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Marcel A. Widler
from LEADER März 2022
by MetroComm AG
Der Automobil-Mediziner
Das Oldtimer Zentrum Ostschweiz ist einer der bedeutendsten Handels- und Dienstleistungsanbieter der Schweiz in Sachen Oldtimerverkauf, -expertise, -pflege und -restauration. Gegründet wurde das Unternehmen 2004. Schon bald kamen eine Werkstatt und eine Lagerhalle hinzu. 2011 erfolgte dann die Lancierung des Oldtimer Zentrums Ostschweiz in St.Margrethen. Jetzt will Geschäftsführer Marcel A. Widler eine schweizweite «Auto-Spitex» lancieren.
Marcel A. Widler, welches Auto fahren Sie zurzeit?
Seit vielen Jahren begleiten mich vor allem britische Automobile. Egal ob sie Land Rover, Jaguar oder Bentley heissen, ich fühle mich wohl darin. Bei den Oldtimern packen mich die meisten Sportwagen aus den 50er- bis 70er-Jahren. In einer Giulietta Spider lacht mein Herz genauso wie in einem Ur-Porsche 911 oder einem Volvo Coupé 1800S. Selbst ein BMW Z1 verzaubert mich heute, denn er ist ein wahres Werk der Ingenieurskunst. Meine Frau liebt ihren Fiat 500 heiss und würde nichts gegen einen Porsche 356 tauschen. Und diese Liebe teile ich mit ihr.
Ihr Ururgrossvater baute ein Postauto, Ihr Urgrossvater gründete 1916 eine Autogarage in St.Gallen, die später von Ihrem Grossvater und Ihrem Vater weitergeführt wurde. Sie selbst haben Automechaniker gelernt, aber eher halbherzig, wie man hört?
Nun ja; während mir mein Vater im Alter von 14 Jahren einen ausgedienten Renault 4 zum «Mechen und Pröbeln» gab (und ich damals die erste Kaltverformung vollzogen habe), hat mich meine Mutter mit Kompendien zu Anatomie, Physiologie und Pathologie gefüttert. Schlussendlich siegte die Tradition meines Vaters, und aus dem angehenden Mediziner für den Menschen wurde ein Mediziner für das Automobil.
Nach der Lehre folgte dann die Berufsmatura mit anschliessendem Studium und technischem Lehrgang bei Renault in Paris.
Ja, die technische Fakultät in Paris hat in mir die Freude an der Konstruktion eines Automobils geweckt. Und dieser Tätigkeit bin ich 16 Jahre lang treu geblieben, habe rund um den Globus gearbeitet, mich kommerziell weiterentwickelt und bin 2001 zurück in meine Heimat St.Gallen. Nach über 20 Jahren Neuwagenentwicklung kehrte 2004 meine Freude am klassischen Automobil zurück, ich restaurierte sie nebenbei und verkaufte sie an Freunde und Bekannte. Als mir Familie und Freunde 2009 ins Ohr flüsterten «Mach doch endlich das, was dir Herzklopfen bereitet», hatte ich die Vision des heutigen Oldtimer Zentrums Ostschweiz, die schon bald Realität wurde.
Neben dem Spass an der Freude, die ein Oldtimer bringt, gelten ältere Fahrzeuge aber auch als gute Wertanlage. Wie wählt man am besten aus?
Wenn Ihnen eine Rolex Daytona nicht gefällt, bezweifle ich die Richtigkeit ihres Erwerbs, auch wenn es sich bestimmt um eine solide Uhr punkto Werterhalt handelt. Genauso verstehe ich einen Oldtimersammler, der mit einem Porsche 356 nichts anfangen kann, obschon es sich um ein begehrtes Sammlerfahrzeug handelt. Eine kleine Erfolgsformel für Investoren existiert aber: Mythos und Erfolgsgeschichte der Marke plus Nachvollziehbarkeit der Geschichte, Originalität und Pflegezustand sowie Erhaltungsmöglichkeit der Technik. Ein Fiat Cinquecento kann durchaus 30000 Franken kosten, wenn diese Kriterien erfüllt sind, aber nur 5000 Franken wert sein, falls nicht.
Neben Ihren Aktivitäten in St.Margrethen sind Sie auch ein Ausbildungsbetrieb für Fahrzeugrestauratoren, und als Prüfungsexperte und Dozent in Zürich und Yverdon leisten Sie einen zusätzlichen Beitrag für die Zukunft des mobilen Kulturgutes. Warum sind Ihnen alte Fahrzeuge so wichtig, heute will doch jeder elektrisch unterwegs sein?
Ein Elektrofahrzeug per se finde ich fahrtechnisch schon fast «sexy». Mit meiner Vergangenheit in der Fahrzeugentwicklung liebe ich das Thema Wirkungsgrad. Und da steht der
Marcel A. Widler:
Werterhalt und Freude.
Gedruckt in der Schweiz
ostschweizdruck.ch
Elektroantrieb ganz vorne. Dass diese Autos fast durchwegs hässlich sind, finde ich gar nicht mal so schlimm. In der Mode ist auch nicht alles schön. Was ich jedoch bei Elektrofahrzeugen überhaupt nicht vertreten kann, sind Produktion und Entsorgung bezüglich Nachhaltigkeit. Hier kann ich jeden nur bitten, auch diese Themen zu bedenken. Mit einem Oldtimer ist es wie mit dem Geschirrspüler oder dem Haus: Sie wurden früher für mehrere Generationen gebaut. Heute geht eine Maschine nach 4.05 Jahren kaputt und ein Haus muss nach 25 Jahren saniert werden.
Das ist mit neuen Autos genauso?
Ja. Ein Oldtimer hingegen ist Erlebnis, Abenteuer und Technik für jedermann. Ein Oldtimer berauscht die Sinne, bietet ein nicht wertendes soziales Umfeld und spricht vor allem genussorientierte Menschen an. Ich kenne keinen Oldtimer-Besitzer, der nicht auch gerne etwas Feines isst, einen schönen Wein mit Freunden teilt, einen Theaterbesuch schätzt oder etwas Abenteurerblut in sich trägt. In meiner Welt ist nicht nur das Automobil wichtig, es ist vielmehr der Mensch, der sich diesem Genuss, der Verantwortung und dem Erhalt des Kulturgutes annimmt.
Dazu passt, dass Sie wachsen wollen. Wann ist es soweit?
Da wir den Qualitätsstandard bei Goodtimer aufrechterhalten wollen, arbeite ich seit 2018 mit Fachleuten aus der Branche am Projekt einer Pflegeorganisation für Sammlerfahrzeuge, und zwar direkt am Standort des jeweiligen Autos. Dafür habe ich ein Unternehmen gegründet, das analog der Spitex vor Ort, also am Standort des Fahrzeugbesitzers, Schätze auf vier Rädern pflegt, betriebsbereit erhält und vor Standschäden bewahrt. Wir werden noch in diesem Jahr mit dem operativen Geschäft im Areal der ehemaligen Maggi-Fabrik in Kemptthal starten und ein schweizweites Pflegenetz aufbauen.
Wie digital ist die Oldtimerbranche heute? Ich habe gelesen, dass NFT auch verwendet werden können, um die Historie eines Wagens in der Blockchain zu verewigen.
Geschichte und Originalität sind wichtige Pfeiler zur Wertermittlung. Wie in der Kunst auch, werden hier viele Unwahrheiten erzählt. Deshalb ist die unveränderbare Archivierung einer Fahrzeugsgeschichte unumgänglich. Was mit hochwertigen Gemälden schon seit Jahren praktiziert wird, hält nun Einzug in die Welt des klassischen Automobils. Deshalb engagiere ich mich für die NFT-Technologie, die wir nach knapp vier Jahren Entwicklungszeit vor wenigen Monaten unter dem Namen «The Motor Chain» auf den Markt gebracht haben.
Ein Oldtimer hat eine Geschichte und kann, trotz sorgfältigster Restauration, wohl nie ganz mit aktuellen Fahrzeugen gleichziehen. Eine gewisse Leidensfähigkeit gehört einfach dazu, wenn man ein Auto fährt, das 40 oder 60 Jahre auf dem Buckel hat, nicht?
Ist es denn Leiden, wenn man überall mit einem Lächeln empfangen, an der Tankstelle positiv angesprochen, in der Gartenwirtschaft zum Kaffee eingeladen wird, im Restaurant den besten Tisch erhält, beim Hotel einen bevorzugten Parkplatz kriegt und selbst die Polizei verzeiht, wenn die Parkscheibe mal vergessen wurde? Und ist es denn so unangenehm, beim Oldtimerfahren ein paar Kalorien mehr zu verlieren als in der bequemen Limousine der Neuzeit? Glauben Sie mir, ein Besuch in einem Oldtimer-Betrieb ist Wellness pur. Und praktisch alle Oldtimerbesitzer nutzen eine Ausfahrt mit Ihrem Klassiker als Ventil und verlassen so auf genüssliche Art ihren Alltag.
Ist das bei der jüngeren Generation von Oldtimer-Käufern auch noch so? Die erinnern sich ja kaum daran, wie es war, mit Choke, mechanischer Einspritzung oder Diesel-Vorglühen unterwegs zu sein.
Die junge Generation hat weniger ein Problem mit analoger Technik als vielmehr damit, dass ein Oldtimer auch Pflege benötigt und somit Kosten verursacht. Schön zu beobachten ist, dass die junge Generation sich gerne an Autos der 80er und 90er Jahre orientiert, weil solche oft in aktuellen Filmserien zu sehen sind. Damit diese Leidenschaft bewahrt werden kann, bilden wir Fahrzeugrestauratoren aus und entwickeln Reparaturprogramme für die ersten Automobile mit elektronischer Steuerung.
Sie selbst fahren gerne auch Oldtimer-Rallyes. Was war die bisher eindrücklichste?
Wohl eine Winterrallye quer durch England und Schottland: Nach 72 Stunden ohne Schlaf, mit Dauerregen, unbeschreiblich schlechten Strassen und ebensolchem Essen mussten mein Copilot und ich, nach bald 15 Jahren Teilnahme an unzähligen Rallyes, zum ersten Mal kapitulieren und den Rückweg antreten. Das Auto, ein 1970er Volvo Coupé, verhielt sich tadellos und hat alle Unannehmlichkeiten der knapp 3000 km über Stock und Stein ertragen. Nur wir Menschen mussten aufgeben. Dieses Erlebnis hatte bleibenden Charakter – weshalb wir uns schon bald eine neue Chance geben wollen (oder müssen). (lacht)
Text: Stephan Ziegler Bilder: Marlies Thurnheer