahofer.
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Zum Anfang ... Auch die monatliche Addendum-Zeitung wurde deshalb als monatliches Special-interest-Produkt konzipiert, das neben dem jeweiligen Schwerpunktthema einige Standardelemente wie das Pilatus-Projekt und die literarische Erzählung anbietet und dazu einige der Recherchen, die im vergangenen Monat auf der Addendum-Website publiziert wurden. Ausnahmesituationen, noch dazu solche, die mit einem regelrechten Ausnahmezustand verbunden sind, bedingen aber gelegentlich Ausnahmen von der Regel: Es gibt Dinge, an denen kommt man nicht vorbei, wer und was immer man ist. Also haben wir versucht, in der zur Verfügung stehenden Zeit Texte und Interviews zusammenzutragen, die zur grundsätzlichen Einordnung der Situation beitragen – etwa die Gespräche mit den Philosophen Rudolf Burger und Konrad Paul Liessmann –, und andererseits einen Ausblick auf die Aspekte des Geschehens bieten, die in den kommenden Wochen und Monaten wichtig werden, wie etwa die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen gegen das neuartige Coronavirus. Genosse Alm hat auch wieder einen sehr interessanten Text beigesteuert, er handelt von den Interferenzen zwischen biologischer und medialer Infektiosität, um es vereinfacht zu sagen. An Addendum-Projekten aus den letzten Wochen haben wir diesmal eine Beschreibung der Probleme, die der aufgrund des Klimawandels verfrühte Frühlingsbeginn der Landwirtschaft bereitet, und einen Text über das Schicksal einer jungen Frau, die Opfer eines Behandlungsfehlers geworden ist. Bleiben Sie gesund und lesen Sie viel.
© Nicole Heiling
D
ie März-Ausgabe der Addendum-Zeitung sollte eigentlich ein anderes Schwerpunktthema haben, es hätte etwas mit Autos zu tun gehabt – ich liebe Autos, aber das ist nicht der Grund –, und sie wird, wenn es die Welt, wie wir sie kannten, in Umrissen wieder gibt, auch erscheinen. Wenn es die Welt wieder gibt, gibt es ja auch wieder Autos und uns. Derzeit gibt es die Welt nur im Ausnahmezustand, und was das wirklich heißt, haben wir uns für den Schwerpunkt dieser Ausgabe angeschaut. Es war zugegebenermaßen ein wenig knapp, weil die Regierung die derzeit gültigen Maßnahmen zur weitgehenden Einschränkung des öffentlichen Lebens in Österreich drei Tage vor unserem Textschluss bekannt gegeben hat. Die Woche, die wir uns in der Produktion der Addendum-Zeitung eigentlich für die sorgfältige Durcharbeitung der Texte, die Finalisierung des Layouts und die Optimierung von Bildern und Grafiken nehmen, musste reichen, um ein Konzept zu erstellen, Texte in Auftrag zu geben und zu schreiben, sie zu redigieren, Bilder zu finden und dem Ganzen ein einheitliches Gesicht zu geben. Dass das überhaupt funktioniert hat, verdanken wir und Sie in erster Linie den beiden Frauen, die jeden Monat die Hauptlast der Zeitungsproduktion tragen: Lucia Marjanović, die als Chefin vom Dienst die Addendum-Buchstabenwelt zusammenhält, und Edith Heigl, die als Artdirector für das Gesicht der Addendum-Zeitung verantwortlich ist. Sie haben zehn Tage lang eine zusätzliche Form des Ausnahmezustands gelebt, sind also inzwischen auch wirkliche Expertinnen in der causa prima des Landes und der Welt. Eigentlich ist das jetzt die Zeit der Nachrichtenmedien, der Live-Streams, der Ticker, das Publikum verlangt nach Echtzeit-Information, ganz gleich, ob es sich damit beruhigen oder aufregen will. Schon die Tageszeitungen leben mit dem Risiko, dass das, was sie am späten Nachmittag als Nachrichtenlage zusammenfassen und in Druck geben, am nächsten Morgen überholt ist (selten konnte man den bekannten Spruch, wonach es nichts Älteres gebe als die Zeitung von gestern, so wörtlich nehmen). Wochenzeitungen müssen schon erhebliche Abstraktionshöhen erklimmen, für Monatsprodukte wird es überhaupt schwierig. So funktioniert die Beschleunigungslogik der Medienproduktion an sich schon lange: Eine heutige Tageszeitung liefert das, was vor 25 Jahren eine Wochenzeitung geliefert hat, eine Wochenzeitung liefert, was vor einem Jahrzehnt ein Monatsmagazin geliefert hat, und Monatsmagazine mit General-interest-Zuschnitt existieren nicht mehr.
Michael Fleischhacker
Herausgeber
Ausgabe 12 | 3
Inhalt
Ausgabe 12: Im Ausnahmezustand März 2020
Inhalt Das Pilatus-Projekt
6
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Der Weg zum Medikament
Krise als Chance für Politiker
Im Ausnahmezustand
24
Naturkatastrophen, Kriege und Epidemien können Politikerkarrieren sprunghaft befördern oder vernichten.
Essay: Es ist, wie es nie war
12
Das Motto für die Krise: Es könnte aber auch alles ganz anders sein. Ein Essay.
Die Krisenikone
28
Das Bild der Krise hat vor allem eine Grafik geprägt. Es fehlt jedoch eine wesentliche Information. 16
Am Anfang gab es nur wenige Einzelfälle, mit den Ansteckungen in Ischgl geriet die Lage außer Kontrolle. Eine Übersicht.
In der Echokammer
30
Ausgangssperre: Die Schriftstellerin Julya Rabinowich beschreibt die Auswirkungen der Isolation.
Highlights
Isolationstagebuch
Medikament aus Wien
30
18 Die Wiener Firma Apeptico forscht an einem Medikament gegen Lungenversagen. Es könnte auch Corona-Patienten helfen.
4 | Addendum
22
Vom Wirkstoff bis zum Patent: Bis ein neues Medikament auf den Markt kommt, müssen viele Schritte durchlaufen werden.
Drei Beispiele für scheinbar unumstößliche Wahrheiten, die dann doch nicht die ganze Wahrheit sind.
So kam das Virus nach Österreich
18
Eine kleine Biotech-Firma in Wien arbeitet an der Entwicklung eines Medikaments, das bereits Erkrankten helfen könnte.
In jeder Ausgabe stellen wir die Frage: „Was ist Wahrheit?“ Diesmal: Der Satiriker Fritz Jergitsch im Gespräch. Wahr ist viel mehr
Ein lebensrettendes Medikament aus Wien
Die Corona-Pandemie hat weltweit ein paar Planungen umgeworfen, unter anderem die der Addendum-Zeitung Nummer 12. Statt „Das Auto und wir“ heißt sie jetzt „Im Ausnahmezustand“.
Wachsam bleiben
36
Die Idee des Ausnahmezustands umweht seit Carl Schmitt eine düstere Note. Zu Recht: Wir sollten wachsam bleiben. Wo das Virus haften bleibt
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Das Virus breitet sich auch über die Medien aus, noch dazu heftig mutiert und schwer zu kontrollieren. 40
Am längsten überlebt das Virus unter anderem auf Computermäusen und Türklinken. Eine Übersicht. Österreich in der Corona-Rezession
Medienviren – die zweite Pandemie
„Jeder in der Branche ist ein Steuerbetrüger“ Hochrisikobranche Personenbeförderung: Steuerfahnder kritisieren sowohl die Taxi- als auch die Mietwagenbranche.
42
IHS-Ökonom Martin Kocher gibt einen Ausblick auf die Krise nach der Krise.
Der frühe Frühling und die Ernten
Rudolf Burger: „Das Virus hat keine Moral“
Der Frühling beginnt immer früher. Das hat Folgen, vor allem für die Landwirtschaft.
46
Wie wird die Krise die Menschen verändern? Nicht sehr, meint der Philosoph Rudolf Burger. Konrad Paul Liessmann: Kein Draußen mehr
Taiwan war richtig vorbereitet
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Nach Fehldiagnose im Rollstuhl 52
Welche Lehren wir aus der Krise ziehen können und welche nicht – ein philosophisches Gespräch.
72
Marija P. sitzt seit 2013 gelähmt im Rollstuhl. Wahrscheinliche Ursache: ein Behandlungsfehler. Valerie Fritsch: Die Ordnung der Dinge
56
In Taiwan hat sich das Virus verhältnismäßig wenig ausgebreitet. Warum das so ist.
76
Die zweite von zehn Kurzgeschichten der Autorin, die kürzlich ihren Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ veröffentlicht hat.
Die CoronaRezession
Über das Eingeschlossensein: Die Schriftstellerin Julya Rabinowich beschreibt die Auswirkungen der Isolation.
64
42
Welche Folgen wird die Corona-Krise auf die Wirtschaft haben? IHS-Ökonom Martin Kocher erläutert einige Szenarien.
Ausgabe 12 | 5
Was ist Wahrheit?
Das Pilatus-Projekt
In jeder Ausgabe stellen wir die Frage: „Was ist Wahrheit?“ Diesmal versucht sie der Satiriker Fritz Jergitsch zu beantworten.
I N T E RV I EW: M I C H A E L F L E I S C H H AC K E R FO TO S : P ET E R M AY R
Was ist Wahrheit? Ich würde Wahrheit definieren als die sprachliche Beschreibung des Ist-Zustands, den ein Beobachter seinen Mitmenschen mitteilt, um diesen Mitmenschen über den Ist-Zustand nach bestem Gewissen in Kenntnis zu setzen, wobei für mich Wahrheit immer widerlegbar sein muss. Eine Aussage wie „Es gibt einen Gott“ ist in meinen Augen keine qualifizierte Wahrheit, weil man sie unmöglich widerlegen kann. Was ist denn das Verhältnis zwischen Witz und Wahrheit? Auf den ersten Blick ist ein Witz natürlich die Unwahrheit. Aber auf den zweiten Blick funktioniert der Witz nur über die Wahrheit. Schauen wir uns zum Beispiel die Konstruktion einer Pointe an. Für mich ist die archetypische Pointe: „Treffen sich zwei Jäger im Wald. Beide sind tot.“ Dieses Beispiel demonstriert sehr schön, wie eine Pointe funktioniert. Mit dem Setup „Treffen sich zwei Jäger im Wald“ erzeugt sie eine falsche Erwartungshaltung. Mit der Pointe „Beide sind tot“ liefert sie einen neuen, überraschenden, aber doch wahren Erklärungsansatz, der dann eben die Pointe ausmacht. Durch das Überraschungsmoment entsteht der Humor. Natürlich muss jeder Witz einen gewissen Wahrheitsgehalt haben. Wir könnten nicht schreiben „Sebastian Kurz überfällt eine Bank“, weil sich dann jeder fragen würde, warum Sebastian Kurz eine Bank überfallen sollte. Das würde funktionieren, wenn er letzte Woche eine Tankstelle überfallen hätte, dann könnten
6 | Addendum
sich die Leute eher einen Reim drauf machen. Jeder Witz muss irgendwie einer allgemein akzeptierten Wahrheit entspringen. Und so sind Witz und Wahrheit für mich sehr eng verflochten. Der Satiriker ist sozusagen ein bewusster Lügner. Kann man so sagen, ja. Natürlich entsprechen unsere Schlagzeilen für sich genommen der Unwahrheit. Aber ein Witz, der für sich genommen
„Witz und Wahrheit sind für mich sehr eng verflochten.“ natürlich nicht stimmt, transportiert trotzdem immer eine gewisse Meinung, eine gewisse Aussage über den Ist-Zustand. Vor einiger Zeit haben wir geschrieben: Das Corona-Virus ist so ansteckend und mitreißend, dass die SPÖ jetzt beschließt, es zum Parteichef zu machen. Diesen Witz verstehen unsere Leser nur dann, wenn ihnen klar ist, dass in der SPÖ gerade eine Personaldebatte geführt wird. Dieser Witz würde nicht funktionieren, wenn wir ihn über die Grünen oder über die ÖVP machen würden, die gerade sehr weit weg sind von einer Personaldebatte. Interessanterweise sind Satiriker, die also zunächst einmal bewusst
mit der Lüge operieren, sehr oft auch Moralisten. Nehmen wir das Beispiel Jan Böhmermann, der mit erfundenen Dingen operiert und gleichzeitig einen sehr hohen moralischen Wahrheitsanspruch hat. Die politischen Satiriker sind die größten Moralisten, die ich derzeit kenne. Ja, sehr viele Satiriker sehen sich irgendwie selbst in einer Position der moralischen Deutungshoheit, das unterschreibe ich. Sehr viele Witze tragen natürlich ein Werturteil in sich. Man kann zum Beispiel als Satiriker – sagen wir – die Flüchtlingspolitik der EU kritisieren, man macht einen Witz darüber, dann ist dies bereits ein Werturteil. Natürlich ist sehr viel von dem, was als politische Satire bezeichnet wird, sehr moralisierend und subjektiv, und ich finde es auch immer schwierig zu sagen, wir schlagen gegen alle, weil natürlich versuchen wir jeden gleich zu behandeln ... Interessant. Einerseits ist der Satiriker sehr meinungs- und haltungsgetrieben, aber immer sagt mir jeder Satiriker: Wir versuchen natürlich alle gleich zu behandeln. Warum eigentlich? Es ist ein schönes Ideal. Es ist natürlich ein Ideal, dem man hinterhereifert und das man so nie erreichen kann. Warum ist es ein Ideal für einen Satiriker? Es muss ein Ideal sein für einen Nachrichtenmann, dass er alle gleich behandelt, nur auf die Wirklichkeit schaut, aber warum ist es für einen Satiriker ein Ideal, zu allen gleich bös zu sein?
Fritz Jergitsch wurde 1991 in Wien geboren. 2013 gründete der studierte Volkswirt das Satireportal „Die Tagespresse“. Nebenbei ist er als freier Autor für den ORF und andere Medien tätig und tritt als Kabarettist auf.
Ausgabe 12 | 7
Was ist Wahrheit?
„Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch immer bereit sein muss, sein eigenes Weltbild infrage zu stellen.“
Weil ich finde, dass Satire schon auch sehr viele Gemeinsamkeiten mit dem Journalismus hat. Die Aufgabe der Satire kann man in mancherlei Hinsicht durchaus mit der des Journalisten vergleichen, weshalb man – glaube ich – als Satireportal von vielen zum Teil als journalistisches Medium wahrgenommen wird. Was wir zum Beispiel gar nicht tun könnten, ist eine Wahlempfehlung für einen Politiker abgeben. In der Hinsicht behandeln wir jeden gleich: dass wir nicht offen für jemanden Partei ergreifen. Natürlich haben wir aber auch eine Meinung. Ich glaube, Satire wird langweilig, sobald sie versucht, niemandem mehr wehzutun und niemandes Meinung, niemandes Weltbild mehr infrage zu stellen. Politische Satire ist dann interessant, wenn sie provoziert. Ist ein Satiriker auch bereit – oder muss er bereit sein –, sein eigenes Weltbild infrage zu stellen? Ich bin generell der Meinung, dass jeder Mensch immer bereit sein muss, sein eigenes Weltbild infrage zu stellen. Aber das ist halt immer leichter gesagt als getan. Unser Welt-
8 | Addendum
bild hilft uns, die Welt zu verstehen, einzuordnen, und es ist ein sehr unangenehmes Erlebnis zu merken, dass dieses Weltbild eigentlich auf völlig falschen Annahmen beruht. Viele sagen ja, erst durch den Witz und durch die satirische Überzeichnung können die Menschen an die Wahrheit herangeführt werden. Darin steckt dieses pädagogische Selbstverständnis, dass man in erster Linie nicht sich selbst, sondern die anderen darüber aufklären muss, was die Wahrheit ist. Ich erlebe diesen Anspruch, eine pädagogische Funktion zu erfüllen, öfter nicht nur im Satirebereich, sondern auch im Medienbereich. Ich finde, das ist nichts anderes als eine Inflation der eigenen Wichtigkeit. Das, was Journalisten und Satiriker machen, hat sehr viel mit Wahrheit zu tun, aber ich finde zum Beispiel nicht, dass es meine Aufgabe ist, anderen Leuten zu sagen, wie sie irgendwen finden sollen. Wie sie Sebastian Kurz finden sollen, oder wie sie Pamela Rendi-Wagner finden sollen, oder wie sie Donald Trump finden sollen.
Das hat sich natürlich dadurch verschärft, dass auch professionelle Journalisten heute zum guten Teil ihr Selbstverständnis daraus beziehen, dass sie sagen: Da draußen gibt’s so viele Informationsquellen, gerade in den digitalen Medien, jeder ist auch Produzent, aber wir sind diejenigen, die dann richtig von falsch trennen. Sehen Sie das auch so? Treffen sich auch da die Aufgaben des Journalisten und des Satirikers? Das würde ich unterschreiben. Ich würde schon sagen, dass es die Aufgabe der Journalisten ist, den Ist-Zustand nach bestem Gewissen zu beschreiben – in erster Instanz. Und in zweiter Instanz dann auch einzuordnen: Was muss jetzt in meiner Zeitung ganz oben stehen, was ist auf Seite 7, und was muss vielleicht gar nicht drinstehen; was auch wieder ein Vehikel werden kann, in die Unwahrheit abzurutschen. Ich finde, durch eine Einordnung, die der Wichtigkeit einer Meldung nicht mehr gerecht wird, entsteht auch eine Unwahrheit, nicht? Nehmen wir ein Beispiel her, sagen
wir, ein Asylwerber vergewaltigt eine Österreicherin. Die Krone bringt das ganz oben, der Standard bringt’s auf Seite 7. Welche Einordnung ist jetzt die korrekte? Das ist eine ganz schwierige Frage. Und es gibt sicher für beide Sichtweisen gute und schlechte Argumente. Ich kann aber auch garantieren, dass bei einem Österreicher, der seine Tochter vergewaltigt, keines der beiden Medien diese Meldung ganz oben bringen wird. Und so wird die Einordnung wieder zu einem Vehikel, mit dem die Wahrheit total verwässert wird oder sich relativiert. Gibt es denn etwas, was Sie als unumstößliche Wahrheiten abgespeichert haben? Ich denke, wenn man gewisse Sachen für sich selber nicht als unumstößliche Wahrheit im Gehirn eingespeichert hätte, würde man wahnsinnig werden. Also ich glaube, wenn man beginnt, alles anzuzweifeln, dann erreicht man irgendwann einen Punkt, an dem man sich nur mehr im Kreis dreht. Und wie macht man das, wenn man gleichzeitig Wahrheit als ein Konstrukt außerhalb unserer Realität sieht? Wahrheit ist ein Konstrukt außerhalb unserer Realität, aber es ist ja immer noch unsere Realität. Nur dadurch, dass wir uns einen Reim auf unsere Außenwelt machen, können wir überhaupt irgendwas machen, konnten uns überhaupt von den Höhlenmenschen weiterentwickeln zu der Gesellschaft, die wir heute sind. Also ich denke, jeder Mensch, ob bewusst oder unbewusst, hat für sich unumstößliche Wahrheiten eingespeichert. Was sind Ihre? So eine Art Rangliste der Wahrheiten? Ich glaube zum Beispiel, dass jeder Mensch sich selber gerne als guten Menschen betrachten würde. Ich glaube, jeder Mensch sieht sich selber gerne als einen Menschen, der Gutes und Sinnvolles tut. Und es klingt hart, aber ich glaube, hätte man Adolf Hitler im Führerbunker gefragt: Herr Hitler, finden Sie, Sie sind ein guter Mensch? Ich glaube, sogar Adolf Hitler – der Inbegriff des Bösen – hätte von sich selber behauptet, er ist ein guter Mensch.
Sogar Böhmermann würde das wahrscheinlich von sich sagen. Wer nicht? Noch so Wahrheiten? Für mich ist eine unumstößliche Wahrheit, dass wir Menschen prinzipiell existieren. Ich glaube, das, was ich sehe, ist keine Simulation. Ich glaube, dass Sie existieren, ich glaube, dass die Welt um mich herum existiert. Sie existiert vielleicht nicht so, wie ich glaube, dass sie existiert, aber die Existenz an sich ist für mich eigentlich auch eine unumstößliche Wahrheit. Und ob diese Existenz in einer Scheinwelt stattfindet, ist eigentlich egal? Ich glaube, wenn ich draufkomme, dass wir in einer Scheinwelt leben, würde ich eine tiefe Existenz-
„Politische Satire ist dann interessant, wenn sie provoziert.“ krise erleiden. Dass es egal ist, würde ich persönlich nicht sagen. Ich glaube, es wäre schon eine massive Existenzkrise für alle. Auf welche Informationsinstitutionen verlassen Sie sich in Bezug auf die Wahrheit am liebsten und am stärksten? Ich vertraue am meisten den Medien, die eine Reputation haben. Für mich ist Reputation sehr wichtig. Vielleicht ist es ein naiver Gedanke, aber ich glaube, dass Medienhäuser, die über Jahrhunderte existiert haben, einen Ruf zu verlieren haben. Alleine das ist für mich ein Grund, ihnen mehr zu vertrauen. Ich lese zum Beispiel sehr gerne die New York Times. Es gibt wenige Medien, denen ich vertraue. Nach meinem Ermessen funktioniert die Einordnung in öffentlich-rechtlichen Medien besser als bei privat finanzierten oder bei marktfinanzierten Medien.
Ihr seid ja marktfinanziert, nicht? Wir sind marktfinanziert, genau. Wir lassen uns von unseren Abonnenten finanzieren. Das hat Vor- und Nachteile. Wir sind als Satiriker davon abhängig, dass wir jeden Tag sehr lustig sind. Genauso wie der Standard es sich nicht leisten kann, einen Tag lang nur zu berichten, heute ist nichts passiert, können wir es uns nicht leisten, einen Tag lang unlustig zu sein. Wir haben uns davor rein durch Werbung finanziert. Das Schöne am Abonnenten-Modell ist, dass sich das Anreizmodell ändert. Ein abofinanziertes Medium überlebt am Markt, wenn es durch Qualität neue Leser anzieht. Werbefinanzierte Medien dagegen bestehen, wenn sie möglichst viele Werbekunden überzeugen, ihnen viel Geld zu geben. Und der Leser ist maximal Steigbügelhalter des unternehmerischen Erfolgs. Darum finde ich das rein werbefinanzierte Modell ein bisschen problematisch. Man denke an Boulevardmedien, wo die Angst zum Produkt wird. Gibt es etwas, was Sie früher für eine unumstößliche Wahrheit gehalten hätten, jetzt aber nicht mehr? Ich würde mich selbst als liberalen Menschen beschreiben. Ich habe lange Zeit an moralische Deutungshoheit und an moralische Überlegenheit geglaubt und ein konservatives Weltbild fast als geistige Immunschwäche angesehen. Aber dann habe ich ein sehr gutes Buch gelesen, ein fantastisches Buch: „The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion“ von Jonathan Haidt, der sehr gut beschreibt, wie diese politischen Werte, an die ich so tief gedacht habe, eigentlich einfach nur von Charakterzügen abhängen, die genetisch bedingt, durch das soziale Umfeld bedingt weitergegeben werden und sich darum wieder total relativieren. Seither habe ich einen völlig anderen Blick auf die politische Debatte und nehme das alles in einem völlig anderen Licht wahr. Das hat mein Weltbild ziemlich verändert. Das war vielleicht die substanziellste Wahrheit, die sich für mich als Unwahrheit herauskristallisiert hat. Einfach zu sehen – he, auch sowas wie politische Ansichten sind eigentlich etwas sehr Relatives.
Ausgabe 12 | 9
Wahr ist viel mehr
Wahr ist viel mehr
Manche Darstellungen werden in der öffentlichen Wahrnehmung schnell zu unumstößlichen Wahrheiten. Es lohnt sich immer wieder zu fragen, ob denn nicht viel mehr wahr sein könnte. Drei Beispiele.
Nr. 1
„SUVs sind die am meisten verkauften Autos des Landes.“ Falter 8/20
Nr. 2
„Strache gab als Sportminister fast 300.000 Euro für die Erstellung eines Sicherheitskonzepts aus.“ derstandard.at am 8. 2. 2020
Nr. 3
„Bio ist gentechnikfrei.“ bio-austria.at 9.3.2020 https://www.bio-austria.at/nein-zur-gentechnik/
10 | Addendum
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Wahr ist, dass der Trend zu immer größeren und schwereren Fahrzeugen geht. Das hat nicht nur mit den Vorlieben der Autobesitzer zu tun, sondern auch mit der immer besseren Sicherheit: Immer mehr aktive und passive Sicherheitssysteme erhöhen auch das Fahrzeuggewicht. Auch der Trend zu Automatikgetrieben, welche tendenziell schwerer sind als manuelle Schaltgetriebe, trägt seinen Teil dazu bei. In den vergangenen Jahrzehnten sind Autos aller Kategorien immer größer und schwerer geworden. So wog das leichteste Modell des VW Golf (III) vor 30 Jahren noch um 200 Kilogramm weniger als das leichteste Modell des heutigen Golf (VIII). Wahr ist auch, dass große und schwere Autos, besonders Geländewagen, vor allem in Städten mit prekärer Parkplatzsituation zum Feindbild geworden sind. Häufig ist von einem „SUV-Boom“ zu lesen. Der Statistik Austria zufolge sind rund ein Drittel der Pkw-Neuzulassungen (31,9 Prozent) „Geländefahrzeuge und SUVs“ und bilden somit die größte Kategorie. Allerdings ist diese Aufteilung nicht unbedingt sinnvoll: Es werden somit Fahrzeuge mit einem Leergewicht von unter 1,5 Tonnen und äußerlichen Abmessungen eines Kleinwagens in derselben Kategorie geführt wie große Geländewagen, welche ein Leergewicht von über 2,5 Tonnen aufweisen können. Das wird auch von Herstellerseite kritisiert: „Speziell das SUV-Segment hat sich in der Zwischenzeit in verschiedenste Größenordnungen breit aufgefächert. Das spiegelt sich in der Statistik Austria natürlich nicht wider.“ Das deutsche Kraftfahrtbundesamt hingegen führt für „Geländewagen“ und „SUVs“ jeweils eine eigene Kategorie. Im Jahr 2019 waren somit in Deutschland 21,1 Prozent der Neuzulassungen SUVs und nur 10,1 Prozent Geländewagen. Geht man davon aus, dass die Aufteilung in Österreich ähnlich ist, und würde man SUVs und Geländewagen getrennt führen, wären SUVs in der Statistik der beliebtesten Fahrzeuge nur an zweiter Stelle – hinter der Kompaktklasse mit 24,7 Prozent.
3
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Wahr ist, dass Heinz-Christian Strache während seiner Zeit als Sportminister der türkis-blauen Regierung mehr als eine Million Euro Spesen abgerechnet hat. Das geht aus einer parlamentarischen Anfrage hervor, die von der SPÖ gestellt und von Straches Nachfolger Werner Kogler beantwortet wurde. Für Möbel, Büroausstattung sowie Umgestaltung des Büros fielen 123.271,06 Euro an, für die Sanierung der Sanitäranlagen 96.570,02 Euro und für die Umsetzung des Sicherheitskonzepts „bis dato“ 287.284,59 Euro. Das geht aus der Beantwortung einer weiteren parlamentarischen Anfrage der SPÖ vom 6. Februar 2020 hervor. Die Information, dass die Erstellung des Konzepts fast 300.000 Euro gekostet hätte, ist demnach falsch. Laut einer Ministeriumssprecherin wurde das Konzept vom Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung erstellt. Hierfür seien keine Kosten angefallen. Die Kosten entstanden durch die Umsetzung in den Jahren 2018 und 2019 für eine Sicherheitsschleuse am Eingang am Standort des damaligen Vizekanzlerbüros, zusätzliche Kameras und ein elektronisches Schließsystem für den Zutritt zu den Büroräumlichkeiten. Einsicht in das Sicherheitskonzept wurde allerdings nicht gewährt.
Wahr ist, dass Bio-Lebensmittel und solche, die ein „Ohne Gentechnik“-Siegel tragen, auch aus Pflanzensorten hergestellt sein dürfen, die mittels sogenannter klassischer Mutagenese, also mithilfe von radioaktiver Strahlung oder Chemikalien, gezüchtet wurden. Dabei handelt es sich um genetisch veränderte Organismen (GVO) im Sinne der EU-Freisetzungsrichtlinie. In einer UN-Datenbank sind mehr als 3.300 derartige Sorten online registriert, darunter viele Getreidesorten, aber auch Äpfel, Tomaten oder die beliebte Grapefruitsorte Star Ruby, die mittels Neutronenbeschuss entstand und seit den 1970er Jahren als tiefrote, fast kernlose Sorte den Markt eroberte. Solche Produkte klassischer Mutagenese nehmen in der Gentechnik-Richtlinie der EU eine Art Zwitterposition ein: Sie gelten zwar als GVO, sind aber trotzdem von den strengen Regeln (z. B. für Anbau oder Kennzeichnung) ausgenommen, die für andersartige GVO gelten. Bestätigt wird der Zusammenhang ausgerechnet von Juristen des deutschen Verbands „Lebensmittel ohne Gentechnik“, dem Pendant der österreichischen ARGE Gentechnik-frei. In einer juristischen Interpretation heißt es: „Mit Urteil vom 25.07.2018 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) festgestellt, dass durch Mutagenese gewonnene Organismen genetisch veränderte Organismen (GVO) im Sinne der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG sind.“ Dass entsprechende Lebensmittel trotzdem als gentechnikfrei verkauft werden dürfen, wird von den Verbands-Juristen mit der engeren GVO-Definition des Lebensmittelrechts erklärt. Sie schreiben: „Damit sind durch klassische Mutagenese gewonnene Organismen zwar GVO im Sinne der Freisetzungsrichtlinie, aber keine GVO im Sinne des Lebensmittelrechts. Sie unterliegen damit weder den Zulassungs- noch den Kennzeichnungsanforderungen für GVO.“
Ausgabe 12 | 11
Essay
12 | Addendum
Es ist, wie es nie war Nach der Krise wird es wohl weitergehen wie davor. Es könnte aber auch alles ganz anders sein. T E XT: M I C H A E L F L E I S C H H AC K E R 3 D - D E S I G N : T E O D O RU B A D I U
W
ie historisch üblich, war Österreich, was die systemischen Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie betrif f t, ziemlich spät dran, aber dann doch auch wieder sehr früh. Die Reaktion von Politik und Behörden erfolgte, gemessen an dem, was man schon wusste und wissen konnte – vor allem aus den Tiroler Ski-Hotspots –, fahrlässig spät, dafür dann aber in einer Massivität, die man in Europa durchaus vorbildlich nennen kann, wie immer man zu den Maßnahmen steht. Denn sie hatten, ausgelöst durch den Zusammenbruch des Gesundheitssystems im an sich reichen Norditalien, den der Rektor der Wiener Medizinuniversität, Markus Müller, als „Kernschmelze“ bezeichnet hat, tatsächlich Vorbildfunktion in Europa. In Deutschland wurschtelte man noch mindestens eine Woche föderal weiter. Auch in Frankreich reagierte man spät, dafür aber mit dem erwartbaren martialischen Pomp. Wir befänden uns im Krieg, erklärte Staatspräsident Emmanuel Macron mit sichtlich trainiertem, stählernem Blick in die Kamera, der Feind sei schon da, und also verhängte er den Ausnahmezustand. Das hatte auch
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Essay
sein eher nicht so martialisch wirkender Vorgänger François Hollande nach den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt zu Beginn des Jahres 2015 getan. Immer wieder war dieser Ausnahmezustand verlängert worden, man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die Behörden an die damit verbundenen Sonderrechte im Bereich der Oberservation und des Zugriffs auf Verdächtige ohne gerichtlichen Papierkram auch jenseits der Beschäftigung mit der islamistischen Terrorgefahr nicht ungern gewöhnten. Ersehnte Katastrophe Überhaupt könnte man, auch wenn man die Reaktionen österreichischer Großmeinungsinhaber in den sozialen Medien verfolgt, den Eindruck gewinnen, dass es nicht nur unter den Regierenden, aber auch unter den Regierten eine ganze Menge Menschen gibt, die auf diese Katastrophe gewartet haben, wenn schon nicht explizit sehnsüchtig, dann doch ein bisschen oder wenigstens klammheimlich. Naturgemäß haben Regierende und Regierte unterschiedliche Motive. Unter den Spitzenrepräsentanten der exekutiven Staatsgewalt scheint es etliche zu geben, die das Gefühl genießen, jetzt endlich das zu tun, was man als wirklich Mächtiger im öffentlichen Raum am liebsten möchte, unter demokratischen Alltagsbedingungen allerdings selten kann: Wirklich und unmittelbar steuernd in das Leben der Menschen einzugreifen. „Du musst dein Leben ändern“: Was könnte die Asymmetrie zwischen Herrschenden und Beherrschten besser zum Ausdruck bringen als dieser in unterschiedlichen Abwandlungen täglich wiederholte Satz? Das Rilke-Sonett „Archaischer Torso Apollos“ markiert, wenn man so will, den Übergang seiner Dichtkunst vom Inneren ins Äußere, von der Selbstbetrachtung in die Anschauung der Welt (bekanntlich haben diejenigen die wildesten Weltanschauungen, die die Welt besonders selten anschauen). Wo früher die innere Stimme sprach, sollen jetzt die Dinge selbst sprechen und leuchten. „Du musst dein Leben ändern“ meint hier nicht die Einhaltung religiöser Gebote oder bundespolizeilicher Verordnungen – obwohl die Zeile davor („denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“) wunderbar zu den aufkommenden Überwachungsfantasien im Interesse der Coronaprophylaxe passen würde, sondern einen sehr individuellen Öffnungsprozess hin zu einer neuen Form der Weltbetrachtung. Das wiederum trifft die Stimmung jenes Teils der Regierten, die vielleicht gar nicht so sehr ihr eigenes, aber vor allem das Leben der anderen ändern wollen, wenn möglich aller anderen. Sie sehen in den Maßnahmen, die sie vielleicht früher, als sie noch Revolutionäre und Freiheitsenthusiasten waren, als Vorboten eines faschistischen Zeitalters interpretiert hätten, die Chance, jetzt endlich durchzusetzen, was sie immer schon wollten: das Ende des Individualismus, der für den ungezügelten Ressourcenverbrauch verantwortlich ist, den Tod des Kapitalismus, der für die himmelschreiende Ungerechtigkeit in der Welt, vor allem aber
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für die immer weiter aufgehende Schere zwischen Arm und Reich verantwortlich ist. Und schließlich die „Rettung des Klimas“, was immer das auch sein soll, durch das Ende des Individualismus und den Tod des Kapitalismus. Herdenimmunität Ziel der Maßnahmen, die jetzt überall ergriffen werden, ist das Hinausschieben des Infektionshöhepunkts, um den Gesundheitssystemen Zeit zur Vorbereitung zu verschaffen und sie auch zahlenmäßig nicht zu überfordern, weil kurzfristig sehr hohe Infektionsraten auch eine froße Zahl an intensivbetreuungspflichtigen Patienten bedeuten und die Kapazitäten auch eines gut ausgestatteten Gesundheitssystems überfordern würden. Den alternativen Weg, nämlich die Risikogruppen – schwere Symptome und lebensbedrohliche Verläufe gibt es fast ausschließlich bei älteren Infizierten, die bereits andere Krankheiten haben – bestmöglich abzuschirmen, während sich alle anderen anstecken und nach mildem bis normalem Krankheitsverlauf immun werden sollen, haben nur die Niederlande unter ihrem Premierminister Mark Rutte beschritten. Viele halten das für zu riskant. Fair enough, das kann man gut so sehen, und offenbar sieht es ja auch die große Mehrheit so, aber etwas verstörend ist dann doch, dass man alle, die, ebenfalls mit plausiblen Argumenten, einen anderen Weg für den besseren halten, als Weirdos, Aluhutträger und Verschwörungstheoretiker denunziert. Es ist aber wichtig, dass auch der andere Weg gegangen wird, denn nur aus dem Vergleich lassen sich vernünftige Schlussfolgerungen für künftige Krisen ableiten. Gäbe es die alternative Evidenz nicht, würden die Regierungen, die jetzt den Ausnahmezustand verhängen, im Falle eines milden Verlaufs dafür kritisiert werden, dass sie einen zu hohen Preis in Gestalt einer tiefen Rezession bezahlt haben. Ihre Antwort wäre, dass der Verlauf eben nur wegen ihrer Maßnahmen so mild gewesen sei. Wir kennen das von der Debatte um die „Grenzen des Wachstums“ und das Waldsterben: Die einen kritisieren die Fehlprognose, die anderen sagen, man habe durch die korrekten Prognosen Gegenmaßnahmen provoziert, die das Eintreffen der korrekten Prognosen gottlob verhindert hätten. Man weiß ja nie, was passiert wäre, wenn nichts passiert wäre. Unabweisbare Fragen Eine Ausnahmesituation, in der die Geschichte eine Weile den Atem anzuhalten scheint, eröffnet jedenfalls jedem von uns einen zugleich faszinierenden und bedrohlichen Möglichkeitsraum. Ob er eher bedrohlich oder eher faszinierend ist, hängt wohl sehr davon ab, wie selbstbestimmt man sich in diesem Raum, der sich durch das erzwungene Schließen vieler Türen aufgetan hat, bewegen kann. Wer Tag und Nacht darüber nachdenken muss, ob es seinen Job nach der Krise noch geben und er seine Miete auch im Herbst noch bezahlen können wird, wird sich vielleicht eher nicht mit den Prinzipien des Epikureismus und der Stoa beschäftigen oder über Heidegger meditieren.
Vielleicht wird das ohnehin niemand tun. Aber Fragen wie „Was wird dann sein?“ oder „Wie wird das dann sein?“ oder „Will ich, dass es dann wieder ist, wie es vorher war?“ werden sich für jeden Einzelnen unabweisbar stellen, denn tatsächlich sind das in unser aller Leben Wochen, in denen alles anders ist, als es jemals war, und das wird nicht ohne Folgen bleiben. Fürs Erste konnte man den Eindruck haben, dass dieser Ausnahmezustand nicht unbedingt die guten Seiten der Menschen an die Oberfläche drückt. Es dominiert die Suche nach Schuldigen, im Großen wie im Kleinen. Schuld aber heißt immer auch Vereinfachung: Sterben viele, waren es die Verharmloser und Unsolidarischen, die unverantwortlichen Biertrinker und Parkgeher. Sterben gleich viele wie immer, waren es die Alarmisten und Hysteriker, die uns die Wirtschaft für nichts und wieder nichts an die Wand gefahren haben. Und die Medien? An sich wäre es gerade in einer solchen Situation die Aufgabe der Medien, die Komplexität der Welt auf ein verstehbares Maß zu reduzieren, ohne zu sehr zu simplifizieren, und gleichzeitig die Komplexität des Politischen so weit zu erhöhen, dass es die Intelligenz des Publikums nicht allzu sehr beleidigt. Medien sind so etwas wie die Distanzhölzer im Baugerüst der Welt, allerdings nur, wenn sie diese auch ernst nehmen. Man konnte durchaus den Eindruck haben, dass sie das gerade in den Anfangstagen des Corona-Ausnahmezustands eher nicht so sehr getan haben. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist eine frühe Corona-Ausgabe des Politik-Newsletters der Tageszeitung Der Standard. Die Autorin, Politik-Redakteurin des Blattes, schrieb dort: „Denn in Zeiten wie diesen fällt auch den Medien eine gewichtige Aufgabe zu: Sie können schnellstmöglich neue Vorsichtsmaßnahmen der Regierung kommunizieren. Sie können den Wahrheitsgehalt kursierender Gerüchte rasch überprüfen – weil wir bei Ministerien, Ämtern und Behörden in der Regel sofort durchgestellt werden und damit zumindest auf Rückruf gesetzt werden.“ Die Aufgabe der Medien, und zwar eine gewichtige, im schnellstmögliche Rapportieren regierungsamtlicher Verlautbarungen (auf „Vorsichtsmaßnahmen“ wären nicht einmal die türkisen Propagandaakrobaten gekommen, die können auch noch was lernen) zu sehen, samt der bevorzugten Behandlung durch die Behörden bei der Einholung ergänzender Erörterungen zu den rapportierten Verlautbarungen: eine eher erschütternde Selbstbeschreibung. Die hauptsächliche Aufgabe der Medien wäre die Aufrechterhaltung der Frage, ob die getroffenen Maßnahmen tatsächlich die angemessenen und zielführenden sind, welche Alternativen es zum jeweiligen Zeitpunkt gäbe, und die kritische Beobachtung des behördlichen Handelns unter den gegebenen – und selbstverständlich zu respektierenden, auch im Ausnahmezustand respektiert der mündige Bürger den Rechtsstaat – Regulativen. Dafür müsste man dann doch in Kauf nehmen, dass man in der Telefonschleife des Kanzleramts ein bisschen länger warten muss.
Spätromantische Fantasien Einigermaßen typisch für solche Ausnahmesituationen scheint zu sein, dass über die Frage, was die noch nicht abzusehenden Ereignisse an konkreten Auswirkungen auf die ganze menschliche Spezies zeitigen werden, schon diskutiert wird, noch ehe man so recht weiß, was da vor sich geht. Prädominant sind in der Regel – wohl eine Form des prophylaktischen Eskapismus – spätromantische Fantasien von Zukunftsforschern, Psychologen und Sozialingenieuren, die sich als Ergebnis der jeweiligen Krise einen neuen Menschenschlag erträumen, der sich wieder auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben konzentriert: Kontemplation, die Lektüre der Klassiker, das andächtige Abhören von Anrufbeantwortern, Konsumverzicht und freudige Exzesse der Selbstlosigkeit. Das muss sich für Menschen, deren Job sich gerade halbiert oder überhaupt in Luft
Medien sind so etwas wie die Distanzhölzer im Baugerüst der Welt, allerdings nur, wenn sie diese auch ernst nehmen. ausgelöst hat, die zu viert auf 50 Quadratmetern ohne Balkon leben und eigentlich keinen besonderen Wert auf dauerhafte Anwesenheit in der Kleingruppe legen, ein bisschen seltsam klingen. In der Tat erinnern die optimistischen Sozialingenieure an Afrikareisende, die ihren Diavortrag über die letzte Fotosafari mit der Erklärung eröffnen, wie beglückend es für sie gewesen sei, inmitten der Armut und des Elends so viele strahlende Kindergesichter zu sehen. Sie dächten jetzt ganz neu über den Zusammenhang zwischen Konsum und Zufriedenheit nach, sagen sie, und seien mit der Gewissheit zurückgekehrt, dass weniger mehr sei. Wenn man Pech hat, zeigen sie einem auch die Urkunde, die bestätigt, dass sie die Patenschaft für eines der glücklichen Kinder übernommen haben. Man sollte eher nicht davon ausgehen, dass ein von außen verordneter Mangel den Menschen den Weg zum Glück weist. Das gilt auch für den immateriellen, sozialen Teil der Beschränkung: Wer jetzt schon gut allein sein kann, der kann es weiterhin, und wer es nicht kann, wird es unter Quarantäne nicht lernen. Oft wird derzeit das alte Wort Pascals zitiert, wonach das ganze Unglück des Menschen darin bestünde, dass er es nicht fertigbringt, allein in einem Zimmer zu sitzen. Natürlich hatte Pascal recht, aber es ist unwahrscheinlich, dass er einen Lockdown für die Lösung dieses Problems gehalten hätte. Aber wer weiß. Was man an einer Situation wie der gegenwärtigen wirklich schätzen kann, ist, dass sie vor allem die öffentlichen Meinungsinhaber zu einer Haltung zwingen könnte, die sie schon fast verlernt hatten: „Es kann aber immer auch alles ganz anders sein.“ Das Zitat stammt von Alfred Adler, Freuds verlorenem Sohn, und es gilt immer und für alle.
Ausgabe 12 | 15
Ausbreitung von Corona
Wie Corona nach Österreich kam Ende Februar wurden in Tirol zum ersten Mal Personen positiv auf das Coronavirus getestet. Am Anfang gab es nur wenige Einzelfälle, mit den Ansteckungen in Ischgl geriet die Lage außer Kontrolle.
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Tirol
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Wien
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Hotelangestellte und Freund
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Niederösterreich
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Wien
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Familie
Salzburg
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Gymnasium in Hollabrunn in Quarantäne
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Steiermark
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Deutschland
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m 26. Februar wird ein Anwalt im Wiener Spital Rudolfstiftung positiv auf das Virus SARS-CoV-2 getestet. Er liegt zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Tagen im Spital – mit der Diagnose Grippe. Wie er sich angesteckt hat, ist bis heute nicht bekannt. Alle Besucher und neunzig Angestellte des Spitals werden unter Quarantäne gestellt, alle Tests verlaufen negativ. Nicht getestet werden seine Arbeitskollegen – schließlich ist der Mann bereits seit zehn Tagen im Spital und war schon lange nicht mehr im Büro. Schon tags zuvor, am 25. Februar, wurden zwei Fälle in Tirol bekannt, die ersten in Österreich: Eine 24-jährige Angestellte eines Hotels und ihr gleichaltriger Freund werden positiv getestet, sie waren in Italien, haben einen leichten Verlauf und dürften niemanden angesteckt haben. Das Paar wird am 6. März aus dem Spital entlassen. Als erste Patienten in Österreich gelten sie als geheilt. Italien-Urlauber bringt Corona nach Korneuburg Es sind die nächsten Fälle in Wien, anhand derer sich die weitere Ausbreitung des Virus gut nachvollziehen lässt: Ein Mann, der in Italien auf Urlaub war, steckt seine Frau und seinen schulpflichtigen Sohn mit dem neuartigen Virus an. Letzterer besucht ein Gymnasium in Hollabrunn (Niederösterreich), wo vier Lehrer und 23 Schüler unter Quarantäne gestellt werden. In Korneuburg wird ein Paar positiv getestet, das mit dem Ehepaar aus Wien in Kontakt war, das wiederum einen in Wien lebenden Angehörigen infiziert. Am
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Kärnten
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8. März sind in Korneuburg acht Menschen infiziert, sie alle sind letzten Endes auf den Mann in Wien zurückzuführen, der in Italien urlaubte. Auch die meisten anderen Fälle in Österreich sind Anfang März noch klar zuzuordnen – und zwar dem Krisenherd Italien: eine Wienerin, die in Mailand war und später für den ersten Fall in Kärnten sorgen wird, weil sie eine Freundin aus Völkermarkt ansteckt. Eine Salzburgerin, die aus Turin zurückgekehrt ist und zumindest ihren Freund ansteckt. Eine Oststeirerin, die eine Messe in Italien besucht. Aber nicht alle, die vielleicht das Virus verbreiteten, werden in der offiziellen Statistik geführt: Ein 30-jähriger Deutscher fährt aus seiner Heimat nach Salzburg, um sich ein Fußballspiel anzusehen und übernachtet dort in zwei verschiedenen Hotels, bevor er wieder nach Hause zurückkehrt und dort positiv getestet wird. Positive Tests in der Kanzlei, Eskalation in Ischgl Am 4. März wird am Wiener Landesgericht Alarm geschlagen: Eine Rechtspraktikantin des Anwalts, der mittlerweile im SMZ Ost auf der Intensivstation liegt, wird positiv getestet. Die Kanzlei hatte die Tests auf eigene Kosten für ihre Mitarbeiter durchführen lassen, auch zwei ihrer Kollegen sind mit dem Coronavirus infiziert. Sie alle hatten den Anwalt nicht im Spital besucht, es gibt zwei Möglichkeiten: Die Inkubationszeit war erstaunlich lange – schließlich ist der Anwalt bereits seit 17. Februar im Spital gewesen. Oder sie alle haben sich bei einer weiteren Person angesteckt, beispielsweise einem Klienten der Kanzlei. Die Suche nach
Von Deutschland nach Salzburg, dann zurück nach Deutschland
Angesteckt in Italien Angesteckt in Deutschland Ischgl 36-jähriger Barkeeper steckt mindestens 15 weitere Personen an.
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12. März: Skibetrieb wird eingestellt. Wien
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4. März: Anwaltskanzlei
Island 14-köpfige Reisegruppe
Fälle in • Burgenland (AT) • Schleswig-Holstein (DE) • Hamburg (DE) • Aalen (DE)
Dänemark 265 Fälle
Norwegen ca. 500 Fälle
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Salzburger Anästhesist in Ischgl angesteckt
Mehr als 100 Kontaktpersonen in Quarantäne gestellt: 33 Ärzte, 53 Pflegepersonen, 18 Patienten, drei Flugsanitäter und ein Pilot.
15. März: Paznauntal unter Quarantäne
diesem Patienten 0 bleibt aber erfolglos. Trotzdem: Bis dahin scheint die Lage unter Kontrolle, bei fast allen Patienten ist bekannt, wo sie sich angesteckt haben, viele der positiv getesteten sind bereits in Quarantäne. Bis die Situation in Tirol eskaliert: Am 5. März steht der Tiroler Skiort Ischgl für die isländischen Behörden
„Die Erkrankungen sind auf ein Lokal zuzuordnen. Die Situation ist übersichtlich“, sagt der Chef des Tourismusverbandes am 10. März. auf einer Stufe mit dem Iran und der chinesischen Provinz Wuhan, in der das Coronavirus zum ersten Mal auftauchte. Rückkehrer müssen sich bei den Behörden melden und in eine 14-tägige Heimquarantäne. Der Grund: Mitglieder einer 14-köpfigen Reisegruppe aus Ischgl wurden positiv getestet. „Man darf jetzt nicht extrem nervös sein“ Tirol kalmiert dagegen: Die Ansteckung sei im Flugzeug von München nach Reykjavik passiert. Am 10. März, fünf Tage später, sind im Tiroler Skiort bereits 16 Fälle bekannt. Ein 36-jähriger Barkeeper des Après-Ski-Lokals „Kitzloch” hat mindestens 15 weitere Personen, 14 davon ebenfalls Angestellte des Lokals,
angesteckt. Der Chef des Tourismusverbands Ischgl, Andi Steibl, sagt zu diesem Zeitpunkt noch dem Kurier: „Die Erkrankungen sind auf ein Lokal zuzuordnen. Die Situation ist soweit übersichtlich. Man darf jetzt nicht extrem nervös sein.“ Zu diesem Zeitpunkt hat Südtirol die Skisaison bereits für beendet erklärt. Steibl sagt: „Die Lage ist mit Italien nicht vergleichbar.“ Ischgl hat jährlich rund 1,5 Millionen Nächtigungen. Die Bar wird geschlossen, aber es dauert zwei weitere Tage, bis zum 12. März, bis der Skibetrieb in Ischgl eingestellt wird. Da sind nach Angaben des Tourismusverbandes noch 13.000 Menschen auf den Pisten. Da hat sich das Virus aus dem Kitzloch bereits in ganz Europa verbreitet: Fälle aus Ischgl werden im Burgenland, in Schleswig-Holstein und in Hamburg gemeldet. Das dänische Gesundheitsministerium spricht von 265 Fällen aus Österreich, die meisten davon seien in Verbindung mit Ischgl. Im deutschen Aalen (Baden-Württemberg) wurde die Mailadresse ischgl@ostalbkreis.de für Ischgl-Heimkehrer eingerichtet. Und in Norwegen sollen rund 500 von 1.000 Infizierten das Virus aus Österreich haben – die meisten aus Tirol. Am 15. März wird das Paznauntal, in dem sich Ischgl befindet, unter Quarantäne gestellt. Am selben Tag wird bekannt, dass sich ein Salzburger Anästhesist in Ischgl angesteckt hat. Es gibt mehr als 100 Kontaktpersonen, die unter Quarantäne gestellt wurden: 33 Ärzte, 53 Pflegepersonen, 18 Patienten, drei Flugsanitäter und ein Pilot. Am 16. März erklärt Tirols Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg in der „Zeit im Bild 2“, dass die Behörden in Tirol korrekt vorgegangen sind.
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Corona-Medikament
Ein Medikament aus Wien, das Leben retten könnte Auf der ganzen Welt wird mit Hochdruck an einem Impfstoff gegen das neue Coronavirus geforscht. In Wien arbeitet eine kleine Biotech-Firma an der Entwicklung eines Medikaments, das bereits Erkrankten helfen soll.
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er 16. März 2020 ist ein geschichtsträchtiger Tag. Um die Coronakrise zu bewältigen, treten in Österreich radikale Maßnahmen in Kraft, die das Leben der Menschen massiv einschränken. Ebenfalls an diesem Montag wird in Österreich erstmals die Marke der eintausend „Corona“-Infizierten durchbrochen. Und während sich die Pandemie weltweit immer weiter ausbreitet, wird in Seattle am 16. März ein Durchbruch bekannt gegeben. Die zum US-Gesundheitsministerium gehörenden National Institutes of Health (NIH) berichten, dass ein möglicher COVID-19-Impfstoff erstmals an einem Freiwilligen getestet wurde. Der Impfstoff mit der Bezeichnung „mRNA-1273“ wird gemeinsam mit dem privaten Biotechnologie-Unternehmen Moderna entwickelt, die Testphase habe in Rekordzeit gestartet werden können, meldet das NIH. 45 gesunde, freiwillige Teilnehmer sollen den Wirkstoff in den kommenden Wochen ebenfalls verabreicht bekommen. Ein durchaus riskantes Unterfangen. Auch in Österreich wird Geld in die Hand genommen, um die Forschung voranzutreiben. In einer Pressekonferenz am 21. März riefen Umweltministerin Leonore Gewessler, Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck und Wissenschaftsminister Heinz Faßmann gemeinsam dazu auf, vielversprechende Forschungsprojekte im Kampf gegen Corona einzureichen. An dem Aufruf sollen sich österreichische Wissenschaftler und Pharmaunternehmen beteiligen, insgesamt 22 Millionen Euro will die Bundesregierung investieren. Globales Wettrennen um Impfstoffe Das US-Unternehmen Moderna ist längst nicht die einzige Firma, die an einem Impfstoff forscht. Rund um die Welt ist ein Wettrennen um Wirkstoffe entstanden, die der Ausbreitung von SARS-CoV-2 Einhalt gebieten könnten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO listet derzeit 41 mögliche Impfstoffkandidaten, die in Projekten von Firmen und Universitäten auf der ganzen Welt entwickelt werden. Darüber hinaus wird auch an Wirkstoffen geforscht, die Patienten helfen könnten, die bereits an COVID-19 erkrankt sind. Der Weg eines Wirkstoffs vom Labor in die Apotheken ist ein komplexer Prozess, der sich in der Regel über Jahre hinzieht und finanzielle Ressourcen in
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Millionenhöhe verschlingt. Nach Versuchen im Labor und an Tieren muss jeder Wirkstoff in drei Phasen am Menschen getestet werden. Davor, währenddessen und danach gibt es zahlreiche Überprüfungen durch eine Ethikkommission und die zuständigen Behörden. Dieser vielschichtige Prozess soll nun in einem „beschleunigten Zulassungsverfahren“ massiv verkürzt werden. Jemand, der sehr genau weiß, welche Hoffnungen und Risiken dieser Schritt birgt, ist Markus Zeitlinger. Er leitet die Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie der Meduni Wien, an der regelmäßig sogenannte „First in Man“, also Phase-1-Studien durchgeführt werden. Im Wettlauf gegen COVID-19 kursieren Gerüchte, dass Menschen experimentelle Wirkstoffe verabreicht werden, die noch nicht an Tieren getestet wurden. „Bei uns wäre das unmöglich“, sagt Zeitlinger am Telefon. „Wir unterliegen der „Declaration of Helsinki“, und die besagt immer noch: Der Proband, der vor mir
Die WHO listet derzeit 41 mögliche Impfstoffkandidaten, die von Firmen und Universitäten auf der ganzen Welt entwickelt werden. sitzt, ist im Rahmen der klinischen Studie das Wichtigste. Ich kann hier kein inakzeptables Risiko für das Individuum eingehen, ganz egal, wie groß der Benefit für die Gesellschaft wäre.“ Eine mögliche Gefahr: In früheren Studien am SARS-Erreger – bei dem es sich ebenfalls um ein Coronavirus handelt – kam es bei Mäusen zu einer Immunverstärkung. Das bedeutet, dass sie noch anfälliger für eine Infektion gemacht wurden, anstatt davor geschützt zu werden. Ein Albtraumszenario für die Forscher in Seattle. Eine positive Nachricht hat Zeitlinger dennoch: „Sobald das Medikament unter akzeptablen Risiken Menschen gegeben werden kann, gibt es durchaus bei EMA und FDA (der Europäischen bzw. US-Zulassungsbehörde) Mechanismen, die bei lebensbedrohlichen
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Labors auf der ganzen Welt forschen derzeit an Wirkstoffen gegen die Coronavirus-Krankheit.
Erkrankungen, für die bislang keine Heilung verfügbar ist, eine schnellere Zulassung ermöglichen. Hierbei können theoretisch viele Monate gespart werden. Auch Ethikkommission und Behörden haben sich bereits darauf eingestellt, Studien am Menschen zu COVID-19 so unbürokratisch wie möglich zu bewilligen.“ Ein Impfstoff in wenigen Wochen? Die Firma Moderna in den USA ist nun jedenfalls am Anfang einer klinischen Studie, die möglicherweise zu einem Impfstoff gegen das hochansteckende Virus führen könnte. Aber auch bei aller Eile, mit der nun gearbeitet wird, verweist Moderna immer wieder darauf, dass es selbst bei erfolgreich verlaufenden Tests noch mindestens ein Jahr dauern könnte, bis ein Impfstoff auf den Markt kommt. Trotzdem kursieren immer wieder Meldungen, dass eine Immunisierung schon in wenigen Wochen auf dem Markt sein könnte. „Ich sehe das sehr kritisch“, sagt Markus Zeitlinger. Es fehle an klaren Informationen. Wenn es aber tatsächlich so sei, dass die US-ameri-
kanische Firma tatsächlich ein sehr weit entwickeltes Produkt hatte, bei dem nur noch eine kleine Modifizierung notwendig war, dann sei es schon möglich, dass es einen gewissen Vorsprung gäbe. Doch selbst wenn dem so wäre, bezweifelt Zeitlinger, dass es sehr schnell gehen könnte. Impfungen funktionieren nach dem Prinzip, dass abgetötete oder abgeschwächte Erreger verabreicht werden, gegen die das Immunsystem Abwehrkräfte und Gedächtniszellen bildet, die dann sehr rasch auch gegen lebendige Viren aktiv werden können. Damit die richtige Immunantwort erfolgt, sei ein „gewisses Herumspielen“ mit den Bestandteilen des Impfstoffs nötig, erklärt Zeitlinger, und das brauche Zeit. „Und was man natürlich auch überhaupt nicht weiß: Wie lange und wie oft muss ich das geben? Muss ich das einmal geben, muss ich das nach zwei Wochen noch mal boosten, muss ich das nach vier Wochen nochmal boosten? Und dieser Prozess kann sehr variabel lang dauern. Wenn man sich überlegt, wie lange es gedauert hat, für andere Erkrankungen
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Corona-Medikament
einen Impfstoff zu entwickeln, oder es bis heute noch gar nicht gelungen ist, kann sich das also auch sehr lange ziehen.“ Ein Medikament aus Wien Aber nicht nur Impfstoffe werden momentan unter Hochdruck entwickelt. Die Forschung konzentriert sich ebenso auf Wirkstoffe, die lebensrettend sein können, wenn COVID-19 bereits ausgebrochen ist. Hier kommt eine kleine Firma mit Sitz in Wien ins Spiel. Apeptico wurde von Bernhard Fischer gegründet, der zunächst als Unternehmensberater für den biomedizinischen Bereich und als Universitätsdozent tätig war. Vor zehn Jahren wurde ihm von der Innovationsagentur Wien ein Forschungsbericht einer österreichischen Universität zur Einschätzung vorgelegt. „Den habe ich gelesen, und dann habe ich den Forschern dort gesagt: ‚Aufgrund meiner Erfahrung sage ich euch, da könnt ihr doch mehr draus machen als nur eine wissenschaftliche Publikation. Da könnt ihr doch aus eurer Entdeckung vielleicht ein Medikament machen.‘ Und so ist es gekommen, so wurde die Firma Apeptico Forschungs Entwicklung GmbH in Wien gegründet.“ Diese Firma besteht aus nur vier Mitarbeitern in Wien, sitzt aber im Zentrum eines Netzwerks, das über Kooperationen mit Universitäten und Forschungseinrichtungen in mehreren europäischen Ländern funktioniert. Das Netzwerk forscht daran, aus Peptiden, kleinen Proteinen, Arzneimittel zu entwickeln. „Unser Fokus waren immer ganz spezielle Lungenerkrankungen, weil die Peptide, die wir entdeckt haben und weiterentwickelt haben, bestimmte Wirkungsmechanismen entfalten“, erklärt Fischer. Bei diesen Lungenerkrankungen handelt es sich nicht um bekannte Erkrankungen wie Asthma oder COPD, sondern um akute, lebensbedrohliche Syndrome, die vor allem bei Unfällen und Verletzungen auftreten, beispielsweise durch eine Rauchgasvergiftung, das Einatmen von Wasser oder einer Sepsis. Ein Beispiel: Ein Patient hat einen Autounfall und schlägt mit dem Kopf auf. Dabei kann es passieren, dass er seinen eigenen Magensaft in die Lunge einatmet. Wenn das passiert, kann dieser Magensaft mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine starke Lungenfehlfunktion auslösen. Man stirbt nicht an Corona, sondern an ARDS Aber auch Krankheiten können dieses sogenannte Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS) auslösen, beispielsweise eine Lungenentzündung. Diese wiederum kann auch durch ein Virus mit dem Namen SARS-CoV-2 entstehen. Oder, umgangssprachlich: Corona. Die Menschen sterben nicht an Corona, sie sterben an ARDS, sagt Apeptico-Chef Bernhard Fischer. „Durch das Virus entzündet sich die Lunge, sie wird durchlässig, Flüssigkeit sickert ein, der Gasaustausch findet nicht mehr statt, die Lungenentzündung des Gewebes geht immer weiter voran. Das nennt ein Mediziner ARDS. Wenn die Lunge nicht mehr funktioniert, dann setzt die Niere aus, dann setzt das Herz aus, setzt die Leber aus, und dann stirbt der Patient am Ende an Multiorganversagen.“
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Der Wirkstoff der Firma Apeptico kann wahrscheinlich im April an COVID-19-Patienten getestet werden.
Das Ziel von Apeptico ist es nun, das von der Firma entdeckte und weiterentwickelte Peptid mit dem Namen Solnatide (INN) so rasch wie möglich in der klinischen Forschung voranzubringen und ein Arzneimittel daraus zu entwickeln. Aktuell hat Apeptico die präklinische Phase, eine Phase-2-Studie, in Patienten mit ARDS und eine Studie in Patienten nach Lungentransplantation erfolgreich abgeschlossen. Außerdem führt Apeptico eine Studie an ARDS-Patienten in Österreich und Deutschland durch. Es liegen also schon umfangreiche Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit für Solnatide in Patienten mit akutem Lungenversagen (ARDS) vor. Zur Testung im Zusammenhang mit COVID-19 muss der Wirkstoff nun auch an solchen Patienten getestet werden. Hier kommt wiederum Markus Zeitlinger, Chef der Klinischen Pharmakologie der Meduni Wien, ins Spiel. Auch seine Abteilung läuft im Notbetrieb, wer Arbeit von zu Hause aus erledigen kann, muss auch zu Hause bleiben. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass es im AKH immer mehr Coronapatienten geben wird, die Probanden sein könnten. Derzeit arbeitet Zeitlinger fieberhaft daran, alle Dokumente für die Solnatide-Studie vorzubereiten und eine Genehmigung von der Ethikkommission zu bekommen. Dabei ist das AKH momentan vor allem damit beschäftigt, systemkritische Infrastruktur am Laufen zu halten. „Machen Sie mal was draus!“ Man versuche bei diesen Studien sehr rasch vorzugehen, aber immer mit der Prämisse, mit möglichst hochqualitativem Design und Daten zu arbeiten. „Sonst hat keiner was davon. Wenn ich einen Wirkstoff einfach
drei Patienten gebe und die werden entweder gesund oder sterben, weiß ich nachher nichts. Ich brauche immer eine gewisse Qualität, ein gewisses Studiendesign, sonst sind die Daten wertlos.“ Etwa Anfang April, denkt Bernhard Fischer, wird die klinische Studie am AKH starten können. Vorbehaltlich der Genehmigung durch die zuständigen Behörden. Für Apeptico und das Team von Markus Zeitlinger sind das jedenfalls bewegte Zeiten. Schon nach Ausbruch der Krankheit in China hat sich Fischer beim Gesundheitsministerium gemeldet, erzählt er. Aber
Nach zehn Jahren Vorarbeit könnte sich der langwierige Prozess der Entwicklung nun lohnen. Und viele Menschenleben retten. man habe ihn nicht einmal zurückgerufen. Schwung in die Sache kam erst im Februar, als die Europäische Kommission Wissenschaftler dazu aufrief, vielversprechende Entwicklungen einzureichen und in Aussicht stellte, diese bei Erfolgsaussicht zu fördern. Apeptico hat sich beteiligt und vor wenigen Tagen die Antwort erhalten: „Das gefällt uns sehr gut, machen Sie mal was draus“, wie es Bernhard Fischer zusammenfasst. 47,5 Millionen Euro stellt die EU nun für die Entwicklung von Wirkstoffen zur Bekämpfung der Pandemie bereit. Aus vielen Einreichungen wurden 17 viel-
versprechende aus der ganzen EU und darüber hinaus ausgewählt – das österreichische Projekt von Apeptico ist eines von denen, die einen Zuschlag erhalten haben. Dieses „Machen Sie mal was draus!“ musste sich das kleine Unternehmen hart erkämpfen. Investoren wären eher an chronischen Krankheiten interessiert, sagt er. Dann könne man ein und demselben Patienten jahrelang das gleiche Medikament verabreichen und an ihm verdienen. Österreichische Investoren habe er keine gefunden, dafür letztlich welche in der Schweiz und in Deutschland, außerdem sei seine Firma von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft unterstützt worden. Nach zehn Jahren Vorarbeit könnte sich der langwierige Prozess der Entwicklung nun lohnen. Und viele Menschenleben retten. Vorausgesetzt, die klinischen Versuche gehen so aus, wie alle Beteiligten sich das erhoffen. Frühestens im Jahr 2021 In Kürze sollen also am Wiener AKH die ersten Versuche mit einem möglicherweise lebensrettenden Medikament starten. Zwanzig Patienten sollen das neue Medikament bekommen, zwanzig bekommen ein Placebo, ansonsten aber weiterhin die bestmögliche Versorgung. Das sei ethisch absolut vertretbar, sagt Zeitlinger. Man wisse ja nicht, ob das neue Medikament Coronapatienten helfen oder ihren Zustand nicht sogar noch verschlechtern würde. In Seattle wird unterdessen an einem Impfstoff geforscht. Wenn sich alles entwickelt wie gewünscht, könnte er ab 2021 zur Verfügung stehen. Angesichts der dramatischen Infektionsraten eine lange Zeit.
as draus! Machen Sie w
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Medikamentenentwicklung
Der lange Weg zum Medika Vom Wirkstoff bis zum Patent: Bis ein neues Medikament auf den Markt kommt, müssen viele Schritte durchlaufen werden.
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Sind die Ergebnisse erfolgversprechend, kann die Pharmafirma Studien am Menschen beantragen. Die Tests verlaufen in drei Phasen. Zum Schutz der Probanden gelten strenge Regeln. Ein Prüfarzt plant die Studie und führt sie gemeinsam mit dem Forschungsteam durch.
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3 Bis zu einem neuen Arzneimittel ist es ein langer Weg, der meist im Labor eines Pharma-Unternehmens beginnt. Bis zu 10.000 Substanzen werden untersucht, um ein Dutzend vielversprechender Kandidaten zu finden. In der ersten Phase wird die Substanz zunächst an gesunden jungen Männern getestet, um herauszufinden, wie der Wirkstoff vertragen wird und wie er sich im Körper verhält. Sie tragen das höchste Gesundheitsrisiko, denn keiner weiß genau, wie sich die Substanz im Menschen verhält. In der zweiten Phase geht es dann um die Dosisfindung.
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In Phase drei wird schließlich an einer möglichst großen Gruppe kranker Personen getestet. Nun soll herausgefunden werden, ob der Wirkstoff tatsächlich so gut wirkt, wie die Forscher glauben. Eine Patientengruppe erhält das neue Medikament, die andere das bisherige Standardpräparat oder ein Placebo.
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8 Weder die Patienten noch die Ärzte wissen, wer den neuen Wirkstoff und wer das andere Medikament bekommt. So lässt sich das Ergebnis besser vergleichen. Ist die Substanz gut wirksam, wird sie an vielen Patienten getestet.
7 Jetzt darf das neue Medikament verkauft werden. Nur ein einziger von einem Dutzend Wirkstoffkandidaten erreicht dieses Ziel. Wie bei jedem Produkt geht es jetzt um das Steigern von Umsatz und Gewinn. Das Pharmaunternehmen muss die enormen Entwicklungskosten wieder hereinholen.
6 Sind die Studien am Menschen erfolgreich, kann die Pharmafirma in einem Zulassungsverfahren prüfen lassen, ob das neue Medikament in den Handel kommen darf. Die Entscheidung darüber treffen die Arzneimittelbehörden und die Ethikkommissionen.
Die Studien am Menschen zählen zu den kostspieligsten Prozessen in der Medikamentenentwicklung. Pharmafirmen geben dafür bis zu 70 Prozent ihres Forschungs- und Entwicklungsbudgets aus. Klinische Studien kosten zwischen 100 und 500 Millionen Euro.
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Ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn nach über zehn Jahren der Entwicklung bleiben für den Vertrieb nur noch wenige Jahre, bevor der 20 Jahre andauernde Patentschutz abgelaufen ist. Dann ist der Markt frei für günstigere Konkurrenzprodukte mit dem gleichen Wirkstoff.
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Krise als Chance für Politiker
Katastrophenpolitik
Naturkatastrophen, Kriege und Epidemien fahren wie ein Sturm in die politische Landschaft. Sie können Karrieren sprunghaft befördern oder vernichten.
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ie Fähigkeiten und Schwächen von Politikern zeigen sich in Ausnahmesituationen ganz besonders. Die einen versuchen, ihr Boot ans rettende Ufer zu bringen, bei den anderen bersten die Masten, und manche stellen ihre Segel in den Wind. In den dunkelsten Stunden verknüpfen sich die Lebenswelten der Wähler mit jenen der Gewählten. In der Krise macht Politik nicht nur betroffen, sie ist es auch. Es ist diese Situation der Augenhöhe, die, ob gezielt oder als Nebenerscheinung, in Popularität umschlägt. In Demokratien können Ausnahmesituationen wie die derzeit herrschende Pandemie wahlentscheidend sein, unabhängig davon, wann gewählt wird. Im Medienzeitalter ist der Amtsinhaber ständiger Kandidat. Der US-amerikanische Politikberater Sidney Blumenthal prägte hierfür den Begriff permanent campaign. Dieser Dauerwahlkampf nimmt in der Krise Fahrt auf. Politik wird unmittelbar erlebt, Entscheidung und Wirkung folgen rasch aufeinander. Die Bevölkerung fühlt sich durch ein singuläres Ereignis zusammengeschweißt. Es besteht akuter Bedarf nach Hoffnung und Zuversicht. In dieser Stimmung kann die Regierung punkten: „Dem Menschen einen Glauben schenken, heißt seine Kraft verzehnfachen“, heißt es in Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“. Ob dieser Glaube trägt, entscheidet über das Schicksal von Nationen und die Karrieren von Politikern.
Der Krieg als Karriereretter Einer der größten gesellschaftlichen Disruptoren und Krisenentfacher ist der Krieg. Erfolgreiche Politik kann hier nicht nur ein Land, sondern auch schwer ramponierte Politikerkarrieren retten. Bestes Beispiel dafür ist Winston Churchill. Er hatte im Ersten Weltkrieg 1915 maßgeblich die Invasion bei den Dardanellen betrieben, die in ein militärisches Fiasko und 50.000 Toten aufseiten der Entente mündete. Die Operation endete mit seinem Rücktritt als Erster Lord der Admiralität und dem Sturz der Regierung. Es grenzt an ein Wunder, dass er im Zweiten Weltkrieg zur Personifikation des britischen Widerstandswillens werden konnte. Doch er verstand es nach dem Desaster der Militärexpedition in Frankreich 1940, in der dunkelsten Stunde der britischen Geschichte, wie er sie nannte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtigen Worte zu finden. Churchill vermochte es, seine Verbissenheit und Ausdauer auf ein ganzes Volk zu
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übertragen. Ein beharrlicher Wille sei, so schrieb Le Bon, „eine unendlich seltene und unendlich mächtige Eigenschaft“. Auch die Beliebtheitswerte Margaret Thatchers waren im Keller, als Argentinien 1982 die Falklandinseln besetzte. Ihr entschiedenes Vorgehen im darauffolgenden Krieg machte vergessen, dass ihre eigenen Einsparungen den militärischen Schutz der Inselgruppe reduziert hatten. Thatchers Wahlsieg von 1983 wird weitgehend der Rückeroberung der Falklandinseln zugeschrieben. In der Krise macht sich eine soziale Konzentrationsbewegung bemerkbar, die auch angeschlagene Führungspersonen stützt. Der Zusammenhalt in der Bevölkerung scheint zu steigen, Kritik wird als Defätismus gebrandmarkt. Man schart sich hinter der Führung. Wenn nicht gerade völlige Stümper regieren, brechen mit Krisen auch schwierige Zeiten für Oppositionspolitiker an. Die deutsche Sozialdemokratie wurde vom Ersten Weltkrieg beinahe ideologisch aufgerieben, sah sich gezwungen, ihn aus Staatsräson mitzutragen, und musste letzten Endes auch noch das Ergebnis ausbaden. Kaiser Wilhelm II. hatte bei Kriegsausbruch vor dem Reichstag einen Satz geprägt, der jeder Opposition das Genick brechen musste: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Helden und Despoten Man soll die politischen Gefahren nicht unterschätzen, die krisenhafte Situationen mit sich bringen können. Der Kritiker wird allzu rasch zum Verräter, und wer sich gerade noch als Nothelfer ausgezeichnet hat, kann schnell Geschmack an der Autorität finden, die ihm in schwerer Stunde zuwächst. Der Wunsch nach dem selbstlosen Anführer, dem princeps optimus, wird besonders in Ausnahmesituationen laut. Krisen gebären auch Despoten. Philippe Pétain, Frankreichs Retter des Jahres 1916, wurde zum Diktator des Vichy-Regimes von 1940. Umso mehr Ansehen genießt, wer die Schwäche des Staates nicht ausnützt. Lucius Quinctius Cincinnatus galt den Römern als legendäres, besonders tugendhaftes Beispiel staatsbürgerlicher Pflichterfüllung. Er war erstmals 458 v. Chr. zum Diktator ernannt worden, um einen militärischen Angriff auf die Stadt abzuwehren. Cincinnatus besiegte die Feinde Roms, legte das Amt noch vor Ablauf der gesetzten Frist nieder und kehrte auf seine Felder zurück, ohne einen Lohn für sein Krisenmanagement zu verlangen.
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Bilder bestimmen die politische Kommunikation: Neben dem perfekten Auftreten des Kanzlers verblasste der zuständige Minister.
Es gibt wenige moderne Beispiele, die dem legendenüberlagerten cincinnatischen Ideal nahekommen. Der norwegische König Haakon VII. etwa drohte nach dem Einmarsch der Wehrmacht in sein Land mit Abdankung, sollte auf die deutschen Forderungen eingegangen werden. Das Parlament übertrug ihm und seiner Regierung Sondervollmachten, bevor er ins Exil ging. Haakon VII. fand sich nach seiner Rückkehr 1945 wieder lautlos in die Rolle des konstitutionellen Monarchen ein. Österreichische Krisenpolitik Kriege gehören zumindest in Westeuropa mittlerweile zu den Ausnahmeerscheinungen. Die Krisen, die
Wenn nicht völlige Stümper regieren, brechen mit Krisen schwierige Zeiten für Oppositionspolitiker an. österreichische Politiker zu bewältigen haben, sind wirtschaftlicher Natur, Lawinenkatastrophen oder – wie aktuell – gesundheitliche Ausnahmesituationen. Dass Bilder die Politkommunikation bestimmen, hat Bundeskanzler Sebastian Kurz längst verstanden. Nicht umsonst leitete er in den vergangenen Tagen jede Pressekonferenz zur Coronapandemie mit gewohnt perfektem Auftreten und Statements, neben
denen die Aussagen des eigentlich zuständigen Ministers verblassten. Als die gesundheitliche zu einer ökonomischen Bedrohung wurde, schnürte die Bundesregierung ein Milliardenpaket und gab die einprägsame Botschaft aus: Man werde die Wirtschaft vor dem Kollaps bewahren, „koste es, was es wolle“. Krisensituationen verführen zu solchen Vereinfachungen, da sie umfassend sind und ebensolche Maßnahmen erfordern. Jedes Krisenmanagement lässt sich letztlich auf drei Sätze verkürzen: „Hier sind wir. Dort ist die Gefahr. Das ist der Weg.“ Allerdings fordern krisenhafte Situationen nicht nur rasches und großangelegtes Handeln, sie bringen zu verschiedenen Zeitpunkten schwierige Abwägungsfragen mit sich. Die Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus zeigt das recht deutlich. Das Vorgehen des Gesundheitsministers bringt schwere Einschnitte für die österreichische Wirtschaft. Wie viele Arbeitsplätze sichert ein Skigebiet? Und ist das nicht nur eine leichte Grippewelle? Was sind 38 Milliarden Euro Schulden gegen ein paar tausend Arbeitslose mehr? Ist eine allgemeine Ausgangssperre ein zu schwerer Eingriff in die Grundrechte? Diskussionen darüber sind in einer demokratischen Gesellschaft selbst in angespannten Lagen notwendig, können aber auch Unsicherheit schaffen, wenn sie sich hinziehen und zunächst nur Teilergebnisse nach außen dringen. Während die Bundesregierung am 12. März die Bekanntgabe neuer Maßnahmen zur Virusbekämpfung für den kommenden Tag ankündigte, kursierten die wildesten Gerüchte. Das Innenministerium sah sich veranlasst, in einer Aussendung vor Falschmeldungen zu warnen. Einen Tag später erklärte Innenminister Karl
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Krise als Chance für Politiker
Bumerang Verantwortung Unfälle, Naturkatastrophen und Seuchen gehorchen nicht denselben Gesetzmäßigkeiten wie Kriege. Es gibt keinen unmittelbaren Feind, dem man die Schuld geben kann. Die Flutwelle, die Lawine und die Epidemie sind Auswüchse höherer Gewalt. Dementsprechend sucht man die Verantwortung bei jenen, die etwas dagegen hätten tun müssen: Wer hat vor der Lawinenkatastrophe in Galtür die letzten Transporthubschrauber des Bundesheers verkauft? Warum hat der Rechnungshof verlangt, dass das Bundesheer die Heeresspitäler verschlankt und Intensivbetten abbaut, die man nun brauchen würde? Die Kriegspartei hat einen Feind, das Katastrophenopfer sucht einen Verantwortlichen. Entsprechend schnell kann die Politik ins Visier geraten. Zu rigorose Sparprogramme oder zu großzügige Genehmigungen der Vergangenheit werden zum Bumerang. Die Tatsache, dass es unter ihrer Verantwortung zur Katastrophe kommen konnte, beschädigt manche Politiker dermaßen, dass sie nicht mehr glaubwürdig als Krisenmanager auftreten können. Das zeigte sich etwa nach dem Loveparade-Unglück in Duisburg 2010, wo eine Massenpanik 21 Menschen das Leben gekostet hatte. Nachdem sich Oberbürgermeister Adolf Sauerland weigerte, die Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten, musste er unter Polizeischutz gestellt werden. Er wurde schließlich 2012 abgewählt, nachdem eigens eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen worden war. Der schwerwiegendste Vorwurf an ein Krisenmanagement lautet, zu wenig getan und zu spät gehandelt zu haben. Entsprechend energisch treten Politiker oft auf. Der Aufstieg des späteren deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt begann 1962 mit einer Sturmflut. Schmidt organisierte als Hamburger Innensenator die Katastrophenhilfe auch unter Einsatz der Bundeswehr, ohne entsprechende rechtliche Grundlage. Er habe in diesen Tagen nicht ins Grundgesetz geschaut, sagte er später selbstbewusst. Nach Unglücken hilft es, schnell Geld auf das Problem zu werfen, um sich Vorwürfen zu entziehen. Höhere politische Kunst ist es, dem Geld auch noch das richtige Mascherl zu geben. Als 2002 eine Hochwasserkatastrophe den Donauraum heimsuchte, nutzte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sie, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Da der Ankauf von Eurofightern für das Bundesheer breite Kritik ausgelöst hatte, gab er die Reduktion der Stückzahl von 24 auf 18 bekannt, um das so ersparte Geld in die Hochwasserhilfe fließen zu lassen. Eine weitere Maßnahme führte allerdings zum Zusam-
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Nehammer im Ö1-Mittagsjournal: „Es wird natürlich keine Ausgangssperren geben.“ Am 15. März wurden allerdings Verkehrsbeschränkungen über ganz Tirol verhängt, kurz darauf folgte das restliche Bundesgebiet. Mittlerweile hört man von den Verantwortlichen Worte wie „derzeit“ und Sätze wie „Wir können nichts ausschließen“. Die Politik, die in der Krise beruhigen will, verspielt ihr Kapital, wenn sie nicht mit offenen Karten spielt.
Bundeskanzler Viktor Klima machte im Juli 1997 beim Besuch im Hochwassergebiet keine gute Figur.
menbruch der Koalition: Die von Schüssel geforderte Verschiebung der geplanten Steuerreform hatte den FPÖ-Parteitag in Knittelfeld und vorgezogene Neuwahlen zur Folge. Für den Bundeskanzler zahlte sich seine Strategie als Krisenmanager letztlich aus: Die ÖVP erreichte 42,3 Prozent der Stimmen. Machtfaktor Mitgefühl Ob jemand gestärkt aus einer Krisensituation hervorgeht, hat nicht immer mit seiner Verantwortung oder seinem tatsächlichen Beitrag zur Lösung der Problemlage zu tun. Oft geht es eben einfach nur darum, bei Katastrophen vor Ort zu sein und Mitgefühl zu zeigen. Ein falsches Wort, eine falsche Geste und vor allem falsche Bilder können fatal sein. Öffentliche Trauer gehört zu den schwierigsten
Was keinem Politiker verziehen wird, ist mangelnde Empathie. Herausforderungen in der Politik. Man darf nicht kalt wirken, aber auch nicht die Fassung verlieren. Und es gilt die richtige Worte für jene Menschen zu finden, deren Leben gerade zusammengebrochen sind. Der Einsatz und die persönliche Anteilnahme der steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic nach dem Grubenunglück von Lassing 1998 brachten ihr den Ruf als Landesmutter und bei der Wahl zwei Jahre später einen Stimmenzuwachs von elf Prozentpunkten ein. In anderen Fällen, wie beim Brand der Kapruner Gletscherbahn im Jahr 2000, versagte das Krisenmanagement der heimischen Politik hingegen kläglich. Auch George W. Bushs Ansehen litt 2005 massiv darunter, dass er sich zu spät um die Opfer des Hurri-
kans Katrina zu kümmern schien. Die Mitarbeiter des Präsidenten diskutierten darüber, wer ihm beibringen musste, dass sein Urlaub kürzer ausfallen würde. Der ehemalige Clinton-Berater Sidney Blumenthal erklärte, Bushs Amerika sei vorüber: „The deepest wound is not that he was incapable of defending the country but that he has shown he lacked the will to do so.“ Dabei war Bush es gewesen, auf dessen Druck die Evakuierung von New Orleans überhaupt erst angeordnet worden war. Es waren aber die zögerliche Hilfe der Bundesbehörden und ein Foto, die den Umgang des Präsidenten mit der Krise prägten. Das Bild zeigte Bush, wie er sich die Verwüstung vom Flugzeug aus ansieht, auf dem Heimweg nach Washington. Bilder, die Distanz und Abgehobenheit signalisieren, sind in solchen Situationen eine Katastrophe für die Polit-PR. Das österreichische Äquivalent dazu ist der in gelben Gummistiefeln durchs Wasser watende Viktor Klima. Der Bundeskanzler sah so aus, als hätten ihm seine Mitarbeiter gerade irgendwo Gummistiefel gekauft, um Fotos von seinem Besuch bei einer Überschwemmung machen zu können – und genauso war es wohl auch. Wer, wie der niederländische Premier Mark Rutte, der Öffentlichkeit erklärt, man solle angesichts der Coronakrise aufs Händeschütteln verzichten, nur um anschließend selbst jemandem die Hand zu geben, erzeugt eher Häme als Sicherheit. Der psychologische Faktor Wer keine politische Macht besitzt, dem werden keine fehlende Unterstützung, mangelhafte Ausrüstung oder zu kleine Budgets vorgeworfen. Gerade konstitutionelle Monarchen und Staatspräsidenten mit repräsentativen Aufgaben sind prädestiniert, aus Krisen gestärkt hervorzugehen. Man macht sie für die Verhältnisse nicht verantwortlich, ihre öffentliche Anteilnahme und Aufrufe zur Einigkeit erweisen sich jedoch regelmäßig als psychologisch stabilisierender Faktor. Das hat sich bei den Besuchen des japanischen Kaiserpaars nach der Katastrophe von Fukushima
2011 ebenso gezeigt wie beim Ibiza-Skandal 2019. Bei der Havarie des Öltankers Prestige 2002 vor der spanischen Atlantikküste trauten sich madrilenische Politiker kaum in die betroffenen Küstengebiete. Die Behörden hatten dem Schiff das Einlaufen in einen spanischen Hafen verweigert, was die Auswirkungen aber deutlich verringert hätte. König Juan Carlos kam und brachte den Menschen das, was sich viele in Krisensituationen wünschen: Aufmerksamkeit. Was aber neben fehlendem Verantwortungsbewusstsein niemandem verziehen wird, ist mangelnde Empathie. Elisabeth II. soll es bis heute bereuen, dass sie 1966 zu spät nach Aberfan in Wales fuhr, wo ein Bergwerksunglück 144 Menschen, die meisten davon Kinder, getötet hatte. Ihre lange Abwesenheit wurde ihr öffentlich vorgehalten, was sich 1997 beim Unfalltod ihrer ehemaligen Schwiegertochter Diana wiederholte. Die Queen wurde angesichts der Massentrauer für ihre mangelnde öffentliche Anteilnahme kritisiert. Sie hatte den emotionalen Tsunami unterschätzt, der über das Land rollte. Die selbst geschaffene Krise Schon Gustave Le Bon erkannte, dass sich Menschen „niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassen“. Die Massen seien „durch logische Beweise nicht zu beeinflussen“ und begriffen „nur grobe Ideenverbindungen“. So wie in der Massenpsychologie Meinungen schwerer wiegen als Fakten, zählt in der Krisenbewältigung die Meinungsforschung letztlich mehr als das Ergebnis. Im Zeitalter des permanent campaining lässt sich schließlich alles testen: Wohin soll der Präsident auf Urlaub fahren? Wie fanden Sie unseren letzten Krieg? Wie in diesem Rahmen Krisen instrumentalisiert werden, haben die Golfkriege gezeigt: Bedeutungsschwangere Fernsehansprachen, Monopolisierung der Kriegsberichterstattung mit embedded journalists, nachtsichtgrüne Videos von zielgenauen Raketeneinschlägen und Truppenbesuche mit Kantinenessen zu hohen Feiertagen ergeben das stimmungsvolle Bild einer tatkräftigen und entschlossenen Führung. Im Satirefilm „Wag the Dog“ aus dem Jahr 1997 wird diese Propagandamaschinerie persifliert, indem ein Krieg inszeniert werden soll, der von einer Affäre des Präsidenten ablenken soll: “The President will be a hero. He brought peace.” “But there was never a war.” “All the greater accomplishment.” Der Film erhielt ein Jahr nach seiner Veröffentlichung plötzliche Brisanz: Die Lewinsky-Affäre brach über die zweite Amtszeit Bill Clintons herein, der prompt Stellungen von Al-Kaida in Afghanistan und im Sudan bombardieren ließ. Der Präsident hatte sich zur Ablenkung eine Krise geschaffen, die er managen konnte.
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George Bushs Ansehen litt 2005 massiv darunter, dass er sich zu spät um die Opfer des Hurrikans Katrina zu kümmern schien. Das Bild, auf dem er die Katastrophe vom Flugzeug aus betrachtet, ging um die Welt.
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Worst Case Scenario
Die Corona-Ikone Krisen und Katastrophen haben ihre Bilder: Opfer, Täter, Verwüstungen. Die Ikone der Corona-Krise ist ein Schaubild. Wir denken jetzt ja alle wissenschaftlich.
Annahme: 60 – 70 % der Bevölkerung in Östererich betroffen Zahl der Infizierten
Höhepunkt Ende Mai: ca. 2 Millionen Keine Einschränkung der Sozialkontakte
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s gibt Bilder, die setzen Ereignisse von möglicherweise weltgeschichtlicher Tragweite in Gang. Aus der jüngeren Vergangenheit ist vielleicht das Bild des syrischen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi am stärksten in Erinnerung geblieben, der Anfang September 2015 tot an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde und in der Debatte über den Umgang der Europäischen Union mit der eben einsetzenden Flüchtlingswelle große Symbolkraft entwickelte. Etwas mehr als 40 Jahre zuvor, auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs, hatte ebenfalls das Bild eines Kindes einen öffentlichen Meinungsumschwung beschleunigt: Das Foto des von Napalm verbrannten Mädchens Phan Thi Kim Phúc wurde zum Pressefoto des Jahres 1972 gewählt, sein Fotograf Nick Út wurde mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Die Ikone der Corona-Krise ist, ganz dem Motto „Hör auf die Wissenschaft!“ folgendem Diskussionverlauf entsprechend, ein Schaubild. Es zeigt drei unterschiedliche Verlaufsmodelle der Corona-Krise mit der jeweiligen Zahl der Infizierten. Was in dieser Grafik fehlt, ist die entscheidende Information: die Kapazität des Gesundheitssystems. In machen adaptierten Darstellungen liegt sie exakt an der Oberkante des Buckels, der die Entwicklung unter Einrechnung der von der Regierung beschlossenen Maßnahmen zeigt. Will heißen: Wenn wir nichts tun, sterben sehr viele Menschen, wenn nicht genug tun, sterben viele Menschen, wenn wir tun, was wir gerade tun, geht es sich aus. Diese Grafik wird jedem mit zum Teil durchaus unfreundlichen Worten unter die Nase gehalten, der Zweifel daran hegt, dass sich das, was gerade an Maßnahmen in Kraft ist, über viele Monate aufrechterhalten lässt (der Buckel befindet sich an der 200-TageMarke, was gern übersehen wird). Die Kurzformel lautet: Wer zweifelt, tötet. 0 Tage seit der ersten bestätigten Infektion
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Mit diesern Grafik wirbt die Bundesregierung fürs Daheimbleiben. Weder die Zahl der Erkrankungen noch die erforderliche Dauer der Maßnahmen noch die Kapazität des Gesundheitssystems lassen sich daraus ablesen.
ca. 1,2 Millionen 10 % weniger Sozialkontakte
ca. 360.000 25 % weniger Sozialkontakte Legende Szenario 1 Szenario 2 Szenario 3
Quelle: TU Wien / dwh
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Isolationstagebuch
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Julya Rabinowich war Anfang März nach einer Italienreise in ihrer Wiener Wohnung in Quarantäne. Nach sieben Tagen wurde sie negativ getestet, doch auf die Quarantäne folgten die Ausgangsbeschränkungen.
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In der Echokammer
Durch die verhängten Ausgangsbeschränkungen sitzen viele Menschen allein zu Hause fest. Die Schriftstellerin Julya Rabinowich beschreibt die Auswirkungen der Isolation.
T E XT: J U LYA R A B I N OW I C H
1.
Tag Noch sitze ich freiwillig hier. In meiner Echokammer, in der Erinnerungen an lange Krankheit und dadurch entstandene Einsamkeit sich mit altbekannten Sorgen und der Angst vor dem Tod brechen, Nachhall vergangener Jahre. Noch gibt es keine Verordnung, die mir das Ausgehen verbieten würde. Das Schlimmste ist, in Zeiten der Bedrohung seine Liebsten nicht um sich zu haben. Ich vermisse meine Familie brennend. Meine Mutter bittet mich, zu ihr zu ziehen. Ich kann nicht ausschließen, sie zu gefährden. Ich bin gerade von einer internationalen Konferenz zurückgekommen. Was, wenn ich daran schuld wäre, wenn sie erkrankt? Aus Liebe halte ich also Distanz. Mein Kind vermisst mich. Auch mein Kind werde ich nicht mutwillig gefährden. Die Einsamkeit ist nun der Preis meiner unverbrüchlichen Verbundenheit. Ich sitze hier, weil ich weiß, wie es weitergehen wird. Ein Blick nach China und nach Italien zeigt es recht deutlich.
2. Tag Die Theater schließen, alles Kulturleben kommt zum Stillstand. Filmriss. Es hagelt besorgte SMS, die Whatsappgruppen explodieren in Fragezeichen, eine Absage nach der nächsten schlägt im Maileingang ein. Vielleicht hält ja der Termin, der mir besonders wichtig ist, die Rauriser Literaturtage. Rauris ist doch eine Heimkehr zu meinen Wurzeln, zu den Anfängen meines Schreibens, und die Menschen, die ich dort treffen werde, sind mir wichtig und nah. Die Leipziger Buchmesse wird abgesagt. Ich denke an meine Kollegen und Kolleginnen, die ihre neuen Bücher dort vorstellen wollten, denke an meinen Verlag, denke daran, was das für all diese armen, verrückten, geschätzten und großartigen Buchmenschen bedeutet. Nach der Buchmesse wird auch meine Diskussion in Wien gecancelt und danach vier Schullesungen. Das zieht ein wenig den Boden unter den Füßen weg, ich halte mich beim Lesen an der Tischkante fest, sicher ist sicher. Es folgt ein halbwegs erfolgreicher Versuch, ruhig zu bleiben. Hauptsache, die Liebsten bleiben gesund, Hauptsache, man bleibt gesund, denke ich. Als ich mich mehr oder minder wieder zur Räson gebracht habe, wird auch Rauris abgesagt. I will survive, sage ich laut zu mir und kann mich nicht mehr daran erinnern, wie die Sängerin des zugehörigen Songs heißt, weil ich so unter Stress stehe.
3. Tag Mein Kind ruft an und sagt, dass es mich furchtbar vermisst, mich aber nicht treffen will, weil es sowohl Angst hat, mich anzustecken, als auch die Angst, von mir angesteckt zu werden. Ich beruhige es und klinge aufrichtig beschwingt, während mir das Herz blutet. Wird alles gutgehen, fragt das Kind. Aber ja, sage ich. Wir haben uns noch nie so lange nicht gesehen. Wird es Ausgangssperren geben? Ich glaube schon. Ich habe wegen der ersten Quarantäne schon einiges an Vorräten da, meine Sorge gilt nicht dem Verhungern, sondern dem Verfetten. In der Wohnung kann man nur begrenzt Bewegung machen, und meine Schweinehunde sind auch in normalen Zeiten groß und mächtig. Dennoch entdecke ich noch kurz vor dem Schlafengehen, dass die Bestellung von Gemüse und Obst, angepeilt für nächste Woche, storniert worden ist, und verfalle kurzfristig in Unruhe, die mich an die Unruhe der Zootiere erinnert, die vor jeder Fütterung aufs Neue rastlos durch das Gehege streifen. Das logische Denken sagt mir, dass das egal ist, dass ich noch später Einkäufe tätigen oder jemanden darum bitten kann. Das Unterbewusste schlägt aber durch die dünne Decke der Zivilisation mit der Wucht eines tobenden Sauriers. Ich versuche, auch den Saurier zu mögen. Ich hasse den Saurier. Ich erwache in der Nacht mehrmals, der Hund spürt meine Unruhe und wird auch nervös. Wir suchen Halt aneinander und schlafen irgendwann trotzdem ein. Ich werde den nächsten Tag und auch alle anderen viel Kraft dazu aufwenden, Witze zu erzählen und lustige Bilder zu teilen. Humor lässt alles überwinden. Humor ist der letzte Widerstand. 4. Tag Das, was erwartbar war, tritt also ein. Wir sollen zu Hause bleiben. Geschäfte und Restaurants schließen. Ich öffne das Fenster und sehe hinaus: Die Gasse ist wie ausgestorben. Eine Filmkulisse, in der die Komparsen gerade auf Pause geschickt worden sind. Die Zeit steht still. Es ist unwirklich. Im Netz bricht allerdings hektische Bewegung aus. Es wird beschwichtigt, getröstet, aufgemuntert und ignoriert. In den Nachrichten jagt eine beunruhigende Botschaft die nächste. Das wird für so viele Menschen gravierende Folgen haben. Wir sind zerbrechlich. Im Haus gegenüber sind alle Fenster hell erleuchtet. Es sieht ungewohnt aus. Nachdem die Sonne untergegangen ist, verbringen die Menschen in Österreich
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Isolationstagebuch
ihren ersten Abend und ihre erste Nacht im Ausnahmezustand. Für mich ist das Eingeschlossensein nichts Neues mehr: Schon zuvor saß ich sieben Tage in Quarantäne, bis mein Testergebnis mich aus der Gefangenschaft entließ. Und dann nochmal zwei Tage, bevor die Regierung ihre Verordnungen verlautbart hatte, Verordnungen, die ich erwartet hatte. Nichts am derzeitigen Verlauf überrascht mich: Ich habe eine Freundin, die den Ausbruch von COVID-19 in China erlebte, und ich weiß, was sie mir damals von ihrem Alltag im Lockdown erzählt hat. Die meisten werden also morgen ihr erstes Frühstück erleben, das sie zwangsweise weder in einem Kaffeehaus noch in einer Mensa oder einem Betriebsbuffet zu sich nehmen können. Ich bin ihnen ein paar Schritte voraus. Ich weiß, dass Freunde Angst davor haben, ich weiß, dass manche aus dieser Angst heraus aggressiv und trotzig werden wie kleine Kinder. Ich habe auch erlebt, dass andere liebevoll und aufmerksam sind, so, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe. Ich weiß, dass viele Menschen sich gerade zu fürchten beginnen. Ich bin jetzt seltsam ruhig. Mein halbes Leben war ein Ausnahmezustand. Ich kenne das. Ich hatte gehofft, diesem Gefühl nicht mehr zu begegnen. Aber gut, es ist wieder da wie ein alter Bekannter, den keiner einladen wollte. Ich beschließe, etwas Positives zu unternehmen, und beginne eine Videoserie auf Facebook und Twitter. Miniaturlesungen aus meinen Romanen. Ein kleines Geschenk an alle, die zuhören möchten. Ich verspreche öffentlich, das täglich durchzuziehen. Für ein elegantes Auftreten kann ich allerdings mit fortschreitendem Hausarrest nicht mehr wirklich garantieren. Wir berühren uns da draußen im Geiste. Das tröstet. 5. Tag Der Hund versteht die Welt nicht mehr. Er möchte nicht mehr Gassi gehen, weil alle so seltsam sind. Wir wandern durch vollkommene Stille, begegnen anderen Gassigehenden, deren Tiere offenbar kein so zartes Nervenkostüm ihr Eigen nennen wie meiner. Mein Hund sieht sie misstrauisch an. Er hat Schmerzen, er muss zum Tierarzt, kurz die würgende Angst, er würde während dieser Phase des Notbetriebs zu Schaden kommen. Ich nehme ihn hoch und trage ihn nach Hause, er kann sowieso nicht selbst zurückgehen. Die Angst um mich kommt erst viel später, als ich schon im Bett liege. Diese Angst und gleichzeitig das Wissen, dass die Menschheit durch Zusammenhalt überlebt hat, seit sie von den Bäumen heruntergekommen ist. Und jetzt jagen wir verzweifelt dem weißen Gold hinterher, der heiligen Klopapierrolle. Wir werden auch das überleben. Als ich die Nachtlampe ausknipse, bricht dennoch Dunkelheit über mich herein, nicht nur außen, sondern auch innen. We will survive. Dann denke ich an Trump, und bin mir nicht mehr ganz so sicher. Ich habe einige Verwandte in Amerika, einer davon liegt hilflos in einem dichtbelegten Pflegeheim. Meine Mutter verdrängt ihre tägliche Sorge um ihn. Ich schicke ihr ein Video, in dem jemand seine Klopapierrolle in der Pfanne anbrät. Sie findet das nicht lustig. Mission impossible.
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6. Tag Der Tag verschwimmt in hektischer Arbeit, Termine werden umgeschoben, Deadlines für Texte abgeändert. Manches in der Politik wirkt vertrauenerweckend, manches höchst alarmierend. Ischgl hat sich entsetzlich fahrlässig zur Virenschleuder Europas gemausert, und die Terroristen des IS warnen angeblich davor, nach Europa einzureisen. Demnächst werden afrikanische Staaten die Grenzen für uns schließen. Eine absurde Wendung jagt die nächste. Hätten wir uns das vor zwei Monaten vorstellen können? Wir hätten es sollen. Ich frage mich, wie schnell die Versuchung aufkommen könnte, diesen Ausnahmezustand zu politischem Zweck zu missbrauchen. Immerhin wird gerade die Freiheit der Bürger und Bürgerinnen massiv beschnitten. Gleichzeitig hat man in den Tagen davor gesehen, dass die Menschen trotz aller Bitten in großen Mengen unterwegs waren, als sei gar nichts geschehen. Die Krise bringt das Edelste und das Grindigste in den Menschen hervor. Von der sechsköpfigen Radlerarmada in Angriffsformation am Donaukanal oder dem Rempler im Supermarkt bis zu dem Studenten, der überall in der Gegend Zettel aufhängt mit einem Hilfsangebot
Die Krise bringt das Edelste und das Grindigste in den Menschen hervor. und seiner Telefonnummer. Ein Drahtseilakt steht uns also bevor und Wattewochen in Abgeschiedenheit. Mein Theaterstück ist noch immer nicht fertig, ich sitze stundenlang vor dem Notebook. Ich habe nicht mehr genug Seife im Haus. Ich telefoniere, skype, verschicke Nachrichten, ich bin ein körperloser Strom von Worten und Bildern, ich löse mich auf im Virtuellen, ich vergehe. Es gibt nichts da draußen außer Frischluft und ab und zu unachtsamen Menschen, die nicht ausweichen oder zu mehrt unterwegs sind, als vorgeschrieben wurde. Ich und die Nachbarin bestellen Gemüse, Käse und Brot und teilen schwesterlich, indem jede der anderen einen Beuteanteil vor die Türe legt. Prähistorischer Schwarzhandel der Jäger und Sammler. Ich stelle mir vor, wie wir alle am Ende des Lockdowns aus unseren Höhlen wanken und die Augen im ungewohnt hellen Licht der Sonne zusammenkneifen. Mordsverspannt, langhaarig und ungefärbt, ein Heer von Almöhis und Almöhinnen, der Gesellschaft anderer entwöhnt. 7. Tag Die Bäume blühen und der Goldregen. Alles duftet und strebt der Sonne entgegen. Strahlend blauer Himmel und warme Temperaturen, perfekt für Schanigärten und Ausflüge. Ganz Tirol ist unter Quarantäne. Wir werden sehen. Wir werden überstehen. Wir werden achtsam sein. Und es gibt genug Klopapier für alle.
Corona Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde. Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn: die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Paul Celan, Mohn und Gedächtnis © 1952, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Im Spiegel ist Sonntag, im Traum wird geschlafen, der Mund redet wahr. Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, wir schlafen wie Wein in den Muscheln, wie das Meer im Blutstrahl des Mondes. Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße: es ist Zeit, daß man weiß! Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, daß der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, daß es Zeit wird. Es ist Zeit.
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Wien ohne Menschen
Als Wien zur Geisterstadt An den ersten Tagen nach der verordneten Ausgangssperre zeigt sich Wien menschenleer.
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Philosophie des Ausnahmezustands
Im Ausnahmezustand heißt es wachsam bleiben Der Ausnahmezustand ist mehr Regelfall, als wir wahrhaben wollen.
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er Mensch wird nicht mehr derselbe sein“, meinte der slowenische Philosophie-Popstar Zlavoj Žižek zu Beginn der verschärften Maßnahmen in einem Artikel zur Coronavirus-Pandemie. Der Text erschien an einem Freitag, dem 13. Die Ironie meint es nicht gut mit uns. Viel spricht nicht für Žižeks These. Der Mensch ist vielleicht eher schon immer derselbe, und wir sehen nur immer wieder andere, neue Facetten. Fest steht, dass sich viele – Politiker, Philosophen, Ärzte und sonstige Fachleute – mit ihren jetzt getätigten Aussagen langfristig die Finger verbrennen werden. Etliche Artikel und Meinungen sind schon jetzt schlecht gealtert. Aber: Wer jetzt Zurückhaltung übt, wird nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. In Krisenzeiten steigt der Bedarf an steilen Thesen. Žižek hat davon bekanntlich einige zu bieten. Im Buhlen um die Aufmerksamkeit braucht es drastische Mittel, von der bei Žižek schon fast obligaten Nazi-Referenz – „Godwin’s law“ – bis hin zu Ausflügen in die Popkultur. Das sind allesamt Gründe dafür, dass er so gerne gelesen wird, von Kritikern – Hatern – ebenso wie von Verehrern. „Besser von einigen geliebt und von vielen gehasst, als von allen gemocht“, schrieb Nassim Nicholas Taleb einmal.
schwertut: Essayist, Gelehrter, Statistiker und ehemaliger Börsenhändler ist Taleb diesem zufolge. Beste Voraussetzungen, um in schweren Zeiten (leichte) Antworten zu finden. Taleb ist natürlich ein anderes Kaliber als Žižek. Sein Bild vom „schwarzen Schwan“ ist zwar noch keine Antwort, aber immerhin ein Bild, das den derzeitigen Corona-Wahnsinn fassbar macht. Konkret meint Taleb damit Ereignisse und Phänomene, mit denen man nicht rechnet, ja, nicht rechnen kann. Solange die Europäer nur weiße Schwäne kannten, dachten sie eben nicht einmal darüber nach, ob es auch schwarze geben könnte. Ein Schwan war weiß, also mussten alle anderen auch weiß sein. Bis man irgendwann gegen Ende des 17. Jahrhunderts doch zum ersten Mal einen sogenannten Trauerschwan gesehen hat. Und so dachten wir bis vor kurzem noch über ganz andere Dinge nach als ein unsichtbares Virus: über die Spannungen an der griechisch-türkischen Grenze etwa oder darüber, ob der Linzer Athletik-Sport-Klub (LASK) eine Chance gegen die britische Fußballgroßmacht Manchester United haben könnte. Einige der Gesprächsthemen und Nachrichten der vergangenen Tage wirken inzwischen ein wenig surreal.
Der schwarze Schwan Womit wir beim Thema wären. Neben Pop-Philosophen der Marke Žižek haben nämlich auch Pop-QuasiUniversalgelehrte wie Nassim Nicholas Taleb derzeit Hochkonjunktur – jene Gattung, bei der sich der Wikipedia-Eintrag mit der Beschreibung besonders
Ausnahmezustand Auch zu Beginn des Jahres 2020 war nicht alles eitel Wonne. Wer sucht, wird immer eine Krise finden. Und wir kannten die Berichte von den rigorosen Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus in China damals bereits. Nur schien die Sache noch weit weg, Mitte
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März sah man Menschen noch in Scharen auf Wiens größter Einkaufsstraße shoppen, Cafés und Bars waren gut gefüllt. Parallelen zur Anfangsphase von Kriegen oder Naturkatastrophen lassen sich durchaus erkennen. „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Nachmittag Schwimmschule“, schrieb Franz Kafka im August 1914 lapidar. Aus der jüngeren Vergangenheit sind die schweren Fehler nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl hinlänglich bekannt. Die Einordnung kommt in der Regel erst später. Bundeskanzler Sebastian Kurz spricht schon jetzt von der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit nimmt er viel vorweg. Auf der Skala zwischen „Warum die Panik, das ist nicht schlimmer als die Grippe“ und „Wir werden alle sterben“ hat sich der Regierungschef klar positioniert. Damit sind wir beim Ausnahmezustand, zumindest nahe daran. Wenn nicht faktisch, dann mental, von höchster Ebene verordnet. Die normative Kraft des Wortes, wenn man Georg Jellinek zweckentfrem-
Carl Schmitt, der auf die Schwächen der Demokratie in Krisenzeiten hingewiesen hat, erlebt in Krisen eine Renaissance. den will. Es kommt jedenfalls derzeit in Österreich zu den massivsten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Zweiten Republik. Die Menschen sollen das Haus nur in Ausnahmefällen und allein oder im Beisein anderer Haushaltsangehöriger verlassen, Grenzen, Bars und Geschäfte sind geschlossen, es finden keine Großveranstaltungen statt, selbst Kleinstgruppen werden aufgelöst, es drohen Verwaltungsstrafen von bis zu 4.000 Euro. Der Staat stellt auf Notbetrieb um, wie es heißt. 9/11 redux In der Ausnahme ist vieles möglich. Nach 9/11 haben die USA nicht nur zwei Kriege – in Afghanistan und, rund eineinhalb Jahre später, im Irak – begonnen, sondern auch den Patriot Act verabschiedet, mit dem der Exekutive einerseits mehr Geld und andererseits viele neue Werkzeuge für die Terrorabwehr in die Hand gegeben wurden: unbefristete Präventivhaft ausländischer Terrorismusverdächtiger auf Grundlage von Geheimdienstinformationen; die Sicherheitsbehörden konnten jederzeit ohne richterliche Bewilligung Häuser und Firmen durchsuchen oder Telefon-, Mail- und Finanzdaten ohne Gerichtsbeschluss abhören beziehungsweise lesen. Selbst rund um das eigentlich absolut geltende Folterverbot wurde eine Debatte geführt, Maßnahmen wie Waterboarding – bei dem Betroffenen das Gefühl gegeben wird, sie würden ertrinken – als „erweiterte Verhörmethoden“ („enhanced interrogiation techniques“) wurden gerechtfertigt.
Die Rückkehr Carl Schmitts Damit schloss sich ein großer Kreis. Die US-Juristen hinter dem Patriot Act und den allgemeinen weitreichenden Befugnissen des US-Präsidenten hatten einen entscheidenden ideologischen Wegbereiter: Der deutsche Verfassungsjurist Carl Schmitt (1888 – 1985), aufgrund seines akademischen Wirkens während des Nationalsozialismus oft als „Kronjurist des Dritten Reiches“ tituliert, erlebte damals in den USA eine regelrechte Renaissance. Schließlich hatte er mit der ihm eigenen Wortgewalt mehrfach die Schwächen der Demokratie in Krisenzeiten herausgearbeitet und, verklausuliert, aber doch bestimmt, eine Verschiebung der Entscheidungskompetenz weg vom Parlament hin zur Regierung gefordert. Damit war Schmitt freilich ein Kind seiner Zeit: Seine Thesen stammen aus den 1920er Jahren, viele der im monarchischen Staatsdenken geschulten Verfassungsjuristen glaubten nicht an das Funktionieren
Die Anschläge vom 11. September 2001 hatten zwei Kriege und umfassende Ausnahmeregelungen zur Folge.
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Philosophie des Ausnahmezust ands d
Mit dem Sturz des ägyptischen Staatschefs Hosni Mubarak 2011 endete der dreißig Jahre zuvor verhängte Ausnahmezustand.
der jungen Weimarer Demokratie. Daraus erklärt sich auch die Schmitt-Renaissance: Wer in einer Krise wirkt, wird in einer anderen wieder interessant. Sein Diktum, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, gibt viel Projektionsfläche für Deutungen aller Art. Unter politisch interessierten Menschen ist es gar zu einer Art geflügeltem Wort geworden. Es sagt sich schnell, es zeigt, dass man sich zumindest ein wenig mit jüngerer Ideengeschichte auskennt – zumal von Schmitts Schriften gerade im deutschen Ideen- und Sprachraum für so manchen eine fast fetischähnliche Faszination auszugehen scheint. Aber zurück zum Thema. Schmitts Zitat beruht auf der lapidar anmutenden Feststellung, dass sich der Ausnahmezustand nicht definieren lässt, ja, einer juristischen Einhegung entzieht. Über Ausnahme und Normalität entscheidet einzig der Souverän. Damit befinden wir uns in einem Zustand der Regellosigkeit, der nach Ordnung verlangt: „Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre“, wie Schmitt betont – deshalb kann es auch keine eindeutigen Bestimmungen dafür geben, welche Maßnahmen gesetzt werden dürfen, um ihn wieder zu beenden. Die Verfassung kann lediglich regeln, „wer in einem solchen Falle handeln darf“. Das ist, wie auch Schmitt selbst betont, in demokratischen Staaten die Regierung auf Grundlage von parlamentarischen Beschlüssen unter dem Vorbehalt richterlicher Kontrolle. Ansonsten zeigt sich in solchen Momenten aber, wer der wahre, also faktische Souverän ist: „Er entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen“, gegebenenfalls kann er sogar die gesamte Verfassung suspendieren.
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Mit anderen Worten: Im Ausnahmezustand zeigen sich sowohl der eigentliche Souverän als auch die Reichweite seiner Macht: Je drastischer der Notstand, desto weiter die Befugnisse und desto länger kann er andauern. Der Souverän entscheidet letztlich auch darüber, wann der Normalzustand erreicht wird. Dabei lassen sich Regierungen gerne Zeit. Der Ausnahmezustand ist schließlich so etwas wie eine Art Turbo Boost, wie man ihn aus Videospielen kennt, ein Zaubertrank, der Spezialkräfte für die Bewältigung von Krisen verleiht. Aber es besteht akute Missbrauchsgefahr. Die Ausnahme wird schnell zur Norm. In Ägypten hielt der Ausnahmezustand unter dem 2011 gestürzten Staatschef Hosni Mubarak gute dreißig Jahre an, in Syrien bestand er von 1963 bis April 2011 – absurderweise dachte Assad ausgerechnet in einer Frühphase der Proteste, sie mit einer scheinbaren Rückkehr zur verfassungsrechtlichen Normalität ersticken zu können. Auch aus Europa gibt es Beispiele, wenn auch von kürzerer Dauer: So verhängte die türkische Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 und Frankreich nach den Anschlägen von Paris im November 2015 für jeweils zwei Jahre den Ausnahmezustand. Terrorismus und die Sorge, gestürzt zu werden, können selbst im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention weitgehende Einschränkungen der Menschenrechte rechtfertigen, vom Recht auf Privatsphäre über das Verbot willkürlicher Inhaftierungen bis hin zu den Grundsätzen fairer Verfahren. Wird der Ausnahmezustand auch in unseren Breiten „immer mehr das herrschende Paradigma des Regierens“, wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben warnt? Wird das für den Sonderfall vor-
Die Ausnahme wird schnell zur Norm. Es besteht akute Missbrauchsgefahr. gesehene Provisorium zu einer „Technik“ im Arsenal der Herrschenden? Falls ja, ist das Kippen in andere Regierungsformen nicht weit: „Der Ausnahmezustand erweist sich in dieser Hinsicht als eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus.“ Grund genug, wachsam zu bleiben. Auch oder gerade in Zeiten des nationalen Schulterschlusses. Hüte dich vor Ausnahme. Der Zweck heiligt viel. Aber eben nicht alles.
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Halbwertszeit
Wo das Virus haften bleibt Das Coronavirus verbreitet sich vor allem durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch. Aber auch außerhalb unseres Organismus kann es im Extremfall bis zu 72 Stunden infektiös bleiben. Ein Überblick.
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Ungefähr 16 Stunden hielt sich das Virus auf Polypropylen, einem Kunststoff, den wir etwa in Armaturenbrettern oder Batteriegehäusen finden. Auch für die Ummantelungen von Kabeln wird es verwendet.
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an geht davon aus, dass sich das Coronavirus hauptsächlich über Tröpfcheninfektionen verbreitet. Dabei gelangt das Virus beim Husten oder Niesen in mikroskopisch kleinen Partikeln in die Luft und wird darauf von anderen Personen eingeatmet. Diese Tröpfchen werden von der Lunge aufgenommen. Noch ist kein Fall nachgewiesen, bei dem sich eine Person nicht über den unmittelbaren Kontakt zu einem anderen Organismus angesteckt hat. Auch für andere Viren des Corona-Stammes, wie etwa den Erreger aus der SARS-Epidemie Anfang der 2000e Jahre, ist bislang keine indirekte Infektion belegt – zu dieser Einschätzung kommt etwa das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung BfR. Die viralen Partikel, die bei einer Übertragung über Atemsekrete in Form solcher Tröpfchen austreten, sind durchschnittlich kleiner als fünf Mikrometer. Zum Vergleich: Staubpartikel oder feine Pollen messen etwa zehn Mikrometer. Der Durchmesser eines kleinen Sandkorns beträgt etwa 90 Mikrometer, der eines menschliches Haares rund 40 bis 120 Mikrometer. Die Viren sind mit bloßem Auge also nicht zu erkennen. Wie lange das für die aktuelle Corona-Pandemie verantwortliche Virus SARS-CoV-2 in der Luft und auf Oberflächen existenzfähig und infektiös bleibt, hat nun eine amerikanische Studie erstmals nachgewiesen. Die Autoren der Studie sind Experten des US-Gesundheitsinstituts NIH und der Seuchenschutzbehörde CDC. Für jede in der Folge genannte Oberfläche wurden von den Studienautoren 83 Wiederholungsexperimente durchgeführt. Die Studie gilt in der Wissenschaft als eine Art erster Hinweis auf die mögliche Haltbarkeitsdauer des Virus an Oberflächen. Gewissheit wird es erst nach mehreren weiteren wissenschaftlichen Arbeiten geben.
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Zur Übertragung durch Bargeld gibt es bislang noch keine bekannten Studien, die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt beim Umgang damit ebenfalls gründliche Hygienemaßnahmen.
Laut der WHO ist eine Ansteckung über Pakete oder Briefe, beispielsweise aus China, aufgrund der Dauer des Postwegs annähernd d auszuschließen n.
Auch Bedarfsgegenstände wie Kleidung, Spielwaren oder Werkzeuge aus den genannten Materialien gelten als nicht betroffen. Obwohl eine Corona-Infektion über Importprodukte unwahrscheinlich ist, sollte beim Umgang mit diesen das regelmäßige Händewaschen nicht vergessen werden.
Auf Oberflächen aus Kupfer konnte nach vier Stunden kein infektiöses SARS-CoV-2 mehr gemessen werden. Das SARS-CoV-1 aus 2002/03 dagegen überlebt dort rund doppelt so lange.
Die mit Abstand längste Lebensdauer konnte auf Oberflächen aus Kunststoff nachgewiesen werden. Bis zu 72 Stunden waren die Viren dort existenzfähig. Allerdings hatte sich ihr Infektionsgrad bis dahin bereits stark reduziert.
Auch auf Oberflächen aus Edelstahl hielten sich die Viren zwischen zwei und drei Tage lang lang. Wie bei den de Versuchen mit Kunststoff sank k aber auch hier der Infektionsgrrad rasch ab.
Es ist unwahrscheinlich, dass importierte Lebensmittel das Coronavirus mit sich tragen. Da die Viren hitzeempfindlich sind, kann das Infektionsrisiko durch das Erhitzen beim Zubereiten von Lebensmitteln zusätzlich verringert werden. Dagegen steigern Kälte und hohe Luftfeuchtigkeit ihre Lebensdauer.
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Wirtschaftliche Auswirkungen
Die Corona-Rezession
Mit welchen wirtschaftlichen Folgen werden wir nach der Krise zu kämpfen haben? IHS-Ökonom Martin Kocher gibt einen Ausblick.
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as Coronavirus wird die österreichische Volkswirtschaft mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in eine Rezession stürzen. Je nach Dauer und Intensität der wirtschaftlichen Einschränkungen wird diese Rezession relativ mild ausfallen, mit rund minus 2 Prozent Wirtschaftsleistung im Jahr 2020 – was ein geringeres Negativwachstum wäre als jenes im Jahr der Finanzkrise 2009, als damals die Wirtschaft um fast 4 Prozent geschrumpft ist –, oder sogar gravierender werden als alle Rezessionen seit dem Zweiten Weltkrieg. Alles hängt jetzt davon ab, wie schnell die Ausbreitung der Krankheit eingedämmt werden kann und das Land wieder einigermaßen zurück zur wirtschaftlichen Normalität findet. Daneben hängen die wirtschaftlichen Folgen selbstverständlich auch davon ab, wie wirksam die wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen – Kredite, Haftungen, Umsatzersatz, Härtefonds, Stundungen und Kurzarbeit – als Ausgleich sein werden. Die Wirbelstürme der wirtschaftlichen Entwicklung Gesamtwirtschaftliche Prognosen sind wie Wettervorhersagen. Bei stabiler Lage sind Konjunkturprognosen genauso einfach wie der Wetterbericht, aber selbst außergewöhnliche Phänomene wie Wirbelstürme kann man gut prognostisch beschreiben. Man kann ihre Entstehung nicht exakt vorhersagen, aber dann ihren Verlauf recht präzise bestimmen. Die Wirbelstürme der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sind die wiederkehrenden Rezessionen, die im Rahmen von Konjunkturzyklen auftauchen. Doch dann gibt es sogenannte „schwarze Schwäne“. Der Begriff ist eine Analogie für Ereignisse, die zwar eine sehr kleine Wahrscheinlichkeit haben und die man nicht vorhersehen kann, die aber massive Folgen haben können. Die Corona-Krise ist ein solcher schwarzer Schwan, sowohl medizinisch als auch wirtschaftlich. Natürlich gab es auch schon früher ähnliche Pandemieereignisse, aber meist waren es Krankheiten, deren Verlauf man einigermaßen stoppen oder verlangsamen konnte; zumindest jene neuen Pandemien, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Das wirtschaftliche Problem von COVID-19, nicht nur sein medizinisches, ist die Rasanz, mit der sich die Krankheit ausbreitet, nachdem es nicht gelungen ist, sie in China einzudämmen.
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Die erste Abschätzung des Instituts für Höhere Studien über die wirtschaftlichen Folgen von Corona vor knapp vier Wochen ging noch davon aus, dass die – damals noch – Epidemie weitgehend in China eingedämmt werden kann und es nur einzelne Fälle im Rest der Welt geben würde, die man auch eindämmen kann, so wie das damals bei der SARS-Epidemie 2003 der Fall war. Wir haben vor vier Wochen mit 0,1 bis 0,3 Prozentpunkten weniger Wachstum 2020 für Österreich gerechnet als erwartet, also mit gut einem Prozent Wachstumsrate der Wirtschaftsleistung. Es war verblüffend, wie rasch die Prognose, innerhalb weniger Tage, nach unten angepasst werden musste. Als klar
Aus wirtschaftlicher Sicht kann man sich nur sehr begrenzt vorbereiten. war, dass es massive Einschränkungen des wirtschaftlichen Lebens in Österreich durch das Schließen von Geschäften, Restaurants und Schulen bzw. Kindergärten geben musste, war auch klar, dass sich eine Rezession im Gesamtjahr 2020 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht verhindern lassen wird. Angebotsschock Ökonomisch wird die Corona-Krise als Angebotsschock bezeichnet. Es ist nicht so – wie zum Beispiel in der Folge der Finanzkrise –, dass die Menschen wirtschaftlich verunsichert wären und deshalb weniger konsumieren würden. Die Menschen würden gerne konsumieren, aber es gibt kein Angebot – daher Angebotsschock –, weil die Maßnahmen der Regierungen zu einer Einschränkung des wirtschaftlichen Lebens und zu Lieferengpässen in der internationalen Wirtschaft führen. Ein solcher Angebotsschock, den es sonst nur bei Ressourcenknappheit (z. B. Ölpreisschock) oder bei Naturkatastrophen gibt, ist ein Szenario, auf das wir wirtschaftlich nicht gut vorbereitet sind. Wahrscheinlich
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Wirtschaftliche Auswirkungen
kann man sich darauf aus wirtschaftlicher Sicht auch nur sehr begrenzt vorbereiten. Mit Ausnahme des Ölpreisschocks, der sich aber bei weitem weniger rasant ausgebreitet hat und daher koordinierte Gegenmaßnahmen zuließ, waren die Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte immer lokal begrenzt. Einen weltweiten Angebotsschock dieses Ausmaßes und dieser Rasanz gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Vier Phasen der Krise Mittlerweile ist die gesamte Weltwirtschaft von der Corona-Krise erfasst. Es hilft, die Krise in vier wirtschaftliche Phasen einzuteilen: unmittelbare Reaktion, wirtschaftspolitische Maßnahmen, mittelfristiges Aufholen und permanente Effekte. Unmittelbare Reaktion. Die Bekämpfung des Coronavirus erfordert laut Medizinern die Reduktion physischer Kontakte. Das führte zu einer massiven Einschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit in Österreich, die nicht nur, aber vor allem den Dienstleistungssektor betrifft. Das Schließen von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen reduziert die Produktivität, da berufstätige Eltern nun auf ihre Kinder aufpassen müssen. Die weltweite Ausbreitung des Virus trifft eine kleine Volkswirtschaft, für die Tourismus und Warenexporte wichtig sind, wirtschaftlich noch stärker als andere Länder. Zudem werden internationale Lieferketten unterbrochen und wohl über Monate mit Unsicherheit behaftet sein, was für die Just-in-time-Produktion in der Industrie massive Probleme mit sich bringt. Die wirtschaftliche Aktivität geht daher V-förmig rasch nach unten. Wirtschaftspolitische Maßnahmen. Die österreichische Bundesregierung hat sich für jene wirtschaftspolitischen Maßnahmen entschieden, die auch viele andere Länder wählen bzw. wählen werden: Bereitstellung von Liquidität für Unternehmen und die
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Unterstützung von Kurzarbeit. Die Idee dahinter ist, dass nach einer Aufhebung der notwendigen gesundheitspolitischen Maßnahmen die wirtschaftliche Aktivität wieder V-förmig nach oben gehen kann, weil gewisse wirtschaftliche Bereiche mit öffentlichen Mitteln quasi in einen Tiefschlaf versetzt werden. Zudem stellt die Europäische Zentralbank durch ein zusätzliches Wertpapierankaufprogramm weitere Liquidität für die Banken bereit, denen es gleichzeitig – durch ein Aufweichen der strengen Regeln – leichter gemacht wird, Kredite zu vergeben, um Liquiditätsengpässe bei Unternehmen und Privaten zu vermeiden. Mittelfristiges Aufholen. Die Theorie, der Konjunkturverlauf könnte V-förmig aussehen, ist nicht unumstritten. Dabei geht es um den rechten Teil des V. Die entscheidende Frage dabei ist, ob die Analogie des Tiefschlafs von Teilen der Wirtschaft für einige Wochen oder sogar Monate realistisch ist. Wenn die wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht perfekt wirken, könnte auch der Aufholprozess länger dauern, weil Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben, Unternehmen und Selbstständige vom Markt verschwunden sind oder andere wirtschaftliche Strukturen zerstört wurden. Eine Phase der Unsicherheit auch nach Aufhebung der Einschränkungen könnte zu Konsumzurückhaltung führen und aus der Angebotskrise eine nachgelagerte Nachfragekrise machen. Die Erhöhung der öffentlichen Verschuldung könnte zu Problemen der Schuldentragfähigkeit führen. Aufgrund des in Österreich angekündigten 38-Milliarden-Pakets zur Bekämpfung der Krise und des Ausfalls von geplanten Steuereinnahmen wird der Bundesrechnungsabschluss 2020 naturgemäß tiefrote Zahlen aufweisen. Das Institut für Höhere Studien rechnet derzeit mit einem Budgetdefizit von rund 5 Prozent der Wirtschaftsleistung, was in etwa der Höhe des Defizits im Jahr 2009 entspricht. Ein solches Defizit würde die
gewesen wäre – stärker auf Diversifikation setzen, um im Fall von Lieferausfällen aus einzelnen Ländern besser gerüstet zu sein. Nur die Rückholung der Produktion von Asien nach Europa löst das Problem aber nicht, weil wir ja sehen, dass es auch in Europa aufgrund der Corona-Krise Produktionsengpässe und Lieferschwierigkeiten zum Beispiel durch Grenzschließungen gibt. Die gesamtwirtschaftlichen Folgen der CoronaPandemie kann im Moment niemand seriös in Zahlen abschätzen. Wir können nur in Szenarien rechnen. Natürlich kann man sich auch Szenarien vorstellen – wenn die Einschränkung der wirtschaftlichen Aktivität viel länger dauert, als wir das bisher annehmen –,
Eine massive Bekämpfung der Krankheit senkt im Idealfall die langfristigen Kosten, auch wenn diese Maßnahmen sehr kostspielig sind. die bei weitem negativer sind als jene, die beschrieben wurden. Letztlich sind die gesamtwirtschaftlichen Kosten eine Funktion der Dauer der wirtschaftlichen Einschränkungen, und je länger sie dauern, desto höher werden die Kosten. Der Anstieg der Kosten ist aber über-linear, weil mit zunehmender Länge der Maßnahmen immer mehr mittelfristige und langfristige wirtschaftliche Kosten anfallen. Daher scheint eine möglichst massive Bekämpfung der Krankheit mit sehr starken Maßnahmen durchaus optimal, weil sie im Idealfall die mittel- und langfristigen Kosten senkt, auch wenn diese Maßnahmen kurzfristig sehr kostspielig sind.
© IHS
Schuldentragfähigkeit Österreichs nicht gefährden, obwohl es den Schuldenstand der Republik wieder in Richtung 80 Prozent der Wirtschaftsleistung bringen würde. Der große Vorteil gegenüber 2009 ist, dass die Zinsen auf Staatsschulden derzeit sehr gering sind und damit die zukünftigen Budgets weniger belastet. Aber Länder wie Italien oder Griechenland werden finanzielle Hilfe benötigen, um nicht (wieder) in die Nähe eines Ausfalls zu kommen. Zudem könnte es Flurschäden im wirtschaftlichen Gefüge geben, die wir jetzt noch nicht vollständig erkennen. Auch nach der Finanzkrise hat es Jahre gedauert, bis der wirtschaftliche Status quo ante wieder erreicht war, und das langfristige Problem der europäischen Staatschuldenkrise als induzierter Effekt war letztlich schwieriger zu lösen als die Verwerfungen nach der Lehmann-Pleite. Kurz gesagt: Es gibt gute Gründe, für die aktuelle Rezession eine schnelle Erholung anzunehmen, es ist aber auch nicht auszuschließen, dass es zu einer konjunkturellen Seitwärtsbewegung kommt und es viel länger dauert, bis Österreich die Corona-Krise wirtschaftlich vollständig überwunden haben wird. Permanente Effekte. Einige Erfahrungen aus der aktuellen Krise werden permanente Effekte haben. Der Grad der Digitalisierung am Arbeitsplatz wird aus der Not für viele, jetzt von zu Hause aus arbeiten zu müssen, einen weiteren Sprung machen. Die Globalisierung wird weiter eingebremst; ihre Dynamik war in den letzten Jahren schon stark abgeschwächt worden. Internationale Organisationen werden sich noch viel stärker Gedanken machen müssen, inwieweit man Epidemien lokal eindämmen kann, und man wird dafür sicher verstärkt Mittel einsetzen müssen – zur Beobachtung, aber auch zur schnellen Bekämpfung im Falle eines Ausbruchs. Bei den Zulieferketten wird man wahrscheinlich – auch weil es schon bisher sinnvoll
Martin G. Kocher leitet das Institut für Höhere Studien in Wien und ist Professor an der Universität Wien.
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Interview Rudolf Burger
Rudolf Burger, 1938 in Wien geboren, war von 1991 bis 1995 Vorstand der Lehrkanzel für Philosophie an der Universität für Angewandte Kunst, danach deren Rektor. Mit seinen Schriften zur politischen Situation sorgte er in den letzten Jahren mehrmals für Aufsehen. Das Bild stammt aus dem Februar 2009. Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen war kein aktuelles Fotoshooting mehr möglich.
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© APA
„Das Virus hat keine Moral“ Wie wird der Ausnahmezustand die Menschen verändern? Ein Gespräch mit dem Philosophen Rudolf Burger.
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Derzeit steht staatliches Handeln wie selten zuvor unter Beobachtung: Wie agiert der Staat, wenn man tatsächlich den Ausnahmezustand ausruft, und wer beurteilt die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen? Jedem fällt natürlich gleich einmal der berühmte Eröffnungssatz von Carl Schmitt in der „Politischen Theologie“ ein: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. In dem radikalen Sinn, in dem Schmitt diesen Begriff verwendet, erscheint er mir jetzt nicht ganz angemessen. Ausnahmezustand in der klassischen Staatstheorie bis Schmitt herauf ist der Zustand, in dem der Staat – oder der Souverän – die gesamte bestehende Ordnung aufhebt. Im Ausnahmezustand suspendiert der Staat das Recht aufgrund seines Selbsterhaltungsrechts. Also so weit ist es nicht. Aber in einem laxen Sinn kann man natürlich durchaus von einem Ausnahmezustand sprechen. Und was das staatliche Handeln in Österreich betrifft, finde ich das sehr, sehr gut. Wie das die Regierung gerade handhabt, das finden Sie gut? Ja, ich finde das sehr gut. Ich finde diese Radikalität auf der Bundesebene – was die Länder betrifft, ist es ein anderes Kapitel – ausgezeichnet. Die Schwierigkeit, die das staatliche Handeln bringt, liegt, glaube ich, darin, dass wir eine fast paradoxe Situation vorfinden. Die Gefährdung für den normal gesunden mittelalterlichen Menschen ist offensichtlich gering. Die Mortalitätsrate ist sehr gering. Alle, die in Österreich bis jetzt gestorben sind, sind schon krank gewesen und waren alte Menschen. Das Problem besteht darin: In einer Gesellschaft, in der wir durch unsere Geschichte auf den homo oeconomicus mit individuellem Nutzen und Spaßmaximierung konditioniert sind, alle zu einem Solidarverhalten zu bringen, ist nicht leicht. Die wirkliche Gefahr liegt in der Kumulation. Die Krankheit ist hoch kontagiös, sehr ansteckend, und wenn das kumuliert, gibt es eine Krise. Das ist das Problem. Das Gesundheitssystem könnte kollabieren. Wenn das Gesundheitssystem kollabiert wie in Norditalien, kollabiert natürlich vieles andere auch. Dann werden die Leute unheimlich nervös, da passiert sehr viel. Dann haben wir eine schwere Krise. Das ist die Schwierigkeit. Deswegen ist es auch verhältnismäßig langsam angelaufen.
Die Salamitaktik. Auch wenn man nicht von einem Ausnahmezustand im Schmitt’schen Sinn sprechen will: Wenn man als Regierung, als Staat so massive Einschnitte in die Freiheitsrechte vornimmt, muss es nach der klassischen Staatslehre schon eine sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung geben. Der Staat hat immer die gelindesten Mittel anzuwenden, um Gefahren abzuwenden. Wer entscheidet darüber? Und hat der Einzelne eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren? Genau das definiert den Ausnahmezustand. Insofern kann man durchaus von einem Ausnahmezustand reden, im laxen Sinn, nicht im Schmitt’schen Sinn. Im Ausnahmezustand werden die üblichen Kräfte außer Kraft gesetzt. Insofern ist es vielleicht doch ein bisschen näher an diesem klassischen Ausnahmezustand. Ein wesentliches Recht, nämlich dass ich Rechtsinstanzen zur Durchsetzung meiner Freiheitsansprüche gegen den Staat zur Verfügung habe, wird mir ja in dem Fall nicht gewährt. Richtig. Insofern kann man durchaus von einem Ausnahmezustand reden, das meine ich auch. Im Ausnahmezustand werden die Rechte außer Kraft gesetzt, und ich halte das in dieser Situation, in einer Pandemie, wo es durch kumulative Effekte tatsächlich zu einer ganz, ganz schweren Krise kommen kann, wirklich für gerechtfertigt, das ist das Eine. Das Zweite, was mir auffällt, ist, dass in dieser Situation nur die Nationalstaaten agieren. Die EU spielt praktisch keine Rolle. Die versucht jetzt nachträglich nachzuziehen mit der Schließung der Grenzen, aber da ist schon alles passiert. Die Folge des Ganzen, und das fürchte ich wirklich, wird eine massive Delegitimation des ganzen europäischen Projekts sein. Also eine Renationalisierung. Eine Renationalisierung, aber nicht in dem Sinne, dass die Nationalisten großen Aufwind kriegen. Die Renationalisierung der Politik. Die ganzen Phrasen mit Staatswerdung der Europäischen Union, das ist tot. Und zwar aus einem weiteren Grund: weil, und das sagen alle Ökonomen, die sozioökonomischen Auswirkungen enorm sein werden. Vor allem weil es jetzt Rettungsprogramme gibt und die sehr verschieden sein werden. Die Staatsverschuldung wird steigen, alle EU-Regularien
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Interview Rudolf Burger
sind über Bord geworfen, das interessiert im Moment keinen Menschen. Das ist, glaube ich, die wirklich langfristige Konsequenz dieser Krise. Viele glauben auch, dass das jetzt der Scheitelpunkt der Globalisierung wäre, es werde zu einer Rückbesinnung auf regionalere Modelle kommen, es zeige sich jetzt die Überdehnung des Globalisierungsgeschehens. Na ja, als Ideologie oder als Programm wird das kommen. Aber es wird sich nicht durchsetzen, oder nur partiell durchsetzen, und mit enormen Verwerfungen. Die Delegitimierung von Grenzen, die wir bis jetzt die ganze Zeit in der Rhetorik hatten, alles grenzenlos und offen, das ist vorbei. Es gibt einen unheimlichen Legitimationszuwachs von Grenzen aller Art. Man sollte jetzt Camus wieder lesen. „Die Pest“ ist ja in Wirklichkeit eine Metapher auf den Totalitarismus. Jetzt ist es umgekehrt: die Realmetapher auf politische Verhältnisse, auf Globalisierung, sozusagen spiegelbildlich. Ich glaube also, die langfristige Auswirkung wird eine schwere Krise des politischen Projekts der EU sein. Auf der anderen Seite bin ich erstaunt, wie rasch solche Epidemien vergessen werden. Wir hatten vor zwei Jahren alle Fernsehkanäle und Feuilletons voll über 1918, über den Zusammenbruch der Monarchie, über das Kriegsende. Von der Spanischen Grippe war überhaupt nicht die Rede. Niemand hat davon gesprochen. Ich habe gerade ein irrsinnig spannendes Buch gelesen, „M“ von Antonio Scurati, über die Frühzeit Mussolinis, 1919 bis 1924. Vor allem 1919 und 1920 hat die Spanische Grippe in Europa ungeheuer gewütet, aber in diesem wirklich sehr, sehr detailreichen Buch über die Verhältnisse damals in Italien, übrigens auch in Oberitalien, in der Lombardei, findet sich kein Wort von der Spanischen Grippe. Warum vergisst man so etwas? Meine Hypothese ist: weil man keinen moralisch-politisch zuordenbaren Feind angeben kann. Deswegen halte ich auch die Phraseologie von Macron für vollkommen falsch. Dass Krieg herrscht und der Feind schon da ist. Der Feind ist ein politisch-moralisch adressierbarer Gegner. Das ist nicht der Fall. Deswegen wurde das so leicht vergessen. Dabei ist es Teil der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hegel ist 1831 an der Cholera gestorben. In Wien hat sie 1832 gewütet, mit ungeheuer großen Todeszahlen. Es ist auch eine hilflose Phraseologie, oder? Ein bisschen wirkt es wie der Versuch, dieses kleine Lebewesen durch die Feindesrhetorik sichtbarer zu machen. Der ist nicht moralisch zurechenbar. Das Virus ist Natur, und die Natur hat einfach keine Moral. Hegel hat beim Anblick des Gebirges, bei der Naturschönheit, gesagt, da fällt ihm nicht mehr ein als zu sagen: So ist das. Giorgio Agamben, der linke Theoretiker des Ausnahmezustands, behauptet, die ganze Corona-Hysterie diene nur dazu, den Ausnahmezustand permanent
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machen zu können. Slavoj Žižek hat darauf geantwortet, das ist Quatsch, sagt aber auch, dass der Mensch ein anderer sein wird, wenn das alles vorbei ist. Das glaube ich nicht. Die Überdeterminierung von solchen Krisen ist ja auch interessant. Nein, der wird nicht anders. Ich erwarte, dass wir in Österreich in ein, zwei Jahren die Sache wirklich vergessen haben. Die Bedrohung für den Einzelnen ist ja ziemlich gering. Das ist ganz anders als bei der Cholera. Bei der Cholera ist jeder Zweite gestorben, bei der Beulenpest fast jeder. Wenn der Spuk vorbei ist, dann wird die Kritik an den Maßnahmen kommen, das sage ich voraus: Weil es ist eh nicht so arg gewesen. Es ist ja nur das Kumulative. Nur wenn es kumulativ ist, wenn es exponentiell ansteigt, wenn das Gesundheitssystem kollabiert. Aber der Einzelne ... Ich bin ein alter Mann, ich bin 81, aber ich habe nicht die geringste Angst vor der ganzen Sache. Ein kleines Aperçu nur am Rande, weil immer von der Rückkehr der Religionen gesprochen wird: Es ist erstaunlich, wie säkular diese Gesellschaft ist. In anderen Zeiten hätte man wahrscheinlich Bittmessen gehalten. Dafür sperren sie jetzt alle Kirchen zu. Aber was natürlich schon auch interessant ist: Es gibt viele Leute, die Hoffnungen mit dieser Krise verbinden. Die sagen, vielleicht ermöglicht diese Krise mit dem damit verbundenen Ausnahmezustand die Durchsetzung dessen, was wir schon lange durchsetzen wollten. Nein, nein, nein, das wird nicht kommen. Was passieren wird, ist, wie es so schön marxistisch heißt, eine Beschleunigung des Konzentrationsprozesses des Kapitals. Es werden sehr viele Kleinbetriebe eingehen, und kapitalkräftige Ketten werden sie aufkaufen. Aber ein paar Sachen könnten vielleicht doch passieren. Ein paar Wesenszüge der Globalisierung – Lieferungen just in time, keine regionalen Versorgungen mehr – könnten zurückgenommen werden. Da wird etwas passieren analog zu dem, was die Stresstests mit den Banken gemacht haben, dass das Eigenkapital größer sein muss, dass man mehr Reserven aufbaut, dass diese Just-in-time-Produktionen mehr zurückgefahren werden, dass man strategisch wichtige Produktionen im Inland lässt. Das wird eine Renationalisierung bedeuten. Aber ich glaube nicht, dass das wirklich langfristig sein wird. Es ist ein tiefer Einschnitt, aber an langfristige Veränderungen der Anthropologie glaub ich nicht. Was mich noch immer schockiert, ist, mit welcher Begeisterung Leute, die sich immer viel zugute darauf gehalten haben, für die Freiheit zu sein, noch schärfere Maßnahmen, strengere Bestrafung der Abweichler, der unsolidarischer Parasiten fordern und sich als Blockwarte betätigen. Wundert mich gar nicht. Die Blockwarte, die Denunzianten, die Sykophanten: So sind die Leute. Ich
habe schon immer gesagt, man müsste einmal eine Geschichte der Sykophanten schreiben.
Man muss vor allem diese Ausnahmeregelungen legitimieren.
Viele beklagen jetzt, dass es kein gesamteuropäisches Handeln gibt. Man könnte es aber auch positiv sehen, dass es unterschiedliche Handlungsoptionen gibt. Derzeit gilt ja im Grunde jeder, der sagt, das ist eigentlich zu viel oder man könnte auf Herdenimmunität setzen, schon fast als Nazi oder Aluhutträger. Ja, natürlich. Ich muss dazusagen, ich halte die Shutdown-Politik für kurze Zeit, wenn es früh gemacht wird, für richtig, aber das ist meine persönliche Einschätzung. Aber das andere ist natürlich eine Möglichkeit.
Das heißt, die Haltung, die man demgegenüber haben müsste, wäre zu sagen: Jetzt diskutieren wir nicht, jetzt muss man es einfach einmal machen, kritisieren tun wir hinterher. Ja, wahrscheinlich ist das das Richtige.
Es ist dann doch ein bisschen bedenklich, dass die Medien, die angeblich kritischen Geister, jeden, der anderer Ansicht ist, niederbügeln auf eine Art und Weise, wo einem wirklich angst und bang werden kann. Solche Zeiten sind auch immer Zeiten der Hysterie. Ich vermute, dass in solchen Zeiten viel, viel mehr an Herzinfarkt sterben, an Aufregung, als an dem Virus. Man merkt ja auch jetzt: Wir haben viele Patienten, die nicht an, sondern mit dem Coronavirus sterben ... Alle, soweit ich das beobachtet habe. Es heißt immer Vorerkrankungen. Was heißt Vorerkrankungen! Der ist krank! Das sind schwere Erkrankungen! Die sind alt, zuckerkrank, haben alles mögliche, und sehr, sehr viele Leute sind mit Corona gestorben. Die haben Corona, aber deswegen müssen sie nicht daran gestorben sein. Noch einmal, ich halte das Risiko für den Einzelnen, für den durchschnittlich Gesunden für sehr gering. Ich glaube nur, wenn ich mich in einen Krisenstab hineinver-
„Die Blockwarte, die Denunzianten, die Sykophanten: So sind die Leute.“ setze, würde ich diese Debatte jetzt nicht führen wollen, weil es ist eben nicht leicht ist, eine Shutdown-Politik durchzusetzen. Im Zivilverkehr stimme ich Ihnen vollkommen zu. Aber ich erwarte eigentlich nichts anderes, denn die Leute werden hysterisch und gehen in eine bestimmte Richtung. Aber die Debatte jetzt öffentlich zu führen, auch von politischer Seite her, würde ich für einen strategischen Fehler halten. Sie meinen, das geht gar nicht? Nein, das geht eigentlich strategisch gar nicht mehr. In der Situation, in der man tatsächlich Aspekte des Ausnahmezustands umsetzt, darf man eigentlich gar nicht mehr diskutieren.
Ich finde das gespenstisch. Es hat auch was Gespenstisches. Es hat schon was Totalitäres, oder? Der Ausnahmezustand ist der Ausnahmezustand. Es muss einem klar sein: Der setzt Rechte außer Kraft. Und die Frage ist, ab wann ist das gerechtfertigt. Sie würden sagen, in dem Fall: Ja. Ich meine: Ja. Aber kann das nicht zur Gewohnheit werden? Das ist immer das Problem. Soviel ich weiß, hatten die Römer das Institut der kommissarischen Diktatur: auf Zeit, in einer Ausnahmesituation einen Diktator mit vollkommener Machtfülle. Es besteht immer die Gefahr, dass sich der festsetzt. Natürlich gibt es die Versuchung für die jeweiligen Machteliten, solche Instrumente dann zu permanentisieren, das ist klar. Aber politisches Handeln ist immer gefährlich. Sobald die Bedrohung groß genug ist darf man in die individuellen Rechte des Einzelnen einfach permanent eingreifen, es ist ja alles nur noch global und auch global bedrohlich, also nehmen sich die Staaten und Regierungen zunehmend das Recht heraus, den Ausnahmezust and zum Normalfall zu machen. Die Klimakrise hat ja auch irgendwie Pandemiestatus. Ich weiß nicht, ob das zunehmend ist. Wer entscheidet, ob ein Ausnahmezustand verfügt wird? Das ist die alles entscheidende Frage. Offensichtlich haben sich die Regierung in Österreich und fast alle europäischen Länder dazu entschlossen: Es liegt – wie gesagt in einem laxen Sinn – eine Ausnahmesituation vor. Ja, und das sind die Folgen. Das geht alles sehr widersprüchlich vor sich. Meine Hoffnung ist, dass wir die Situation in Österreich jedenfalls durch die rigiden Maßnahmen in relativ kurzer Zeit einigermaßen unter Kontrolle haben. Und dann muss man anfangen, die Aufhebung dieser Notmaßnahmen einzuklagen. Ein bisschen unheimlich ist auch, zu sehen, dass viele Politiker irrsinnig heiß darauf sind, dass sie endlich wirklich in das Leben der Menschen eingreifen können. Ja, sicher. So sind die. Was sie jetzt letztendlich beschwören müssen, ist die alte faschistische Formel: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Und zwar im extremen Fall. Der eigene Schaden ist durch das Virus wahrscheinlich sehr gering. Das heißt, sie müssen so etwas wie die Volksgemeinschaft beschwören, und da wird es mir kalt. Genau wie Ihnen.
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Souverän ist, wer über den Ausnahme-
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Carl Schmitt, „Politische Theologie“ 1922
zustand entscheidet.
Interview Konrad Paul Liessmann
Kein Draußen mehr Der Philosoph Konrad Paul Liessmann erwartet nicht, dass der Mensch nach der Krise ein anderer ist. Aber einige, sagt er, werden die philosophische Lehrstunde vielleicht nutzen.
I N T E RV I EW: M I C H A E L F L E I S C H H AC K E R FOTO S : C H R I S T I A N L E N D L
Ich finde es erstaunlich, mit welcher Intensität schon während der ersten Tage dieses in seiner zeitlichen Dimension noch nicht absehbaren Ausnahmezustands die Frage diskutiert wird, was dieser Ausnahmezustand mit „dem“ Menschen machen wird. Es herrscht da so etwas wie die Hoffnung auf den neuen Menschen, der geläutert aus der Krise hervorgeht. Es gleicht einer antizipatorischen Rechtfertigung des aktuellen Zustands, wenn behauptet wird, dass wir danach ganz andere sein werden. Dieses „ganz anders sein“ ist vor dem Hintergrund der Debatten der vergangenen Jahre im Wesentlichen auch positiv besetzt. Wir werden also eine andere Einstellung zur Ökonomie haben, zur Gesundheit, zur Globalisierung, zur Digitalisierung, wir werden einen anderen Zugang zum Klima finden. Die Hoffnung, dass solche Krisen all das an Veränderung befördern, was manche schon lange fordern, aber nicht durchsetzen können, ist naheliegend. Gleichzeitig verwundert mich diese hoffnungsfrohe Haltung. Ich erinnere an die Rhetorik des Jahres 2008: Nach dieser Finanzkrise, hieß es, wird der Kapitalismus ein ganz anderer sein. Darauf warten wir bis heute. Es ist schon nach Tschernobyl davon gesprochen worden, dass jetzt unsere Einstellung zur Energiegewinnung eine ganz andere sein muss. Sie glauben also nicht, dass der Mensch nach dieser Krise ein ganz anderer sein wird? Nein, der Mensch an sich wird kein ganz anderer, ganz sicher nicht. Manches mag sich verändern, manche Wertigkeiten mögen sich verschieben. Aber: Wir befinden uns jetzt in Österreich am Beginn des Ausnahmezustands. Wir haben ja fast eine idyllische Vorstellung von Ausnahmezustand, manche sprechen ungeniert von „Corona-Ferien“. Man könnte verblüfft darüber sein, wie reibungslos der Ausnahmezustand im Grunde funktioniert. Pannen aufseiten der Behörden, Fehlverhalten aufseiten der Bürger werden noch nicht als Problem empfunden. Niemand weiß jedoch, wie sich die Dinge darstellen, wenn diese radikalen Einschränkungen Monate, vielleicht Jahre aufrechterhalten werden müssen. Ein wenig fühlt es sich an, als wäre das die Katastrophe, auf die wir so sehnsüchtig gewartet haben. Weil nämlich das, was viele Menschen gerne anders hätten in der Welt, sich außer durch eine Katastrophe nicht machen lassen wird.
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Möglich, dass manche nun ihre große Chance wittern. Aber ich fürchte, dass alle, die diese Hoffnung haben und den Ausnahmezustand als die Katastrophe sehen, die sie bewusst oder unbewusst herbeigesehnt haben, enttäuscht sein werden. Denn das, was sie sich erwarten, wird wohl nicht oder nicht so eintreten. Vor allem, weil die Bedrohung durch dieses Virus eine Art von Katastrophe ist, die wenig mit dem Gesellschaftssystem zu tun hat, das man vielleicht aus einer bestimmten Perspektive verändern möchte. Das Virus trifft ja ehemalige sozialistische Diktaturen genauso
„Das Virus trifft Diktaturen genauso wie Demokratien. Es gibt keinen Grund, wegen des Virus politische Institutionen infrage zu stellen.“ wie liberale Demokratien. Es gibt überhaupt keinen Grund, wegen dieses Virus politische Institutionen infrage zu stellen. Denkbar, dass die Gesundheitssysteme in Zukunft besser auf Pandemien vorbereitet sein werden, aber das wird es womöglich auch schon gewesen sein. Das Virus hat mit den großen Änderungseuphorien der letzten Jahre wenig zu tun. An welche Euphorien denken Sie da? Nehmen wir den Klimawandel: Es wird jetzt durch die drastische Verminderung des Verkehrs zu einer Klimaerholung kommen, die aber bei einer Normalisierung der Zustände sehr schnell wieder zunichte gemacht werden wird, wie man jetzt in China schon sieht. Das sind doch aus der Perspektive der Ökologie relativ kurze Zeiträume, in denen alles stillsteht, aber das wird sich, scheint die Gefahr gebannt, schnell wieder ändern. Es wird auch dieses Virus kein Hebel sein, um den viel gescholtenen Kapitalismus in andere Bahnen zu lenken oder überhaupt zu überwinden. Es wird auch nicht wirklich etwas in und an den sozialen Verhältnissen geändert werden. Das Einzige, was mich auch überrascht hat: Ich hätte mir eigentlich erwartet, dass die Konzeption, die Boris Johnson zu Beginn der Epidemie in England versucht hat zu realisieren,
Konrad Paul Liessmann, 1953 in Kärnten geboren, ist Philosoph, Essayist und Kulturpublizist. Die Fotos stammen aus dem Mai 2019, aufgrund der Ausgangsbeschränkungen war kein aktuelles Shooting mehr möglich.
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Interview Konrad Paul Liessmann
auch bei uns viel intensiver und offensiver diskutiert wird: Wenn es nur Alte und Kranke trifft, warum soll man deshalb ein florierendes Wirtschaftssystem, ein florierendes Sozialleben, ein florierendes Kulturleben aufs Spiel setzen? In den sozialen Medien gibt es wohl auch diese Botschaft. Aber der gesamtgesellschaftliche Konsens, und das hätte ich in dieser Form nicht erwartet, lautet: Wir nehmen eine ganze Reihe von Einschränkungen und Rückschlägen in Kauf, um diese Risikogruppe nicht noch weiter zu gefährden. Das kann ein Modell für generationenübergreifende Politik und Solidarität sein, die umso notwendiger wird, je mehr unsere Gesellschaft eine sein wird, in der ältere und alte Menschen die Mehrheit bilden. Wenn, wie es jetzt heißt, dieser Lockdown bis in den Sommer hinein aufrecht bleibt, tritt wohl sukzessive eine andere Angst auf, die auch sehr berechtigt ist: Dass eine fundamentale Weltwirtschaftskrise und eine schwere Rezession auch tödliche Folgen für viele Menschen haben wird. Natürlich. Das ist eine Abwägungsfrage, die wirklich nicht leicht zu beantworten ist. Aber ich denke doch, dass die Wirtschaft nach dem jetzigen scharfen Einbruch auch wieder relativ rasch hochgefahren werden kann – und dann auch die Nachholbedürfnisse befriedigt werden müssen und können. Deshalb schwärmen wir ja auch so von der Leistungsfähigkeit dieser Ökonomie. Sie müsste es eigentlich verkraften, eine gewisse Zeit lang zurückzufahren und dann wieder durchzustarten. Natürlich kann es eine einschneidende Erfahrung sein zu spüren, mit wie wenig man eigentlich leben kann. Zumindest jetzt haben sich die Werteordnungen doch einigermaßen verkehrt. Aber wenn diese Bedrohung vorbei sein wird, wird nicht nur dieses Virus bald vergessen sein, sondern auch der jetzt artikulierte Wille zu einer generell maßvolleren Lebensweise. Es tun sich jetzt auch viele hervor, die uns erklären, dass diese Situation eigentlich eine große Chance sei, denn jetzt beschäftigen wir uns wieder mit uns selbst. Vielleicht ist aber genau das das Problem? Jede Krise hat ihre zutiefst bedrohlichen Seiten, sonst wäre es ja keine Krise, sonst bräuchten wir keinen Ausnahmezustand. Auf der anderen Seite tauchen dann plötzlich Dinge auf, die lange keine große Rolle mehr gespielt haben. Es schlägt zum Beispiel wieder einmal die Stunde des Buches. Nur Serien zu schauen, ist irgendwann auch langweilig. Und das Buch ist kein Kulturersatz aus zweiter Hand – wie ein Opernvideo –, sondern sogar als E-Book noch einigermaßen authentisch. Und es schlägt – prekär genug – die Stunde der digitalen Kommunikation, man denke nur an die Umstellung von Schulen und Universitäten auf elektronischen Unterricht. Nicht auszudenken, wie dieser Ausnahmezustand und die Isolation aussähen, hätten wir diese Möglichkeiten nicht. Wir haben das beruhigende und dennoch vielleicht fatale Gefühl, dass wir trotz des Ausnahmezustands bestimmte Dinge einfach weiter tun können. Möglich, dass am Ende erkannt wird, dass die beste Videokonferenz die persönliche Begegnung
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nicht ersetzen kann. Aber wir sollten uns auch keine Illusionen machen: Für Menschen, die auch schon vor dem Coronavirus einen Gutteil ihrer Lebenszeit vor dem Bildschirm oder mit dem Smartphone verbracht haben, ändert sich eigentlich nicht sehr viel. Nachrichten aus China legen nahe, dass vor allem drei Dinge passieren werden: eine leicht höhere Geburtenrate, eine Zunahme der häuslichen Gewalt und eine Zunahme der Scheidungsraten. Dass Menschen über lange Zeit auf engem Raum zusammenleben, kann schon ein echtes Problem werden. Noch ist es keine lange Zeit. Und auch wenn diese Prognose eintreffen sollte, ist das noch keine dramatische Veränderung in der Gesellschaft. Eine höhere Geburtenrate sehnen sich ohnehin alle herbei, eine höhere Scheidungsrate zeigt nur an, dass schwelende Konflikte endlich gelöst werden. Bleibt die wirklich prekäre häusliche Gewalt. Das ist ein relevantes Problem, vor allem wenn die zuständigen Betreuungseinrichtungen nicht mehr funktionieren. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen – und ich komme noch einmal darauf zurück, obwohl ich wahrlich kein Fan digitaler Medien bin: Warum soll es ein unlösbares Problem für Menschen sein, die es mit dem Smartphone in der Hand gewohnt waren, eher neben- als miteinander zu leben, jetzt einige Zeit gemeinsam in einer Wohnung verbringen zu müssen? Ich fürchte, dass viele dieser sensiblen Bereiche des menschlichen Zusammenlebens, die jetzt eingefroren worden sind, gar nicht so intensiv als Verlusterfahrungen erlebt werden, wie wir Kulturkritiker uns das vielleicht gerne vorstellen würden. Aber es stimmt: Die Dynamik sozialer und erotischer Beziehungen kommt in vielen Bereichen zum Erliegen. Von Tinder spricht niemand mehr. Dauerzustand ist das jedoch keiner. Eine der jetzt aufkommenden Hoffnungen ist, dass von der Art von radikaler Verlangsamung, mit der
wir jetzt konfrontiert sind, vielleicht etwas bleibt, dass wir nicht sofort wieder in die Raserei verfallen, sondern dass es die Leute dann tatsächlich um eine Spur entspannter angehen, wenn dann das Leben wieder anfängt. Wenn man die Bedrohung durch die Krankheit ausklammern könnte, hätte diese Verlangsamung in bestimmten Bereichen tatsächlich etwas Befreiendes. Ich war, ehrlich gesagt, durchaus erleichtert, als ich feststellen musste, dass alle meine Vortragsverpflichtungen, alle meine Auslandsreisen, die für das Frühjahr geplant waren, nicht stattfinden. Natürlich ist das auch ein Verlust, ich rede ja gerne, und man verdient auch etwas dabei, aber es gibt keinen Reisestress mehr, keine schlechten Hotelbetten, keine verspäteten Flüge. Vor allem in den Milieus, in denen wir uns bewegen, sind wir ja jeden Tag Entscheidungszwängen ausgesetzt. Es finden drei Premieren, vier Vernissagen und fünf Podiumsdiskussionen gleichzeitig statt, nicht gerechnet die Einladungen zu Events aller Art, denen man folgen könnte. Der groteske Druck der Multioptionsgesellschaft fällt für einige Zeit weg. Aber danach wird fast alles sein wie immer. Natürlich könnte der eine oder die andere diese stoische Maxime, die uns nun aufgezwungen wird, beibehalten: Umgib dich nur mit Dingen, auf die du jederzeit verzichten kannst; und rechne stets damit, dass dir alles genommen werden kann. Das ist vielleicht eine philosophische Lehrstunde, die uns dieser Ausnahmezustand bescheren könnte.
Es ist ja interessant, dass es ein Virus ist, das uns diesen Ausnahmezustand beschert. Eine der wesentlichen Erfolgsmeldungen unserer Zeit ist, dass etwas „viral gegangen“ ist. Ich habe mich schon vor Zeiten gegen diese biologistische Metapher verwehrt und in einem kleinen NZZ-Kommentar darauf hingewiesen, dass die Menschen gar nicht wissen, was sie eigentlich reden, wenn sie sich der Sehnsucht hingeben, dass etwas viral gehen, also möglichst viele infizieren soll. Jetzt bekommen wir, philosophisch gesprochen, die ontologische Wahrheit des Virus zurückgespielt.
Egal, wie jeder Einzelne damit weiter umgeht: Jeder wird diese Erfahrung gemacht haben. Wir machen jetzt alle gemeinsam eine Erfahrung, die wir aber individuell immer schon machen konnten, nur nicht gleichzeitig, nur nicht synchronisiert. Zwei Monate ohne bestimmte Angebote auskommen zu müssen – das haben wir doch alle schon erlebt. Fast jeder von uns war schon in einer Art und Weise krank, dass er mehrere Wochen zu Hause liegen musste. Ich hatte im Vorjahr einen Skiunfall und konnte mich fast einen Monat lang kaum bewegen. Das Problem heute ist, dass wir wissen: Allen anderen geht’s genauso. Es
Mich fasziniert die Bereitschaft zur Verwechslung. Man sagt, „etwas geht viral“ und meint es total positiv, ignoriert den Doppelcharakter der Formulierung. Wenn ich etwas mache, und es ist erfolgreich, dann sage ich, „es ist viral geworden“. Und tatsächlich geht dann von dieser Verwechslung auch eine Gefahr aus. Das war genau das, worauf ich schon frühzeitig hingewiesen habe. Man wird infiziert, man wird angesteckt, man wird mit etwas angesteckt, was nicht zu einem selber gehört und einen doch verändert. Man wird durch Bilder, Videos, Memes, Nachrichten geistig und emotional infiziert. Dahinter steckt die Haltung, dass meine Botschaft möglichst viele Menschen „anstecken“ und von diesen dann weitergetragen werden soll. Sie soll nicht möglichst viele Menschen erreichen, es sollen nicht möglichst viele Menschen darüber diskutieren, es sollen nicht möglichst viele Menschen Stellung dazu beziehen können, sondern sie soll die Empfänger anstecken, und sie sollen sich nicht dagegen wehren können, sondern die Botschaft weiterverbreiten. Ich will für meine Bücher auch viele Leser haben. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen zu sagen: Ich wünsche, dass meine Texte viral gehen. Das wäre unter meiner Würde. Ich will Menschen nicht infizieren. Ich will sie konfrontieren, ich will sie provozieren, ich will sie überzeugen, ich will sie manchmal einfach nur unterhalten. Aber ich will sie sicher nicht anstecken. Sie sollen jederzeit die Möglichkeit haben zu sagen: Nein, das jetzt bitte nicht. Bei einem Virus hat man diese Möglichkeit nicht. Es ist schon eine selbstentlarvende Redeweise, die wir in den sozialen Medien entwickelt haben.
„Jetzt bekommen wir, philosophisch gesprochen, die ontologische Wahrheit des Virus zurückgespielt.“ trifft gleichsam alle mit einer Erfahrung, die wir als Einzelne in hohem Maße immer schon gemacht haben. Aber wenn ich krank bin und alleine zu Hause liege, weiß ich, dass ich versorgt werden kann, dass die Apotheken funktionieren, dass das Leben draußen seinen gewohnten Gang geht. Genau das fehlt nun. Das ist der entscheidende Unterschied. Es gibt kein Draußen mehr, es gibt für alle nur noch ein Drinnen.
Es hat ja auch tatsächlich etwas miteinander zu tun, weil wir ja, wenn man so will, biologische und digitale Infektionen parallel laufen haben, die sich auch wechselseitig beeinflussen. Ja natürlich. Aber die Schadsoftware als „Viren“ zu bezeichnen, war dennoch eine der Biologie entlehnte Metapher, die vielleicht nahelag. Aber das biologische Virus ist ein Phänomen der Natur, das einen anderen Charakter hat. Das Virus, das meinen Computer befallen mag, ist ausschließlich kriminelles Menschenwerk. Das ist eine andere Kategorie von Schaden, der hier angerichtet wird, weil er eben von Menschen bewusst verursacht wird. Da gelten die moralischen Kategorien von Gut und Böse, von Recht und Unrecht – anders als beim Virus aus der Natur, das ja nicht böse ist, sondern dem Naturgesetz folgt.
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Vorbild Taiwan?
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Taiwan war vorbereitet
Taiwan und das chinesische Festland trennen nur etwa 130 Kilometer. Dennoch hat der Inselstaat, bei mehr als doppelt so vielen Einwohnern, deutlich weniger Corona-Fälle als Österreich. Was funktioniert dort besser?
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as Handy von Yu-Chun Ting klingelt zweimal täglich. Der Anrufer, eine Person von der taiwanesischen Behörde, erinnert den 21-jährigen Studenten daran, das Haus nicht zu verlassen, und erkundigt sich nach seinem Befinden. Yu-Chun befindet sich seit drei Tagen in häuslicher Quarantäne in der Stadt Taipeh. Die täglichen Kontrollanrufe sind nur eine der Maßnahmen, die Taiwans Regierung im Kampf gegen die Verbreitung von SARSCoV-2 getroffen hat.
Geschlossene Grenzen Die amerikanische Johns-Hopkins-Universität prognostizierte Ende Jänner für Taiwan das höchste Risiko, weltweit am meisten Corona-Fälle aus China zu importieren. Sie sollte sich irren. Mit 67 offiziell Infizierten hat Taiwan deutlich weniger Corona-Fälle als Österreich. Und das, obwohl China und Taiwan sich nicht nur geografisch nahestehen. Obwohl die Zahl der in China arbeitenden Taiwanesen stetig abnimmt, arbeiteten im Jahr 2018 noch 404.000 Taiwaner auf dem chinesischen Festland. Neben dem regen Flugverkehr zwischen beiden Ländern, auf dem das Modell der Johns-Hopkins-Universität basiert, pflegen Taiwan und China enge Handelsbeziehungen. Im vergangenen Jahr ging ein Viertel der Exporte nach China. Kurz nachdem die ersten Corona-Fälle in Wuhan bekannt wurden, reagierte Taiwan schnell und kompromisslos. Der rege Personenverkehr wurde eingestellt, nicht trotz, sondern aufgrund der engen Handelsbeziehungen. Dass die chinesischen Behörden die heraufziehende Corona-Krise anfangs zu verschleiern versuchten, hinderte die taiwanesische Regierung nicht daran, frühzeitig strenge Maßnahmen zu setzen. Die Ausbreitung des Virus sollte mit aller Macht verhindert werden. Bereits am 31. Jänner untersuchten die Behörden des Inselstaats alle Passagiere an Bord gelandeter Flugzeuge auf Symptome einer Lungenentzündung. Ab dem 20. Jänner führte die Regierung strenge Einreisebestimmungen für chinesische Touristen ein, und am 7. Februar beschloss das taiwanische Außenministerium, die Einreise für alle Personen, die in den vergangenen 14 Tagen in China waren, zu verbieten. Ist Österreich zu spät dran? Für Chang-Chuan Chan, Dekan des Instituts für Gesundheitswissenschaften an der Nationalen Univer-
sität Taiwan, war der frühe Zeitpunkt dieser strengen Maßnahmen entscheidend: „Im Gegensatz zu anderen Ländern, die mit China ein großes Handelsvolumen und ähnlich viel Personenverkehr teilen, hat Taiwan eine sehr niedrige Zahl an importierten Fällen. Der Hauptgrund dafür sind die Einreisestopps und Grenzkontrollen, die unsere Regierung früh verhängt hat.“ Auch Österreich pflegt enge Handelsbeziehungen zu China. 2018 nahm China in der Rangordnung der wichtigsten Handelspartner Österreichs den fünften Platz ein. 2019 übernachteten außerdem 1,4 Millionen Chinesen in Österreich. Obwohl sich das Virus immer weiter ausbreitete, empfahl die österreichische Regierung erst am 27. Februar, die Gesundheitshotline 1450 bei Verdacht auf COVID-19 anzurufen, anstatt direkt zum Arzt zu gehen. Erst am 10. März wurden Maßnahmen gesetzt, die das öffentliche Leben in Österreich deutlich beeinträchtigten: Ein Einreisestopp aus Italien wurde verhängt, die Lehrveranstaltungen an Hochschulen abgesagt und Veranstaltungen ab einer gewissen Größe verboten. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits 182 offiziell Infizierte in Österreich – mehr als doppelt so viele wie aktuell in Taiwan. Taiwan lernte von SARS In Taiwan leben rund 24 Millionen Menschen. Bis zum 16. März wurden 17.219 Personen auf das neue Virus SARS-CoV-2 getestet. Das bedeutet, dass Taiwan bis jetzt 724 Personen pro Million Einwohner testete. In Österreich beträgt die Rate rund 965 Tests pro Million Einwohner. Taiwan führt also derzeit in Relation etwas weniger Corona-Tests durch als Österreich. Kann das eine Erklärung dafür sein, dass in Österreich offiziell 892 Personen mehr an COVID-19 erkrankt sind als in Taiwan? „Wohl kaum“, sagt Gesundheitswissenschaftler Chan im Interview mit Addendum. Vielmehr habe Taiwan die richtigen Schlüsse aus dem SARS-Ausbruch 2003 gezogen. Damals traf die in China beginnende Epidemie Taiwan besonders hart. „Unsere Gesellschaft hat daraus gelernt. Die Regierung gründete viele neue wissenschaftliche Einrichtungen und investierte in die Ausbildung von Fachpersonal, damit wir gegen einen Ausbruch von solchen Pandemien gewappnet sind.“ Außerdem gelang es Taiwan, dank der nationalen Gesundheitsversicherungsdatenbank,
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Vorbild Taiwan?
Risikogruppen zu identifizieren und die Aufenthaltsorte und Kontakte der Bevölkerung genau nachzuvollziehen. Personen, denen verordnet wurde, die Inkubationszeit in Heimquarantäne zu verbringen, wurden teilweise auch mit ihrem Handy lokalisiert. Am 7. Februar verhängten die taiwanesischen Behörden erstmals eine Strafe von umgerechnet knapp 9.000 Euro, weil sich ein Paar nicht an die Quarantänevorschriften gehalten hatte. Taiwaner hamstern nicht Yu-Chun musste sein Erasmus-Semester in Tschechien frühzeitig beenden. Im Februar hatte er an einem internationalen Studententreffen im Iran teilgenommen, und seine Bemühungen, einen Flug nach Europa zu buchen, waren vergebens. Alle Flugplätze wurden an Europäer vergeben, die heimkehren wollten. Also flog Yu-Chun vor einer Woche
Lange Wartezeiten auf Tests und dass man bei Hotlines im Kreis geschickt wird, das wäre in Taiwan undenkbar. nach Taiwan zurück. Weil der Iran von Taiwan als COVID-19-Risikogebiet eingestuft wird, befindet sich der BWL-Student nun in Quarantäne. Polizisten und medizinisches Fachpersonal schotteten ihn auf dem Weg vom Flugzeug in den Rettungswagen, der nach der Landung bereitst and, von anderen Personen komplett ab. In den vier Tagen, die er ohne jegliche Symptome unter Hochsicherheits-Quarantäne verbrachte, wurde Yu-Chun zweimal auf den Erreger SARS-CoV-2 getestet. Dass die Tests in Österreich teilweise mit langen Wartezeiten verbunden sind und Patienten bei der Corona-Hotline mitunter im Kreis geschickt werden, ist für den Taiwaner unvorstellbar. Jeder, der sich in Taiwan in häuslicher Quarantäne aufhält, erhält zweimal t äglich einen Kontrollanruf, muss ein Online-Formular über sein Wohlergehen ausfüllen und hat auf SMS der Behörden umgehend zu antworten. Doch neben den strengen Maßnahmen setzt Taiwans Regierung auch auf Ermutigung: Yu-Chun bekam sogar bereits Besuch von seiner Bezirksvorsteherin. In Quarantäne-Ausrüstung übergab sie ihm ein kleines Geschenk. Mit dabei: 14 Atemmasken, für alle Fälle. Denn im Gegensatz zu Österreich begann Taiwan frühzeitig damit, Atemmasken zu rationieren und die inländische Produktion mit Einsatz des Militärs anzukurbeln. Für 20 Cent pro Maske darf sich jede Person in einer Apotheke drei Stück pro Woche abholen. Horten und Hamsterkäufe werden verhindert, indem die Besorgungen auf der Versicherungskarte verbucht werden. Eine App zeigt den Taiwanern genau an, wo es noch wie viele Masken zu holen gibt.
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Yu-Chun Ting, Student aus Taiwan, musste nach einem Auslandsaufenthalt zwei Wochen in Quarantäne.
Technologie und Vertrauen Yu-Chun findet es gut, dass seine Regierung das Virus von Anfang an so ernst genommen hat: „Ich fühle mich sehr sicher. Mir wurde garantiert, dass ich nur beobachtet werde, solange ich unter Quarantäne stehe. Das ist in Ordnung für mich, ich will ja selber niemanden anstecken.“ Auch Universitätsprofessor Chan beobachtet, dass die Vorbereitungen, die Taiwan in den Jahren nach der SARS-Krise getroffen hat, um sich auf eine Pandemie vorzubereiten, Früchte tragen. „Unsere Maßnahmen basieren auf fortgeschrittener Informationstechnologie, den ausgebauten digitalen Kommunikationsnetzwerken und der schnellen Datenanalyse.“ Außerdem stelle es kein großes Problem dar, die Bevölkerung dazu zu bringen, sich an die Vorschriften zu halten. Mahnende Worte, die Österreichs Vizekanzler Werner Kogler etwa an die Sportvereine richten musste, die sich nach wie vor nicht an die Empfehlungen der Bundesregierung hielten, sind in Taiwan nicht nötig. Die Taiwaner haben laut Chan großes Vertrauen in die Regierung: „Unsere Bevölkerung scheint in der aktuellen, kritischen Zeit die öffentliche Gesundheit über ihre eigene Freiheit zu stellen. Von einer vertrauenswürdigen Regierung überwacht zu werden, scheint für unsere Bürger in Ordnung zu sein.“
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Der Haltung gewidmet.
Medienviren
Medienviren – die zweite Pandemie Das biologische Virus breitet sich auch als Medienvirus aus, das noch dazu heftig mutiert und politisch schwer zu kontrollieren ist.
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m den Jahreswechsel begann sich nicht nur das neuartige Coronavirus auszubreiten, es wurde damit auch ein Mem, eine Idee, ein neuer Bewusstseinsinhalt geboren, der sich kommunikativ schneller über die Welt verbreiten würde als die Krankheit und ihr Erreger selbst. Seit dem Auftreten von SARS-CoV-2 läuft parallel zur Berichterstattung über die bekannten Fakten eine Debatte über die Wahrhaftigkeit des vermittelten naturwissenschaftlichen Erkenntnisstands, die Angemessenheit der Schutzmaßnahmen und die politische Dosierung der Information an die Bevölkerung. Dieser Diskurs spiegelt den Grad der Beunruhigung weltweit und der Verbreitung von Corona als Medienvirus wider. Wirkungsebenen Dem Coronavirus wohnt nicht nur das Potenzial inne, gesundheitlichen Schaden anzurichten und damit gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgeschäden zu produzieren, auch die durch das Virus produzierten Meme weisen Zerstörungskraft auf, wenn Einschränkungen des gewohnten täglichen Lebens politisch durchgesetzt werden oder im Weg der freiwilligen Aneignung dazu geeignet sind, weitreichende Verhaltensänderungen zu erzeugen. Man kann hier folglich zwei separate Wirkungsebenen des Virus unterscheiden, die zwar in einer kausalen Beziehung zueinander stehen, aber unabhängig voneinander wirken. Erstens: die biologische Ebene
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samt ihren direkten und indirekten Konsequenzen. Zweitens: die Kommunikation über das Virus, die Krankheit und ihre Folgen. Radikal weitergedacht tritt bei der Trennung dieser Ebenen hervor, was das für die nicht-medizinischen Effekte der Pandemie bedeuten kann: Unabhängig davon, ob die Informationen über das Virus und die Krankheit zutreffend sind oder nicht, könnten aus dem ursprünglichen Bedeutungsinhalt Meme entstehen, die ähnliche individuelle und gesellschaftliche Verhaltensänderungen provozieren. Und genau das erleben wir zurzeit. Um die Folgen richtig abschätzen und ihnen begegnen zu können, reicht es politisch also nicht aus, Kontrolle über das Virus und die Krankheit anzustreben, sondern auch die Deutungshoheit oder Memdominanz in der Kommunikation zu bewahren oder wiederzuerlangen. Meme und Medienviren Memetik beschreibt die Verbreitung einer Idee durch kulturelle, sprachliche und mediale Interaktion, also Kommunikation, ähnlich der Verbreitung eines Virus durch Ansteckung. Der Begriff Mem ist vor allem in seiner englischsprachigen Version als Meme weithin bekannt. Einhergehend mit der hohen Internetdurchdringung in der Bevölkerung werden seither vor allem in sozialen Netzwerken Bilder mit humorvollen kurzen Texten als Internet-Memes gepostet, geteilt und weitergeschickt und verbreiten sich so viral.
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Erfunden wurde das Konzept der Memetik aber lange vor Social Media im Jahr 1976 vom Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Einige Zeit später, aber immer noch lange vor der Flutung der sozialen Medien mit Memes und relativ unbeeindruckt vom gerade ent-
Die Erkenntnis, dass das Medienvirus schädlicher als das biologische Virus sein kann, wird medienpolitisch nicht reflektiert. standenen World Wide Web wandte Douglas Rushkoff 1994 in seinem Buch „Media Virus“ dieses Konzept auf popkulturelle Bedeutungseinheiten an, die er Medienviren nannte und grob mit „trickle down“ und „trickle up“ klassifizierte. Bei ersterer Variante sickern Ideen aus massenmedialer Programmierung in die Bevölkerung. Dazu zählen harmlose, in Cartoons wie Beavis and Butt-Head, The Simpsons oder Ren & Stimpy verpackte Subversionen oder Referenzen zum aktuellen Geschehen genauso wie das Werkzeug des Framings, um einem Sachverhalt eine spezielle Einordnung zu geben, um damit realpolitisches Campaigning oder einfach Weltpolitik zu betreiben und Golfkriege zu führen.
Das so fabrizierte Virus wurde dann in den Formaten – egal ob fiktional oder faktisch – der Massenmedien verbreitet und konnte so in Gehirnen und Gesellschaft seine Wirkung entfalten. Bis zur vollständigen Digitalisierung und späteren sozialen Vernetzung der Gesellschaft war die Erzeugung der gegenläufigen Trickle-up-Meme Richtung Öffentlichkeit – egal ob mit oder ohne Massenmedien – eine aufwendige Angelegenheit. Rushkoff berichtet in seinem Buch von Kopiervorlagen für Flugzettel und Poster, die durch die Welt gefaxt, vervielfältigt und von Hand verbreitet wurden. Es waren die 90er Jahre, und Medienviren brauchten als Wirte trotzdem vor allem die traditionellen Trägermedien. Erst als die Grenzkosten technischer Erreichbarkeit mit den ersten Websites und Blogs dramatisch abgesunken waren und dann mit Facebook und Twitter endgültig gegen null gingen, konnte ein Mem von jedem potenziell erfolgreich in die Welt gesetzt werden, auf dass es sich viral trickle-up verbreite. Ansteckung und Mutation Die Analogie zwischen genetischer und memetischer Information ist mehr als nur eine sprachliche Spielerei. Beide verbreiten sich in der Population, indem ihr inhaltlicher Kern immer weiter kopiert wird und dabei auch mutieren kann. Das trifft auch auf biologische und mediale Viren zu. Auch wenn man sich die Folgen viraler Ausbreitung vor Augen führt, gibt
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Medienviren
es Parallelen: Biologische Viren können krank machen und phänotypisch zu Verhaltenseinschränkungen von Individuen oder Gruppen führen, die als indirekte Folge der Krankheit schlagend werden. Dasselbe passiert bei Memen: Die Kommunikation über den Erkenntnisstand der Pandemie und vor allem auch der getroffenen Maßnahmen zieht ebenso Konsequenzen nach sich. Dabei ist es zunächst einmal für den Phämotyp (bei Memen mit m, analog zu Phänotyp bei Genen) der Verhaltensänderung und ihren bloßen Charakter als Konsequenz eines Mems unwesentlich, ob es sich um individuell angepasste, freiwillige Selbstbeschränkung handelt, oder ob diese einem staatlichen Oktroy folgt. Und hier wird es interessant. Der wesentliche Unterschied zwischen Memen und Genen ist nämlich, dass Erstere sofort mutieren und Memplexe, also Ansammlungen von Bewusstseinsund Bedeutungsinhalten bilden. Das sind im Falle des Coronavirus einzelne Parameter, wie Infektionsgrad, Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen, Aktienkurse, Ausgangssperren etc. pp. Manche behaupten beispielsweise, die Krankheit sei weniger tödlich als die Grippe, weil es ja weniger Tote geben würde; andere wiederum zirkulieren Empfehlungen, man möge weniger Schokolade essen oder Alkohol trinken, weil das das Immunsystem schwäche; andere fordern Freiheitsstrafen für Falschinformation, um die Verbreitung von toxischen Memen einzubremsen. Ein Memplex aggregiert im konkreten Fall Aussagen über die Wirklichkeit, die mehr, weniger oder gar nicht der Wahrheit entsprechen, die nach naturwissenschaftlichen Maßstäben hergeleitet oder einfach frei erfunden sein können. Diese Memplexe stehen zueinander im Mitbewerb um die Deutungsherrschaft in der Öffentlichkeit. Bei der Einschätzung der Gefährlichkeit des neuartigen Coronavirus insgesamt wird dieser Wettstreit völlig klar: Während manche meinen, man müsse gar nichts tun, propagieren andere scharfe Isolationsmaßnahmen. Das Bizarre an diesen extremen Alternativen ist, dass es praktisch unerheblich ist, wessen Annahmen richtig sind, weil schlussendlich nur das Gesamtergebnis zählt: Wie viele Infizierte, Kranke oder Tote hat es gegeben, mit welchen Folgeschäden durch Rezession, Einschränkungen von Grundrechten usw. werden wir umgehen müssen? Jetzt kann man sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass die Zahl der Toten vielleicht die einzige relevante Maßzahl ist, aber das muss man nicht so sehen. „Eine Million Opfer sind naturgemäß schlimmer als 1.000, aber sind 2.000 vielleicht doch vertretbar, wenn es statt 25 Prozent nur 8 Prozent Arbeitslose danach gibt?“ Das ist kein Wertungsversuch, sondern ein weiteres Beispiel konkurrierender Memplexe. Und solche Abwägungen sind weit weniger zynisch, als sie klingen, denn sie müssen in Gesundheitssystemen ständig durchgeführt werden. Politische Deutungsherrschaft Die Eindämmung einer Pandemie ist, ob man es will oder nicht, eine kollektive Übung. Politisch wur-
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den dazu in vergangenen Jahrzehnten schon Teilvorkehrungen getroffen. Es gibt Epidemiegesetze, die weitreichende Einschränkungen persönlicher Grundrechte und korporativer Freiheiten vorsehen, sodass der kollektiven Übung gegebenenfalls auch in der Exekution kollektivistisch nachgeholfen werden kann. Das birgt an sich schon ein großes Risiko in sich, weil diese Möglichkeiten des Durchgriffs für Regierende so verlockend sein könnten, dass manches davon beim Abebben der Pandemie vielleicht beibehalten werden will. Diese präventiv-pessimistische Sicht auf die menschliche Natur Regierender macht den nächsten Punkt noch schwieriger, weil eine Ausweitung der Befugnisse zur Durchsetzung der begleitenden Kommunikation einer Pandemie eine noch größere Versuchung in sich birgt. Aber genauso wie das Verhalten mit Hygiene, Distanzierung, genereller Minimierung persönlicher Kontakte eine kollektive Übung ist, ist auch eine geordnete Kommunikation dieser Maßnahmen ein Punkt, der gewissen legistischen Nachdruck erfordern kann. Der Eingriff in die angewandte Medienpolitik mag bei der COVID-19-Pandemie vielleicht noch überschie-
Ganz offensichtlich mangelt es den Regierungen an den richtigen Ratgebern; sowohl was das biologische Virus betrifft als auch seine mediale Ausbreitung. ßend wirken, aber es ist ein Leichtes, sich schlimmere Katastrophen auszudenken. Dann wird das Fehlen einer dominanten, wahrhaftigen Erzählung, die den Raum für spekulative Behauptungen öffnet, zu einer realen Gefahr. Wenn vorsätzlich oder fahrlässig geschürte Massenpanik oder Ignoranz zu mehr Kranken oder Toten führen als das Virus selbst – das gilt auch für vergleichbare Katastrophen –, dann ist das Medienvirus schädlicher als das biologische Virus. Kommunikativer Fehlstart Diese Erkenntnis ist nicht spektakulär, aber sie wird epidemie-, katastrophen- und medienpolitisch einfach nicht reflektiert. Es gibt zwar ein Epidemiegesetz, aber ganz offensichtlich weder vorbereitende gesetzliche Bestimmungen noch einen aktuellen Plan, die aus diesem Gesetz resultierenden Maßnahmen in einer breiten Kommunikation zu unterstützen. Das wurde mit der bisherigen politischen Kommunikation im Zuge der Coronakrise deutlich. Es dauerte sehr lange, bis von den meisten Regierungen – die österreichische ist mitgemeint – überhaupt zielgerichtet gehandelt und vermittelt wurde. Der Februar wurde weitgehend verschlafen, obwohl mit einem Blick auf China deutlich geworden war, dass zumindest für den Ernstfall geplant werden sollte, und damit ist eben nicht nur die konkrete Anwendung des
Epidemiegesetzes gemeint, sondern auch die geordnete Informationsversorgung der Bevölkerung. Anfang März wurden dann Maßnahmen ohne verständliche Erklärung kommuniziert und in den darauffolgenden Tagen weiter verschärft, sodass nach der dritten Iteration für niemanden mehr absehbar war, ob es nicht noch zu weiteren Einschränkungen des täglichen Lebens kommen würde. Die tatsächliche Wichtigkeit von einzelnen Pressekonferenzen wurde mit zusätzlichen Predigtdiensten ohne nennenswerte Neuinformationen in Form weiterer Pressekonferenzen der Regierung untergraben. Bundeskanzler und Minister kamen schnell in den Genuss, dass tatsächlicher Handlungsspielraum auch medial honoriert wird. In dieser Situation darauf hinzuweisen, dass Maßnahmen zur Erzielung größerer Reichweite für staatliche Krisenkommunikation vielleicht sogar gesetzlich abgebildet werden müssten, wirken wie Wasser auf diese Mühlen. Aber eigentlich sollte damit das Gegenteil erreicht werden: Die politische Deutungsherrschaft wird damit nicht bei drei Ministern belassen, die ad hoc Taktiken entwickeln, sondern über gesetzliche Regelungen einem Regime unterworfen, das einer missbräuchlichen Ausdehnung standhält. Mediales Anti-Virus Die Art und Weise der Kommunikation der Regierung und die mediale Dissemination folgen nicht dem Idealbild einer Kommunikationsversorgung in Krisenzeiten, die man sich als Bürger erwarten darf. Eine Pandemie ist tatsächlich ein Grund, die Bevölkerung vollständig, sachlich und präzise zu informieren. Doch wer nimmt diese Aufgabe wahr? Naturgemäß liegen alle Informationen irgendwo vor, aber sie sind quer über die Medienlandschaft und darüber hinaus verstreut und erfordern ein gerüttelt Maß an individueller Einordnungsleistung, um daraus ein kohärentes widerspruchsfreies Lagebild herzustellen. Ganz offensichtlich mangelt es den Regierungen an den richtigen Ratgebern; sowohl was das biologische Virus betrifft als auch seine mediale Ausbreitung. Es scheitert neben der Vorbereitung auf diese Pandemie an der Aufbereitung der reaktiven Kommunikation, weil es in den Ministerien auch keine Stelle gibt, die darauf ausgerichtet und dafür eingerichtet wäre. Eine breit kommunizierte behördliche Website, die als verbindlicher Informationspunkt dient, existiert einfach nicht, und es gibt auch keine geordnete Planung der tatsächlichen Verbreitung der dieser Inhalte. Das erledigen APA, ORF und natürlich viele andere Medien selbst; mit dem Ergebnis, dass Infografiken zwar sehr ähnlich sind, aber doch variieren. Das wiederum eröffnet Raum für alternative Kommunikation, der Förderung von Falschinformation, obskurer Theorien und betrügerischer Empfehlungen. Zur politischen Krisenkommunikation zählt auch, dass zumindest partiell Einvernehmen über Parteigrenzen hinweg hergestellt wird – nicht nur inhaltlich, sondern auch in Wort und Bild. Aber auch die politischen Parteien beteiligen sich am memetischen Indi-
vidualisieren ihrer Ratschläge, anstatt sich zumindest bei den basalen Maßnahmen auf eine einheitliche Kommunikation zu verständigen, die tatsächlich Vertrauen in der Bevölkerung schaffen könnte. Viele Sender, viele Empfänger Diese inhaltliche Fokussierung mit breiter Streuung findet nicht statt. Stattdessen setzt man auf die vermeintliche Kraft von Pressekonferenzen, die dann
Es scheitert neben der Vorbereitung auf diese Pandemie an der Aufbereitung der reaktiven Kommunikation. auch nur mehr über das öffentlich-rechtliche Medienhaus und die nationale Presseagentur verbreitet werden sollen. Doch der ORF ist dieser Aufgabe 2020 alleine nicht mehr gewachsen, was keine Kritik an der Qualität seiner Arbeit ist, sondern eine kühle Feststellung der Tatsache, dass sich, seit das Epidemiegesetz als Vorbereitung auf derartige Krisensituationen beschlossen wurde, die Rolle der Massenmedien, insbesondere der öffentlich-rechtlichen, in der Gesellschaft deutlich verändert hat. Die Bevölkerung ist fragmentiert, die digit ale Transformation hat die Mediennutzung massiv geändert. Es gibt kein Medium mehr, das die Bevölkerung breit erreicht; junge Menschen nutzen traditionelle Medien und Zeitungen weitgehend nur mehr über Intermediäre, wenn deren Inhalte über soziale Netzwerkinfrastrukturen weiterverbreitet werden. Und da zählen Twitter und Facebook schon längst gar nicht mehr dazu. Pandemie-Kommunikation Die Maßnahmen müssen besser erklärt, verständlicher dargestellt und wesentlich breiter, also über traditionelle Medien hinaus, die viele Alterskohorten nicht in der notwendigen Tiefe erreichen, gestreut werden, die viele Alterskohorten nicht in der notwendigen Tiefe erreichen. Genau genommen müsste es Aufgabe einer behördlich legitimierten Stelle sein, auch diese Memes wiedererkennbar aufzubereiten, die sich über Social Sharing, soziale Netzwerke und Apps quer über die Bevölkerung und ihre Mobiltelefone verbreiten. Sozusagen die Erzeugung eines medialen Anti-Virus, die weit unterhalb des Altersdurchschnitts der TV- und Zeitungsmedien auch noch greift. Um diese Form der Krisenkommunikation – auch legistisch – vorzubereiten, bedarf es keiner Gleichschaltungspropaganda nach dem Prinzip Volksempfänger, sondern der Errichtung konsensualer Kommunikationsgrundlagen, die dabei auch den gleichen Raum für kritische Öffentlichkeit lassen wie zu Nicht-Krisenzeiten.
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Taxi vs. Uber
Taxi vs. Uber: „Jeder in der Branche ist ein Sozialbetrüger“ Hochrisikobranche Personenbeförderung: Steuerfahnder kritisieren sowohl die Taxi- als auch die Mietwagenbranche.
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ontag, 17 Uhr in der Landesverkehrsabteilung der Wiener Rossauer Kaserne. Streifenpolizisten, Finanzbeamte und eine Magistratsmitarbeiterin treten zum Dienst an. Der bevorstehende Einsatz soll sie an diesem Tag in eine Unterführung beim Wiener Hauptbahnhof führen – zur Schwerpunktkontrolle des Personentransportgewerbes, also von Taxis und deren Konkurrenz, allen voran dem Online-Fahrdienstvermittler Uber. „Die Papiere, bitte!“ Die Streifenpolizisten winken Taxis und Mietwagen aus dem Verkehr, die Finanzbeamten prüfen die Unterlagen der Lenker. Es dauert nicht lange, bis der erste Fahrer gestoppt wird, dessen Arbeitgeber hohe Steuerschulden hat. „Das ist hier in der Branche keine Seltenheit“, erklärt Franz Müll, Einsatzleiter der monatlichen Kontrollen der Finanzpolizei. „Viele Taxifahrer schreiben immer noch händisch Rechnungen. Da weißt du sowieso, dass das nie in irgendeiner Buchhaltung erscheint.“ Auch die gesetzlich vorgeschriebenen Taxameter seien oft manipuliert oder ganz einfach nicht mit der Registrierkasse verbunden, erklärt Müll. Er hat in der Branche schon viel erlebt. Hochrisikobranche Bei der Finanzpolizei gilt die gesamte Taxi- und Mietwagenbranche
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als Hochrisikogruppe, und das auch schon in Zeiten, bevor Uber und Co. auf den Markt drängten. 2019 gab es Strafanträge bei immerhin 15 Prozent der kontrollierten Taxis und Mietwagen, jeder zehnte Kontrollierte war illegal beschäftigt. Einsatzleiter Müll schätzt, dass 80 Prozent der Fahrer nur geringfügig angestellt sind, obwohl sie bis zu 70 Stunden pro Woche fahren. Klare Worte findet auch ein Mietwagenunternehmer, der anonym bleiben will: „Jeder in der Branche ist ein Sozialbetrüger.“ Es gäbe verschiedene Arbeitsmodelle, wie die Fahrer zu ihrem Geld kämen, keines davon sei jedoch legal. „Tatsächlich gehen
Es gäbe kaum Möglichkeiten, legal schwarze Zahlen zu schreiben, so ein Gutachter. alle mit zwei- bis dreitausend Euro monatlich heim. Aber sie haben eine schlechte Pension.“ Blickt man hinter die Kulissen, scheint ein Großteil der Branche ohnehin an der Finanz und den Sozialversicherungen vorbeizuarbeiten. Würden Fahrer und Unternehmer legal und ordentlich wirtschaften, müssten die Beförderungspreise um mindestens
20 Prozent höher ausfallen als die derzeitigen Taxitarife, lautet das Resümee von Gutachter Werner Jansky: „Viele Beschäftigte sind nicht korrekt gemeldet.“ Würden Transparenz und Preisrealität herrschen, könnte die gesamte Branche in ihrem jetzigen Umfang wohl nicht existieren. Die Zahl der Taxis und Mietwagen in Wien ist seit 2012 um rund 50 Prozent angewachsen, das geht aus einem Addendum vorliegenden Gutachten aus dem Vorjahr hervor. So tummeln sich heute etwa 4.800 Taxis und 3.000 Mietwagen auf den Straßen der Bundeshauptstadt – zu viele für zu wenige Kunden, ist Gutachter Jansky überzeugt. Lange wurden in Österreich neue Taxikonzessionen nur nach Bedarf ausgestellt, um zu viele Wagen am Markt zu vermeiden. Der Verfassungsgerichtshof kippte diese Regelung 1993 wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf Erwerbsfreiheit. Auf Basis der heute gültigen Tarifstruktur gäbe es für die Anbieter aber kaum legale Möglichkeiten, schwarze Zahlen zu schreiben, sagt Jansky. Der Kampf gegen Uber Das sieht auch Gökhan Keskin so, der den Verantwortlichen für die aktuelle Situation längst ausgemacht hat: Uber. „Mit diesen Dumpingpreisen ist in diesem Gewerbe nichts zu verdienen“, sagt der Obmann der Sparte Transport und Verkehr der
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Wirtschaftskammer Wien. Doch wahr ist auch, dass die Taxibranche nötige Modernisierungen und Tarifanpassungen verschlafen hat. So wurde der kollektivvertragliche Mindestlohn für Taxi- und Mietwagenfahrer heuer erstmals seit sieben Jahren erhöht. Seit 1. März 2020 bekommen Taxilenker 1.350 Euro brutto – für 55 Stunden pro Woche. Mietwagenfahrer bekommen das für 45 Arbeitsstunden. Und auch sonst ist die Branche seit einigen Jahren in Aufruhr. Der US-Fahrdienstanbieter Uber, der seine Dienste über App einfach
und meist preiswerter anbietet als herkömmliche Taxis, wurde längst zum großen Feindbild der alteingesessenen Taxibranche. Die mächtige Taxilobby will den Markt aber keinesfalls dem US-Konzern und seinen Nachkömmlingen überlassen und kämpft mit allen Mitteln – durchaus erfolgreich – gegen den neuen Konkurrenten. Uber bietet seine Dienste heute in 700 Städten weltweit an, seit 2014 auch in Wien. Damit stellt der US-Fahrdienstanbieter die Gesetze der individuellen Personenbeförderung seit Jahren weltweit auf
den Kopf, staatliche Regulierungsversuche hinken den Online-Anbietern stetig hinterher, der Kampf um den Kundenmarkt auf der Straße wird zum Katz-und-Maus-Spiel: Gesetze werden angepasst, doch die Online-Anbieter finden neue Wege, ihre Dienstleistungen anzubieten. Eine schwere Niederlage erlitt Uber 2017 vor dem Europäischen Gerichtshof. Der EuGH stellte in einem Urteil fest, dass Uber nicht bloß Kunden und Chauffeure einander vermittle, sondern eine Verkehrsdienstleistung erbringe und sich somit
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Taxi vs. Uber
Die Taxibranche hat viele Neuerungen verschlafen.
Uberfahrer brauchen ab September eine Taxikonzession.
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rechtlich nicht mehr wesentlich von klassischen Taxidiensten unterscheide. Nach Klagen der Taxifunkzentrale 40100 verhängte das Wiener Handelsgericht im Sommer 2019 zum zweiten Mal einen kurzfristigen Fahrstopp gegen Uber. Nach der nötigen Abänderung seiner Formalien ist Uber in Österreich seither offiziell als Reisebüro tätig – schließlich erfüllt es den Wortlaut der Gewerbeordnung punktgenau, es vermittelt „von durch Verkehrsunternehmen durchzuführende Personenbeförderungen“. Zurück zum juristischen Katzund-Maus-Spiel: Folgt man dieser Logik, müssen als Nächstes wieder die Gesetze nachziehen. Der erste Schritt dazu wurde bereits gemacht. Vergangenen Sommer wurde im österreichischen Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ und FPÖ das neue Gelegenheitsverkehrsgesetz beschlossen, das besagt: Ab 1. September gelten für Taxi- und Mietwagenfahrer dieselben Regeln, eine Ausnahme soll es nur für Krankentransporte geben. Einer, der sich besonders für ein Einheitsgewerbe stark gemacht hat, ist Alois Stöger, Nationalratsabgeordneter der SPÖ. „Im Wesentlichen geht es hier um Modernisierung“, sagt der ehemalige Infrastrukturminister, der die Gleichstellung von Taxis und Mietwagen für eine solche hält. Stark kritisiert wird die Gesetzesnovelle hingegen von den NEOS, die sich gegen die verschärften Regulierungen einsetzen und durch diese den freien Wettbewerb gefährdet sehen. Bald einheitliche Regeln für alle Derzeit sind Mietwagen und Taxis noch mit unterschiedlichen Regelungen auf den Straßen unterwegs. Fahrer von Services wie Uber oder Bolt benötigen zum Beispiel keinen Taxischein, und wegen der sogenannten Rückkehrpflicht müssen sie nach jeder absolvierten Fahrt zu ihrer Betriebsstätte zurück. Ab 1. September soll in der Branche alles anders werden. Für Taxis und Online-Vermittler gelten dann dieselben Regeln, auch Uberfahrer müssen ab September einen Taxischein vorweisen können und sich an fixe Tarife halten. Das neue Gelegenheitsverkehrsgesetz entspricht vor allem auch den Wünschen und Vorstellungen der Wirtschaftskammer, die sich klar auf der Seite der
Taxis positioniert, obwohl sie eigentlich beide Branchen – Taxi- und Mietwagengewerbe – vertritt. Für Uber und andere Online-Fahrdienstvermittler bedeutet das neue Gesetz jedoch eine Niederlage. Sein Geschäftsprinzip mit flexiblen Preisen, die von Angebot und Nachfrage abhängig sind, kann Uber dann in dieser Form nicht mehr anbieten, und dann wäre das Unternehmen womöglich nicht mehr rentabel. Glaubt man den Verfassungsexperten, stehen die Chancen für einen erfolgreichen Antrag beim VfGH, die Novelle für verfassungswidrig zu erklären, nicht schlecht. Das neue Gesetz würde den Wettbewerb in der Branche ausschalten und zerstöre das Grundrecht auf Erwerbsfreiheit. Diesem Vorwurf geht auch die Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) nach, die für Mitte Februar den Zwischenbericht ihrer Branchen-Prüfung an-
Das neue Gesetz entspricht vor allem auch den Wünschen der Wirtschaftskammer. kündigte. „Wir erhielten über einen längeren Zeitraum Beschwerden bezüglich des Taxi- und Mietwagenmarkts. Die Bundeswettbewerbsbehörde vermutet daher, dass der Wettbewerb eingeschränkt oder verfälscht ist“, sagt BWB-Generaldirektor Theodor Thanner. „Regulierung darf nicht so weit gehen, dass Wettbewerb ausgebremst wird. Eine Konsequenz davon könnte sein, dass Innovation am Markt minimiert wird oder sogar verschwindet.“ Die Inhomogenität des Marktes erschwere jedoch eine aussagekräftige Erhebung der Marktdaten, heißt es vonseiten der BWB, weshalb sich der Bericht einige Wochen verzögern wird. Wien als Zünglein an der Waage? Auch im türkis-grünen Regierungsprogramm findet sich ein kleiner, aber durchaus bemerkenswerter Punkt zum Gesetz: Die Rede ist von einer „Weiterentwicklung des Gelegenheitsverkehrsgesetzes“. Aufbau-
end auf der umstrittenen Novelle des Vorjahres bekennt sich die Bundesregierung in ihrem Programm zu einem „klar regulierten Mischgewerbe, in dem traditionelle Taxiunternehmen und digitale Mobilitätsunternehmen in fairem Wettbewerb ihre Dienste anbieten können“. Was das für die Branche genau bedeuten soll, geht aus dem Regierungspapier freilich noch nicht hervor, denkbar ist aber eine Entschärfung der Regeln, um Uber und anderen Anbietern wie Free Now und Bolt das Leben zu erleichtern. Für Uber und andere Mobilitäts-Startups durchaus ein Grund, vorsichtig optimistisch zu sein. Die Umsetzung der nunmehr einheitlichen Tarifgestaltung für Taxi und Mietwagen obliegt aber ohnehin den Landesgesetzgebern. Alle warten derzeit gespannt auf die Stadt Wien, die voraussichtlich als Erste ihre Tarifordnung anpassen wird. Denn obwohl die Bundes-SPÖ im Sommer des Vorjahres für ein Einheitsgewerbe gestimmt hat, zögern die Wiener Genossen nun mit der Umsetzung. Vor der nötigen Änderung der Landesbetriebsordnung muss nämlich erst einmal die Bundesbetriebsordnung geändert werden, heißt es aus dem Büro des roten Wirtschaftsstadtrats Peter Hanke. Er kritisiert, dass die Stadt Wien in die Erarbeitung des Gelegenheitsverkehrsgesetzes nicht eingebunden war. Aktuell lässt Hanke die Tarifvereinheitlichung in einer Studie prüfen. Die Fixtarife scheinen also zumindest in Wien noch nicht in Stein gemeißelt zu sein. Sollten doch keine einheitlichen Tarife kommen, werden die Karten am Markt komplett neu gemischt. Dann würde allein der freie Markt den Preis bestimmen. Aktuell sind jedenfalls Kurse für den Taxischein gut besucht – viele Uberfahrer arrangieren sich damit, dass dieser ab September auch für sie nötig sein wird. Die Branche bereitet sich bereits auf die neuen gesetzlichen Grundlagen vor. Ob diese ab Herbst tatsächlich umgesetzt werden, ist aber längst nicht fix. Jedenfalls werden auch dann nicht alle Probleme gelöst sein – in einer Branche, die, würden Transparenz und Preisrealität herrschen, im jetzigen Ausmaß nicht existieren könnte.
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Früher Frühling
Der Austrieb der ersten Blätter bei Wein setzt mittlerweile durchschnittlich um zwei Wochen früher ein – und die jungen Triebe sind besonders frostempfindlich.
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Der frühe Frühling gefährdet Österreichs Ernten Der Frühling beginnt immer früher. Das hat Folgen für die Landwirtschaft. Ertragspotenziale schrumpfen, das Risiko für Spätfrost- und Trockenschäden steigt.
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ür die Landwirtschaft bringt der Klimawandel durchaus auch Gutes. Auf Gebirgswiesen etwa lassen höhere Temperaturen das Gras besser wachsen, wodurch dieselbe Fläche mehr Rinder ernähren kann. Auch Weinreben lieben bekanntlich die Wärme und den Sonnenschein, weil sie mit deren Hilfe mehr Zucker produzieren. Durch den durchschnittlich früher einsetzenden Frühlingsbeginn verlängert sich die Vegetationsperiode nach vorne, also jene Zeit im Jahr, zu der Pflanzen im Freien grundsätzlich wachsen, blühen und Früchte bilden können. Das wäre eigentlich – außer für Pollenallergiker – eine gute Nachricht. Laut Daten der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) lag der durchschnittliche Beginn der Vegetationsperiode in den Jahren 1971 bis 2000 österreichweit zwischen dem 9. März und dem 26. April. In den Jahren 2006 bis 2016 hatte er sich auf die Zeit zwischen 2. März und 14. April vorverschoben, an einzelnen Orten um bis zu zwei Wochen. Im „Business as usual“-Szenario, in dem keine Klimaschutzmaßnahmen getroffen werden, gehen Forscher von einer mittleren Verschiebung – im Vergleich zu 1971 bis 2000 – von 18 bis 32 Tagen aus. Sollten die Paris-Ziele eingehalten werden, könnte sich die Verschiebung mit durchschnittlichen Frühlingsbeginnen zwischen 8. März und 10. April auf ein ähnliches Niveau, wie es schon 2006 – 2016 gemessen wurde, einpendeln. Die Folgen des frühen Frühlings Eine im vergangenen Herbst veröffentlichte AGES-Studie, die Boden-
bedarf und Ernährungssicherheit in Österreich untersuchte, ermittelte für die Böden im Voralpengebiet mittelfristig eine um 24 Prozent erhöhte Ertragsfähigkeit. Im Gebiet der Hochalpen könnte ab Mitte der 2030er Jahre sogar um 27 Prozent mehr Pflanzenmasse heranwachsen als früher. Das Problem ist aber: Für alle anderen der in der Studie aufgeführten
In Österreichs Kornkammern erwarten Experten sogar Rückgänge bis um die Hälfte. acht Hauptproduktionsgebiete Österreichs zeigt der prognostizierte Trend in Sachen Ertragsfähigkeit nach unten. In den Kornkammern Österreichs im östlichen Flach- und Hügelland erwarten die Experten sogar Rückgänge bis um die Hälfte. Wenn es so kommt, dann müsste Österreich – bei gleichem Verbrauch – deutlich mehr Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt einkaufen. Schnee ist der bessere Regen Die Misere beginnt schon im Winter. Die einst kalte Jahreszeit bringt in den tiefer gelegenen Ackerbauregionen Österreichs meist nur noch wenig Schnee oder gar keinen. Und selbst wenn dieselbe Menge Niederschlag heutzutage als Regen auf die Felder fällt: Flüssiges Wasser rinnt leichter davon als gefrorenes, weshalb der Boden Regenwasser nicht im gleichen Maß aufnehmen
kann wie allmählich aus einer Schneedecke tröpfelndes Schmelzwasser. Die früher beginnenden Frühlinge führen schließlich dazu, dass Pflanzen eher in die Wachstumsphase übergehen und dadurch auch zeitiger beginnen, dem Boden Wasser zu entziehen. Das kann das Risiko von Trockenheit verschärfen. Vor allem auch deshalb, weil bislang zwar die gesamte Jahresniederschlagsmenge relativ konstant bleibt, sich die vom Himmel kommenden Wassermengen aber tendenziell in Richtung Winter und dann eher als Regen sowie auf kurze, heftige Starkregen im Sommerhalbjahr konzentrieren. Konsequenz: längere Phasen ganz ohne Niederschlag und somit heftigere Trockenperioden. Ertragseinbußen durch Hitze Was Trockenheit bedeuten kann, zeigte das Jahr 2018. Damals ernteten Österreichs Landwirte um 400.000 Tonnen (12 Prozent) weniger Getreide als im Schnitt der fünf Jahre davor. Dabei hatte auch das Jahr 2017 schon trockenheitsbedingte Ertragseinbußen mit sich gebracht. In erster Linie wird die Trockenheit durch zu wenig Regen im Sommerhalbjahr verursacht. Zusätzlich bewirken häufigere Hitzetage (mehr als 30 Grad Tageshöchsttemperatur) in Verbindung mit geringer Luftfeuchtigkeit, dass mehr Wasser verdunstet und der Boden schneller austrocknet. Die früher beginnende Saison tut, wie oben beschrieben, das Ihre dazu. Ganz generell arbeiten biologische Systeme mit steigender Temperatur effizienter (weshalb das Ertragspotenzial in kühleren Gegenden durch
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Früher Frühling
Schneeglöckchen gelten als erste Frühlingsboten.
den Klimawandel steigt), allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Bei zu großer Hitze etwa in der Kornfüllungsphase des Getreides im Juni geraten die Pflanzen unter Stress, dadurch läuft ihr Stoffwechsel nicht mehr optimal. Neues Schädlingsspektrum Trockene Bedingungen haben aber auch gute Seiten: Sie reduzieren den Druck, den feuchtigkeitsliebende Pilze ausüben, wie der Erreger der Kraut- und Knollenfäule bei Erdäpfeln, oder sogenannte Fusarien, die Getreide schimmeln lassen und dabei gefährliche Gifte produzieren. Auf der anderen Seite lieben die allermeisten Schadinsekten warme und trockene Umstände. Wegen des Klimawandels zeigen sie höhere Winter-Überlebensraten, können sich stärker ausbreiten und zusätzliche jährliche Generationen ausbilden. Manche Arten kommen überhaupt neu dazu. Erst im Jahr 2003 wurde der exotisch klingende Baumwollkapselwurm (auch Baumwollkapseleule genannt), ein wärmeliebender Falter der Tropen und Subtropen, erstmals auf einem Feld bei Gänserndorf (Niederösterreich) entdeckt. Die vielen milden Winter und heißen Sommer der folgenden Jahre halfen dem Schädling, sich massenhaft zu vermehren. Die Landwirtschaftskammer Niederösterreich verzeichnet laufend zuneh-
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mende Fraßschäden beispielsweise an Bohnen, Zuckermais oder Eisbergsalat und erwartet die weitere Vergrößerung des Verbreitungsgebiets. Für die AGES zählt der Baumwollkapselwurm zu den „Klimagewinnern unter den Schadinsekten“. Auch wärmeliebende Unkrautarten wie etwa der giftige Samen
Eine weitere Gefahr bringt ein früher Frühling vor allem für Obst- und Weinbauern mit sich. produzierende Gemeine Stechapfel oder das vor allem für Allergiker problematische Ragweed (beifußblättriges Traubenkraut) haben leichteres Spiel. Grundsätzlich sind Landwirte beim Schutz ihrer Kulturpflanzen vor Schadorganismen mit vielen neuen Herausforderungen konfrontiert, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Spätfrost: immer schlimmer Eine weitere Gefahr bringt ein früher Frühling vor allem für Obstund Weinbauern mit sich. Die jungen Triebe der Reben oder die Blüten von Apfel- und Marillenbäumen sind nämlich besonders frostempfindlich.
Wissenschaftler dokumentieren seit Jahrzehnten, wann im Jahr die Temperatur zum letzten Mal unter minus ein Grad Celsius rutscht. Parallel dazu melden über ganz Österreich verteilte freiwillige Beobachter ganzjährig Daten zu bestimmten Entwicklungsstadien von Pflanzen: zum Beispiel die Blattentfaltung der Rosskastanie, die erste Blüte von Marille, Apfel und Wein, oder den jeweiligen Zeitpunkt von Reife und Blattfall. Bei der ZAMG werden diese Daten in einem sogenannten Phänologie-Spiegel zusammengeführt und ausgewertet. Darin zeigt sich, dass Pflanzen inzwischen fast jedes Jahr deutlich früher aktiv werden als im Bezugszeitraum zwischen 1981 und 2010. Andere Studien zeigen, dass die Blühtermine bei Obst oder der Austrieb der ersten Blätter bei Wein inzwischen um durchschnittlich etwa zwei Wochen früher eintreten. Der Klimawandel bedingt aber auch, dass der letzte Frosttag des Winters häufig früher im Jahr kommt. Was sich also nicht beobachten lässt, ist eine grundsätzlich erhöhte Gefahr verspäteter Kaltlufteinbrüche im Frühling. Das Problem ist vielmehr: Wenn der Winter auf diese Art letzte Grüße sendet, dann ist das Schadpotenzial wegen der weiter entwickelten Pflanzen größer. Sie sind dann einfach empfindlicher gegen das Wetterphänomen.
Millionenschäden durch Frost Bei Österreichs Obst- und Weinbauern schrillten im April 2017 die Alarmglocken, und noch lauter ein Jahr zuvor, im Frühjahr 2016. Frühtemperaturen von bis zu 6 Grad trafen Ende April 2016 in der Steiermark, in Niederösterreich und im Burgenland auf dafür viel zu empfindliche Obstblüten, auf weit fortgeschrittene Reben, Kürbisse oder Spargel. Wo es technisch möglich war, schützten die Plantagenbewirtschafter ihre Anlagen mithilfe von Frostschutzberegnung. Sie kann Obstblüten vor Frost bis zu – 8 Grad schützen. Dabei macht man sich den physikalischen Effekt zunutze, der beim Gefrieren von Wasser Energie in Form von Wärme freiwerden lässt. Das Verfahren ist in den weiten Tälern Südtirols etabliert, im steirischen Hügelland dagegen schwer umsetzbar. Dort reagierten Landwirte einigermaßen verzweifelt, indem sie zum Beispiel Strohballen anzündeten, deren Rauch sich über die Obstgärten legte, die Wärmeabstrahlung des Bodens dämpfen und so die Temperaturen knapp über dem kritischen Wert halten sollte. Praktisch ist das Verfahren aber wenig effektiv. Das Heizen mit sogenannten Frostkerzen gilt als wirksamer, verursacht aber hohe Kosten und beachtlichen Aufwand. Mehr als zwei Drittel der gesam-
ten österreichischen Kernobsternte waren zerstört, auch die Erträge von Marillen, Zwetschken und vielen anderen Kulturen brachen ein. Zudem hatte Neuschnee Hagelnetze und Folientunnel zerstört. Die österreichische Hagelversicherung beziffert den Gesamtschaden auf weit über 200 Millionen Euro. Zusammengefasst: Nicht alleine die weniger harten Winter oder die für Österreich klar belegten steigenden Durchschnittstemperaturen und die häufigeren Hitzetage stellen die heimischen Nahrungsmittelproduzenten vor Herausforderungen. Alleine schon die früheren Frühlinge erhöhen schon jetzt den Druck auf die Landwirte, sich anzupassen. Patentrezepte dafür gibt es keine. Alleine schon deshalb nicht, weil jeder Bauernhof in Österreich mit ganz individuellen Bedingungen konfrontiert ist: Die Höhenlage, die Art des Bodens, das regionale Klima, die Nähe zu potenziellen Abnehmern, vor allem auch die Nachfrage nach bestimmten Produkten und viele andere Parameter bestimmen die Optionen einer Bauernfamilie. Rein wissenschaftlich betrachtet gehören zu den vielversprechendsten Werkzeugen, mit denen landwirtschaftliche Erträge auch in Zeiten des Klimawandels gesichert werden können, unter anderem:
• klassische Werkzeuge der Biolandwirtschaft, wie etwa vielfältigere Fruchtfolgen, die den Humusgehalt des Bodens erhöhen und das Risiko von Ernteausfällen streuen • konservierende Landwirtschaft, bei der der Boden wenig oder gar nicht bearbeitet wird (was in der Praxis meist auch auf dem in der Öffentlichkeit unbeliebten Unkrautvernichter Glyphosat beruht) • der Anbau von Zwischenfrüchten, die den Boden mit Humus anreichern und deren Wurzelkanäle ihm helfen, Wasser aufzunehmen und zu speichern • die Züchtung regional angepasster Pflanzensorten, weswegen viele wissenschaftliche Institutionen einschließlich der BOKU eine Öffnung der EU-Gesetzgebung für die sogenannte Neue Gentechnik fordern Manche Landwirte zwischen Vorarlberg und dem Burgenland reagieren auf die neue Situation ganz pragmatisch: Sie bereiten sich auf den Klimawandel vor, indem sie schon heute mit dem Anbau von Baumwolle, Reis oder Erdnüssen experimentieren. Auf add.at/094_12 können Sie sehen, wie sich der Frühlingsbeginn in Ihrer Gemeinde verschiebt.
Die letzten Wintergrüße haben hohes Schadpotenzial für junge Pflanzen.
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Behandlungsfehler
Nach Fehldiagnose im Rollstuhl Marija P. ist seit 2013 querschnittsgelähmt, wahrscheinlich aufgrund eines Behandlungsfehlers. Drei Gutachten bescheinigen ihr, dass sie nicht im Rollstuhl sitzen müsste, hätten die Ärzte richtig gehandelt.
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ie wollte jung Mutter werden. So wie ihre Mutter es auch wurde, mit ihr. „Wir sind quasi beste Freundinnen“, erzählt sie. Marija P. ist eine junge Frau, die weiß, was sie will. Und die ihre Pläne durchzieht: Schon mit 17 Jahren wohnt sie 2011 mit ihrem Freund Thomas zusammen. Er ist nun ihr Mann, aber Kinder haben sie bis heute nicht. „Diese Entscheidung wurde uns genommen“, sagt sie. Marija P. sitzt seit 2013 mit einer Querschnittslähmung im Rollstuhl, nachdem ihr die Autoimmunerkrankung Lupus diagnostiziert wurde und sie eine krankheitsbedingte neunstündige Notoperation nur knapp überlebt hat. Die Krankheit ist immer präsent, sagt sie, in jedem Moment. Was sie auch sagt: Das müsste nicht so sein. Das sollte nicht so sein. Sie sollte Kinder haben, alle paar Wochen ihre Verwandten in Kroatien besuchen, auf Konzerte gehen. „Auf jedes zweite Konzert müssen wir verzichten, weil es mir nicht gut geht“, erzählt die heute 25-Jährige. Der Lupus ist ihr ständiger Begleiter. „Unser Alltag und unsere Pläne richten sich nach ihrer Krankheit. Wir stehen in der Früh auf und schauen, wie es ihr geht“, sagt ihr Mann Thomas. Ein Lupus wäre eigentlich gut unter Kontrolle zu halten. Wenn er rechtzeitig erkannt wird – und das war bei Marija nicht der Fall. Deshalb hat sie nach einem gescheiterten Schlichtungsverfahren 2016 die Kages auf 130.000 Euro geklagt, den Spitalsträger des Landeskrankenhauses Graz, wo ihre Erkrankung übersehen wurde. Der Prozess läuft immer noch, im März wird weiterverhandelt, und sie hofft, dass es danach endlich vorbei ist.
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„Wenn der Patient nicht den Atem hat mitzugehen, haben sie schon gewonnen“, sagt ihre auf Behandlungsfehler spezialisierte Anwältin Karin Prutsch. „Sie rechnen oft damit, dass die Patienten nicht die Kraft haben.“ Seitens der Kages ist bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme eingelangt. Ärzte sind in Österreich dazu verpflichtet, gegen Behandlungsfehler versichert zu sein, und das bedeutet: „Behandlungsfehler zugeben darf ein Arzt sowieso nicht, wenn es nicht mit der Versicherung abgesprochen ist“, sagt Anwältin Prutsch. Das ist nur ein Problem mit Behandlungsfehlern in Österreich. Das vielleicht
Niemand weiß, wie häufig in Österreich Behandlungsfehler auftreten. Es gibt keine Daten dazu. größte: Niemand weiß, wie häufig sie auftreten. Es gibt in Österreich keinerlei Daten oder Studien zu Behandlungsfehlern. Der Sprecher der österreichischen Patientenanwälte, Gerald Bachinger, bezieht sich deshalb gerne auf eine deutsche Metastudie, die besagt: Einer von hundert in ein Spital eingelieferten Patienten erleidet einen Behandlungsfehler, einer von tausend stirbt daran. „Wenn man diese Studie auf Österreich umlegt, kommt man auf 3.000 bis 4.000 Todesfälle pro Jahr aufgrund von Behandlungsfehlern“, sagt Bachinger. Verkehrstote gab es in Österreich 2019 genau 410.
Behandlungsfehler können offensichtlich sein – das klassische Beispiel ist das falsche amputierte Bein –, sie können aber auch in falschen Medikamenten oder, wie im Fall Marija P., falschen Diagnosen bestehen. Nicht ernst genommen Sie geht noch zur HAK, als sie Ende 2011 plötzlich Schmerzen bekommt. „Ich war davor eigentlich nie krank, hatte immer ein gutes Immunsystem und war sehr sportlich.“ Mitte 2012 vermutet ihr Hausarzt Rheuma – die Knöchel, die Knie, die Ellenbogen schmerzen. Einige Monate später „ist es wirklich schlimm geworden. Ich habe meistens nur noch drei Stunden geschlafen und bin nachts spazieren gegangen, weil die Bewegung einigermaßen angenehm war.“ Im September 2012 wird sie vom Krankenhaus in Weiz nach Graz verwiesen, wo sie auf der Neurologie landet. „Da hat alles angefangen.“ Magersucht, das war die Diagnose der Ärzte dort. Ihre Nervenleitgeschwindigkeit wird getestet, es wird ihr Blut abgenommen; und alles deutet darauf hin, dass etwas Gröberes nicht stimmt. Marija P. hat extrem erhöhte Entzündungswerte, die Monat für Monat steigen, die Nervenleitgeschwindigkeit nimmt gleichzeitig mehr und mehr ab. „Sie waren trotzdem der Meinung, dass ich magersüchtig bin und nicht genug esse.“ Ihre Schmerzen, ihre Befunde: All das wurde nicht ernst genommen. Im Gegenteil: „Sie haben vermutet, dass mein Freund gewalttätig ist, dass ein psychisches Problem vorliegt.“ Nicht einer, sondern insgesamt vier Ärzte unterstellen ihr Magersucht. „Aber ich habe nur abgenommen, weil ich nicht mehr schlafen konnte.“
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Seit 2013 ist Marija P. querschnittsgelähmt – aufgrund eines Behandlungsfehlers.
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Behandlungsfehler
Neurologie. Drei Tage später finden die Ärzte dort heraus, was ihr wirklich fehlt. Bei einem rheumatischen Konsil wird ihr Lupus erkannt. Da ist es fast schon zu spät. Der linke Vorfuß ist mangelhaft durchblutet, sie hat einen Verschluss der Fußrückenarterie. An beiden Armen und Beinen bekommt sie Lähmungserscheinungen, es wird eine Entzündung des Rückenmarks festgestellt. Sie erleidet einen Darmdurchbruch, braucht eine Not-OP.
„Nicht gewusst, ob ich überlebe“ Sie bekommt Fieberschübe, hat extreme Schmerzen im linken Fuß. Anfang Oktober wird sie zu einer Nervenbiopsie auf die Neurologie verwiesen, die nicht durchgeführt wird. Marija ist gestresst, kann wegen der Schmerzen nicht mehr in die Schule. Die neurologische Abteilung des Spitals überweist sie in die Kinderpsychiatrie – nicht in die Rheumatologie. „Das war extrem schwer für mich. Man geht mit der Hoffnung ins Spital, dass einem die Ärzte helfen. Dass du ernst genommen wirst. Es war das Gegenteil. Das habe ich nicht erwartet.“ Sie bekommt Schmerzmittel, mehr nicht. Später wird ihr die Klinik vorwerfen, dass sie nicht auf eigene Faust auf die Rheumatologie gegangen ist. Im Frühjahr des folgenden Jahres spitzt sich die Situation dramatisch zu: Wegen Taubheitsgefühlen in Fingern und Händen wird Marija P. am 20. April 2013 in die Klinik in Graz eingewiesen, diesmal landet sie auf der Inneren Medizin, nicht in der
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„Wer hätte das gedacht?“ Sie sagt es in einem genervten Tonfall, wie sie da am Küchentisch ihrer Wohnung im steirischen Weiz sitzt und ihre Geschichte erzählt. Es klingt ein bisschen, als wollte sie sagen: Sogar das hätten sie fast noch verbockt, mich einfach nur am Leben zu erhalten. Zwei Wochen ist sie nach den Operationen im künstlichen Koma, als sie zum ersten Mal wieder aufwacht, ist sie gerade in der Druckkammer. „Ich habe nicht gewusst, wo ich bin, bin panisch geworden, habe versucht mir die Schläuche rauszureißen.“ Das zweite Aufwachen ist angenehmer: „Da war gerade die Mama zu Besuch, ich habe sie angeschaut und als Erstes gesagt: ,Mama, du bist so hübsch!‘“ Nachdem die Ärzte ihr erklärt haben, dass sie ihr Leben im Rollstuhl verbringen wird, als sie im Spital auf die Reha wartet, trifft sie auf eine jener Ärztinnen, die ihr Magersucht diagnostiziert haben. „Mein Gott, wer hätte gedacht, dass es so weit kommt“, habe sie zu ihr gesagt. Nach der Reha zieht sie mit Thomas zu ihren Eltern zurück, ihre gemeinsame Wohnung war im zweiten Stock ohne Lift. Ihr Auto müssen sie verkaufen, es ist zu klein für den Rollstuhl. Die ersten beiden Jahre sind hart. Sie geht kaum hinaus, will nicht, dass sie Leute so sehen, die sie noch von früher kennt. Die Wut auf die Ärzte Aber sie hat sich ins Leben zurückgekämpft. Leicht war es nicht. Ihr Alltag ändert sich komplett, ihre Unabhängigkeit ist verloren. „Du kannst nicht schnell mal einkaufen gehen. Die Haare waschen, Gemüse schneiden, das ging am Anfang auch nicht alleine. Weil bei mir auch die Feinmotorik nicht funktioniert.“ Sie
wohnt jetzt wieder mit Thomas zusammen, 2016 haben sie geheiratet. Sie wollen es alleine schaffen, ohne Pfleger, ohne Hilfe. „Das hat uns nie interessiert.“ Schwierig ist es oft. Sie wohnen jetzt im zweiten Stock mit Lift, aber der ist oft kaputt. „Dann bin ich in der Wohnung eingesperrt.“ Sie liebt es, Pflanzen im Hochbeet auf der Terrasse anzubauen, doch die Stufe zwischen Wohnung und Terrasse ist fünf Zentimeter hoch. Alleine kommt sie dort nicht hin. Ihre Wut beginnt sie auf die Ärzte zu kanalisieren. „Jetzt ist der Thomas davon entlastet“, sagt sie lachend. Sie wendet sich an die Schlichtungsstelle der steirischen Ärztekammer, diesen Schritt gehen nicht viele Patienten. „Das, was bei den rechtsfolgenden Einrichtungen landet, das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Bachinger. Zumeist, glaubt er, werden Behandlungsfehler einfach vertuscht. „Der Laie weiß nicht, ob ein Behandlungsfehler aufgetreten ist. Der Vater hat eine schwere Operation und stirbt, der nette Oberarzt erklärt, dass da eine Komplikation aufgetreten ist, die nicht verhindert werden konnte.“ Behandlungsfehler sind aber auch grundsätzlich schwierig festzumachen: Nicht jede unerwünschte Nebenwirkung einer Behandlung ist gleich ein Behandlungsfehler. Komplikationen können immer auftreten, auch wenn ein Arzt alles richtig gemacht hat. Die kritische Frage, zumindest im juristischen Sinn, ist: War die Behandlung lege artis, also nach den Regeln der ärztlichen Kunst? Auch im Fall von Marija scheint die Frage zunächst schwer zu beantworten: Ein Gutachten von Oliver Kastrup, leitender Arzt für Neurologie in Essen, das die Schlichtungsstelle 2016 einholt, ist so formuliert, dass es die Kages dazu veranlasst, aus dem Schlichtungsverfahren auszusteigen. Schließlich findet sich im Gutachten der Satz: „Grundsätzlich wird ein Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst nicht gesehen.“ Er wird um eine Konkretisierung gebeten, diese wirft ein anderes Licht auf die Vorgänge: Sie besagt, dass nach „erneuter Sichtung der Aktenlage und der bisher von mir vorgelegten Gutachten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass wenn im Herbst 2012 hochdosiert Steroide
oder Immunsuppressiva begonnen worden wären, die Grunderkrankung im Frühjahr nicht aufgeflammt wäre. Zumindest wäre diese allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in deutlich abgedämpfter Form nur aufgetreten.“ Es wäre vermeidbar gewesen Marija P. entscheidet sich, vertreten von der Anwältin Karin Prutsch, zivilrechtlich zu klagen. „Wir haben von Anfang an gesagt, wenn wir den Weg gehen, gehen wir ihn bis zum Schluss“, sagt sie. Der Weg ist nun schon jahrelang. Auch das Gericht holt ein Gutachten ein, es fällt noch kritischer aus. Der Neurologe Udo Zifko sieht gleich sieben Diagnoseschritte, die nicht lege artis, also nach den Regeln der ärztlichen Kunst, durchgeführt wurden. Die Querschnittslähmung sei „eine vermeidbare Krankheitsfolge“. Das Gericht beauftragt einen zweiten Gutachter, er kommt zum selben Schluss: Mit „an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ wären die aufgetretenen Schäden abwendbar gewesen, hätte Marija P. rechtzeitig eine adäquate Immuntherapie bekommen. Nun wartet sie auf den Gerichtstermin im März, hofft auf ein baldiges Urteil. Nicht, dass es alles wieder gut
Sie träumt von einem eigenen Haus ohne Barrieren, einem Beet, von dem sie keine Stufe trennt. machen könnte. Ihr Leben wird nie mehr dasselbe sein, und der Lupus quält sie weiter. Sie hat Zysten in den Eierstöcken, die wegen ihrer Erkrankung nicht operiert werden können. Alle drei bis vier Monate muss sie diese Zysten nun punktieren lassen. Die Sommer verbringt sie in der Woh-
nung, der Lupus und die Sonne vertragen sich nicht. Aber sie träumt von einem eigenen Haus ohne Barrieren, einem Beet, das sie alleine beackern kann, von dem sie keine fünf Zentimeter Stufe trennen. Das könnten sie sich vielleicht leisten, wenn sie Schadenersatz zugesprochen bekommt. Es ist nicht das Einzige, worum es ihr geht. „Es geht mir auch darum, dass jungen Menschen Aufmerksamkeit geschenkt wird, dass es nicht heißt: ,Das Mädchen ist dünn, die hat sicher Magersucht.‘“ Als die behandelnden Ärzte beim Prozess aussagen mussten, haben sie sie komplett ignoriert. „Ich hatte das Gefühl, es ist ihnen egal“, sagt sie. Es sind Erlebnisse wie dieses, die ihre Wut weiter füttern. Die Wut, die ihr die Kraft gibt weiterzumachen. Mehr zum Thema Behandlungsfehler finden Sie auf addendum.org/behandlungsfehler
Marija und Thomas wollen es alleine schaffen, ohne Pfleger.
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Kurzgeschichte von Valerie Fritsch
Die Ordnung der Dinge
Eine Geschichte.
T E XT: VA L E R I E F R I T S C H
J
ohann Sand war alt, mochte Ausnahmen nicht, legte Wert auf die Ordnung der Dinge, eine verlässliche Engmaschigkeit, in der das eine das andere ergab, dieses jenem folgte, keine Aufregungen die Gewohnheit des Immers durchbrachen. Die Zucker- und Tablettendosen standen akkurat in einer Reihe, jeder Gegenstand hatte einen Platz, der so genau besetzt war, dass, war er nicht da, ein heller Fleck – ein Kreis, ein Quadrat –, kleine lichte Objektgeometrien seine Abwesenheit anzeigten. Die Räume waren trocken und ungesund warm. Die Fenster hielt er so lange geschlossen, bis er das Gefühl bekam, in dem kleinen Haus zu ersticken, öffnete sie erst, wenn ihm schien, die Luft des Zimmers wäre mit dem nächsten Atemzug aufgebraucht, so sorgfältig haushaltete er mit ihr, so streng rationierte er die Welt. Draußen gab es die ersten Tage eines stummen Frühlings, von dem man stets fürchtete, er würde wieder vergehen und zum Winter werden, weil niemand da war, um ihn anzusehen. Die Vögel saßen auf den Ästen mit schiefgelegten Köpfen und sangen vom Süden, ohne Publikum und ohne Applaus. Die Welt war seit Wochen ein Gespensterdrama, ein Schauspiel des Unsichtbaren, ein Theaterstück der Leere. Alles geriet durcheinander. Die Schreckensbilder blieben aus, nichts Katastrophisches zeigte sich am Horizont, und doch war nichts geblieben, wie es gewesen war. Es wurde der Wirklichkeit
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nichts Ungewöhnliches hinzugefügt auf den ersten Blick, aber ihr begannen die Einzelheiten zu fehlen, winzige Dinge, die man vormals kaum bemerkt hatte, fielen einem nun an ihrer Abwesenheit auf. Die Stadt litt an Schwindsucht, verlor ihre Gewohnheiten und ihren Trubel, blieb als starres Gerüst zurück. Die Tiere schauten nach links und nach rechts und schlüpften in die Lücken. Die Straßen waren entvölkert, der Verkehr war ausgedünnt, und wenn man einen Menschen sah, sah man ihn in einem Fenster hinterm Vorhang stehen. Einmal, so schien es Herrn Sand, lief eine Gestalt mit Mundschutz durch die Ferne, gerade so weit weg, dass man sich doch nicht ganz sicher sein konnte. Johann Sand schlafwandelte durch die Tage, einer war wie der andere, und ihm, dem Pünktlichen, dem Strengen, kam bald vor, als lebte er mit Uhren ohne Zeiger, so sehr glichen sich die Stunden, so wenig Anfang und Ende fand er in ihnen. Nur der regelmäßige Atem seiner Frau in der Ecke des Wohnzimmers schlug mitunter aus, wenn er zum Keuchen oder zum Pfeifen wurde, und wie die Figur einer Kuckucksuhr trat sie ihm dann ins Bewusstsein und zerriss die Stille und die merkwürdige Art der Zeitlosigkeit, die mit ihr kam. Dann schlurfte er durch den Raum, trat mit einem Glas Wasser zu Edith, klopfte das Kissen zurecht und betrachtete sie. Sie schlief einen großen, moribunden Schlaf, aus dem sie kaum mehr erwachte. Es war ein ums
andere Mal, als könnte er nicht nur hören, aber zusehen, wie ihr die Luft aus dem großen Körper entwich, von dem er sich kaum zu erinnern vermochte, dass er vor nicht allzu langer Zeit einmal gestanden, gegangen, gelaufen war und nicht nur gelegen. Ihr Leib schien ihm alle Form verloren
Nie war er sich sicher, wer von beiden wohl einsamer sein mochte mit dem jeweils anderen. zu haben, unordentlich ausgebreitet zu sein auf dem Laken, flach und ohne Muskeln, ein hingeschüttetes Fleisch, ungenügend begrenzt von einer weißen, durchscheinenden Haut voller Altersflecken. Bloß das Gesicht war hübsch, ein Bettgesicht, die Falten von der Liegeposition glattgezogen, mit von der Trockenheit des Zimmers aufgesprungenen Lippen, die er manchmal mit einer Creme befeuchtete, dass sie weiß glänzten. Sie lag so sprachlos vor ihm, wie er ihr gegenüberstand, und nie war er sich sicher, wer von beiden wohl einsamer sein mochte mit dem jeweils anderen. Am Triangel des Aufrichters des Pflegebettes baumelte ein Wunderbaum, wie er in manchen Autos am Rückspiegel hing, und verströmte einen chemischen Zitronengeruch. Die Tage waren alle gleich, nicht einmal
© Martin Schwarz
das Wetter schien sich zu verändern, jeden Morgen wurde dieselbe Schablone von Himmel, Sonne und Wolken aufgezogen, und auch die Temperaturen blieben ohne Schwankungen. Herr Sand studierte die Zeitungen, die immer noch kamen, nicht pünktlich, aber stets irgendwann unter der Tür lagen, sorgfältig von vorne bis hinten, las jeden Satz doppelt, wusste aber auch auf der letzten Seite angekommen nicht mehr, als er ohnehin schon gewusst hatte. Nur die Horoskope waren immer neu, und er las sein eigenes und das seiner Frau, und ärgerte sich oder schmunzelte, je nach Stimmung, wenn der kleine Text ihm die unmöglichsten Dinge vorschlug, sagte, es wäre ein guter Tag für einen ausgedehnten Spaziergang, der richtige Zeitpunkt, um Gewohnheiten zu durchbrechen, oder der Mond stehe günstig, gar die allergrößte Liebe zu
Über die Autorin Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, ist Schriftstellerin und Fotokünstlerin. Ihr neuer Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ ist bei Suhrkamp erschienen.
finden. Seine erwachsenen Kinder schrieben ihm Nachrichten, die er, kaum geöffnet, bloß überflog, die Dringlichkeit an der Zahl der Rufzeichen erahnte, aber sogleich löschte, da er sie nicht gebrauchen konnte. Lieber legte er auf den braunen Fliesenplatten des alten Tisches große Puzzles mit tausenden Teilen, die sich so ähnlich sahen, dass es manches Mal Stunden dauerte, bis er den richtigen
Weil Johann Sand an der Luft sparte, wie an allem anderen, wurde sie ihm mitunter knapp. Ausschnitt gefunden hatte. Riesenhafte Bilder von Pferden und Schwänen, Panoramen staubiger Märchenwelten, entsättigte Königsphantasien vergangener Tage wuchsen zusammen. Jedes vollendete rührte Herrn Sand auf seltsame Art und Weise, und er brachte es nicht übers Herz, es wieder auseinanderzunehmen und wegzuräumen, als hätte er Scheu, eine so intakte, mühsam zusammengefügte Welt in Stücke zu zerbrechen. Wenn er nicht puzzelte, fertigte er Collagen an, mit allem, was er fand, klebte Zeitungsausschnitte, die herabgefallenen Blätter der Zimmerpflanzen und die Grashalme, die in den Ritzen der Fensterbank sprossen, auf ein Blatt Papier, schnitt einmal selbst seiner in der Ecke des Wohnzimmers schlafenden Frau ein bisschen graues Haar ab, das er so nachdenklich wie präzise in sein Werk fügte. Ansonsten schälte er Kartoffeln, fütterte Edith mit weißem, ungesalzenem Reis, versuchte jene Gesten zu reproduzieren, die er an der Pflegekraft beobachtet hatte, bis diese nicht mehr gekommen war, wusch der Kranken die Achseln mit einem Schwamm und lagerte den schweren Körper um, damit er sich nicht wundlag. Er stöhnte, schaffte es mit Mühe, die mechanischen Bewegungen nachzuahmen, aber das Lächeln, das mit ihnen gekommen war, gelang ihm nicht. Weil Johann Sand in diesen merkwürdigen Zeiten an der Luft sparte, wie an allem anderen, wurde
sie ihm mitunter knapp. Dann geschah es, dass er erst das Wohnzimmer, dann das ganze Gebäude um sich herum schrumpfen fühlte, spürte, wie es ihm auf den Leib rückte, sich um ihn legte, so eng, dass ihm schien, er trüge das Haus wie ein starres Kleid in der Form seines Körpers, eine zweite Haut mit geschlossenen Fenstern und versperrter Tür, der er nicht entkam. Für einen Moment glaubte er zu sterben. Stets dauerte es ein paar Sekunden, bis er sich zusammen- und die Fenster aufriss. Immer fuhr augenblicklich ein Wind in den Raum, bewegte die großen Blätter der Zimmerpflanzen wie Segel, wehte bis in die weiße Krankenwäsche und das Haar der Schlafenden, die in der Ecke im Luftzug fröstelte. Tagsüber sah er der Zeit hinterher, übte sich in Geduld und darin, nicht verrückt zu werden in der Kleinheit der vier Wände, versuchte neue Gewohnheiten zu finden, seit ihm klar war, dass er die alten nicht retten konnte. Abends saß er auf einem großen Stuhl in der Mitte des Zimmers, starrte in den Fernsehapparat, kaute scharfen Kaugummi oder aß harte Äpfel aus dem Keller, an denen man sich die Zähne abbrechen konnte. Wurde der Atem seiner Frau schwerer, drehte er die Lautstärke des Programms um einen Punkt hinauf. Am liebsten sah er nach den ewigen Wiederholungen der Nachrichten und Sondersendungen den Wetterbericht an. Noch immer mochte er die Ordnung der Dinge. Er beobachtete gerne, wie der Moderator vor den meteorologischen Karten stand und über Sonnenschein und Niederschlag sprach, die Rolle seines Lebens ausfüllte, einen inbrünstigen Schauspieler der verloren gegangenen Normalität gab, als wolle er den Zuschauer alles davor Gehörte vergessen lassen, mit leuchtenden Augen das prächtige Wetter anpries, auch wenn niemand hinausgehen durfte, um es zu genießen. Wenn auch alle anderen Vorhersagen versagten und die Prophezeiungen ins Leere liefen, im Fernsehen erfuhr man jeden Tag, dass der Himmel von morgen dem Himmel von gestern zum Verwechseln ähnlich sehen würde. Der Stillstand beruhigte Herrn Sand reflexartig. Nur wenn er zu lange darüber nachdachte, bekam er Angst.
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Impressum
Impressum AUS GA B E 1 2 , M Ä R Z 2 0 2 0
3D-Design Teodoru Badiu
Geschäftsführung Niko Alm, Michael Fleischhacker
Lektorat Lucia Marjanović, Marina Paul, Katharina Bacher
Creative Direction New York Sagmeister & Walsh
Bildrecherche Luisa Fohn
Creative Direction Wien Hubertus J. Schwarz
Anzeigen Stergios Prapas, stergios.prapas@qvv.at
Art Direction Edith Heigl
Vertrieb Stephan Frank
Chefin vom Dienst Lucia Marjanović
Verlagsadresse Quo Vadis Veritas Redaktions GmbH Siebensterngasse 21, 1070 Wien
Fotografen dieser Ausgabe Nicole Heiling, Ricardo Herrgott, Christian Lendl, Peter Mayr, Michael Rathmayr
ÖAK Auflagenkontrolle
Druck Styria GmbH Web www.addendum.org, www.addendum.org/shop Abopreis 39 Euro / Jahr, Addendum-Mitgliedschaft 89 Euro / Jahr
Offenlegung nach § 25 Mediengesetz Addendum – die Zeitung erscheint mindestens achtmal im Jahr im Verlag QVV. Bei Addendum finden Sie die Ergebnisse von intensiven Rechercheprojekten, die dem Leitmotiv unserer Organisation folgen: Wir suchen „das, was in der herkömmlichen medialen Berichterstattung fehlt“. Wir agieren dabei vollkommen unabhängig, unser Ziel ist, einen Beitrag zur Wiederherstellung einer gemeinsamen Faktenbasis für eine qualifizierte politische Debatte in Form eines rekonstruktiven Journalismus zu leisten.
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Preise inkl. USt.
Autoren dieser Ausgabe Niko Alm, Marlies Faulend, Luisa Fohn, David Freudenthaler, Valerie Fritsch, Ralph Janik, Martin Kocher, Timo Küntzle, Clara Melcher, Moritz Moser, Elisabeth Pfneisl, Julya Rabinowich, Hubertus J. Schwarz, Thomas Trescher
Österreichische
Herausgeber und Chefredakteur Michael Fleischhacker
Es wird wieder. WIR ALLE WISSEN ZWAR NICHT, WANN. ABER WIR WISSEN, WIE. #STAYATHOME #BREAKTHECHAIN
Kraftstoffverbrauch kombiniert: 2 – 9,2 l /100 km, CO2-Emissionen: 45 – 209 g/km. Symbolfoto. Irrtümer, Druckfehler und Änderungen vorbehalten. Stand: März 2020.
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