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WENIGER BEHANDLUNGSBEDÜRFTIGE JUGENDLICHE BEI LEGALISIERUNG

Die Realität widerlegt erneut die Argumente der Legalisierungsgegner, diesmal die Behauptung, dass freier Zugang für Erwachsene zwangsläufig zu einer Zunahme des problematischen Konsums im Jugendalter führt. Genau das Gegenteil ist der Fall.

ForscherInnen der Temple University in Philadelphia untersuchten den Zeitraum von 2008 bis 2017 in Washington und Colorado. So wurden fünf Jahre zu Zeiten des Verbots und der gleiche Zeitraum während der Legalisierung abgebildet, um zu den folgenden Ergebnissen zu gelangen. Geben wir den ForscherInnen das Wort: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die [Legalisierung von Freizeitmarihuana] in Colorado und Washington nicht mit einer höheren Zahl von Behandlungen einhergeht. Im Gegensatz dazu beobachteten wir in allen US-Bundesstaaten einen signifikanten Rückgang der Zugänge. Es gab einen stärkeren Rückgang in Colorado und Washington in der Zeit nach der Legalisierung des Cannabis für den Freizeitkonsum als in nicht legalisierenden Staaten, obwohl dieser Unterschied nicht signifikant war.“ Forschungsleiter Jeremy Mennis berichtete auch über einen landesweiten drastischen Rückgang. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass durchschnittlich etwa halb so viele junge Menschen sich wegen Marihuanas in Behandlung begeben wollten wie zuvor. Dies stimmt mit der Beobachtung überein, dass die Legalisierung weder auf nationaler Ebene noch in den betroffenen Staaten zu einem Anstieg des Cannabiskonsums bei Jugendlichen geführt hat. Fügen wir hinzu, dass die Legalisierung der Stigmatisierung entgegenwirkt, sodass problematische KonsumentInnen weniger Hemmungen haben müssen, wenn sie Hilfe suchen. Die ForscherInnen stellten abschließend diplomatisch fest, dass sich ihre Studie nur auf die Hilfesuchenden bezieht. Daher könne man nicht sicher sein, ob sich die durch Cannabiskonsum verursachten Störungen ebenfalls verringern oder ob nur die Anzahl der Behandlungen rückläufig ist.

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Christian Rätsch aus Hamburg ist Ethnobotaniker und Ethnopharmakologe. Der kürzlich verstorbener Wissenschaftler ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel und erforscht seit Jahrzehnten weltweit den schamanischen Gebrauch von bewusstseinsverändernden Drogen und ethnomedizinischen Präparaten. Christian Rätsch lebte drei Jahre beim indigenen Volk der Lakandonen in Chiapas, Mexiko, und bereist im Namen der ethnopharmakologischen Forschung den ganzen Planeten – sowie innere Welten. Sein Buch „Hanf als Heilmittel“ war Anfang der Neunzigerjahre als JointVenture-Publikation des Schweizer Nachtschatten Verlags und der deutschen Medien-Xperimente als Softcover erschienen, wenige Jahre später als erweiterte Edition im AT Verlag herausgegeben worden und erschien nun zur Mary-Jane-Hanfmesse in Berlin als wiederum ergänzte Auflage beim Nachtschatten Verlag. Wir haben mit dem Forscher über sein Buch gesprochen.

Das Verbot hat mit Dummheit zu tun

In memoriam Ethnopharmakologen Christian Rätsch

Medijuana: Seit wann wird der Hanf als Heilmittel verwendet? Christian Rätsch: Das ist schwer zu sagen, weil wir für den größten Teil der Menschheitsgeschichte keine schriftlichen Quellen haben. Und archäologische Funde der Hanfpflanze oder ihrer Produkte haben auch keinen Beipackzettel, deshalb kann man sich nur auf die frühesten schriftlichen Quellen stützen. Schon die ersten Aufzeichnungen aus Europa und Asien berichten von Cannabis als Heilpflanze, und das deutet zwei-

felsfrei darauf hin, dass der Hanf in seiner Vielseitigkeit bereits seit der Jungsteinzeit verwendet wurde. Aus dieser Zeit stammen die ältesten Hanfspuren, die bisher gefunden wurden. Es ist klar, dass die nützlichen Eigenschaften des Hanfs von den Menschen recht früh erkannt wurden und dass die Cannabispflanze infolgedessen schon vor langer Zeit in der menschlichen Kultur eine bedeutende Rolle gespielt hat.

MED: War Cannabis auch in Mitteleuropa bzw. im deutschsprachigen Raum als Medizinalpflanze bekannt und in Verwendung?

CR: Ja, eine der ersten schriftlichen Quellen im Deutschen, die sich mit den medizinischen Qualitäten des Hanfs befassten, war die von Hildegard von Bingen, die in einem Kloster in Bingen am Rhein lebte und eine große kräuterkundliche Schrift verfasst hatte. Ihre Erkenntnisse basierten auf griechischen, römischen und arabischen Quellen, aber auch auf der Verwendung des Hanfs in der Volksmedizin. Am wichtigsten scheint mir der Hinweis von Hildegard, dass Hanf für denjenigen gut und nützlich ist, der „gut im Kopf“ ist. Das heißt, dass Gesunde am meisten vom Hanf profitieren. Hildegard von Bingen war überdies eine Visionärin und hat in ihren Visionen „Viriditas“ entdeckt, das ist die „grünende Lebenskraft“, eine Art universale Kraft, die alles im Universum durchfließt und zum Leben bringt. Die Erkenntnis dieser grünenden Kraft ist eventuell darauf zurückzuführen, dass Hildegards Visionen auch etwas mit dem geregelten Umgang mit Cannabis zu tun hatten.

MED: Was für eine Rolle spielte der Hanf in der Volksmedizin unserer Gegend?

CR: Cannabis wurde bei allen möglichen Erkrankungen verwendet, bei Fieber, Erkältungen und allen möglichen Schmerzen, aber auch bei psychischen Leiden wie Depressionen, die früher übrigens nicht so genannt, sondern als Schwermut bezeichnet wurden. Hanf half natürlich auch damals schon bei Appetitlosigkeit und so weiter. Im Grunde wurde dem Hanf dieselbe heilsame Wirkung zugesprochen, wie das heute weltweit der Fall ist.

MED: In alten Apothekerbüchern kann man nachlesen, dass Cannabispräparate einstmals auch gegen vorzeitigen Samenerguss beim Mann Verwendung fanden.

CR: Das stimmt ja auch so. Überhaupt ist der Hanf in sexueller Hinsicht echt hilfreich. Und es ist schließlich nicht schön für den Mann, wenn er vor Übererregung noch vor dem Orgasmus ejakuliert. Letztlich soll diese Indikation in den alten Apothekerbüchern wohl nichts anderes heißen, als dass der Hanf auch für den Sex ein hervorragendes Mittel ist.

MED: Es gab einst auch Haschisch als Mittel gegen Hühneraugen. Bekannt sind zum Beispiel die historischen Zeitungsanzeigen, die für Karrer,s Haschisch gegen Hühneraugen werben. Wie wurde das Hanfharz für die Behandlung von solchen Hautverhornungen verwendet?

CR: Das ist mir auch ein völliges Rätsel. Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll und inwieweit Haschisch gegen Hühneraugen wirksam sein kann. In der Zeit, in der diese Anzeigen erschienen sind, haben die Menschen tatsächlich häufig unter Hühneraugen gelitten. Und wenn die dann schmerzten, sollte man vermutlich Charas (indische Haschischsorte) essen. Anders kann ich mir das nicht erklären.

MED: Wann verschwand der Hanf aus unseren Apotheken?

CR: Eigentlich erst im 20. Jahrhundert. Hanfzubereitungen finden sich noch in den

Christian Rätsch: Hanf als Heilmittel, Solothurn: Nachtschatten Verlag 2016

frühen Ausgaben der deutschen „Pharmakopöe“, die aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen. Richtig verschwunden ist der Hanf also erst, als er mit der Prohibition illegalisiert wurde. Und zwar allein aus politischen Gründen, nicht etwa aus medizinischen.

MED: Was sind deiner Ansicht nach die triftigsten Gründe, die Cannabispflanze als Heilmittel schnellstens in die Gesellschaft zurückzuholen?

CR: Sie ist verlässlich, sie hat eine jahrtausendealte Geschichte als Heilmittel und es gibt kaum eine Pflanze, die so gut erforscht ist wie Cannabis. Darüber hinaus haben wir zahlreiche klinische Belege für die Wirksamkeit des Hanfs, außerdem handelt es sich bei dieser Pflanze um ein natürliches, nebenwirkungsarmes Therapeutikum – und um ein kostenloses dazu, nämlich wenn man es selber anbaut.

MED: Weshalb es den Pharmaunternehmen ein Dorn im Auge ist. Denn die können Cannabis eben nicht einfach so patentieren. Pflanzen sind nicht patentierbar.

CR: Genau, das ist zum Glück nicht möglich. Und deshalb für die Protagonisten des kapitalistischen Gesundheitssystems ein Grund, sich gegen jede Freigabe aufzulehnen. Ohne Patent gibt es keinen Profit, und das ist in unserer Gesellschaft mit ihrem Turbokapitalismus nicht erwünscht.

MED: Sogenannte Fachleute behaupten immer wieder, Cannabis sei als Heilpflanze nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht, dabei ist der Hanf eine der am besten erforschten Pflanzen überhaupt. Wieso werden 10.000 Jahre Erfahrung immer wieder ignoriert? Hat das auch etwas mit wirtschaftlichem Kalkül zu tun?

CR: Ich glaube, das hat mit Dummheit zu tun.

MED: Die heutige Zeit treibt seltsame Blüten: Viele VerfechterInnen von Cannabismedizin sprechen sich strikt dagegen aus, die medizinische Nutzung mit der hedonistischen zu vermischen. Was hältst du davon?

CR: Gar nichts, weil das vermeintlich Hedonistische, dass der Hanf das Bewusstsein erweitert und entspannt und ihm neue assoziative Denkmöglichkeiten eröffnet, die vorher nicht da waren, und auch die Kreativität beeinflusst und so weiter, einen wesentlichen Anteil an der Heilwirkung des Hanfs hat. Ich halte gar nichts davon, dem Hanf seine berauschende Eigenschaft wegzuzüchten. Die Rauschwirkung stellt einen wichtigen Teil der heilkräftigen Effektivität und therapeutischen Nützlichkeit des Hanfs dar.

MED: Eigentlich logisch: Wenn ein Medikament nicht nur Symptome verbessert, sondern gleichsam glücklich macht, wirkt sich das positiv auf den Gesamtzustand des Menschen aus.

CR: Genau so ist es. Wenn es uns durch eine Substanz wie dem Hanf besser geht und wir mehr Lebenslust verspüren, dann ist das selbstverständlich eine gute Basis für ein gesundes Leben. Dann können Kranke besser gesunden. Oder überhaupt erst. Wer keine Lebenslust mehr verspürt, der hat keine Motivation und auch keine Kraft, wieder gesund zu werden. Und da kann der Hanf äußerst hilfreich sein. Wir sprachen eingangs ja schon über seine Wirksamkeit als Antidepressivum bei Schwermut.

MED: Das Thema Sucht und Abhängigkeit wird auch im Zusammenhang mit dem Cannabisverbot immer wieder als zentrales Argument ins Feld geführt. Dabei ist ja bekannt, dass Abhängigkeiten mit psychoaktiven Substanzen behandelt werden können. In deinem Buch kann man lesen, dass das auch mit Cannabis funktionieren kann.

Hast du dafür eine Erklärung? Liegt der Weg zur Suchtfreiheit auch hier in der Erkenntnis oder existieren andere pharmakologische Mechanismen?

CR: Normalerweise funktioniert eine solche Therapie mit Psychedelika auf der Erkenntnisebene. Es ist hier wahrscheinlich kein pharmakologischer Mechanismus, der dafür sorgt, dass jemand plötzlich kein Verlangen mehr nach einem bestimmten Stoff verspürt. Die Erkenntnis, die aus dem psychedelischen Zustand resultieren kann, ist es, die den sogenannten Abhängigen neue Wege, Sicht-, Denk- und Fühlweisen eröffnet. Cannabis ist da nicht so stark. Allerdings bedingt Erkenntnis auch die Bereitschaft und den Willen, einsichtsvolle Erlebnisse zu haben und diese zur Verbesserung des eigenen Lebens zu nutzen. Und wenn jemand sensibel und offen ist, kann auch Cannabis ihm zu Einsichten verhelfen. Zum Beispiel zur Einsicht, dass das Universum eine Einheit ist. Aber viele wollen diese Erkenntnis gar nicht haben.

MED: Es passiert gerade in Sachen Hanfmedizin zurzeit Immenses in der Welt. PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und sogar die Medien sprechen sich immer öfter für eine Revision des BtMG aus. Mehr noch: Vom Mutterland der Prohibition geht

fotos: CR/ZVG

allmählich die Aufweichung des CannabisTabus aus. Glaubst du, dass wir die irrsinnige Verbotspolitik bald überwunden haben werden?

CR: Im Vergleich zu früheren Euphoriewellen der Legalisierungsbewegung tut sich heute tatsächlich etwas auf diesem Gebiet. Wann wir die Verbotspolitik überwunden haben werden, ist nicht vorhersehbar. Aber radikale und weitreichende Veränderungen können auch über Nacht geschehen. Das kann mit dem Hanf auch passieren. Das, was zurzeit in der Welt in dieser Hinsicht vor sich geht, könnte tatsächlich auf eine Legalisierung hinauslaufen. Was ich natürlich hoffe.

text: Markus Berger

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