Manuskript in Arbeit
Vom Ernst des Lebens
Christine Wirth www.christine2006.npage.de https://twitter.com/Yael2006
Arbeitsschritte: Erstformatierung
1
Kapitel 1 Knightsbridge, 1958
U
m zwei Uhr nachmittags stand Rupert Taylor Grayson unter einer erbärmlich tröpfelnden Dusche in seinem Appartement in der Halkin Street und war gerade aufgestanden. Nichts war schöner, als nach einer lauen Nacht erst einmal den Schweiß und die Mühsal der vergangenen Stunden abzuwaschen. Nicht dass er als promovierter Taugenichts und angehender Professor für englische Literatur das Nachtleben mit all seinen „Verlockungen“ ausgekostet hatte; es gab Wichtigeres als das, er war jung und hatte alle Zeit der Welt, die er am liebsten zum Schlafen nutzte, nachdem sein Studentenalltag eher turbulent verlaufen war. Eine dieser Turbulenzen bestand darin, in Oxford Miles Mayhew kennengelernt zu haben, der ihn mit schöner Regelmäßigkeit heimsuchte, und zwar gerade dann, wenn er seine Ruhe haben wollte (und die wollte er eigentlich immer). Weniger zartfühlende, oberflächliche Zeitgenossen würden Grayson für blutleer, zerstreut und lethargisch halten. Miles Mayhew nicht. Schon auf der Uni war er wie eine Klette an Rupert gehangen, während sich Professoren, Dozenten und Kommilitonen einhellig fragten, was jemand an einem Mauerblümchen wie ihm finden konnte, wenn man überdies die Griechisch- und Lateindozenten in die Tasche steckte mit seinem Wissen und in den abendlich stattfindenden Zirkeln die Studenten verzauberte mit seinem poetischen Gemüt. Aber Miles war nicht nur klug und kultiviert, er besaß auch ein großes Herz für Versager wie Rupert Grayson. Für die hatte er ein Gespür, das so untrüglich war wie der dem 2
Blitz folgende Donner. Heimlich mutmaßte Rupert, die Basis ihrer Freundschaft bestünde aus der Berechnung, dass in seiner unscheinbaren Gegenwart Miles’ vielfältige Talente und sein properes, gesundes Aussehen noch strahlender zur Geltung kamen, doch er tat ihm unrecht damit. Dennoch konnte er sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Freunde hatte er aufgrund seiner Verschlossenheit noch nie gehabt, und wenn, dann nur Klassenkameraden, die seine Gutmütigkeit und Naivität früher oder später zu ihrem Vorteil ausnutzten und ihn dann mieden wie die Pest. Irgendwann würde auch Miles in Versuchung geführt werden, da war er sich ziemlich sicher. Seine Körperpflege wurde vom Klingeln der Türglocke unterbrochen. Es wäre verständlich gewesen, hätte er den Besucher warten lassen und darauf gehofft, dass er zu einem günstigeren Zeitpunkt wieder käme, doch er rubbelte in aller Eile sein störrisches Haar halbwegs trocken und schlang das Handtuch um die Hüften, um triefnass über das altehrwürdige Wohnzimmerparkett zu lavieren, auf das Mrs. Simms, die Vermieterin, so stolz war. Flecken darauf würden einen Kündigungsgrund bedeuten. Die unverwechselbare, hünenhafte Silhouette des Störenfrieds zeichnete sich vor der Milchglasscheibe der Haustür ab; es war Miles. Als hätte er es vorausgesehen. Außer einen Hausierer oder Vikar hatte er auch keinen anderen erwartet, wenngleich der Kontakt seit ihrem Studienabschluss sporadischer geworden war und auf kurz oder lang ganz einschlafen würde, was Rupert nicht einmal wirklich bedauerte. Er konnte eine Nervensäge sein, dieser Mayhew. Als Rupert öffnete, zwängte sich Miles gegen seine Gewohnheit ohne Begrüßung, dafür mit einem Koffer beladen an ihm vorbei in die Wohnung. Am Eingang musste er den Kopf einziehen. Neben seiner stattlichen Figur, die sich auf fast zwei Meter erstreckte, fühlte sich Rupert, der ebenfalls recht großgewachsen war, in seiner entblößten 3
Schmalbrüstigkeit wie der Zwerg aus dem Märchen. Trotzdem war Miles sein bester Freund, und genauer gesagt auch sein einziger. „Bist du allein?“ Seine Stimme verriet den Oxfordabsolventen, aber keinen Akzent. Den hatte er sich abtrainiert auf der Universität. Rupert selbst war das trotz aller Bemühungen nie gelungen. „Selbstverständlich“, quakte er in breitestem Surreydialekt, über den er sich insgeheim ärgerte, der aber immer wieder durchbrach. „Hast du mich je in Gesellschaft gesehen?“ Hektisch und seufzend fuhr sich Miles durch das dunkle Haar, das er normalerweise mit Brillantine bändigte und um das ihn Rupert nebenbei bemerkt beneidete. Eigentlich hätte er nun eine kleine Spöttelei angebracht, die des Freundes Ruf als Eremit untermauerte. Er unterließ es. Irgendetwas schien nicht zu stimmen. Rupert bot ihm eine Zigarette an, die er mit einer fahrigen Handbewegung ablehnte. Sein graublauer Blick aus beseelten, großen Augen durchbohrte ihn und wirkte zugleich merkwürdig unstet. Rupert fühlte sich bemüßigt, Interesse zu heucheln und schaffte es sogar, ein wenig schroff zu klingen, was ihm umgehend leid tat. „Was ist los? Hast du einen triftigen Grund, in aller Herrgottsfrühe in meine Privatsphäre einzudringen?“ Der Wutausbruch des anderen imponierte Miles nicht über die Maßen; da war er noch ganz der alte. „Paris“, sagte er beiläufig an die Decke, als philosophierten sie über das Wetter. „In einer Stunde fährt ein Zug. Wir werden viel Spaß haben.“ Hätte Miles ihm eine Reise zum Mond offeriert, wäre Ruperts Erstaunen nicht größer gewesen. Er starrte Miles mit offenem Mund an. Daran, dass der es ernst meinte, bestand kein Zweifel. Obwohl Miles einen sehr skurrilen Humor sein eigen nannte, ahnte Rupert, dass er auf irgendeine Weise in
4
der Klemme steckte und ihm in dieser Lage nicht nach Scherzen zumute war. „Ich muss mir das überlegen, Miles …“ „Verflixt, Rupert“, explodierte dieser, zum zweiten Mal völlig gegen seine Gewohnheit. Rupert zuckte zurück. „Ich habe keine Zeit für Überlegungen. Und ich habe dich nicht gebeten, mitzukommen. Ich nehm’ dich einfach mit, verstehst du? Ich hab nämlich kein Geld, um das Hotel zu bezahlen!“ „Geld … sag’ das doch gleich“, murmelte Rupert, täppisch zur Kommode stolpernd. Er wunderte sich, dass der Zeitpunkt des Ausnutzens früher gekommen war als er vermutet hatte und es nicht wenigstens subtiler geschah. Miles Mayhew war der geborene Bonvivant und stammte aus einer reichen und angesehenen Familie, deren Vorfahre ein renommierter Politiker im 17. Jahrhundert gewesen war und von dessen Ruhm die Mayhews heute noch in Gestalt einer Villa in Belgravia zehrten; ein finanzieller Engpass war gewiss nicht der Grund, weshalb er dermaßen aufgelöst bei ihm hereinschneite. „Das kann ich dir geben, einen Augenblick … ich möchte es aber wieder zurückhaben“, fügte er hastig, wie um Entschuldigung bittend, hinzu. „Sobald du dazu in der Lage bist, natürlich. Hat keine Eile …“ Abrupt erhob sich Miles und stellte sich Rupert in den Weg, der vor Schreck beinahe das Handtuch fahrenließ. Er umfasste die nackten Schultern des Freundes (die steil abfallenden Melancholikerschultern, wegen denen sich Miles einmal geprügelt hatte. Rupert hätte froh und stolz sein sollen, in Miles einen so glänzenden Verteidiger gegen die berüchtigten Sticheleien von Burns und Pembroke gefunden zu haben, doch stattdessen fühlte er sich gedemütigt. Zu allem Überfluss hatte Burns ihm bei dem Gefecht die Nase gebrochen, so dass Rupert stets von Schuldgefühlen übermannt wurde, wenn er Miles ins Gesicht sah) und sprach plötzlich sehr leise, als müsse er 5
ihm ein Geheimnis einschärfen, das unter allen Umständen eines bleiben sollte. „Ich will kein Geld, das war ein Scherz. Ich will mit dir nach Paris fahren, das ist keiner. Du warst noch nie dort, oder? Siehst du. Ich tu’ dir einen Gefallen. Nie kommst du raus aus deinem Loch. Das soll sich jetzt ändern.“ „Ich … das geht nicht. Die Bewerbungsschreiben … was soll denn daraus werden?“, protestierte Rupert weinerlich, seine Mundwinkel zogen sich unwillkürlich nach unten. Miles unterschätzte häufig seine physische Kraft; wie ein Schraubstock umklammerte seine Hand Ruperts mageren Oberarm. Sich bewusst werdend, dass er ihm wehtat, lockerte er den Griff. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, die Rupert erst jetzt bemerkte. Eine Haarsträhne, die ihm in die Stirn gefallen war, klebte auf seiner makellosen Haut, und er wischte sie mürrisch zur Seite. „Auf der Uni versauern kannst du dein ganzes restliches Leben noch. Das ist die Gelegenheit, Rupert! Sei kein Spielverderber!“ „Habe ich Geburtstag?“ Jetzt wurde er doch neugierig, oder tat zumindest so. Anders würde er Miles nicht abwimmeln können. Außerdem schien ihn tatsächlich etwas zu bekümmern. Die gehetzte Art war nicht typisch für den sonst so in sich ruhenden Miles. „Zieh dir was an, pack’ ein paar Sachen zusammen und frag nicht lang. Tickets habe ich gelöst, mehr kannst du im Moment nicht verlangen. Keine Sorge, ich komm’ für alles auf.“ Jetzt nahm er doch eine Zigarette aus dem offen daliegenden Etui und zündete sie an. Er inhalierte so heftig, dass sich in seinen Wangen Löcher bildeten. Rupert wagte keine Widerrede mehr. Es war Irrsinn, ohne Nachricht an Mrs. Simms oder seine Eltern das Land zu verlassen, aber in Miles’ Augen trat ein abweisend glasiger Ausdruck, der ihm sagte, dass weiteres Intervenieren zwecklos sei. Tief Luft 6
holend und mit dem für ihn charakteristischen Gezappel, wandte er sich um und öffnete den Wandschrank, um Miles’ Aufforderung Folge zu leisten. Währendessen fühlte er beschämt den Blick des Freundes auf sich, als würde er sich in seinen Rücken einbrennen. Sowie er sich angekleidet und umgedreht hatte, bemerkte Rupert, dass Miles betont gelangweilt seine Fingernägel inspizierte und das offenbar schon eine ganze Weile getan hatte. Vermutlich bildete sich Rupert zuviel ein. Manchmal war er schon ein wenig paranoid, das musste er sich selbst eingestehen. Er war einfach zu oft allein. Eventuell würde ein wenig Abwechslung gar nicht schaden. Sonst wäre er eines Tages ein schrulliger, alter Junggeselle, der sich die Abende mit Patiencen legen vertrieb. Bis auf alt war er ohnehin schon nahe davor. Aber was war eigentlich so verwerflich daran? „Paris liegt in Frankreich, nicht?“ sagte er im Versuch, Miles zur Konversation zu bewegen. Schweigsamkeit kannte er nicht an ihm, und die Stille lastete unheimlich in dem kleinen, vollgestopften Raum. Wie aus einer anderen Welt blickte Miles zu ihm auf und blinzelte. „In Frankreich“, wiederholte Rupert unsicher lachend. „Glaubst du wirklich, wir haben dort Spaß? Ich spreche kein Französisch. Du?“ „Es genügt“, sagte Miles, sein Ton war barsch. Barscher als der von Rupert vor einigen Minuten. Doch verglichen mit Ruperts ‚Schroffheit’ klang sogar das Fräulein vom Amt sauertöpfisch. Als er gewahr wurde, dass er unhöflich reagiert hatte, zwang er sich zu einem Lächeln. „Entschuldige. Ich bin ein bisschen nervös, weil ich Angst hatte, einen Korb von dir zu kassieren. Es bedeutet mir viel, dass du mitkommst (als hätte er – Rupert – eine Wahl gehabt!). Natürlich werden wir Spaß haben, Rupert (er verachtete den laxen Umgangston in Oxford und hatte weder Rupert noch sonst einen Kommilitonen „alter Knabe“ genannt). Weißt du nicht, was das heißt, Paris?“ Er breitete die Arme aus, womit ein Stück 7
der alten Heiterkeit zurückerobert wurde, mit der sich Miles in geselliger Runde gerne schmückte. Rupert fühlte sich etwas besser. „Wein, Weib und Gesang. Und die Liebe, die vor allem. In Frankreich weiß man noch zu leben. Es wird dir gefallen.“ Rupert warf einen bedeutungsvollen Blick auf den chaotisch gepackten Koffer. „Wie lange bleiben wir denn?“ Langsam erhob sich Miles, um das im Übereifer falsch zugeknöpfte Hemd seines Freundes korrekt zu schließen. Er ging bedächtig zuwerke und ohne Scheu, als sei diese fast intime Handlung für ihn eine Selbstverständlichkeit, so wie der große Bruder dem kleinen, noch ungeschickten, die Hosenträger fixiert. Ruperts Adamsapfel hüpfte, als ihm der herbe Duft von After Shave in die Nase stieg, gepaart mit Miles’ Atem, der unter dem Zigarettenrauch verräterisch nach Pfefferminzbonbons roch. Hatte Miles getrunken? Das war nicht seine Art. In den Jahren von Oxford hatte er den Ruf eines Abstinenzlers genossen, das einzige Manko, womit man ihn hatte aufziehen können. Er schniefte. Irgendwie kam er sich nun doch völlig überrumpelt vor. Spontaneität lag ihm nicht, genauso wenig wie das Neinsagen. Wenn er doch bloß nicht so schwach wäre und sich durchsetzen könnte! Es gegen Miles nicht zu können, war zwar keine Schande, kränkte sein ohnehin geringes Selbstwertempfinden jedoch empfindlich. Miles’ volltönende Stimme senkte sich zu einem Brummeln, als er zum guten Schluss fast liebevoll Ruperts Krawatte zurechtzupfte. „Drei Wochen halt’ ich dich aus. Dann kannst du verlängern, wenn’s dir gefällt. Und das wird es, darauf wette ich.“ Wie lange er selbst bleiben wollte, ließ er offen. Als sie schließlich mit Sack und Pack das Appartement verließen, fiel Rupert etwas ein. 8
„Ich bin noch nüchtern und meine Eltern muss ich anrufen…“ „Das kannst du unterwegs“, schnitt Miles ihm das Wort ab, auf einmal hatte er es wieder sehr eilig. Rupert mochte naiv und gelegentlich blauäugig sein; dumm war er nicht. Für Miles war Paris kein Urlaub, soviel stand fest. ~*~ Während der Zugfahrt von London nach Dover verfiel Rupert in grüblerisches Schweigen, da Miles, der ihm gegenübersaß, keinerlei Anstalten machte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, sondern sich sofort hinter „Krieg und Frieden“ verschanzte, als sei ihm Ruperts Anwesenheit unangenehm. Hin und wieder legte er das Buch auf sein Knie und schaute Rupert prüfend an, jedoch nur für Bruchteile von Sekunden, so dass Rupert keine Zeit blieb, sich ein interessantes Thema auszudenken, solange Miles’ Aufmerksamkeit ihm und nicht Tolstoi gewidmet war. Die Luft kam Rupert stickig vor, er öffnete das obere Fenster und schloss es gleich darauf wieder, als ihm die Zugluft den Atem nahm. Miles hatte überhaupt nicht reagiert. Widerstrebend versuchte Rupert, es ihm gleichzutun und griff nach einem Buch, das er in aller Eile in seine Tasche geworfen hatte, doch Emily Brontë gelang es nicht, ihn von seinem Unwohlsein abzulenken. Im Gegenteil, durch das Ruckeln und seiner ungünstigen Sitzposition verschlimmerte sich das flaue Gefühl im Magen. Endlich räusperte er sich und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Da der Freund den Anlass der Reise nicht zur Sprache brachte, würde er versuchen, es unverfänglicher anzupacken. Seinen Dank dafür, dass Miles für alle Kosten aufkam, hatte der mit einer lässigen Handbewegung entkräftet.
9
„Warum willst du ausgerechnet mich mitnehmen? Du hast so viele andere Bekannte. Die hätten sich bestimmt mehr gefreut. Und eigentlich kennen wir uns gar nicht besonders gut.“ Abermals senkte Miles das Buch. In seine Augen trat ein verschmitzter Ausdruck. Er konnte etwas LausbübischVerschwörerisches haben, trotz seiner Weltgewandtheit. „Eben“, sagte er. „Alte Bekanntschaften langweilen mich. Und Frohnaturen sowieso.“ Damit war das Thema abgehakt. Rupert seufzte. Immerhin war Miles bisher ein unaufdringlicher Reisegefährte, fast zu distanziert, fand Rupert. Sollte er nicht um das Wohlergehen seines Begleiters bemüht sein wie der Gentleman, als der er sich so gerne brüstete? Rupert hatte entdeckt, dass der Zug über einen Speisewaggon verfügte, doch da er sich nicht traute, Miles den Vorschlag zu machen, eine Kleinigkeit zu essen, ohne für einen Vielfraß gehalten zu werden, blieb er stumm und mit den Bewegungen des Zuges schwankend sitzen. Ohne dass er es benennen konnte, hatte er das Gefühl, sich daneben benommen zu haben. Als er elend aufsah, nickte ihm Miles ermutigend zu. Missvergnügen oder gar Mitgefühl schien er nicht zu kennen. Wahrscheinlich war es schwer für einen so extrovertierten Menschen, sich in Rupert hineinzuversetzen, der jetzt gerne einen Gin gehabt hätte, um seine Bedenken bezüglich der Reise hinunterzuspülen. Auf der Gangway zur Fähre nach Calais forderten die Aufregung und sein unüberlegtes Handeln, das ihn innerlich aufwühlte, ihren Tribut: plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Er strauchelte, grapschte nach dem Geländer und kämpfte verzweifelt um seine Sinne, dieweil er das Gefühl hatte, auf einer Rolltreppe zu laufen. Es gab kein Zurück. Die Welt, die Rupert vertraut war, seine Bücher, sein Zufluchtsort und alles, was ihm lieb und teuer war, Ruhe und Geborgenheit in seinem Appartement, ließ er hinter
10
sich, und das, davon war er überzeugt, für lange, lange Zeit, wenn nicht gar für immer. Alles, was er noch mitbekam, war Miles’ Arm um seine Taille und ein überraschter Ausruf aus dessen Mund, bevor seine Knie weich wurden wie Gummi und er in Ohnmacht fiel. ~*~ Unaufhörliches Tätscheln auf sein Gesicht brachte ihn wieder zu sich. Um dem auszuweichen, warf er den Kopf zur Seite und stöhnte theatralisch. Miles oder irgendjemand aus der um ihn herumstehenden, gaffenden Menge hatte ihn in einen der Liegestühle an Bord verfrachtet und in eine braune, kratzende Decke gewickelt. Die Hoffnung, schlecht geträumt zu haben, zerplatzte jäh. Vor ihm hockte sein Freund und stieß einen Stoßseufzer aus. „Rupert! Alles in Ordnung mit dir? Mach das ja nicht noch einmal! Ich war außer mir vor Sorge. Du bist doch nicht krank?“ Er schickte sich an, aufzustehen, die Sensationslust der Passagiere und des Fährenpersonals war ihm peinlich, zu seinem Schreck lief er puterrot an. Sanft, aber bestimmt drückte Miles ihn in den Stuhl zurück. „Bleib liegen. Der Kapitän lässt dir einen Whisky bringen, danach geht’s dir besser.“ „Oh Gott“, ächzte Rupert und versuchte den Kopf zu heben, der immer noch schwirrte. Alles drehte sich, er glaubte, in ein tiefes Loch zu fallen, aus dem es kein Entrinnen gab. „Kein Whisky. Ich habe – habe nicht gefrühstückt, das wollte ich dir noch sagen … seit heute morgen.“ Eine adrette Blondine in Uniform kredenzte ihm ein Glas Whisky, das er automatisch auf Ex leerte. Langsam und ein wenig enttäuscht zerstreuten sich die Schaulustigen; es war kalt an Deck. Der Wind zauste Miles’ Deckhaar, als er sich aufrichtete und, die Fäuste in den Rücken stemmend, den Blick über den Kanal schweifen ließ. 11
„Ich hol’ dir was zu essen“, erbot er sich, sah Rupert aber nicht an. Doch der hatte keinen Hunger mehr. Eher hätte er sich in die schäumende Gischt am Heck der Fähre gestürzt und wäre nach Dover zurückgeschwommen als einen Bissen hinunterzuwürgen. Er hatte nicht gewusst, dass Heimweh so schmerzhaft sein konnte. „Mir ist kalt“, jammerte er. „Lass uns reingehen.“ Miles half ihm gegen seinen Willen auf und stützte ihn fürsorglich, genauer gesagt hievte er den Freund fast fünf Zentimeter über den Boden zum trockenen Unterstand. „Bald sind wir drüben auf dem Festland“, tröstete er Rupert, der ihm noch blasser schien als sonst und auf dessen Gesicht sich hektische Flecken abzeichneten, die er als Indiz einer schwerwiegenden Magenverstimmung deutete. Kein Wunder, dass er so schmächtig war wie ein Grashalm, wenn er mit seinem Sinn fürs Unpraktische und dem stundenlangen Brüten über Lektüre selbst die Nahrungsaufnahme vergaß. Im Stillen wettete Miles, dass Rupert noch nicht einmal ein Spiegelei braten konnte. Na ja, er würde ihm noch so manches beibringen müssen … Körperliche Nähe trug nicht gerade zu Ruperts Entspannung bei. Berührungen machten ihn nervös, er konnte es nicht verhindern. Überdies schmeichelte ihm paradoxerweise Miles’ Aufmerksamkeit mehr als die Prügelei es seinerzeit getan hatte, und so konnte er sich nicht entschließen, was ihn mehr aufregte: Miles’ starke Präsenz oder seine beinahe aufopferungsvolle soziale Ader, die sogar für Rupert da war. Als sie sich auf einer Bank niederließen, zauberte Miles ein Sandwich aus seiner Tasche und reichte es Rupert. „Du musst was essen“, meinte er entschlossen. „Oder ich lass’ dich wieder nach Dover zurückpaddeln. Wenn du sonst irgendwas brauchst in Zukunft, scheu’ dich bloß nicht, es mich wissen zu lassen. Falsche Bescheidenheit hat schon so manchen Idiot Kopf und Kragen gekostet.“
12
Der Rest der Überfahrt verlief ohne weitere Zwischenfälle. Der Himmel klarte auf, und mit dem durchbrechenden Sonnenstrahl fasste Rupert ein Quentchen Hoffnung, dass es doch nicht so übel sei, auf Reisen zu gehen. Nach dem Imbiss belebte ihn ein wenig Unternehmungsgeist, seine bleichen, eingefallenen Wangen röteten sich in diffuser Vorfreude. Mit Miles an seiner Seite wäre er für jegliche Unannehmlichkeiten gewappnet. Außerdem war es ja nicht so, als entführte man ihn. Er konnte jederzeit zurück, Miles hatte es versprochen. „Glaubst du, es gibt hübsche Mädchen in Paris?“ fragte er verschämt kichernd und knuffte Miles linkisch in die Seite. „Bestimmt“, antwortete Miles geistesabwesend, doch man hörte ihm die Freude über Ruperts schlagartige Verwandlung an. „Ich hab gehört, die sollen hübscher sein als unsere.“ Er vergrub sich wieder in seinem Tolstoi und beachtete Rupert nicht mehr, der sich bis zum Ende der Fahrt mit Däumchendrehen begnügen musste und schon wieder von Gewissensbissen geplagt wurde.
13
Kapitel 2
D
as erste, das Rupert an Frankreich feststellte und am Abend verdrießlich in sein Tagebuch notierte, war die übertriebene, nach seinem Dafürhalten sogar gekünstelte Art. Alles, was die Franzosen machten, musste laut, grotesk und schrill sein. Der Empfang der Fähre zum Beispiel. Keiner der Leute dort kannte irgendjemand auf dem Schiff, und trotzdem umringten sie die Ankommenden wie lang Verschollene, schmatzten einzelne von ihnen ab und begrüßten sie mit unverständlichem Singsang, der wild und wie entfesselt hin und her flog. Als ein zahnloser Greis Rupert in einem - zumindest in seinen Ohren - wenig freundlich klingendem Ton ansprach und ihm dabei feine Speichelfäden ins Gesicht schleuderte, nickte er artig und hakte seine Finger in der Gürtelschlaufe von Miles’ Mantel fest, ehe die Menge ihn von ihm fortgerissen hätte. Unwillkürlich fragte sich Rupert, ob alle Franzosen nichts Besseres zu tun hatten, als den lieben langen Tag am Quai zu stehen oder ob aber die Ankunft einer prominenten Persönlichkeit bevorstand. Mit mondäner Gelassenheit winkte Miles einem Taxi, das wie reserviert auf sie zuschoss. Dienstbeflissen stieg der Fahrer aus und half ihnen unter einem Redeschwall des Willkommens mit dem Gepäck. Aus seiner Servilität hätte man schließen können, dass Miles die Prominenz sei, die erwartet wurde. Ganz so unzivilisiert waren sie also doch nicht, die Franzmänner. Keiner sollte Rupert Voreingenommenheit nachsagen, und so ließ er sich sogar zu einem schüchternen Grinsen an die Adresse des Fahrers hinreißen. Der Kerl redete und redete, es schien ihn nicht zu stören, dass er keine Antwort erhielt; Miles war wieder einsilbig geworden, nachdem er dem Fahrer die Zieladresse
14
mitgeteilt und mit ausgetauscht hatte.
ihm
einige
Höflichkeitsfloskeln
~*~ Ebenso wie seine Bewohner zeigte sich Paris laut, schrill, grotesk und zudem auch noch schmutzig. Der Taxifahrer jagte seinen Wagen hupend und wie ein angestochenes Schwein über die breiten Chausseen, auf denen ohne Sinn und Regeln der Verkehrsordnung getrotzt wurde. Sein rasanter Fahrstil verursachte Rupert erneut Übelkeit. Mehrmals wurde er im Fond gegen Miles geschleudert, der ihn nachsichtig lächelnd gerade hinsetzte. Ganz nach Miles’ exklusivem Geschmack hatte er dem Fahrer eines der teuersten Hotels in der Innenstadt genannt. Ehrfürchtig folgte ihm Rupert durch die vergoldete Drehtür über den spiegelblanken Marmorboden, auf den er zunächst vorsichtig den Fuß setzte, um sicherzugehen, nicht auszurutschen. In den Ecken des hohen Foyers luden polierte, von exotischen Pflanzen und Palmen flankierte Ledermöbel zum Verweilen ein. Eine junge Frau saß mit überkreuzten Beinen in einem Sessel und las konzentriert in einem Modejournal. Schnell wandte Rupert den Blick ab und schloss zu Miles auf, der sich nach einer kurzen Schäkerei mit dem dürren Portier im Hotelregister als Victor Mason eintrug. Verdutzt zog ihn Rupert am Ärmel. „Was soll das? Du bist doch nicht …“ Miles legte den Finger über die Lippen. „Scht. Du wirst mich ab jetzt so nennen. Und so tun, als ob du mein Bruder wärst. Ab heute heißen wir beide Mason, hast du das verstanden?“ Rupert ging auf, dass der Name „Mason“ eine Verballhornung ihrer beider Nachnamen war. „Victor“ lautete Miles’ zweiter Name, nach seinem Vater, so stand es in seinem Abschlusszeugnis. Obwohl er nicht den leisesten Schimmer hatte, was Miles mit einem Pseudonym bezweckte, fand er Gefallen an dem Spiel. Er hatte gar nicht gewusst, dass Miles eine so ausgeprägt kindliche Seite hatte. 15
„Mir soll’s recht sein, Vic.“ Mit dem Kinn auf eine gläserne, messinggefasste Zelle deutend, flüsterte Miles: „Der Portier sagt, du kannst dort drüben telefonieren. Sag’ deinen Eltern, du seiest auf Anraten deines Arztes auf Klettertour in den Schweizer Alpen oder auf Kur in Bad Kissingen. Auf keinen Fall erzählst du ihnen von mir, und dass du aus Paris anrufst. Lass dir irgendwas einfallen, das sie dir glauben.“ Wie ein geprügelter Hund schlich Rupert zum Telefon. Nichts würden sie ihm glauben, dazu kannten sie ihn zu gut. Er war ein schlechter Lügner, der sich sofort verriet. Und er hatte keinen Arzt. Eigenartig auch, dass Miles nicht erwähnt werden wollte. Gut, seine Eltern mochten ihn nicht besonders, hielten ihn für einen schlechten Einfluss auf den tugendhaften Sohn, aber war das jetzt nicht übertrieben? Was sollte er sagen? Als er hinter der Glaswand den Hörer abnahm, wurden seine Finger feucht, sein Atem ging schwer. Miles wartete, er hatte ihn genau im Visier. Rupert fiel ein, dass er keine Ahnung hatte, wie die Auslandsvorwahl für Britannien lautete. Und überhaupt. Wenn er jetzt die Stimme seiner Mutter hören musste, die über den Kanal an sein Ohr drang, konnte er für nichts garantieren. Morgen würde er einen Brief schreiben, das wäre am besten. Auf diese Weise hätte er Zeit, sich seine Worte genau zu überlegen. Miles versicherte er, dass alles geklärt sei. Er schien doch nicht ganz so miserabel zu flunkern: jedenfalls bekundete Miles keinerlei Skepsis. Der Page, ein flinker, drahtiger Bursche um die Zwanzig mit sonnengebleichtem Blondhaar, das durch den Garçonschnitt sein ovales, leicht gebräuntes Gesicht betonte, bestand darauf, ihre Koffer zu tragen, obwohl er viel zu schmächtig wirkte, um die beiden schweren Taschen hochzuwuchten. Er schaffte es dennoch und erntete ein anerkennendes Zwinkern von Miles, das er mit einem
16
Strahlen quittierte und dabei sehr weiße, furchteinflößend lange Zähne entblößte. Im Lift übte er sich im Smalltalk; sein Englisch war beinahe perfekt. „Sie sind zum ersten Mal hier? Die Stadt wird Ihnen gefallen. Alle Touristen mögen Paris, besonders zu dieser Jahreszeit. Ich komme aus Nîmes. Südfrankreich. Mein Onkel hat mich hergebracht. Zuerst wollte ich nicht, aber jetzt, nach zwei Jahren, bin ich froh, dass er so hartnäckig war. Man lernt viele interessante Leute kennen, und manche sind sehr spendabel. – Hier steigen ja ziemlich reiche Leute ab, Politiker, Sänger ... Schauspieler auch. Ich habe ein Autogramm von Gene Kelly, wollen Sie es sehen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nestelte er in seiner Uniformjacke herum und drückte es Rupert in die Hand. „Toll“, kommentierte Rupert lahm, indem er auf das von beneidenswerter Vitalität strotzende Porträt starrte. Der irische Name ließ ihn an ein Mitglied der Sinn Fein-Partei denken, wenngleich die Kostümierung irgendwie deplaziert anmutete. Vielleicht wollte er nicht erkannt werden. Miles wölbte tadelnd die Brauen. „Heben Sie es gut auf. In ein paar Jahren hat es sicher beachtlichen Wert.“ Der Page nahm das vom vielen Herumzeigen zerfledderte Foto an sich und neigte geringschätzig den Kopf ob soviel Gleichgültigkeit, während seine vollen Lippen einen Schmollmund andeuteten. Anscheinend war es nicht das gewesen, was er hatte hören wollen. Die grünen Augen hinter schweren Lidern verdunkelten sich, und er wippte schweigend auf den Fußballen. „Ein gutaussehender Mann und einmaliger Tänzer“, versuchte Miles die Situation zu retten. „Er war phantastisch in Urlaub in Hollywood. Aber fast noch besser als d’Artagnan.“ Die Miene des Pagen hellte sich auf. „Sie haben seine Filme gesehen?“ 17
„So gut wie alle“, bestätigte Miles. „Er ist unglaublich vielseitig. Gute Entertainer gibt es nicht viele, aber Gene Kelly gehört definitiv dazu.“ „Ich habe auch ein Autogramm von Marlene Dietrich“, sprudelte der Page hervor. „Aber das hängt zuhause in einem Rahmen. Wenn Sie möchten, bringe ich es morgen mit – wir sind da. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt, Messieurs.“ Er stellte die Koffer an der Tür ab und wies einladend in die weitläufig geschnittene Suite. Miles gab ihm Trinkgeld, soviel, dass Rupert an diesem Tag beinahe zum zweiten Mal ohnmächtig wurde. Das gesamte Vermögen der Mayhews oder zumindest Miles’ Erbanteil musste offenbar für diesen sonderbaren Urlaub verprasst werden, ganz so, als hätte Miles eine absurde Wette mit sich selbst geschlossen. Ein furchtbarer Gedanke schlich sich in sein Gehirn, den er fast nicht auszudenken wagte. Was, wenn dieser Urlaub Miles’ endgültig letzter war? Womöglich hatte man eine unheilbare Krankheit diagnostiziert und seine Eltern ihm den letzten Wunsch gewährt, der darin bestand, eine andere Kultur kennenzulernen? Aber wäre Miles dann so unbeschwert? Doch es würde seine Geheimnistuerei um den Grund der Reise erklären. Aber auch seine Unbeschwertheit, die – soweit Rupert es beurteilen konnte – weder gekünstelt wirkte noch als Ablenkungsmanöver gedacht war? Eigentlich würde Rupert aufgesetzte Fröhlichkeit doch erkennen, oder? Gott, er wusste sehr wenig über den Menschen, den er für seinen Freund hielt. Aber was wusste er überhaupt über die Menschen? Vom Wechselkurs des Francs war ihm ebenfalls nichts bekannt. Der Page bedankte sich mit dem Lüpfen seiner Kappe und stopfte die Scheine eilig in die Jackentasche, als hätte er Angst, Miles könnte seine Großzügigkeit bereuen. „Wie heißen Sie?“ Miles’ Frage klang weder aufdringlich noch anzüglich. Irgendwie gelang es ihm, immer den richtigen Ton zu treffen. Der Page fühlte sich geschmeichelt, 18
das war ihm anzusehen. Ein wenig verlegen spielte er mit den Knöpfen seines Kragens, ohne dass es ihm bewusst war, da er zu Miles aufsah, der ihn um einen Kopf überragte. „Delaroche, Monsieur. Julien Delaroche.“ „Victor“, stellte sich Miles seinerseits vor und streckte ihm die Hand hin, die der Page umgehend ergriff und herzlich schüttelte. „Hätten Sie Lust, für uns nach Feierabend ein wenig den Fremdenführer zu spielen? Natürlich nur, wenn es Ihnen passt. Ich würde mich sehr freuen – genau wie mein Bruder Rupert. Wir lassen uns nicht lumpen, Julien.“ Der Page nahm Rupert beiläufig aus den Augenwinkeln wahr, sah auf die Uhr und nickte dann. „D’accord. Ich habe in drei Stunden Dienstschluss. Ich warte hier auf Sie.“ Rückwärts entfernte er sich und nickte beiden noch einmal zu, ehe er beschwingt und leise pfeifend den Flur hinunter ging. Neugierig durchstreifte Miles die Suite, in der die Farben Creme, Braun und Weiß in dezenten Schattierungen vorherrschten. Die hohen Decken waren mit Stuckleisten und an die Rokokozeit erinnernden Reliefs verziert, geschmackvolle Drucke von bekannten Gemälden hingen an den Wänden. Erleichtert stellte Rupert fest, dass die Betten durch ein Nachtschränkchen getrennt waren und nicht - wie in Suiten üblich, in denen normalerweise Ehepaare logierten - direkt nebeneinander standen. Seufzend ließ er sich auf das Bett nahe dem Fenster fallen, durch das der Lärm der Straße zu hören war. „Miles.“ Der Freund wandte sich um, er war ganz in die Inspizierung des Badezimmers vertieft gewesen. „Ja?“ „Ich … ähm … ich wollte dich fragen …“ Plötzlich übergoss ihn heiße Röte, er sah zu Boden und verstummte. Falls Miles tatsächlich krank war, hätte er bald niemanden mehr, der sich ein bisschen um ihn scherte. Oh, er verabscheute seinen Egoismus, und konnte doch nicht anders. Obendrein war das Thema von so delikater Natur, dass es ihm schwerfiel, die richtigen Worte zu finden, ohne 19
taktlos zu erscheinen. Sie waren nicht so gut befreundet, als dass man über alles reden könnte. Vielleicht wäre Miles peinlich berührt von Ruperts Indiskretion und würde ihn umgehend wieder nach Hause schicken. Inzwischen war er aber bestrebt, Miles nicht alleine zu lassen in dessen schweren Stunden. Eventuell brauchte er jemanden, der ihm beistand, wenn es hart auf hart kam. Weshalb seine Wahl auf ihn gefallen war, blieb ihm zwar rätselhaft, aber er würde einen Todkranken nicht enttäuschen. Schließlich hatte er seine Ehre. „Was? Raus damit.“ Er näherte sich dem Bett und setzte sich neben ihn, wobei er ihn halb besorgt und halb interessiert musterte. Rupert schluckte, immer noch den Blick auf den teuren Perserteppich zu ihren Füßen geheftet. „Nichts“, murmelte er so unglücklich, dass Miles ihm den Arm um die Schulter legte und ihn kurz und impulsiv an sich drückte. Rupert gab einen erstickten Laut von sich, den Miles falsch interpretierte. „Heimweh? Hast du bald vergessen. Du nimmst das Leben viel zu ernst. Warte, bis Julien uns die Stadt zeigt. Inzwischen werden wir mal prüfen, was die Küche zu bieten hat. Komm. Unten gibt es ein Restaurant.“ ~*~ Appetit hatte er zumindest, und das nicht zu knapp. Rupert dagegen machte schon nach dem zweiten Gang schlapp; Muschelsuppe und Austern als Hors d'oeuvre waren seinem Magen dann doch zu exotisch, und so verspürte er wenig Lust auf das Hauptmenü, das in einem nicht näher definierbaren Fischsammelsurium schwamm. Miles sorgte dafür, dass er sich vor dem Chefkoch nicht zu blamieren brauchte, indem er Ruperts verschmähte Portion auf seinen eigenen Teller häufte. Desgleichen ließ er die Creme Brulée und den Käse nicht verkommen, die als Dessert serviert wurden. „Du brauchst dich nicht zu zieren. Ich lade dich ein“, erinnerte er Rupert. 20
Der Bordeaux war köstlich. Dafür hatte sich Frankreich gelohnt. Auf Befehl brachte der dienstbeflissene Kellner eine weitere Flasche, da Miles registrierte, dass der Alkohol Rupert ein wenig zugänglicher machte und seine Zunge löste. Er prostete Miles zu. „Ich bin gerne hier mit dir“, sagte er, um etwas Nettes zu sagen, das Lallen in seiner Stimme war nur für Miles hörbar. „Ich meine, wann hat man schon mal so eine Gelegenheit? Ehrlich gesagt, war ich noch nie im Ausland. Und ich bin – sehr froh, dass du mich begleitest“, fügte er ein wenig widerstrebend hinzu, weil es sich so anhörte, als habe er Miles zu dieser Tour überredet und nicht umgekehrt. „Das dachte ich mir“, erwiderte Miles und lehnte sich zurück, als der Kellner herbeisprang und das Feuerzeug zückte, um die Verdauungszigarre anzuzünden. Seine Miene drückte Belustigung aus. Darüber verunsichert zerknüllte Rupert die Stoffserviette. Dennoch wirkte der Alkohol soweit, dass er schließlich zu dem Punkt kam, der ihn quälte. Allerdings brachte er seine Frage nur unter unpassend albernem Glucksen hervor. Er setzte mehrmals an, um sie verständlich zu formulieren und dabei nicht allzu pathetisch zu klingen. Mit den Fingerspitzen malte er Kringel auf die Tischdecke. „Stell dir vor, ich habe vorhin gedacht … Na ja, das ist dumm, ich weiß … dass du dir mit der Reise nach Paris einen letzten Wunsch erfüllst …“ Jetzt war es heraus, vor Anstrengung, seinen benebelten Verstand beieinanderzuhalten, keuchte er. Überraschung zeichnete sich auf Miles’ Gesicht ab, doch er lachte nicht. „Wie kommst du denn darauf?“ fragte er in einer Art, die nicht ausschloss, dass Rupert nicht recht haben könnte. Auf einmal bemerkte Rupert, wie attraktiv sein Gegenüber war. Sein Blick glitt fast erschrocken über das dichte, nahezu schwarze Haar, die faltenlose Haut, das energische, glattrasierte Kinn und die beinahe feminin anmutende Physiognomie, in der die schiefe Nase den Gesamteindruck 21
nur mäßig störte, ihr sogar das gewisse Extra verlieh. Die Mischung aus Unschuld und Verletzlichkeit hinter einer eher robusten Erscheinung rührte Rupert zutiefst; ein Hauch von Beschützerinstinkt, der ihm fremd war, schnürte ihm die Kehle zu. Es war lachhaft: Miles brauchte kein Kindermädchen, hatte nie eines gebraucht. Er war es gewohnt, sich alleine durchzuschlagen und auf niemanden angewiesen zu sein, schon gar nicht auf Rupert, für den er wahrscheinlich seit ihrer ersten Begegnung dasselbe empfand wie dieser momentan für ihn. Alle Heiterkeit war aus Miles gewichen, gespannt wartete er auf die Begründung. Auch Rupert drückte der Wandel, den seine Frage hervorrief, aber es lag ihm fern, einen Rückzieher in dieser Sache zu machen. Endlich einmal gelang es ihm, mit Miles ein Mann-zu-Mann-Gespräch zu führen. Mulmig war ihm jedoch schon dabei, und er war froh, seinem Magen nichts allzu Schweres zugemutet zu haben. „Vielleicht – vielleicht willst du dir einfach noch ein schönes Leben hier machen von dem Rest, der dir noch bleibt.“ Ohne es zu beabsichtigen, fasste er über den Tisch nach Miles’ Händen, während seine Augen flehend an seinem Freund hingen, der seinem Blick standhielt und erstaunlich ernst antwortete. „Sterben müssen wir alle mal. Wichtig ist, dass wir das Beste draus machen, bis es soweit ist.“ „Aber du – hast doch noch Zeit?“ Miles grinste und tätschelte beruhigend Ruperts Hand, die immer noch auf seiner lag und sich einen Moment lang verkrampfte. „Wenn mich nicht gleich ein Auto da draußen über den Haufen fährt, ja. Hast du gesehen, wie sie rasen, die Franzmänner? - Mach dir keine Sorgen, ich bin nicht krank. Und selbst wenn es so wäre, was könnte ich denn ändern? Was würdest du ändern? Du würdest dich hinter deinen Büchern verkriechen und Trübsal blasen. Am Ende wären wir aber beide dort, wo alle hingehen, wenn sie abtreten 22
müssen. Eine hysterische Reaktion wäre eine ebenso törichte wie sinnlose Vergeudung von Energie.“ „Aber man sollte schon etwas erreicht haben“, beharrte Rupert leicht schwankend. Miles faltete die Hände und verschränkte sie vor dem Mund, während er Rupert unentwegt ansah. In diesem Augenblick erkannte Rupert, dass ein guter Psychologe an ihm verlorengegangen war, für den er sich als kopfloser, zu Überspanntheit neigender Proband geradezu anbot. Hätte er die Angelegenheit doch lieber auf sich beruhen lassen. Aber Miles fand Gefallen daran, ihn ein bisschen zu triezen. „Wieso denn? Wieso sich abstrampeln für etwas, für das man nicht geschaffen ist?“ „Weil … na, weil es sich so gehört.“ „Rupert, Rupert ... Ist das deine eigene Meinung oder die deiner Eltern? Du bist erwachsen, geh deinen eigenen Weg. Ich hab nichts dagegen, wenn er in Büchern und Einsamkeit liegt. Meiner wäre es aber nicht. Deshalb ist es ganz gut, dass jeder selbst entscheiden kann. Ich will dir nur die Augen öffnen und dir zeigen, dass es noch andere schöne Dinge gibt außer in deiner eigenen Welt. Ich will nicht, dass du nicht dorthin zurückkehrst. Wer wäre ich denn, dir das zu verbieten? Vorher solltest du aber wenigstens über den Tellerrand geschaut haben.“ Mit dermaßen philosophischen Betrachtungen hatte Rupert nicht gerechnet, trotzdem fiel ihm ein Stein vom Herzen. Geringstenfalls hatten sie seine Befürchtung, Miles sei todkrank, wenn nicht widerlegt, dann doch weitgehend gedämpft. Ein wenig besänftigt nippte er am Glas. Es wäre eine Schande, den guten Tropfen stehenzulassen. „Ich werde trotzdem unterrichten, sobald ich eine Stelle habe.“ „Das verdient Respekt“, sagte Miles ohne den Funken von Ironie.
23
Kapitel 3
G
egen Abend und eine Stunde zu spät tauchte Julien auf. Er war im Zivil und hatte sich ordentlich herausgeputzt. Sein jetzt unbedecktes, zurückgestriegeltes Haar glänzte und war länger, als es die derzeitige Mode erlaubte. Das Burschikos-Kindliche, das ihm am Mittag noch angehaftet hatte, war verschwunden. Auch Miles und Rupert hatten sich stadtfein gemacht, doch Rupert, der sich seit dem verspäteten Mittagessen nicht wohlfühlte und an höllischen Kopfschmerzen laborierte, zupfte Miles am Ärmel. Er hatte beschlossen, den forschen Franzosen mit seinem lächerlichen Hang zu Filmstars nicht zu mögen. Insgeheim hoffte er, Miles zum Bleiben zu bewegen. Dumpfe Eifersucht kroch in ihm hoch, sowie er in das vor Freude und Dienstgefälligkeit glühende, frische Gesicht des Jungen blickte. „Geht ihr allein“, raunte er seinem Freund matt zu. „Mir ist nicht gut.“ „Wirklich?“ vergewisserte sich Miles in einem Tonfall, der Rupert sofort verriet, dass seine Finte fehlschlagen würde. „Schade. Aber wenn du meinst … nimm ein Aspirin und leg’ dich ein bisschen hin. Wir sind nicht allzu lange weg.“ „Pass auf dich auf“, brach es aus Rupert heraus, während er ungestüm die Arme um Miles warf; selbst der Page hob erstaunt die kräftigen Augenbrauen ob des unerwarteten Gefühlsausbruchs. Engländer waren steif, traditionsbewusst und in erster Linie Beherrscher ihrer Emotionen, so jedenfalls sagte man, und bisher hatte in ihrem Hotel noch keine Ausnahme die Regel bestätigt. Dieser hagere, miesepetrige Rupert schien aus der Reihe zu tanzen; er konnte ihm nicht böse sein und verbarg ein Lächeln.
24
Wahrscheinlich war diese Vorstellung für seine Verhältnisse geradezu heißblütig. „Ist alles gut, ich pass schon auf“, beschwichtigte Miles Rupert. Er sprach so dicht an Ruperts Ohr, dass Julien ihn nicht hören konnte. „Hast du Angst, du müsstest hier alleine bleiben, wenn mir was zustößt? Dann komm doch einfach mit.“ Mit zusammengekniffenen Lippen wich Rupert einen Schritt zurück. Der Franzose musste ihn für eine schöne Memme halten! „Nein“, beschied er knapp, ehe er sich waidwund in die Suite zurückzog und die Tür behutsam schloss, gegen die er seine Stirn lehnte und in Selbstmitleid versank. In seinen Gedanken konnte er das Gespräch erahnen, das jetzt zwischen dem Boy und Miles stattfand. „Ein komischer Kauz ist Ihr Freund“ – nein, Bruder, korrigierte er - „Ach ja, man muss ihn so nehmen wie er ist, aber manchmal kann er eine rechte Landplage sein. Ganz im Vertrauen, Julien, er ist gar nicht mein Bruder … ich würde mich in Grund und Boden schämen.“ Der Anfall von Schwermut ließ ihn zunächst apathisch verharren. Nach einigen Minuten, in denen er vergeblich versuchte, sich zu fangen, packte er sein Tagebuch und Schreibzeug aus, ging zum Schreibtisch und verfasste akribisch die Geschehnisse des Tages in seinem Journal, wie es ihm von klein auf zur Gewohnheit geworden war. Später fand er etwas Trost darin, die Zeilen durchzulesen, wenngleich sein Bericht lediglich seine Gemütslage widerspiegelte. Da er schon dabei war, schriftlich tätig zu sein, machte er sich danach an den Brief an seine Eltern. Die Niedergeschlagenheit und das Gefühl, ausgestoßen zu sein, gingen mit ihm durch: in dramatischer Weise schilderte er den Grund, weshalb er Hals über Kopf die Heimat verlassen hatte. Nun, mit fast dreißig, habe er sich Gedanken über sein 25
bisheriges Leben gemacht und auf Anraten seines Arztes eine Weltreise in Angriff genommen, da es nicht ausgeschlossen sei, dass Rupert nicht mehr lange zu leben habe, sie wussten ja um seine anfällige Gesundheit (was gelogen war, doch ein sadistisches Vergnügen durchlief ihn, als er diesen Satz niederschrieb). Und wenn er schon abtrat, dann als erfahrener Mann, im Einklang mit sich selbst und den vielen Menschen, die er auf seiner Erdumrundung kennen und schätzen gelernt hatte. Sein Vater wäre enttäuscht von ihm. Seit dem Tag seiner Geburt sah er ihn in Cambridge unterrichten und einer glorreichen Zukunft entgegengehen. Als einziger Sohn lag in dieser Hinsicht eine schwere Bürde auf Rupert, aber er hatte tatsächlich geglaubt, der Wunsch des Vaters sei auch sein eigener. Nun erkannte er, dass er viel zu schüchtern war, um vor einer Horde pickeliger Halbstarke Anglistik zu lehren. Beim kleinsten Fehler würden sie ihn verlachen und verspotten, und Rupert hatte nicht das Selbstbewusstsein, darüber zu stehen oder gar den Rohrstock einzusetzen, würde es nie haben. Obwohl Miles ihm seine Pläne – die strenggenommen die von Grayson senior waren – nicht auszureden versucht hatte, hatte Rupert gespürt, dass er ihn zum Nachdenken anregen wollte mit seiner letzten Bemerkung bei Tisch. Den Freund erwähnte er wie gewünscht nicht. Er wollte es sich nicht verscherzen mit ihm. Obendrein würde es Mum und Dad beunruhigen, und er hing trotz allem mit zärtlicher Zuneigung an ihnen. Allein die Nachricht, er würde sterben, würde seiner Mutter schlaflose Nächte bescheren. Obwohl er sich ein wenig gemein vorkam, änderte er den Inhalt des Briefes nicht. Es war noch recht früh am Abend, er hatte nicht vor, die ganze Zeit auf Miles zu warten wie der gehörnte Ehepartner. Den Brief in die Tasche steckend, schlurfte er durch die Tür und hinunter ins Foyer. Die junge Frau war verschwunden, zwei Portiers waren in ein Gespräch vertieft, vermutlich war 26
es Zeit für den Schichtwechsel. Zu weit vom Hotel würde er sich nicht entfernen, nur ein bisschen die Gegend erkunden. Draußen atmete er tief ein. Der Eiffelturm, den man vom Hotel aus sehen konnte, war beleuchtet, ein großartiges Schauspiel. Einige Minuten lang stand er einfach nur da und genoss den Anblick. Wie jemand, der kein bestimmtes Ziel im Auge hat, schlenderte er die Straße entlang. Paris nahm Miles mit offenen Armen auf, während ihm hier eine – wie ihm schien – berechtigte Feindseligkeit entgegenschlug. Er war nicht so offen, so lebenslustig wie die Franzosen und Miles. Aber war er deshalb weniger liebenswert? Wieder seufzte er. Rechter Hand von ihm blinkte ein elektrisches Schild mit den Buchstaben Open über einem vergammelt wirkenden, dunklen Bistro oder Café. Der englische Schriftzug schließlich war es, der ihn dazu brachte, einzutreten. Dunkelheit empfing ihn, die lediglich von flackernden Lichtern auf den runden Bistrotischen erhellt wurde. Ein schöner Ort, um unsichtbar zu sein und Weltschmerz zu nähren. Hoffentlich war tatsächlich noch geöffnet; außer ihm befanden sich keine Gäste im Raum. Staubige Bouquets aus Trockenblumen und ausgestopfte Tiere reihten sich in grotesker Anordnung auf den Simsen vor den hohen, bogenförmigen Fenstern dicht an dicht. Ein Mann huschte eilfertig an seine Seite, kaum dass er sich gesetzt hatte. Er war etwa in Ruperts Alter und von schlanker Statur, was seine rastlosen Bewegungen unterstrich. Sein glattes Haar war dunkelbraun und glänzte wie Miles’. In dem fein geschnittenen Gesicht leuchteten lebhafte Augen von undefinierbarer, dunkler Farbe, und um das Klischee des Franzosen komplett zu machen, trug er einen Oberlippenbart à la Adolphe Menjou. Fehlen nur noch das Barett und das Baguette unter dem Arm, dachte Rupert wider Willen amüsiert. Eifrig wischte der Mann verbliebene Krümel vom Tisch.
27
„Bonjour, Monsieur. Was darf ich Ihnen bringen?“ Er sprach kehlig und mit starkem Akzent. Rupert zeigte auf etwas in der Getränkekarte. „Alors … un thé avec du citron“, murmelte der Kellner und kritzelte hurtig etwas auf seinen Notizblock. „Avec ou sans sucre?“ „Bitte? – Nein, ohne alles, bitte.“ „Oh“. Einen schlauen Gesichtsausdruck präsentierend klemmte der Kellner den Stift hinters Ohr. „Sie sind Engländer. Neu in der Stadt oder Tourist? Ich habe Sie noch nie hier gesehen, und ich kenne alle Leute hier im Umkreis.“ Ruperts Askese am Mittagstisch war nicht vergessen; sein Magen knurrte vernehmlich. „Gibt es noch etwas zu essen?“ Bedauernd kratzte sich der Kellner am Kopf. „Tut mir leid, Monsieur, aber der Koch hat bereits Feierabend.“ „Das macht nichts“, versicherte Rupert, der auf keinen Fall Umstände machen wollte. „Ich bin gleich weg, wenn Sie schließen möchten.“ Als er nach seiner Jacke griff, die er über den Stuhl gehängt hatte, hinderte der Kellner ihn daran. „Non, non. Ich kann Ihnen nur keine warme Mahlzeit mehr anbieten. Bleiben Sie, s’il vous plaît. Ich bringe Ihnen Ihren Tee.“ Zusätzlich zum heißen Schwarztee servierte er ein Croissant. Als Rupert meinte, er habe es nicht bestellt, winkte er ab und erklärte verlegen, dass es von heute morgen übriggeblieben war und er es nicht übers Herz brachte, es fortzuschmeißen. In seiner Küche sei das unüblich. Außerdem beleidige es seinen Sinn für Wirtschaftlichkeit. Freilich müsse Rupert es nicht bezahlen, aber es sei so gut wie frisch aus dem Ofen. Das war übertrieben. Rupert war trotzdem dankbar, seinen Hunger mit einer landestypischen Kleinigkeit stillen zu können, das kam ihm sehr weltmännisch vor. Still saß er da und sah verträumt und kauend aus dem Fenster. Autos hupten, Nachtschwärmer flanierten lachend und schwatzend vorbei. Einige wagten 28
sich ins Bistro, wurden jedoch von dem jungen Kellner, der hinter dem Tresen die Gläser spülte, wortreich und wild gestikulierend verscheucht. Obwohl sich Rupert die Grobheit nicht erklären konnte, unterließ er es, nach dem Grund zu fragen. Der Kellner seinerseits war ebenfalls nicht auf Kommunikation aus. Er hatte genug zu tun, nachdem er das Radio eingeschaltet hatte, aus dem französische Chansons dudelten. Schließlich hatte er seine Arbeit getan. Seine schmalen Hände an der Schürze trocknend, kam er zu Rupert hinüber und bot ihm eine Zigarette an. Rupert rauchte selten, aber er wollte den Mann nicht vor den Kopf stoßen und nahm dankend an. Ohne darum gebeten worden zu sein, zog der Kellner einen Stuhl vom Nebentisch heran und stellte eine Flasche Bourbon mit zwei Gläsern auf die Tischplatte. „Bekümmert Sie etwas oder sehen Sie immer so traurig drein?“ Die impertinente Geradlinigkeit, noch dazu von einem Fremden, irritierte Rupert. „Bitte? – Pardon?“ „Entschuldigen Sie. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, wie unhöflich von mir! Mein Name ist Thierry“, entsann sich der Kellner den Regeln der Kontaktaufnahme. „Das Café gehört mir. Ich hab’s vor fünf Jahren gekauft. Der Vorbesitzer meinte, der Laden würde brummen, aber ich hätte es besser wissen müssen. Hätte er ihn sonst hergegeben, eh?“ „Wohl kaum“, nuschelte Rupert in sein schon leeres Teeglas. Es erzeugte ein quietschendes Geräusch, als er mit dem Finger darüber fuhr. „Tant pis“, tat Thierry die Pechsträhne leichthin ab. „Es kommen wieder bessere Zeiten. – Was ist mit Ihnen? Sind Sie geschäftlich unterwegs?“ Rupert musste sich seine Fragen zweimal anhören. Zwar besaß Thierry einen beachtlichen Wortschatz, die Aussprache war allerdings gewöhnungsbedürftig. „Ich bin 29
privat hier“, sagte er. „Mit einem Freund. Er wollte mir ein wenig Kultur beibringen.“ Der Kellner lachte, indes er beide Gläser bis zur Hälfte füllte. „Die habt ihr nicht in England, c’est vrai! Aber ist das ein Grund, den Kopf hängenzulassen? Jeder kann lernen. Wenn ihr zurück seid, eröffnet ihr ein Lokal mit französischen Spezialitäten. Darauf stehen die Leute. Exotik, das Neue, Unentdeckte. Allemal besser als euer druckergeschwärztes Fish and Chips.“ „Hm“, stimmte Rupert vage mit einem Schulterzucken zu. Etwas an Thierry ermutigte ihn, mehr von sich preiszugeben, ja sogar ungewöhnlich keck zu werden. Als sie anstießen, lächelte er. „Rupert Grayson. Rupert. Ich komme ab jetzt wahrscheinlich öfter vorbei.“ „Das würde mich sehr freuen, Rupert. In Zukunft solltest du dich aber an die Öffnungszeiten halten. Ich habe eigentlich schon lange geschlossen.“ ~*~ Wie eigenartig. Er hatte einen Freund gewonnen. Es war gar nicht so schwer gewesen. Beflügelt von seiner „Eroberung“ suchte Rupert vor sich hinpfeifend wieder das Hotel auf. Inzwischen hatte der Portier gewechselt; ein Schrank von einem Kerl baute sich drohend hinter der Rezeption auf. Er raunzte ihn an und verlangte seinen Ausweis zu sehen. Rupert geriet ins Schwitzen. Sie waren doch unter Pseudonym eingetragen. Wenn er bloß nicht zu besäuselt war, sich nicht daran zu erinnern. Harte Sachen wie Bourbon waren zwar nett gemeint, doch jedes Mal, wenn man ihm Alkohol anbot, witterte er eine Verschwörung dahinter. In diesem Fall zwischen Thierry und dem Portier. Was natürlich Blödsinn war; glücklicherweise fiel ihm der Deckname wieder ein. Aus Rücksicht auf Ruperts notorische Zerstreutheit hatte Miles einen leicht zu merkenden erfunden.
30
„Mason“, krächzte er. „Sehen Sie bitte im Register nach. Wir haben heute Mittag eingecheckt. Rupert und äh … Victor.“ Brummend händigte ihm der Portier den Schlüssel aus. Er war des Englischen nicht mächtig und darum von vorneherein schlechtgelaunt. Wenigstens schien er Rupert zu glauben. Um zwei Uhr nachts waren die Hotelkorridore vollkommen leer und vermittelten das Vakuum, in das Rupert plötzlich erneut fiel. Alarmiert schlug er mit der flachen Hand auf sein Revers; er hatte vergessen, den Brief einzuwerfen. Typisch! Nun ja, Postmarken hätte er ohnehin zu so später Stunde nicht mehr bekommen, also hatte es auch noch bis Morgen Zeit. Miles war noch nicht da, nur das herbe Parfüm des Pagen hing wie ein flüchtiger Hauch in der Luft. Es fiel Rupert schwer, sich keine Sorgen zu machen, überdies fühlte er sich einsam. Vielleicht hatte der Junge Blut geleckt, weil Miles so unvorsichtig gewesen war, zu demonstrieren, dass Geld für ihn keine Rolle spielte. Vielleicht schleppte er ihn zu seinen Bandenkumpels, die ihm in einer dunklen, gottverlassenen Ecke eins mit dem Knüppel überzogen, ihn ausraubten und hilflos, vielleicht gar gefesselt und geknebelt, liegen ließen. Er zwang sich, seine pessimistische Vision zu unterdrücken und griff nach Sturmhöhe, um sich abzulenken. Irgendwann sank er zur Seite und döste vor sich hin. Eine halbe Stunde war vergangen, das Schlagwerk der zierlichen Uhr auf der Kommode und das gleichzeitige Knarren der Tür weckten ihn. Trotzdem stellte er sich weiterhin schlafend. Julien, der aufgeschlossen hatte, glitt als Erster herein, gefolgt von Miles. Sie wirkten heiter, aber nicht betrunken. Hatten einen schönen Abend gehabt, im Gegensatz zu ihm.
31
Dass er Thierry kennengelernt hatte, entging ihm in seiner aufkeimenden Missgunst. „Au revoir“, raunte Julien. „Es war sehr schön.“ Er schürzte die Lippen, und Miles beugte sich vor, um sich von ihm auf rituell französische Art auf beide Wangen küssen zu lassen. „Quatre fois“, erklärte Julien lachend, als Miles nach dem zweiten Schmatz zurückwich. Ohne Scheu schlang er die Arme um den größeren Mann und vervollständigte seinen Abschied mit den fehlenden zwei Küssen. Miles schien es richtiggehend zu genießen. „Daran könnte man sich gewöhnen“, sagte er. „Bonne nuit, Julien.“ Beim Hinausgehen winkte der Junge kokett. Miles ließ sich auf das Bett fallen und betrachtete Rupert in seinem Sessel, bevor er begann, seinen Schlips zu lösen und die Schuhe auszuziehen. „Schade, dass du nicht dabei warst. Sacre Coeur hätte dir gefallen. Oh, und ich hab dir was mitgebracht.“ Er wedelte mit einen Bogen Papier vor Ruperts Nase und raschelte damit, woraufhin ihm nichts anderes übrigblieb, als seine Fassade vom schlafenden Ahnungslosen einstürzen zu lassen. Langsam ein Auge öffnend nahm er das Blatt an sich. Es zeigte eine wenig schmeichelhafte Zeichnung von Miles im Profil, eher eine Karikatur denn eine Charakterstudie. Der Unterkiefer stand aerodynamisch hervor und passte kaum mehr aufs Papier, und seine Nase, die der Künstler mit einem übertriebenen Haken ausgestattet hatte, erweckte den Eindruck, als tropfe der Eiffelturm aus ihr. Miles kicherte, als er Ruperts verblüfften Gesichtsausdruck sah. „Ich konnte nicht Nein sagen, der Kerl war zu drollig. Wollte mich unbedingt malen. Ist uns sogar nachgerannt und bot es mir zu einem Sonderpreis an. Julien war sauer, aber wir sind Touristen und dürfen uns das erlauben, oder? Außerdem ist das doch eine nette Erinnerung an unsere Reise.“ „Es ist scheußlich.“ 32
„Gut, dass du das auch so siehst. Heb’ es trotzdem auf. Du kannst es ja zuhause rahmen und aufhängen.“ Das war Ruperts Stichwort. „Hat er sie dir gezeigt, die Hosenträgerin?“ Miles stutzte, er schien nicht zu verstehen, darum wurde Rupert deutlicher: „Marlene Dietrich im Schrein.“ Zynismus entsprach nicht seiner Art, doch er musste irgendwie Dampf ablassen. Miles lächelte und legte die Hand auf Ruperts Knie, schüttelte es neckend hin und her. Verbissen spannte Rupert den Muskel an. „Eifersüchtig? Das ist nicht dein Ernst jetzt. Nein, wir waren nicht bei Julien. Er ist ein netter Junge, aber nicht so nett. Lass uns schlafen gehen, ich bin müde.“ Er gähnte, zog Rupert jovial auf die Füße und schob den schweren, großgeblümten Vorhang zum Separee der Schlafstätte zurück. ~*~ Direkt an der Straße war es laut, Laternen flackerten, Hunde bellten, Autoreifen quietschten. Und der seltsame Singsang, durchbrochen von wüstem Geschrei, schien aus allen existenten und nichtexistenten Ecken zu schallen. Ruhelos wälzte sich Rupert hin und her, fand keine befriedigende Schlafposition auf der harten Matratze. Er seufzte. Heimweh plagte ihn und die ungewohnte Schlaflosigkeit, die wohl auf seine überreizten Nerven zurückzuführen war. Hinter dem Nachtschränkchen schnarchte Miles leise, er lag auf der Seite und rührte sich nicht. Er hatte etwas von einem Teddybären, wie er da so friedlich schlummerte. Die Uhr im Wohnbereich gab keine Ruhe, Rupert hörte sie drei schlagen, halb vier – und hätte sie zertrümmern mögen… Schweiß durchtränkte sein Kopfkissen, er steckte wimmernd den Kopf darunter und wünschte sich in sein eigenes Bett. Wäre er doch zuhause, nach einem ausgiebigen Spaziergang im Hyde Park stellte sich der Schlaf stets von selbst ein. 33
Nach ein paar weiteren Minuten stieg Miles aus dem Bett, entfernte den Stecker der Nachttischlampe und hob das Schränkchen mitsamt Lampe hinüber zur Türseite, um das Bettgestell nahe an Ruperts heranzurücken. All dies geschah ohne Erklärung. Erstaunt beobachtete Rupert, wie er sich wieder hinlegte, als sei nichts gewesen, das Gesicht ihm zugewandt. Die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, lullte ihn bald ein, und er sank vor Erschöpfung traumlos in Morpheus’ Reich.
34
Kapitel 4
A
m nächsten Morgen erwachte er früh. Sein Arm ruhte vertrauensvoll über Miles’ breitem Brustkorb, der sich in tiefem Atemrhythmus hob und senkte. Pikiert und erschrocken ob seiner ihm unbewusst ausgeführten Dreistigkeit schnellte er hoch. Miles schlief immer noch, das weiche Haar war ihm in die Stirn gefallen, er erinnerte jetzt eher an einen kleinen Buben als an den nächtlichen Bär, der vom Schlaf übermannt worden war. Rupert konnte nicht umhin, ihm das Haar zurückzustreichen. Aus Eitelkeit, gegen die selbst er nicht gefeit war, trug Miles es immer ein wenig länger, als die Mode diktierte. Zu Studentenzeiten hatte er es sogar schulterlang wachsen lassen, ganz nach dem Vorbild des von ihm hochverehrten Dichters Oscar Wilde. Die Professoren hatten allerdings gefürchtet, dass dies Beispiel aufgrund von Miles’ Einfluss bei den Studenten unter den jüngeren Kommilitonen Schule machte und ihm gedroht, von der Uni zu fliegen, wenn er keinen Friseur aufsuchte. Sein Vater hatte ihm danach ordentlich die Leviten gelesen, und seitdem war ihr Verhältnis nicht mehr dasselbe. Dankbare Gefühle regten sich in Rupert, als er eine Strähne von Miles durch die Finger gleiten ließ. Es war ihm nicht mehr peinlich, dass er seinem Freund während der Nacht sozusagen auf die Pelle gerückt war. Miles verstand ihn, er hatte seine Schlaflosigkeit, sein Befremden in einem unbekannten Land mit ungewohnten Gepflogenheiten nicht lächerlich gemacht und als unmännlich verunglimpft, wie er es eigentlich erwartet und verdient hätte. Stattdessen hatte er ohne viel Aufheben einen Weg gefunden, ihn zu beruhigen, ihm mitzuteilen, dass er nicht auf sich gestellt war. Gott sei Lob und Dank für einen Freund wie Miles.
35
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Er grapschte nach seinem Morgenmantel, der noch unten im Koffer lag, zerrte ihn heraus und streifte ihn rasch über. Ein Dienstmädchen rollte das Frühstück auf einem Teewagen herein. „Bonjour, Monsieur. Ça va bien? Kaffee ist in linker Kanne, Tee in rechter.“ „Danke schön“, sagte Rupert und knotete linkisch den Gürtel des Morgenmantels zu. „Ich weiß nur nicht, ob Sie sich nicht in der Zimmernummer geirrt haben …“ „Mason, non? Ihr Bruder hat Zimmerservice angeordnet.“ „Oh. Dann … vielen Dank. Bekommen Sie Trinkgeld?“ Hastig wühlte er in den großen Taschen seines Kleidungsstücks, die selbstverständlich leer waren. Das Mädchen gluckste. „Nein, Monsieur. Ist alles in Preis inbegriffen.“ Sie knickste charmant und eilte hinaus. Unter der Tafelglocke überraschte Rupert ein üppiges Frühstück mit frisch gepresstem Orangensaft, weichgekochten Eiern, noch warmen Croissants (diesmal blätterig auf der Zunge zergehend), Brot, Marmelade und Käse. „Hey hey hey!“ Noch im Pyjama näherte sich Miles und schnappte sich ein dick mit Butter bestrichenes Croissant aus Ruperts Hand. „Du mampfst mir ja alles weg! Kannst du nicht Bescheid sagen, dass du den Weckdienst verlangt hast?“ „Entschuldige. Ich hatte Hunger.“ Er war wirklich zerknirscht, obwohl es nicht seine Absicht gewesen war, Miles nichts übrigzulassen, wie dieser implizierte, zumal er das Tablett ohnehin nicht alleine geschafft hätte. „Ist schon in Ordnung.“ Beiläufig glättete er beim Hinsetzen Ruperts rötlichbraunen Schopf, der mal wieder in alle Himmelsrichtungen abstand wie ein Rasierpinsel. „Das reicht doch für eine ganze Kompanie. – Wie geht’s deinem Kopf?“ 36
„Besser“, antwortete Rupert gerührt. Gestern hatte er nicht danach gefragt. Er fragte auch nicht nach heute Nacht. „Ich hab dich zuviel trinken lassen“, meinte Miles, diesmal war es an ihm, Reue zu bekunden. „Ich vergesse immer, was das Zeug anrichten kann. Besonders die französischen Weine, die haben es wohl in sich.“ „Oh nein. Mach’ dir keine Vorwürfe. Ich bin selber groß. Gestern hätte mir nichts Besseres passieren können. Mir geht’s blendend.“ „Fein.“ Miles tupfte die Lippen mit der Serviette ab (sie sahen samtig aus, fand Rupert, und erschauderte über den blumigen Vergleich. Was war nur los mit ihm?) und knallte sie achtlos auf den Teller. „Heute ist nämlich der richtige Tag für ein wenig Stil. Wir gehen in den Louvre.“ „Und das Geschirr?“ Rupert deutete auf die Reste der Mahlzeit, die den Anschein einer Fressorgie oder eines Kindergeburtstags erweckte mit den zerklopften Eierschalen, Bröseln, Obstresten und Teespritzern. „Kannst du nachher spülen. Geh, Rupert, sei nicht kindisch! Das holt das Mädchen wieder ab. Dafür wird sie bezahlt. Manchmal könnte man glauben, du kommst vom Land.“ ~*~ Hätte Rupert das Museum mit einem Wort umschreiben müssen, so hätte er es vermutlich als anstrengend bezeichnet, denn der längliche Bau war riesig. Nach einem halben Tag im Louvre hatten sie Plattfüße und immer noch nicht alles gesehen. Kunst hatte nach Ruperts Dafürhalten durchaus ihre Berechtigung; er hatte zwar nicht das, was der Volksmund „Kunstverstand“ nannte, aber er schätzte einige alte Meister, unter ihnen El Greco und da Vinci. Darum freute er sich besonders auf die Mona Lisa, die sich als bittere Enttäuschung entpuppte. Das Gemälde war sehr viel kleiner, als er es sich vorgestellt hatte, und die Farbe trister als auf den Abbildungen, die man in Büchern und auf Drucken sah. 37
Wenn Rupert stehenblieb, um ein Bild genauer zu betrachten, schlug Miles den Ausstellungskatalog auf und las ihm den jeweiligen Erläuterungstext vor. Manches ergänzte er aus dem Gedächtnis oder ließ den Katalog ganz weg; er war sehr belesen, sein profundes Allgemeinwissen setzte Rupert immer wieder aufs Neue in Erstaunen. Allerdings begeisterte Miles sich mehr für Skulpturen. Vor der filigran modellierten Büste eines Mädchenkopfes verharrte er minutenlang, während er alles andere mit den Augen eines Zweitbesuchers wahrgenommen hatte. Er versank derart in den Anblick, dass Rupert ihn vorsichtig anstieß. Wie aus einem Traum erwachend wandte sich Miles ihm langsam zu. „Wunderschön, oder? Dieser Kerl muss sie wirklich geliebt haben.“ Ein Anflug von Schwermut ließ seine Stimme tiefer und rauh klingen, er legte intuitiv den Arm um die Mitte des Freundes, als bräuchte er seelischen und physischen Halt, den ihm die Konfrontation mit der Plastik raubte. „Ein kleines Mädchen“, sagte Rupert. „Aber eigentlich wird sie schon lange tot sein … schon komisch irgendwie. Bist du okay? Wir sind schon viel zu lang auf den Beinen. Besser, wir machen eine Pause.“ Miles schüttelte den Kopf. „Mir geht’s gut. Machst du etwa schon schlapp? Wir wollten noch Oscar und Frédéric unsere Aufwartung machen, hast du das vergessen?“ „Das ist viel zu weit. Du weißt, dass du mich in keine UBahn kriegst! Morgen ist auch noch ein Tag!“ Miles hörte ihm nicht zu, sondern strebte bereits zum Ausgang, den Rupert nie und nimmer oder erst als Greis ausfindig gemacht hätte. Die etwa sechs Kilometer vom Museum zum Père Lachaise legten sie auf Schusters Rappen zurück; Miles hatte einmal einen Klaustrophobieanfall von Rupert in der Londoner U-Bahn miterlebt, er hatte keine Lust, einen zweiten heraufzubeschwören. Dicht an dicht gedrängte 38
Menschenmassen jagten Rupert Angst ein, die sich zu unkontrollierter Panik steigerte, und irgendwie konnte Miles das verstehen, wenngleich er viel zu pragmatisch für solche Attacken und psychisch stabil war. Außerdem war das Wetter schön, die Sonne schien von einem wolkenlos blauen Himmel. Apfel– und Kirschbäume blühten in den Alleen und spendeten wohltuenden Schatten, wenn nicht zwischen den Buden und Cafés die Sonne ihre Rücken wärmte. Miles warf seine Jacke über die Schulter und war am Abend braungebrannt; sein dunkler Typus nahm schnell Farbe an. Unterwegs tranken sie Kaffee in einem der unzähligen, die Straße säumenden Bistros. Julien hatte recht, sie hatten eine gute Jahreszeit erwischt. Ein bisschen fühlte sich Rupert wie in den Flitterwochen; die meisten Frischvermählten verbrachten sie in der Stadt der Liebe, und das auch im Frühling. Der Gedanke erheiterte ihn, und er lachte. „Was ist so lustig?“ fragte Miles lächelnd. Plötzlich wurde Rupert die Tragweite seiner Spinnerei bewusst; er konstatierte, dass er mit gar niemand anderem hier sein wollte als mit Miles. Nicht einmal ein liebes Mädchen könnte seine geistreiche Gesellschaft ersetzen. Jäh errötete er. „Nichts. Gar nichts.“ Als hätte Miles Ruperts Verlegenheit nicht bemerkt, lehnte er sich zurück und winkte einem Garçon. „Ist das nicht herrlich?“ fragte er und verschränkte die Hände im Nacken, während er auf den hinteren Stuhlbeinen wippte. „Ganz Paris nur für uns. Und die vielen aufmerksamen netten Leute hier.“ Der Kellner spurtete an und wurde großzügig von Miles entlohnt. Danach spazierten sie weiter. Vor dem Friedhof verkaufte eine alte Frau Blumen in großen Körben. Miles ergatterte einen Riesenstrauß gelber Lilien. 39
„Du bist verrückt, dass du diese Halsabschneiderei unterstützt“, schimpfte Rupert mit einem Blick auf das runzelige Gesicht des erfreuten Mütterchens, das eifrig die Geldscheine nachzählte. „Du kennst doch gar niemanden hier. Oder liegt deine Tante dort begraben?“ Anstatt eine Antwort zu geben, brach Miles eine Lilie und steckte sie Rupert ins Knopfloch. „Du bist ein alter Geizkragen“, explizierte er gutmütig, als sie die Laube hinterm Portal passiert hatten. „Und gar nicht romantisch. Komm. Ich hab mir einen Plan geben lassen, dann müssen wir nicht lange suchen. Wo dir sowieso schon halb die Füße abfallen.“ Das Grab des polnischen Komponisten übersahen sie um ein Haar, da es unspektakulär im Durchgang lag. Lediglich ein Engel aus weißem Marmor und das gemeißelte Konterfei mit der Überschrift „A Fred Chopin“ verrieten, dass eine berühmte Persönlichkeit hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte. Ehrfürchtig legte Miles eine Blume nieder. „Chopins Herz hat man auf seinen eigenen Wunsch in Warschau begraben“, erklärte er Rupert, den er tief einatmend an seine Seite zog, gleichsam um die Feierlichkeit hervorzuheben, die ihn angesichts des Monuments ergriffen hatte. Es war eine ungezwungene Geste, doch Rupert schluckte hart. „Das sind bloß die Knochen. Aber trotzdem – ist das nicht ein einzigartiger Moment? Ich hätte die Kamera mitnehmen sollen.“ „Ich wusste gar nicht, dass du ein Liebhaber von klassischer Musik bist“, konnte sich Rupert nicht verkneifen. Miles warf ihm einen schelmischen Blick zu, der paradoxerweise gleichzeitig ein wenig traurig wirkte. „Du weißt wenig über mich, Rupert.“ Die restlichen zweiundzwanzig Lilien gehörten Oscar Wilde. ~*~ Ein frischer Wind kam auf, es dämmerte schon, als sie sich auf den Weg zurück zum Hotel machten. Bei jedem Schritt 40
fürchtete Rupert, in der Gegend des Beckens auseinanderzubrechen. Miles dagegen schien ein Besuch seiner Kindheitsidole neu belebt zu haben; er schritt weit und flott aus, so dass Rupert bald Seitenstechen bekam. An einer der grün bemalten Verkaufsbuden, die teilweise bereits im Schließen begriffen waren, besorgte er sich Platten von Chopin, Verdi und Puccini. Die Vorliebe für Klassik und Pflanzen hatte er auf dem College nie herausposaunt. Sie zeigte eine andere Seite von Miles, eine empfindsame, die Rupert nicht kannte, ihn ihm näherbrachte und doch absonderlich war. Andererseits war Miles immer für Überraschungen gut; das und seine Kompromisslosigkeit waren es gewesen, was ihm bei Professoren den Ruf eines Aufwieglers eingebracht hatte. „Miles“, sagte er, vom Laufen ein wenig atemlos. „Ich bin froh, dass wir noch zum Friedhof gegangen sind. Ich – ich mag sie nicht so sehr, weißt du, überall der Moder und die Sterblichkeit, aber – dieser ist tatsächlich etwas Besonderes.“ In Miles’ Gesicht zuckte es, er sah unendlich bekümmert aus. Am liebsten hätte Rupert ihn in die Arme geschlossen und ärgerte sich, dass er sich nicht dazu überwand, denn er hätte nie die routinierte Natürlichkeit, mit der Miles ihn umarmte, und bestimmt nicht nur ihn. Aber Miles würde es gerade jetzt vielleicht helfen. „Findest du? Mich hat er sehr traurig gemacht. Ich will nie wieder dorthin.“ Er hatte seine Eile falsch eingeschätzt. Nicht die Freude über den Pilgertrip war es, sondern eine Flucht von dem Ort, der ihm finster und abweisend erschienen war. Möglicherweise hatte er sich mit dem Spontankauf der Platten darüber hinwegtrösten wollen, wie andere Unglückliche ihre Trauer und Wut in Alkohol ertränkten. Aber im Hotel gab es gar kein Grammophon, jedenfalls nicht in ihrer Suite, die sonst alles hatte, was das Herz begehrte. 41
„Aber – aber … der Louvre – das war doch – hat dir doch gefallen …?“ stammelte Rupert, der sich den schlagartigen Stimmungsumschwung nicht erklären konnte. Das durfte nicht sein, das war ganz und gar verkehrt. Miles war Ruperts Anker, er durfte sich nicht gehenlassen so wie er, darüber war er erhaben. Es kam keine Reaktion bis auf ein Frösteln des anderen. Fieberhaft suchte Rupert nach einer Lösung, den Freund aufzumuntern. Schließlich schnippte er mit den Fingern. „Ich alter Geizkragen lade dich ein“, sagte er und fasste verwegen im Gehen Miles’ Schultern. „In der Nähe vom Hotel habe ich gestern ein tolles Lokal aufgetrieben.“ „Du warst aus?“ Miles’ Ton klang, als fiele er aus allen Wolken. Abrupt war er stehengeblieben. „Hm.“ Rupert kratzte sich am Kopf. „Wenn du’s so nennen willst. Ich dachte …“ „Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, ich find’s schön, dass du dich amüsierst. Gut, lass uns noch was trinken gehen, ich bin dafür.“ Der Unterschied vom ländlich anmutenden Friedhof mit seinen imposanten Bäumen und Blumenanlagen – fast ein Kosmos für sich – zu dem grauen Café in der grauen Straße schmerzte buchstäblich in den Augen. Auf einmal hielt Rupert seine Idee nicht mehr für so zündend; als Miles mit skeptisch zusammengekniffenen Augen den Schriftzug über der Tür entzifferte, wäre er am liebsten vor Scham im Boden versunken. „Bambi’s? Wohin bringst du uns denn? In einen Kindergarten?“ „Drinnen sieht’s ganz gemütlich aus“, versicherte Rupert. „Es war schon so dunkel, auf die Fassade hab ich nicht geachtet.“ Nein. Das war wirklich kein Ort für jemanden aus vornehmer, wenn nicht gar adeliger Familie. Miles mit seinem ausgeprägten Sinn für Ästhetik konnte sich nicht wohlfühlen in diesem Schmuddellokal, das für Rupert heimeligen Charme 42
ausstrahlte, weil es ihn an sein Zuhause erinnerte. Er schob sich vor Miles und machte Anstalten, ihn aufs Trottoir zurückzudrängen. „Bestimmt finden wir noch was Passenderes.“ Miles starrte durch die schmutzige Glastür. „Warte.“ Mit einem aufgeregten Bimmeln der an einer Schnur hängenden Messingglöckchen über der Tür wurde selbige von innen aufgerissen, und Thierry erwartete sie breit grinsend auf der Schwelle. „Rupert, mon ami! Was für eine Freude! Hereinspaziert!“ Einen verdutzten Blick auf Rupert werfend, gehorchte Miles, als sich sein Freund in Bewegung setzte und von Thierry herzlich begrüßt wurde, indem er ihn viermal auf die Wangen küsste wie einen alten, lang ersehnten Bekannten. Wie gestern war der Raum leer, Staubpartikel flimmerten im Licht der halbblinden Fenster, vor denen verwelkte Nelken und präparierte Tierkadaver ein elendes Dasein fristeten. Wenn es ein wenig systematischer und aufgeräumter gewesen wäre, hätte das Café ganz nett sein können. Die verstaubte Arche Noah fand Miles recht originell, doch die Nelken, die einen abartig süßlichen Geruch verbreiteten, waren ein Fall für den Mülleimer. Mit großartiger Geste führte Thierry sie zu einem Fensterplatz, dem besten Tisch, wie er beteuerte. Als er Miles’ Plattensammlung sah, die der auf einen freien Stuhl platzierte, hellte sich sein Gesicht auf. „Monsieur! Sie hören Verdi? Oh, ich liebe die Italiener! Drüben am Ausschank habe ich ein Grammophon stehen. Gestatten Sie, dass ich Ihnen den guten Giuseppe entführe?“ Kurz darauf schwebte das Vorspiel des 1. Aktes von La Traviata über sie hinweg; Miles schloss die Augen und wölbte in einer Art genussvoller Verzückung die Brauen. Fasziniert und zu respektvoll, die zarte Orchestermusik mit banalem Geschwätz zu entweihen, sah Rupert ihm eine magische Weile lang ins Gesicht, ehe Thierry angewuselt kam und den Bourbon mit drei Gläsern abstellte. 43
„Nein danke“, lehnte Miles auf Französisch ab. „Bringen Sie mir bitte ein Glas Tee.“ Schüchtern, da er Angst hatte, Thierry zu verärgern, schloss sich Rupert dem Wunsch an. „Und ein Baguette mit Käse und Tomaten und einen kleinen Salat“, fügte Miles hinzu und wandte sich an Rupert. „Was nimmst du?“ Bevor er sich äußern konnte, fuhr Thierry ihm geradezu panisch und abwehrend mit den Händen wedelnd in die Parade. „Oh non, non, non! Tut mir leid, Monsieur, die Küche ist geschlossen.“ „Warum? Sie haben auf jedem Tisch eine Speisekarte liegen, wie ich gesehen habe. Finden Sie es richtig, Ihre wenigen Gäste an der Nase herumzuführen? Kein Wunder, dass hier nichts los ist.“ Plötzlich ergoss sich ein weinerlicher Wortschwall französischer Sprachkunst über Miles und Rupert, der Kellner war trotz Ruperts verzweifeltem Kopfschütteln nicht zu stoppen. Sein Lamento richtete sich an Miles, nachdem er gewahr wurde, dass Rupert kein Wort verstand. Miles hörte aufmerksam zu, ohne Thierry zu unterbrechen. Schließlich ließ dieser sich ermattet auf den dritten Stuhl am Tisch fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine schmalen Schultern bebten. Miles biss sich mitfühlend auf die Lippe, während er den Franzosen taxierte und ihm ein Taschentuch reichte. Nach einer kurzen Pause, in der sich Thierry etwas abgeregt hatte und nicht mehr ständig schniefte, erklärte er Rupert dessen Antwort. „Er hat seit Monaten keine Gäste. Sein Schwager, der Teilhaber ist und gekocht hat, verlor die Geduld und hatte verdorbene Lebensmittel satt, die keiner bestellt hat, darum hat er gekündigt. Also versucht er, seine Familie allein durch den Getränkeausschank zu ernähren. Das ist aber nicht einfach, wie wir ja sehen. Er hat sein ganzes Kapital in den Laden gesteckt, aber jetzt wird er ihn wohl bald verkaufen müssen.“
44
„Wie schrecklich!“ rief Rupert aus. „Kann man da nichts machen? Einen Kredit aufnehmen?“ „Hat er bereits versucht. Die Bank gewährt ihm keinen. Würdest du das tun? Schau dir den Laden doch an.“ Rupert tätschelte Thierrys Arm, der zuckend auf der Tischplatte lag. „Das tut mir wirklich sehr leid.“ „Ich habe zwei kleine Kinder“, schluchzte Thierry. „Und meine Frau droht damit, mich zu verlassen, wenn sich die finanzielle Lage nicht bessert! Was bleibt mir da übrig, als mich zu besaufen? Tag und Nacht sitze ich in dem verdammten Schuppen und warte auf Kundschaft.“ In düsterer Stimmung schenkte er sich das Whiskyglas halbvoll. Plötzlich war alle Lebendigkeit aus ihm gewichen. Miles konfiszierte die Flasche mitsamt Glas. „Es gibt bessere Lösungen als das. Tun Sie’s nicht, Mr. – “ „Levant“, murmelte Thierry und sah mit trauerumflortem Blick auf. „Meine Freunde nennen mich Thierry.“ „Angenehm. Ich bin Victor“, stellte Miles sich vor und ergriff Thierrys Hand. „Ruperts Bruder.“ Thierrys Augen weiteten sich. „Sie sind Geschwister? Sacre bleu, das hätte ich nicht vermutet.“ Nachdenklich schaute Miles an ihm vorbei. Vielleicht brütet er über etwas, das Thierry aus der Patsche hilft, dachte Rupert hoffnungsvoll. Er ist doch so klug, irgendetwas wird er sich aus dem Ärmel schütteln. Doch der Freund schwieg. Als sie ihren Tee getrunken hatten, legte er einen Betrag auf den Tresen, der Thierrys Dienstleistung weit überstieg. Der Inhaber zierte sich, es anzunehmen, aber Miles bestand darauf, er wurde fast ausfallend ob soviel Sturheit. „Und wenn Sie Ihren Kindern davon Süßigkeiten kaufen – behalten Sie es, in Gottes Namen!“ Er war still und in sich gekehrt, als sie sich schließlich auf den Heimweg machten. Im Hotel traute sich Rupert nicht mehr, das Thema anzuschneiden. ~*~
45
„Ist es in Ordnung, dass das Bett so steht? Wir können es wieder zurechtrücken, wenn du möchtest. Vielleicht macht sich das Zimmermädchen so seine Gedanken …“ „Soll sie doch“, erwiderte Rupert hastig aus dem Badezimmer. Er war so dankbar gewesen für Miles’ Nähe in dieser grauenvollen ersten Nacht, dass er sie zumindest im Urlaub nicht mehr missen mochte. Eine Weile war es mucksmäuschenstill. „Und du? Was denkst du?“ Im Nachthemd und mit Zahnpasta im Mund tappte Rupert ins Separee. Miles hockte auf der Bettkante und machte ein Gesicht, als müsse er Rupert eine Antwort abringen, die beiden nicht gefiel. War da ein ängstlicher Ausdruck in seinen Zügen? Welch eigenartiger Aspekt. Miles und verunsichert! „Ich lese abends sowieso nicht mehr. Du kannst die Lampe haben“, bot er vorsichtig an. „Ich … ich möchte, dass es so bleibt.“ „Okay“, sagte Miles gedehnt. Damit war die Debatte vom Tisch, und keiner von ihnen verlor zukünftig ein Wort darüber, wie merkwürdig es anmutete, wenn sich zwei erwachsene Männer ein Bett teilten. Irgendwann, als er kurz aufwachte, fiel Rupert der Brief wieder ein. Er hatte ihn schon wieder vergessen! Der Teufel hole seine Zerstreutheit! So leise wie möglich krabbelte er aus dem Bett, um sich eine Notiz oder einen Knoten ins Schnupftuch zu machen und gleichzeitig einem dringenden Bedürfnis nachzugehen. Da alles im Dunkeln geschah, stieß er sich den großen Zeh an der Kommode und fluchte unterdrückt. Nachdem er alles zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte, schlüpfte er wieder unter die Decke. Miles lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Das Weiß seiner Augen leuchtete im Scheinwerfer einer Straßenlaterne. Er schlief nicht, und wenn doch, dann mit offenen Augen. Bei Miles musste man auf alles gefasst sein. Rupert riskierte es, ihn anzusprechen.
46
„Kannst du auch nicht schlafen? Ich muss ständig an den armen Thierry denken.“ „So, musst du“, sagte Miles nur. „Hast du kein Mitleid?“ „Nicht wirklich. Er hat sein Dilemma selbst verschuldet. Ein windiger Kerl hat ihm die Bruchbude angedreht. Die hat offenbar noch nie was abgeworfen, aber er hat sich drankriegen lassen. Mit ein bisschen Menschenkenntnis wäre ihm das nicht passiert. Man muss prüfen, was man kauft. Und zwar Anbieter und Angebot.“ „Urteilst du nicht ein bisschen zu hart über ihn? Das hätte jedem so gehen können außer dir.“ Die Matratze knirschte unter Miles’ Gewicht, als er sich Rupert zuwandte und den Ellenbogen aufstützte. Den folgenden Satz sprach er fast zärtlich aus, jedenfalls war er Rupert nicht böse. „Gib Ruhe und lass mich schlafen, du Schleimer.“
47
Kapitel 5
D
ie nächsten Tage glichen dem Paradies, das Rupert sich auf Erden nie erträumt hätte. Sie standen spät auf, faulenzten in Straßencafés und am Seineufer und erkundeten ausgiebig die Stadt, deren Sehenswürdigkeiten augenscheinlich nie zur Neige gingen. Durch das schöne Wetter gewann selbst Ruperts helle Haut eine leichte Tönung, die ihn gesund und erholt aussehen ließ. Und er hatte Gelegenheit, Briefmarken an einem Kiosk zu erstehen, ohne dass Miles davon Wind bekam, der in der Zwischenzeit einen neuen Film für die Weitwinkelkamera erwarb. Er war ein leidenschaftlicher, mitunter waghalsiger Fotograf, wie Rupert, der gelegentlich zu seinem Leidwesen als Modell herhalten musste, erfuhr. Nichts war ihm und seiner Linse heilig. Kein Preis war ihm zu hoch für ein lohnendes Motiv. Entweder kletterte er in schwindelerregende Höhen auf Bäume oder den Obelisken (man hatte die Polizei verständigt mit der Begründung, ein Verrückter begehe Selbstmord), um einen Platz aus ungewöhnlicher Perspektive abzulichten, oder er legte sich rücklings auf den Steinboden für ein Foto von Rupert - der sich mit gespreizten Beinen über ihn stellen musste - unter dem Eiffelturm (Ruperts Lieblingsbild, obwohl er es nie zugegeben hätte). Mitunter fragte er Passanten, deren Hüte oder Kleidung ihm besonders gut gefielen, ob er sie mit seiner Kamera festhalten durfte. Da er sehr höflich und charmant war und sich die Leute zudem geschmeichelt fühlten, konnten die wenigsten ablehnen. Zuhause in England besaß er eine eigene Dunkelkammer zum Entwickeln der Bilder, wie er Rupert stolz erzählte. Doch da er auf unabsehbare Zeit in Paris war, brachte er die in Nullkommanichts vollgeknipsten Filme in die allgegenwärtigen Touristenshops und wartete mit kindlicher Freude auf die Ergebnisse. Seine Begeisterung steckte Rupert 48
an, und als er darum bat, es auch versuchen zu dürfen, schenkte Miles ihm die Kamera und kaufte eine neue. Eine einzige Bedingung war an das Geschenk geknüpft: er durfte Miles nicht fotografieren. Das fand Rupert bedauerlich, und manchmal gelangen ihm heimliche Schnappschüsse, die er Miles jedoch vorenthielt, indem er sie gleich nach der Abholung aussortierte. Abends kehrten sie regelmäßig bei Thierry ein, der sich sehr über seine langersehnten Stammgäste freute. Über die wirtschaftliche Misere des Lokals wurde nicht mehr diskutiert, da der gefühlsbetonte Thierry dank Miles’ oft einschüchternder Art früher oder später in Tränen ausbrach. ~*~ Manchmal waren seine Kinder in der Gaststätte, ein Junge und ein kaum dem Krabbelalter entwachsenes, goldgelocktes Mädchen. Miles mit seiner Riesenstatur und seinem eigenwilligen Humor, der auch äußerst albern sein konnte, zog beide sofort in seinen Bann, und er tollte kläffend mit dem kleinen François auf dem Boden herum, während Nini auf seinem Rücken hing und kreischte vor Vergnügen. Dass Thierry zu trinken begonnen hatte, war jedoch nicht zu übersehen: er sah blass aus, war reizbar und oft übermüdet. Miles hielt sich mit Vorwürfen zurück. Lediglich um der Kinder willen redete er ihm ins Gewissen, aber Thierry winkte apathisch ab und behauptete, er lege es darauf an, einem gebrochenen Mann die letzte Freude zu missgönnen. Auch Julien Delaroche, der Page, hielt Kontakt. Wie viele Leute, denen er begegnete, hatte Miles ihn unbeabsichtigt betört, so dass er in der Absicht, sich bei ihm zu profilieren, drei Karten für die Oper reservierte, nachdem er von Miles’ Faible für klassische Musik gehört hatte. Die Vorführung blieb Rupert unauslöschlich im Gedächtnis; nicht weil eine Primadonna sang, sondern weil er Miles dort zum ersten Mal überwältigende Gefühle zeigen sah. Bei einem verstohlenen Seitenblick auf ihn entdeckte er Tränen in den Augen des Freundes, die hemmungslos über seine Wangen 49
liefen. Da er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, schaute er zu Boden. Julien knuffte ihn und hob fragend die dunklen Augenbrauen, aber Rupert schüttelte nur den Kopf. ~*~ Nach etwa zwei Wochen saß Miles abends auf dem Bett und starrte abwesend vor sich hin. Für die entsprechende Untermalung sorgte Giacomo Puccinis Nessun Dorma; Thierry hatte ihm das Grammophon geborgt, da er keinen Sinn mehr darin sah, es im Bistro spielen zu lassen; das Radio genüge seinen Ansprüchen, da er sich ja nicht nach dem Musikgeschmack der nichtvorhandenen Kundschaft richten musste. In der Ahnung, den Freund quäle etwas, drückte sich Rupert am Türrahmen herum. Endlich glaubte er, auf sich aufmerksam machen zu müssen, bevor Miles an seinem Kummer erstickte, und räusperte sich. „Setz dich zu mir“, forderte Miles ihn auf, ohne den Blick von der Wand zu wenden. „Wir müssen reden.“ Rupert hockte sich auf die Kante und blinzelte nervös. „Etwas Ernstes?“ Ein wenig unsicher musterte Miles den anderen. Seine Augen blickten unstet, fast so wie an dem Tag, als er Hals über Kopf in Ruperts Appartement eingefallen war. „Du musst dich entscheiden, ob du hierbleiben oder nach London zurückgehen willst.“ Rupert schnappte nach Luft. „Jetzt schon? Du willst ... willst du mich loswerden?“ Sehr behutsam griff Miles nach Ruperts Schultern und massierte seine Schlüsselbeine mit den Daumen. Jetzt hielt sein Blick Ruperts gefangen, Rupert wurde sogar ein wenig schwindelig von dem intensiven Zusammentreffen. „Rupert. Du weißt, dass dem nicht so ist und dass ich sehr gern mit dir zusammen bin. Du bist ein angenehmer Begleiter und fragst nicht viel. Das schätze ich sehr an dir, glaub’ mir. Die Leute reden viel zu viel. Du nicht, das macht dich für mich zu etwas ganz Besonderem.“ 50
Es klang nicht einmal anbiedernd oder gar unehrlich, wie er das sagte, und Rupert meinte, in einer Aufwallung von Zuneigung zu vergehen. „Das ist … ich weiß nicht, was ich sagen soll …“ flüsterte er. „Sag gar nichts, ich bin noch nicht fertig. Ich hab dir versprochen, dass du gehen kannst, wann immer du willst. Aber ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen, wenn ich hierbleiben will, und muss wissen, ob ich in dieser Hinsicht mit deinem Schweigen rechnen kann. Das heißt nicht, dass ich dir nicht vertraue ... es wäre mir sowieso lieber -“ Er seufzte und machte eine kleine Pause, in der er Atem holte – „du würdest dich entschließen, bei mir zu bleiben.“ „Das will ich“, nickte Rupert eifrig, erleichtert, dass er keine Last war. „Wir suchen uns gemeinsam Arbeit, das wird schon klappen. Du redest, und ich packe an.“ Von einer großen Bürde befreit, verpasste ihm Miles einen kameradschaftlichen Backenstreich, Rupert vergalt ihn mit einem übermütigen Hieb in Miles’ Bauch, nach dem Miles ihn breit angrinste. „So gefällst du mir.“ In der Nacht, als er annahm, dass Miles fest schlief, grub Rupert für einen Moment in scheuer Dankbarkeit das Kinn in Miles’ Schulterkuhle und schmiegte sich an seinen Rücken. Wer hätte vor vierzehn Tagen noch gedacht, dass Miles ihm zu einer Wahl verholfen hatte, die sein Leben zum Guten hin änderte, ihn von selbstauferlegten Zwängen befreite? Und dass er jemandem, den er mochte, wichtig war. Er am allerwenigsten. Und Paris war wunderschön. ~*~ Gleich am nächsten Morgen wurde Julien in die Arbeitssuche eingespannt. Seine Frühstückspause nutzend, fläzte er sich in der Lounge und rauchte. Als er Miles und Rupert auf sich zukommen sah, sprang er strahlend auf. „Bleib sitzen“, sagte Miles und ließ sich neben ihm nieder. „Ich muss dich um einen Gefallen bitten.“ 51
„Gern. Um was geht’s?“ „Rupert und ich, wir haben beschlossen, ein wenig länger hierzubleiben als wir geplant hatten. Nun ist Paris teuer, und wir sind es außerdem nicht gewohnt, den lieben langen Tag auf der faulen Haut zu liegen. Kurz, wir brauchen einen Job. Du kommst jeden Tag mit vielen Leuten ins Gespräch. Hör’ dich doch ein bisschen um, ja? Vielleicht sucht Gene Kelly zwei Statisten für sein nächstes Musical. Wir sind nicht wählerisch.“ „Kein Problem“, erwiderte Julien dienstbereit. „Das mache ich sehr gerne für euch. Je länger ihr hier seid, desto besser! Schön, dass euch die Stadt so gut gefällt.“ An der Rezeption erkundigte sich Miles jeden Morgen nach Post, was sehr seltsam war; war er doch inkognito eingecheckt. Der Portier – diesmal wieder der dünne, nettere mit den ausgehungerten, mönchischen Zügen – lächelte. „Ja, Monsieur Mason, heute früh ist ein Telegramm für Sie angekommen. Ich wollte es Ihnen aufs Zimmer bringen lassen, aber das Mädchen wollte nicht stören.“ „Danke.“ Rasch schlitzte er das zusammengefaltete Papier mit dem Finger auf. Während des Lesens erhellte sich seine Miene. Rupert freute sich, wenngleich er den Grund für Miles’ gute Laune nicht erriet und keine indiskrete Frage stellen wollte. „Rupert“, betonte Miles bedeutungsvoll und zwinkerte ihm zu. „Wir gehen zu Thierry.“ „Um diese Zeit?“ „Was hier drin steht, wird er so schnell wie möglich erfahren wollen.“ Er gab sich sehr geheimnisvoll auf dem Weg zum „Bambi’s“. Auf Ruperts Quengeln erklärte er lediglich, dass sich Thierrys Leben ändern könne, wenn er es nur wollte. Gespannt harrte Rupert der Dinge, die da kommen sollten. Er hatte Miles unterschätzt, ihm insgeheim Gefühllosigkeit vorgeworfen, dabei hatte er die ganze Zeit gegrübelt, wie dem 52
Barbesitzer zu helfen war. Und nicht nur das, er hatte dementsprechende Schritte unternommen. Thierry hockte trübsinnig hinterm Ausschank; als sie eintraten, sah er mürrisch auf. In kürzester Zeit hatte sein Verhalten von freundlich-zuvorkommend auf abweisendgrollend umgeschaltet, da ihm klargeworden war, dass zwei Stammgäste allein sein Bistro nicht retten konnten. Und es fiel ihnen nicht ein, Werbung für ihn zu machen. Der Alkohol, dem er immer öfter übermäßig zusprach, tat sein Übriges, aus ihm einen Misanthropen zu machen. Es war erschreckend, wie schnell eine Droge einen Menschen ins Abseits spielen kann, sinnierte Rupert schaudernd. Bei dem missvergnügten Blick, mit dem Thierry die beiden bedachte, hätte Rupert, wäre er allein gewesen, schleunigst das Weite gesucht. Miles ließ sich davon nicht beeindrucken. Er winkte fröhlich mit dem Telegramm. „Heute schließt du deinen Laden, Thierry!“ „Tu es fou!“ schleuderte Thierry ihnen entgegen. „Mach’ dich nur lustig über mich!“ „Das ist kein Scherz. Lies das.“ Miles hielt ihm das Telegramm unter die Nase, doch Thierry verstand noch immer nicht. „Ich … lese … lese kein Englisch“, druckste er schließlich hilflos herum. Einen Augenblick war Miles über die Eröffnung verwirrt, dann steckte er den Zettel in die Jackentasche. „Ich habe einen Freund drüben in England“, sagte er. „Der ist Hotelier und verspricht, dir ein paar Tipps zu geben …“ „Davon kann ich mir was kaufen“, unterbrach ihn Thierry bitter. „Alle wollen es doch immer besser wissen als man selber. Und zum Schluss ist man ärmer als eine Kirchenmaus.“ „Lässt du mich ausreden?“ fragte Miles liebenswürdig, als wäre ihm Thierrys Unmut vollkommen gleichgültig. „Du brauchst natürlich Mittel, um den Laden zu renovieren und Lebensmittel zu besorgen. Die stelle ich zur Verfügung.“
53
Thierrys trübe Augen flackerten auf und füllten sich mit Tränen, er nahm Miles’ Hände und drückte sie fest. „Das … tust du?“ „In Zusammenarbeit mit dem Hotelier, ja. Der ist außerdem Bankierssohn. Sein Papa hat dir einen Kredit gewährt, für den ich bürge. Aber du musst etwas tun, und vor allem die Finger vom Schnaps lassen. Benachrichtige deinen Schwager, er soll uns helfen, die Bude auf Vordermann zu bringen, und nachher wieder die Gerichte zubereiten wie vor deiner Flaute. Bei der Instandsetzung werden Rupert und ich helfen, vielleicht trommeln wir noch ein paar Leute zusammen. Je eher wir es geschafft haben, desto schneller kannst du dein Café wieder öffnen. Und wenn wir es gut gemacht haben und es Atmosphäre hat, werden die Leute sich drum prügeln, bei dir essen zu gehen. Dein Standort könnte nämlich nicht besser sein.“ Beiden – Rupert und Thierry – blieb der Mund offenstehen. „Darauf muss ich was trinken“, stotterte Thierry verdutzt. „Cidre, meine ich.“ Miles stellte das Grammophon auf ein fleckiges, von Spinnweben umwobenes Klavier in einer unbeleuchteten Nische, während Thierry den Apfelwein holte. „Das muss weg“, erklärte er. „Sicher ist es total verstimmt. Du spielst doch nicht darauf?“ „Manchmal“, sagte Thierry, dessen Lebensgeister neu entflammt waren. „Für mich selbst. Ich bin nicht so gut, aber beruhigt meine Nerven. Nach Feierabend klimpere ich dann ein wenig.“ Tadelnd fuhr Miles über die Klaviatur und betrachtete seinen staubigen Finger. „Als der Jazz noch nicht erfunden war, oder? Das Ding muss weg, so was ist überflüssiger Ballast.“ Thierry warf sich aufschreiend und schützend vor das Instrument. „Non! Pas du tout! Das geht nicht!“ „Ab heute musst du Opfer bringen, Thierry“, insistierte Miles unerbittlich, er konnte also auch ein Tyrann sein. Doch so wie es aussah, brauchte Thierry eine harte Hand, um auf die 54
Füße zu kommen. „Oder du lässt es korrigieren. Das kostet aber Geld, das ich nicht bezahlen werde.“ „Ich kann es stimmen“, meldete sich Rupert schüchtern zu Wort. Miles drehte sich um. „Du kannst das?“ „Spielen auch. Chopin und Beethoven“, entgegnete er leise, wobei er fürchtete, nach einem schrecklichen Aufschneider zu klingen. Erfreut lächelte Miles und winkte Rupert zu sich heran, mit der anderen Hand zog er den Klavierhocker unter dem Instrument hervor. „Warum hast du mir das nie gesagt? Komm, setz’ dich. Spiel’ irgendwas.“ „Ich … ich weiß nicht, ob ich noch … es ist schon eine Weile her.“ „Liest du Noten?“ Elend nickte Rupert; er hasste es, in den Mittelpunkt gestellt zu werden, und den Gesichtsausdruck von Miles kannte er inzwischen; er bastelte an einem Einfall. Auf dem Notenständer lag die Partitur eines Chansons, das Rupert nicht kannte. Miles bat ihn, es zu spielen. Zunächst irritiert von der schrägen Tonlage, dann aber immer selbstbewusster, als Thierry eifrig nickend bezeugte, dass die Melodie zu identifizieren sei und mitsummte, griff Rupert in die Tasten. Auch Thierry wurde mutiger; er bereicherte die Akkorde mit einem passablen Tenor und wiegte sich im Takt hin und her. Le vent m’apporte des bruits lointains Devant ma porte j’écoute en vain Hélas, plus rien Plus rient ne vient J’attendrai Le jour et la nuit, j’attendrai toujours ton retour … Als Rupert fertig war, klatschte Thierry Beifall, vor Rührung hatte er wieder Tränen in den Augen. Miles sah sehr zufrieden aus, er drückte anerkennend die Schulter des Freundes. „Du 55
bist genial, Rupert. Ich kann gar nicht fassen, dass du mir deine Qualitäten bisher mutwillig vorenthalten hast. Das bauen wir aus.“ Die Konzentration auf das Spiel hatte Rupert einiges abverlangt; er pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht und schnaufte. Sein Blick wanderte flehend nach oben zu Miles. „Ich möchte nicht öffentlich spielen.“ Der klägliche Tonfall reflektierte sein Unbehagen. Schon beim Gedanken an ein kritisches Publikum wurde ihm schlecht. Beruhigend zauste Miles sein Haar. „Warum nicht? Du kannst es doch. Ob zwei oder mehr Leute zuhören, macht keinen Unterschied, du wirst sehen. Wenn du dich erst daran gewöhnt hast, ist es nicht mehr schlimm. Natürlich zwingt dich keiner, aber einmal die Woche gepflegte Barmusik wäre ein Anziehungspunkt. Überleg’ es dir. So was kommt an, und du willst Thierry doch helfen?“ Rupert vergrub die Hände im Haar und seufzte. „Schon.“ Plötzlich stutzte Thierry. „Un moment. Ihr seid Brüder und du wusstest nichts von Ruperts Musikalität?“ Miles war um keine Ausrede verlegen, die wie aus der Pistole geschossen kam: „Wir wurden im Knabenalter getrennt und haben uns erst vor kurzem persönlich kennengelernt. – Und jetzt zum geschäftlichen Teil, Mr. Levant.“ Während Miles mit Thierry bei einer Flasche Selters über die Zukunft des Bistros debattierte, erforschte Rupert das vernachlässigte Klavier. Es stimmte, er kannte sich aus, hatte als Junge Stunden gehabt und sich nebenbei sehr für den Instrumentenbau interessiert. In der Tat hatte er lange Zeit mit der Möglichkeit geliebäugelt, Musik zu unterrichten anstatt englische Literatur, für die er sich letztlich auf Wunsch des Vaters hatte einschreiben lassen. Er hatte das, was man das absolute Gehör nannte, und blühte richtiggehend auf, als er sich des Klaviers annahm. Es war alt, aber noch brauchbar, da selten benutzt. Mit der Zeit entwickelte er eine fast menschliche Beziehung zu dem Instrument. 56
~*~ Spät am Abend beendeten Miles und Thierry fürs Erste die ausschließlich in Französisch gehaltene Besprechung. Rupert war dermaßen in seine Aufgabe vertieft, dass er erst aufmerkte, als Miles ihn rief. Thierry wirkte erschöpft, aber trotzdem optimistisch. Seine Augen funkelten. Beim Abschied umarmte er Miles herzlich. „Ihr seid ein Geschenk du ciel“, meinte er voller Überschwang. „Ich brauche einfach jemanden, der mir hin und wieder in den Hintern tritt. Und falls ich aufgeben will, darfst du mich schlagen, Victor.“ „Ich bin nicht gewalttätig veranlagt“, lachte Miles. „Wenn es dir gelingt, ein paar Helfer zu finden, ist schon viel gewonnen. Und vor allem – heb’ den Alkohol für deine Kundschaft auf.“ „Dann ist das Lotterleben jetzt wohl passé“, mutmaßte Rupert bedauernd auf dem Rückweg. „Warum?“ Unmögliche Fragen zu stellen gehörte eindeutig zu Miles’ Lieblingsbeschäftigung. „Na ja … das hört sich alles nach einem Haufen Arbeit an. Baugenehmigung bei der Stadt einholen, renovieren, ein Lokal unterhalten …“ „Kümmere du dich um dein Klavier. Thierry wird viele Helfer brauchen, aber die treiben wir schon auf. Sein Schwager wird wieder kochen – allerdings zu unseren Bedingungen. Sei doch froh, dass wir beschäftigt sind. In der ersten Zeit kann uns Thierry wahrscheinlich kein Gehalt auszahlen, aber wir sind doch nicht aufs Geld angewiesen. Sieh’s als eine experimentelle Erfahrung.“ „Du willst wirklich einsteigen in das Geschäft? Und was meinst du überhaupt mit ‚zu unseren Bedingungen’?“ Miles schmunzelte. „Wir werden britische Gerichte und Gebäck servieren. Nicht viele, nur eine kleine, aber feine Auswahl. Thomas schickt uns ein paar Rezepte, die Thierrys Schwager lernen muss. Scones, Shortbread, Fish ’n Chips … eine erlesene Wahl an Sherry und Brandy, vielleicht auch 57
dieses scheußliche schottische Zeugs mit den Hammeleingeweiden. Das wird der Renner, Rupert. Die Leute mögen Exotik. Thierry ist einverstanden. Bleibt nur zu hoffen, dass der Schwager nicht querschießt. Der scheint ein ziemlich finsterer Geselle zu sein.“ Rupert boxte ihn grinsend in die Seite. Er hatte Thierrys Vorschlag, den er Rupert am Abend ihrer ersten Begegnung eher spaßeshalber unterbreitet hatte, ins Gegenteil verkehrt. „Du bist ein Fuchs, Miles! Aber es könnte funktionieren.“ „Es wird, Rupert. Es wird.“
58
Kapitel 6
A
ls das Sonnenlicht ihn weckte, war Miles schon weg. Auf der Kommode fand er einen Zettel mit der lapidaren Nachricht „Unterwegs in Sachen Bambi – M.“ Gemächlich duschte er und frühstückte, nachdem das Zimmermädchen ihm frischen Tee gebracht hatte. Dann ging er in die Stadt, um ein paar Filme abzuholen. Die Fotografie war ein richtiges Hobby geworden, bei dem sie beide um ausgefallene und seltene Motive wetteiferten. Den Eiffelturm ablichten konnte jeder; eine sich sonnende Eidechse auf Pont Neuf entdecken nicht. Rupert freute sich darauf, die Fotos nach der Reise in ein besonders schönes Album einzukleben. Doch irgendwie, ohne dass er es gewollt hatte, war die Trennung von Frankreich in weite Ferne gerückt. Er fühlte sich wohl und auf einmal erwachsen, trotz der Tatsache, dass er und Miles häufig wie Teenager herumalberten. Mit der Arbeit an Thierrys Laden brauchte die Unbeschwertheit nicht automatisch vorüber zu sein. Und Rupert musste zugeben, dass dieses Zigeunerleben ihm sehr gut gefiel. Halb amüsiert, halb entsetzt konstatierte er, dass er in der ganzen Zeit, die sie hier waren, in kein einziges Lehrbuch geschaut hatte. Er nahm sich die Zeit, in der Lounge bei einem Café au lait die Bilder zu betrachten. Es war nicht zu leugnen, dass Miles den geübteren Blick hatte, doch Rupert war auf seine weniger spektakulären genauso stolz. In dieser Sache bestärkte ihn Miles, der meinte, ihre Fotos ergänzten sich gegenseitig, und das sei gut, sonst wäre die Geschichte langweilig. Auf einigen von Miles’ Aufnahmen war Rupert gerade noch winzigklein am Bildrand oder halb hinter einem Gebäude versteckt zu erkennen. Er machte eine Art Suchspiel daraus, auf das Rupert mit großem Vergnügen 59
einging, wenn sie ihre Fotos analysierten. „Entdecke Rupert“ wurde bald eine Art geflügeltes Wort zwischen ihnen, bei dem sie in hemmungsloses Gelächter ausbrachen. Versunken in seine und Miles’ Bilderwelt entging ihm, dass er Gesellschaft bekam. Julien hatte sich lautlos neben ihn gesetzt. Mit großem Interesse besah er sich die bisweilen recht bizarren Motive. Erst nach ein paar Minuten realisierte Rupert seine Anwesenheit. Seit der Einladung zum Turandot hatte der quirlige Franzose einige Punkte auf Ruperts Sympathieskala gutgemacht. „Oh … guten Tag, Julien. Ich habe dich nicht kommen sehen.“ Julien schob seinen Kaugummi geräuschvoll von der linken in die rechte Backe und schlug die Beine auf dem niedrigen Tisch übereinander. Es war eine seltsame Angewohnheit von ihm, dass er sich selbst auf harten Sitzmöbeln vorzugsweise lang streckte statt geradezusitzen. Mit seinen etwas gelangweilt blickenden Augen blinzelte er Rupert träge zu. „Das macht nichts. Die Fotos sind superb. Ich bin ja schon eine Weile in Paris, aber von diesen Blickwinkeln aus könnte es genauso gut eine Stadt in einem völlig fremden Land sein. Von dir?“ „Von Victor und mir“, berichtigte Rupert und zappelte ein bisschen vor Freude über das Lob. Julien nickte vor sich hin, ehe er einen leisen Seufzer ausstieß. „Gene Kelly hat noch nicht angerufen. Ich halte aber weiterhin die Augen offen, sag’ das Victor bitte.“ Plötzlich hatte Rupert eine Idee. „Kennst du das Bambi’s?“ „Das Bistro an der Ecke? Natürlich. Jeder kennt Thierry. Wahrscheinlich wird er schließen müssen, er meint, das Geschäft liefe nicht gut. Man sieht’s ja auch, nie ist was los dort. Schade. Ich mag ihn, er ist ein guter Kumpel. War nach Feierabend öfter mit ihm was trinken. Manchmal auch im Kino.“ 60
Aufgeregt setzte ihm Rupert Miles’ Plan auseinander, das Geschäft mit einem neuen Konzept wieder aufzubauen. Julien hörte konzentriert zu; er schien Thierry wirklich zu mögen. Seltsamerweise waren sie sich bei genauem Betrachten optisch sogar etwas ähnlich, wenngleich Julien hell und Thierry dunkel war. „Wir brauchen freiwillige Helfer, und ich fürchte, Thierry findet nicht viele, die ohne Geld für ihn arbeiten. Du bist handwerklich sicher sehr geschickt, oder? Und Kraft hast du auch. An bestimmte Zeiten musst du dich nicht halten; du kommst, wann du Zeit und Lust hast.“ Julien war Feuer und Flamme, nicht zuletzt deshalb, weil er Miles nun doch einen Gefallen tun konnte, wenn das mit der Arbeitssuche schon nicht hinhaute. „Vielleicht kann ich meinen Onkel überreden, mitzuhelfen. Er hat ziemlich viel Ahnung vom Renovieren. Hat sein Haus ganz alleine aufgemöbelt und ist so was wie ein verkappter Heimwerker. Thierrys Laden kennt er auch.“ Rupert rieb sich die Hände, insgeheim froh über seinen Schneid, Julien um etwas gebeten zu haben, das dieser mit Freuden aufnahm. Mit einer Absage hatte er allerdings auch nicht wirklich gerechnet; schließlich ging es um Miles bzw. Victor. „Fein.“ ~*~ Jacques Fleury, Thierrys Schwager, war ein noch düsterer dreinblickender Charakter, als Rupert befürchtet hatte. Er stammte aus der Bretagne, was man ihm auf zehn Meilen Entfernung ansah. Gedrungen, mit glutvollem Blick und schwarzgelockten Haaren, die sich im Nacken kräuselten, trug er einen grobmaschigen Fischerpullover und schäbige Hosen. So rauh wie der Flecken Erde seiner Herkunft wirkte der ganze Mann. Dennoch war er auf schroffe Weise attraktiv mit seiner wettergegerbten Haut, seinen dunkelblauen Augen und dem fast schon romantischen Aufzug. 61
Missbilligend an einer Zigarette saugend schlenderte er in Thierrys Bistro auf und ab. „Da ist viel zu tun“, stellte er zähneknirschend fest. „Ich hätte nicht gedacht, dass du es so fix herunterwirtschaftest, Thierry. Freilich, ein Leichtfuß warst du schon immer, aber das … wie konntest du es nur so weit kommen lassen?“ „So schlimm ist es nicht“, wiegelte Miles ab, der mit ein paar Brettern aus Palisander für die hüfthohe Vertäfelung der Wände hereinkam und dann die karge, verstaubte Dekoration in Kisten verstaute. Er war der einzige, der es wagte, Jacques von Anfang an Paroli zu bieten. Unverständliches vor sich hinmurmelnd begann Jacques, gemeinsam mit Thierry die verblichenen, in Fetzen herunterhängenden Tapeten abzukratzen, wie ihnen Miles aufgetragen hatte. „Vorsicht“, warnte ihn Thierry. „Victor spricht Französisch so gut wie seine Muttersprache.“ Was noch ein undeutlicheres Murmeln von Jacques’ vollen Lippen zur Folge hatte. Rupert war dankbar für sein Klavier, so musste er sich nicht mit diesem übellaunigen Kerl abgeben. Miles war mit ihm in ein Musikgeschäft gegangen und hatte ihm einiges besorgt, das er für seine Arbeit brauchte. Es musste ein wundervolles Gefühl sein, so weltmännisch und begütert zu sein wie sein Freund. Gegen Abend trudelte Julien mit seinem Onkel ein. Unter lautem Hallo und Küssen begrüßten sie Thierry, bevor dieser sie dem Rest der Truppe vorstellte. Juliens Onkel hatte etwas märchenhaft Geheimnisvolles an sich, sein durchtrainiertes Äußeres prädestinierte ihn zu einem Dressman, wäre er zwanzig Jahre jünger gewesen. Mit einem Gardemaß von 190 cm war er so groß wie Rupert, dabei langgliedrig und sehr schlank. Sein an den Schläfen angegrautes Haar war dunkel, ebenso seine Augen, die aus tiefen Höhlen alles genau beobachteten. Der Mund war schmallippig und häufig zusammengepresst, als versage er sich das Reden, das sein Neffe mit vertraulichem Geplapper kompensierte. Was ihn 62
zudem daran hinderte, zu oft den Mund zu öffnen, war die Pfeife, ohne die man ihn selten antraf. Wie Julien verstand und sprach er sehr gut Englisch, eine Tatsache, die ihn bald zum Sprachrohr der französischen Fraktion machte. Hinzu kam, dass sein Sachverstand in der Tat außergewöhnlich war. Er wusste mit Hammer und Bohrmaschine genauso gut umzugehen wie mit der Organisation des gesamten Konzepts und arbeitete gründlich und zuverlässig. Zunächst setzten sie sich an einen Tisch, um Ideen zu sammeln. Miles erklärte, dass sie nicht wild drauflos fuhrwerken sollten, sondern sich erst einmal Gedanken um die Umsetzung machen mussten, um ein Ziel zu haben, auf das sie alle hinarbeiteten, das stärke den Gemeinschaftsgeist. Psychologisch war er schwer auf Zack; überhaupt seine ganze Art, mit Menschen unterschiedlicher Couleur umzugehen, bewunderte Rupert. „Wir brauchen ein Thema“, erläuterte er, mit Rücksicht auf Rupert sprach er Englisch. „Irgendwas, worunter wir das Bistro stellen und dementsprechend ausstatten. Da wir britische Gerichte anbieten möchten, dachte ich an etwas, das dazu passt. Irgendeine Idee?“ Erwartungsvoll schaute er in die Runde. „Die müsst ihr Engländer haben“, bemerkte Jacques griesgrämig, dem die Vorgabe des Essens gar nicht gefiel, von der er bereits unterrichtet worden war. „Fünf-Uhr-Tee im Buckingham Palace“, schlug Julien vor und erntete Gelächter. Miles notierte es. „Gar nicht übel. Sonst noch was? Thierry?“ Der Angesprochene zuckte die Achseln. „Vergoldete Kronleuchter will ich nicht haben“, maulte er. „Bin ich Queen Victoria?“ „Queen Elizabeth“, korrigierte Julien keck, woraufhin die sonore Stimme von Raoul Delaroche ihn freundlich ermahnte. Seine Art zu sprechen und die tiefe Stimmlage verlangten auf unaufdringliche Weise Gehör. Rupert war der 63
Mann ein bisschen unheimlich, doch da ihr Aufgabenbereich unterschiedlich war, hatte er glücklicherweise in Zukunft recht wenig mit ihm zu tun. „Ich frage dich, weil es dein Laden ist.“ Auf einmal klang Miles ungewohnt ruppig, als er auf Thierrys Zwischenkommentar reagierte. „Vor allem du musst dahinter stehen. Alles rundweg ablehnen ist einfach.“ Thierry schrumpfte am Tisch, gelobte jedoch, sich Mühe zu geben. „Wenn die Kronleuchter nicht unentbehrlich sind, wäre es ja zu überdenken …“ „Fischfang“, ließ sich Jacques zu einem Beispiel herab. Julien zweifelte und wiegte den Kopf. „Ist das in England populär?“ Miles schrieb es auf. „An der Küste, warum nicht? Maritim. Gute Idee, Jacques. Weitere Vorschläge?“ Thierrys Schwager schob sein Barett tief ins Gesicht und lehnte sich zurück, damit keiner sein heftiges Erröten sehen konnte. Ratloses Schweigen machte sich breit, bis sich Juliens jungenhafte Miene aufhellte. Schmeichelnd und nachdrücklich zugleich umfasste er den Arm des Bistrobesitzers. „Thierry, wir beide gehen doch gerne ins Kino. Wir lieben Filme, du genauso wie ich. Oder?“ „Soll ich jetzt ein Lichtspielhaus eröffnen? Mon petit chéri, das wäre wahrlich ein Traum, aber viel zu aufwendig und kostspielig.“ „Nicht doch! Aber du könntest dein Bistro wie eines gestalten! Mit Bildern von Filmstars an den Wänden, Aushangfotos, Plakaten und Artikeln aus Zeitschriften. Du kennst doch meine Sammlung, ich leih’ sie dir! Und ein paar Autogramme. Du musst mir aber versprechen, gut drauf aufzupassen.“ Miles stach mit dem Bleistift in Juliens Richtung. „Phantastisch, Julien! Das ist es! Würdest du das Zeug morgen mitbringen?“
64
„Es ist sehr viel“, gab Julien zu bedenken, obwohl er sich kaum beherrschen konnte vor Aufregung darüber, Miles’ Achtung eingeheimst zu haben. „Mehrere Kisten.“ „Je mehr umso besser. Wir sortieren und stimmen ab, was der Öffentlichkeit zuträglich sein darf, in Ordnung?“ Julien strahlte, als Raoul ihm stolz gegen den Strich über das Haar fuhr, und auch die anderen schienen erleichtert und mit dem Thema einverstanden. Filme begeisterten die meisten, jung oder alt. Mit neu entfachtem Eifer ging jeder seiner Verpflichtung nach; Rupert reparierte das Klavier, Miles und die Delaroches begannen mit den „Abrissarbeiten“ und die beiden Inhaber inspizierten zunächst die kleine Küche, die ebenfalls einige Sanierungen nötig hatte. Rupert war froh, mit dem Instrument sozusagen abgesondert von den anderen in einem Kokon eingesponnen zu sein; von dem Sprachgewirr um ihn herum verstand er kein einziges Wort. Zwar hatte er Französischunterricht gehabt, doch die Sprache praktisch anzuwenden, war etwas anderes. Wie immer hatte Miles auch in Bezug auf seine Sprachkenntnisse untertrieben: er diskutierte so hitzig wie ein Einheimischer, wenn er und Jacques, der sich nun ebenfalls an der „Zerstörungswut“ im Gästeraum beteiligte, nicht ganz einig waren. Thierry, der überall im Weg stand und sich extrem schusselig anstellte (und somit Ruperts vollstes Verständnis hatte), wurde schließlich dazu verdonnert, für das leibliche Wohl seiner Gehilfen zu sorgen, da er sie bei handwerklichen Angelegenheiten mehr oder weniger beeinträchtigte. Das allerdings tat er mit Inbrunst; kurz nach Mitternacht rollten überall auf dem Boden Flaschen herum, über die die Männer stolperten, bis Rupert sich ihrer erbarmte und sie einsammelte, um sie nahe des Eingangs aufzureihen. Ihm war aufgefallen, dass Miles nur Wasser trank, während sich der erhöhte Alkoholpegel bei den anderen nach einigen
65
Stunden bemerkbar machte. Der mürrische Jacques grölte sogar ein Lied, das vom Meer erzählte. Über ihre Beschäftigung vergaßen sie die Zeit. Julien stieß einen erschrockenen Laut aus, als er zufällig seine Armbanduhr konsultierte. „Zut! Schon so spät! Ich muss gehen!“ Obwohl es ihnen schwerfiel, sich von der Arbeit loszueisen, brachen die Männer auf. ~*~ Rupert ließ Miles’ offensichtliche Enthaltsamkeit keine Ruhe, er fragte ihn im Hotel danach. „Ich mag keinen Alkohol, das weißt du doch. Nun mach’ nicht so ein ängstliches Gesicht. Mir fehlt nichts, Ehrenwort.“ Rupert ließ nicht locker. „Ich mache mir Gedanken, Miles, das musst du verstehen. Manchmal benimmst du dich befremdend, und ich … es wäre mir schrecklich, wenn du – aus gesundheitlichen Gründen … oder vielleicht um noch ein gutes Werk zu vollbringen, das alles für Thierry tust …“ Der Gedankengang erheiterte Miles, aber er verbiss sich eine zynische Bemerkung, die den armen Rupert noch mehr aufgewühlt hätte. Es war schon erstaunlich, dass er seine Befürchtung überhaupt zur Sprache brachte, die Miles längst vergessen hatte, wenngleich sie ihn offenbar seit ihrem ersten Abend umtrieb. Er bat Rupert zu sich und legte ihm den Arm um die Schulter, während er in sein Gesicht sah, in dem der Kaumuskel mahlte. Die intensiven blauen Augen waren feucht, und Miles kramte ein Schnupftuch aus seiner Hemdtasche, um sie vorsichtig zu trocknen. Anstandslos ließ Rupert es geschehen, wenngleich er sich seiner Tränen schämte. Wenigstens schien Miles nichts dabei zu finden; von peinlicher Berührtheit in Anwesenheit eines weinenden Mannes war nicht die Spur in seinem Verhalten, im Gegenteil. 66
„Mein lieber Rupert, ich argwöhne, wir müssen etwas klarstellen. Erinnerst du dich, weshalb ich dich mitgenommen habe nach Paris? Ich wollte, dass du ein bisschen was siehst von der Welt. Ich wollte dich in meiner Nähe haben, um dich besser kennenzulernen. Das hat sich für uns beide gelohnt, oder? Ich unterstütze Thierry Levant, weil er dein Freund geworden ist. Ich tue das alles für dich, für niemanden sonst. Du hältst dich immer klein, meinst, du seist nichts wert, aber das stimmt nicht. Du bist ein sehr liebenswerter Mensch, mit unglaublichen Talenten, der es verdient hat, ein bisschen Anerkennung zu finden. Und selbst wenn du gar nichts könntest, würde das für mich nichts ändern. Ich hab dich immer gemocht, vom ersten Moment an. Aber ich wäre nicht so egoistisch, dich zu zwingen, mir beim Sterben die Hand zu halten. Ich bin nicht unheilbar krank, wenn es das ist, was dir Sorgen macht.“ Nur mäßig beruhigt nahm Rupert das Taschentuch an sich und schneuzte. „Aber warum bist du weggelaufen? Für mich sieht das alles sehr nach einer Flucht aus. Einer Flucht vor der Tatsache, dass dir nicht mehr viel Zeit bleibt. Wenn du ehrlich wärst, würdest du mich verstehen. Der falsche Name, keine Fotos von dir, der Verzicht auf Alkohol …“ So offen hatte er mit Miles noch nie geredet; er erschrak ein wenig über sich selbst. Miles blieb die Gelassenheit in Person. „Ich weiß, wie viel es dir abfordert, darüber zu sprechen und dass es dich interessiert, warum ich hierher wollte und zuweilen eigenartig bin. Aber diese Frage werde ich dir nicht beantworten. Es ist nicht der Grund, den du vermutest, das ist alles, was ich dazu sagen kann. Wenn dir unsere Freundschaft lieb ist, lass es gut sein.“ Heftig wandte sich Rupert ihm zu und schlang die Arme um ihn, barg das Gesicht an seinem Hals. Die Anspannung löste sich allmählich; er konnte spüren, wie seine Muskeln erschlafften, es tat beinahe weh und doch so gut. 67
„Wenn es bloß nicht das ist …“ murmelte er erstickt. Miles hielt ihn fest, er wiegte sich sachte mit ihm wie eine Mutter ihr bekümmertes Kind. „Oh Rupert“, sagte er leise in Ruperts Haar. „Ich lüge meinen besten Freund nicht an. Hättest du mir doch früher gesagt, dass dich das so quält.“
68
Kapitel 7
G
elegentlich schaute Thierrys Frau im Bistro vorbei, um die schwer arbeitenden Männer mit belegten Broten zu verköstigen. Rupert war hingerissen von ihrer grazilen Erscheinung, von der ihr Bruder Jacques verblüffenderweise gar nichts hatte. Sie versprühte einen burschikosen, kindfraulichen Charme, mit dem sie jeden um den kleinen Finger wickelte. Ihre dunklen Rehaugen bildeten einen reizvollen Kontrast zu ihrem hellen, kurzgeschnittenen Haar. Meist war sie in luftige Sommerkleider gewandet, die ihre schönen Beine zur Geltung brachten. Jedem, den sie zuvor noch nicht gekannt hatte, bot sie gleich am ersten Tag mit festem Händedruck die vertrauliche Anrede an. Auch sonst war Gisèle nicht zimperlich: Miles übertrug ihr einige Aufgaben, an denen der unpraktische Thierry und auch Rupert gescheitert wären, die sie jedoch souverän meisterte. Dennoch stellte Rupert schon nach kurzer Zeit eine gewisse Antipathie zwischen ihr und Miles fest, eine Rupert völlig unergründliche Regung. Wie konnte es sein, dass jemand Miles hasste? Nun, „Hass“ war ein starkes Wort, doch zumindest mied sie ihn, obwohl sie sich von ihm einspannen, mitunter sogar herumkommandieren ließ. Häufiger allerdings besuchte sie Rupert am Klavier, um mit ihm zu plaudern. Dann schlug Ruperts Herz bis in den Hals, und seine schwitzigen Hände rutschten überall herum. „Wie schön deine Hände sind, Rupert“, sagte sie, sich über das Klavier beugend. „Fast so schön wie Thierrys. Ich bin so froh, dass ihr ihm helft. Besonders du. Ich mag es, wie du arbeitest. Das alte Ding wird perfekt klingen, wenn du mit ihm fertig bist. Gehst du an alles so gründlich heran?“
69
„Victor hat das möglich gemacht“, parierte Rupert, die versteckte Anzüglichkeit ignorierend. „Ohne seine finanziellen Mittel und Kontakte sähe Thierry alt aus.“ Sie schmollte und spielte mit ihren Pumps, indem sie mit dem rechten Schuh die Ferse des linken hinunterstreifte. Rupert widmete sich seiner Arbeit; die anderen machten Pause und waren zum Rauchen nach draußen gegangen. In der Gaststätte herrschte eine dampfige Luft; das Wetter hatte umgeschlagen. Paris lag unter einer Glocke aus Smog und tropischer Schwüle. Eine Saite löste sich surrend vom Stimmstock, und er fluchte. Gisèle lachte. „Was hast du eigentlich gegen Victor?“ erkundigte sich Rupert wie nebenbei, während er die Saite entfernte und seine volle Aufmerksamkeit darauf richtete. Jäh verstummte das Lachen. Sie sah hinaus, wo Miles mit den Delaroches auf der Straße stand und sich über irgendetwas amüsierte. Sie waren der Kern und Miles am liebsten, da sie am effektivsten arbeiteten und Selbstinitiative ergriffen, dieweil man Thierry und Jacques instruieren musste. Zu Miles’ leichtem Verdruss waren beide tagsüber die Woche beschäftigt; Raoul betrieb einen kleinen Buchhandel in der Rue Caulaincourt, und Julien war mit seinem Job so gut wie ausgelastet. Trotzdem kamen sie, so oft es ihre Zeit erlaubte. Meist gemeinsam am Abend, um dann bis tief in die Nacht zu handwerken, woran sie sichtlich Freude hatten. Juliens Vorrat an Anekdoten über die Schrullen und Spleens von Hotelgästen war unerschöpflich. Wahrscheinlich gab er gerade eine zum Besten. Sein Onkel und Miles lachten hinter der Fensterscheibe; Miles schmauchte Raouls Pfeife, ein besonders großer Freundschaftsbeweis. Rupert fragte sich, wie er das nur wieder bewerkstelligt hatte. Raoul Delaroche strahlte in seinen Augen noch mehr Unzugänglichkeit aus als Jacques, und er tat nichts, um diesen Eindruck abzuschwächen. Bis
70
auf Miles sprach er selten mit jemandem, und Fragen beantwortete er einsilbig. „Er nimmt mir meine Familie weg“, antwortete sie unumwunden, aus ihren sinnlichen, ungeschminkten Lippen war alle Farbe gewichen, und eine steile Falte an ihrer Nasenwurzel ließ sie um zehn Jahre altern. „Du solltest Thierry hören, wenn er nach Hause kommt und erzählt. Ständig Victor hier, Victor da … betrunken war er mir fast lieber. Und die Kinder hat er auch schon geködert. Bald mögen sie ihn lieber als Thierry und mich. Ich verstehe nicht, wie du es mit ihm aushältst.“ Verwirrt und ein wenig entrüstet darüber, dass sie in den Sündenbock für ihre Krise suchte, sah Rupert zu ihr auf. „Aber – das liegt doch nicht an Victor! Ich meine, wenn ihr Probleme habt in eurer Ehe, kannst du ihn nicht dafür verantwortlich machen. Wir sind doch Fremde, was sollten wir uns in euer Leben einmischen? Thierry hat uns gesagt, dass ihr momentan ein paar Schwierigkeiten habt, aber wenn der Laden erst wieder floriert, sieht es sicher ganz anders aus.“ „Ach, vergiss, was ich gesagt habe. Ich bin ja nur eine Frau und rede dummes Zeug. Außerdem ist Victor dein Bruder, du musst ihn natürlich verteidigen. Ich hätte mir denken können, dass du’s nicht verstehst.“ Sie rauschte in die Küche – nicht mehr als eine geräumige Kochnische - um Getränke kaltzustellen. Wie betäubt starrte Rupert ihr nach. Die gelockerte Saite schnitt wüst in seine Fingerkuppe, als er sie wieder zu befestigen suchte; er saugte an der Wunde, ohne den Schmerz zu realisieren. Die Vorstellung, Miles habe einen Feind, oder besser gesagt, Rivalen in Gisèle, war so abwegig, dass er in der nächsten Minuten glaubte, sich das Gespräch eingebildet zu haben. ~*~ Es bürgerte sich ein, dass Rupert früher ins Hotel zurückkehrte, da es für ihn weniger zu tun gab, sobald er das 71
Klavier gerichtet hatte, das nun geschützt unter einer Folie die halbe Küche ausfüllte. Miles vertröstete ihn auf die Feinarbeit. Mit Hammer und Säge stellte Rupert sich nämlich nicht geschickter an als Thierry. Anfangs litt sein Selbstwertgefühl darunter, doch Miles versicherte ihm, dass er mit den Delaroches gut zurechtkam und beide drei fleißige Arbeiter auf einmal ersetzten. Nicht ohne Grund waren Thierry und Jacques in der letzten Zeit nur noch sporadisch aufgetaucht, bis der grobe Teil der Renovierungsarbeiten abgeschlossen war. Thierry behauptete, sich nach modernern Küchengerätschaften umzusehen, wozu er Jacques’ fachmännisches Urteil benötigte. Miles fand das in Ordnung, er trug Thierry seinen Müßiggang nicht nach, solange er das Interesse an den Fortschritten beibehielt. Und das tat er; spätestens abends erschien er, um mit den dreien zu schwatzen, oft in Jacques’ Begleitung, der nach und nach auftaute und bestrebt war, sich ins rechte Licht zu rücken. Wenn Rupert ins Foyer kam, trank er dort in der Regel einen Kaffee (inzwischen mochte er ihn fast ebenso sehr wie seinen geliebten Tee) und grübelte über seine Zukunft. Es stand für ihn mittlerweile fest, dass er nicht unterrichten würde. Aber was dann? Konnte man das Leben mit Miles einfach so weiterleben? In den Tag hinein, warten, was derselbige brachte? Die Arbeit im Café war nicht von Dauer. Er würde jedenfalls nicht zwischen Greta Garbo und Gary Cooper-Plakaten kellnernd hin und herflitzen (obwohl ihm das Porträt von Hedy Lamarr recht gut gefiel) und Bestellungen in einer Sprache aufnehmen, die er nicht verstand geschweige denn schreiben konnte. Und kochen? War auch nicht seine Bestimmung. Zwar schaffte er es, sich allein zu versorgen, aber das war’s auch schon und genügte seinen kulinarischen Ambitionen voll und ganz. Ratlos legte er sich aufs Bett. Er schlief nicht mehr so häufig wie früher. Seit Miles mit ihm das Bett teilte, reichte 72
ihm auf wundersame Weise der Nachtschlaf. Dennoch döste er hin und wieder vor sich hin. Vor allem, wenn er über etwas nachdachte, geschah es, dass seine Gedanken abdrifteten und ihn eine halbe Stunde kampfunfähig machten. Ein Hupkonzert unten auf der Straße ließ ihn auffahren. Panik bemächtigte sich seiner. Er wusste um das chaotische Fahrverhalten der Franzosen und hatte sich daran gewöhnt, doch irgendetwas war anders. Miles, durchzuckte es ihn wie unter einem Stromschlag, er hastete zum Fenster und riss es auf, um sich hinauszulehnen, wobei er mit dem Schlimmsten rechnete. Unten stand Miles am Trottoir und betätigte von außen die Hupe einer schwarzen DS 19 von Citroën, ein Modell, das seit seinem Erscheinen vor drei Jahren das französische Straßenbild maßgeblich prägte. Er lachte übermütig in Ruperts Richtung. „Komm runter, du Faulpelz! Wir machen eine Spritztour!“ Eilends strich Rupert die zerknitterte Hose glatt und stürmte aus dem Hotel. „Gekauft?“ fragte er atemlos, konnte sich aber der Faszination des extravaganten Automobils nicht entziehen und strich zärtlich über die lange, geschwungene Motorhaube, die wie neu glänzte. „Du spinnst! Das muss ein Vermögen gekostet haben!“ „Das hat es“, bestätigte Miles gutgelaunt. „Thierry, nicht mich. Er hat sie mir geliehen, quasi als Belohnung für die Mühe mit seinem Schuppen. Steig’ ein, wir entfliehen der städtischen Hitze.“ Während der Fahrt kurbelten sie beide Fenster auf. Der Wind kühlte ihre Gesichter; Rupert schloss die tränenden Augen, während Miles sich in technischen Details und neuartigen Finessen des Wagens erging. Doch alles, was Rupert behielt, waren die Servolenkung und die Hydropneumatik, die Unebenheiten im Asphalt oder auf steiniger Fahrbahn weitgehend abfing, da sie die Karosserie 73
beim Start in der Schwebe hielt und erst nach dem Abschalten des Motors wieder absenkte. Tatsächlich war das Fahrgefühl etwas ganz Eigenes, ein wenig wie auf Wolken. Rupert fragte nicht, wohin sie fuhren. Seinetwegen hätten sie bis zum Ende der Welt unterwegs sein können. An einem Seitenarm der Seine hielten sie an. Die Straße war in einen schmalen Weg übergegangen, hohe Gräser wogten auf den Feldern, in denen Grillen hypnotisch zirpten. Die Sonne stand tief, doch es würde noch lange hell sein, ein typischer Nachmittag im Frühsommer. Überdies wehte eine angenehme Brise, die die Stadt wenige Kilometer entfernt vermissen ließ. Als Rupert ausgestiegen war, stemmte er die Fäuste in die Hüften, wedelte mit den Ellenbogen Luft in sein unter den Schulterblättern verklebtes Hemd und füllte die Lungen gierig mit selbiger. Miles hockte sich auf die Motorhaube und zündete eine Zigarette an. „Schön ist es hier“, meinte Rupert und streckte sich. „Könnte man dort drüben auf dem malerisch gelegenen Hügel nicht ein Haus bauen?“ Miles grinste. „Du bist ja doch romantisch.“ „Manchmal geht es mit mir durch“, gab Rupert kichernd zu. Er schlenderte hinüber zu Miles, nahm ihm die Zigarette ab und machte einen Zug, bevor er sie ihm hüstelnd zurückgab. Dann krempelte er die Hosenbeine auf, um einer kindlichen Anwandlung nachgebend im knietiefen Wasser des Flusses zu waten. Es war nur lauwarm, aber das machte nichts. Nachdem Miles seine Nikotinsucht befriedigt hatte, suchte er eine Stelle am Fluss, wo die Böschung nicht zu steil zum Sitzen war und wartete, bis Rupert sich durch das Wasser gekämpft hatte und ihm mit einem behaglichen Ächzen Gesellschaft leistete. Miles öffnete eine Flasche Selters und stellte sie mit einem „Cheers!“ zwischen sie hin.
74
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas, sie leerten die Flasche in trauter Zweisamkeit, während Rupert die unberührte Natur sehr stark an eine Szene aus Tom Sawyer und Huckleberry Finn erinnerte. Der Vergleich von Miles als der freiheitsliebende, unfügsame Huckleberry gefiel ihm. Mark Twain hatte er immer gerne gelesen, denn der hatte viel über den Charakter der Menschen zu erzählen gewusst, auf amüsante Weise und nie moralinsauer. Einzig bedauerlich war, dass Rupert nicht an die Kamera gedacht hatte, um zum Beispiel die Libelle zu fotografieren, die sich eben auf einem Schilfrohr graziös zitternd und bunt schillernd niederließ. Auf einmal wandte Rupert den Blick; er starrte Miles geradezu entsetzt an. „Was ist los?“ Miles klang alarmiert. „Sag’ doch! Stimmt was nicht?“ „Ich glaube … ich habe heute Geburtstag!“ Miles erhob sich und ging zum Auto, wo er etwas vom Rücksitz hervorzog. Mittlerweile stand Rupert konsterniert auf und strich sich die nassen Hände an den Hosenbeinen ab. Noch nie hatte er seinen Geburtstag vergessen, einen runden auch noch! War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Jedenfalls war er ganz verdattert über seine Vergesslichkeit. Miles überreichte ihm ein Päckchen, das sorgfältig in Zeitungspapier gewickelt und mit Paketschnur zusammengebunden war. „Herzlichen Glückwunsch, Rupert“, sagte er. Ein flaues Gefühl breitete sich in Ruperts Magen aus. Irgendwie hatte Miles seine Spione arbeiten lassen: die DS, der Ausflug, das Geschenk in seinen Händen – für ihn. Überwältigt drückte er den Freund an sich. „Wie hast du’s rausgefunden?“ „Ich hab eine Schwäche für dich. Und Leute, für die ich eine Schwäche habe, interessieren mich. Dann muss ich alles – wirklich alles – über sie wissen.“
75
Halb bestürzt und halb erfreut öffnete Rupert das Päckchen, bei dessen Anblick doch die Freude überwog. Es war ein gebundenes Heft mit sämtlichen Partituren der Chopinwerke, von der Etüde bis zum Walzer. Doch eingedenk der Tatsache, dass Miles ihm dies verehrte, um ihm in Thierrys Bistro auf die Sprünge zu helfen, verflüchtigte sich die Begeisterung rasch, obwohl er sich bemühte, es nicht zu zeigen. Miles schien Gedanken lesen zu können. „Du musst sie nicht öffentlich spielen. Ich dachte nur, es wäre schade, wenn du umsonst so viel Zeit in das alte Klavier gesteckt hättest. Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde es mich freuen, dich gelegentlich für mich spielen zu hören.“ Schon wieder blinzelte Rupert vor Rührung, er wischte sich derb übers Gesicht, um sich zur Räson zu bringen. „Das mach’ ich gern. Vielen Dank, Miles.“ Mit zwei Flaschen Coca Cola, die Miles zusammen mit einem zünftigen Picknickkorb im Kofferraum verladen hatte, stießen sie auf Ruperts Ehrentag an. „Noch einen Wunsch, Sir?“ dienerte Miles neckend in Butlermanier, nachdem sie gegessen hatten. „Ich möchte nie mehr zurück“, sann Rupert träge. Das Musizieren der Grillen schläferte ihn ein, die Lider wurden ihm schwer, und er hätte die Sträucher und Bäume umarmen mögen vor Glückseligkeit. Es ließ sich schwer beschreiben, doch ähnlich musste man sich im Vollrausch fühlen. Leicht, frei, schwerelos und zu allen Schandtaten bereit. „Wäre das nicht wundervoll? Wir fahren weiter, nach Südfrankreich, das soll sehr schön sein. Oder die Schweiz, Italien … mir ist alles recht.“ Er hörte Miles lachen. „Und Thierrys Wagen? Was glaubst du, wie schnell die Kameradschaft abkühlt, wenn man seine Freunde beklaut? Und nicht nur das, wir hätten einen internationalen Haftbefehl am Hals.“ 76
„Ich bin betrunken von dem Zuckerwasser“, rechtfertigte sich Rupert nicht ganz ernst. Sein Vorschlag war es jedoch gewesen, und es enttäuschte ihn etwas, dass Miles nicht wenigstens im Scherz darauf einging. „Und du hast nach einem Wunsch gefragt. Das war er. Selbstverständlich war das nicht ernst gemeint. Man wird doch wohl ein bisschen träumen dürfen …“ „Apropos Ernst und Träumen“. Jetzt verflog die ausgelassene Stimmung völlig, als hätte man ein Fenster geschlossen und sie buchstäblich ausgesperrt. „Ach komm schon, muss der Tag so enden?“ In der Absicht, seinen Freund zum Albernsein zu manipulieren, nestelte Rupert an den Kragenknöpfen von Miles’ Hemd herum. Vielleicht war doch ein Schuss Whisky in der Cola gewesen, er wurde richtig vermessen. Miles’ sonnengebräunte Haut sah verführerisch aus und roch gut. Miles umfasste Ruperts Handgelenke. „Hör’ mir mal zu. Ich habe dich und Gisèle beobachtet. Du empfindest etwas für sie, oder? Das ist nicht richtig, Rupert. Sie ist verheiratet … und somit tabu.“ „Zum Teufel mit Gisèle“, sagte Rupert stoisch. „Sie mag dich nicht.“ „Vermutlich zu Recht. Sie ist so eifersüchtig auf mich wie ich auf sie.“ Rupert stutzte. „Weshalb sollte sie auf dich eifersüchtig sein? Erklärst du mir das genauer?“ „Sie hat Angst, dass ich ihr Thierry wegschnappe, weil ich zu viel Zeit mit ihm verbringe. Und ich habe Angst, dass sie dich mir wegschnappt, um sich an mir zu rächen. Nicht weil Thierry sie langweilt oder sie plötzlich dich liebt. Sie will mich verletzen, indem sie dir schöne Augen macht, und verflixt, es gelingt ihr sogar.“ „Aber …“ Verwirrt schüttelte Rupert den Kopf. „Wir sind doch offiziell Brüder! Glaubst du, sie ahnt etwas? Und außerdem, das wäre doch - “ 77
„ - nicht unmöglich, Rupert. Ich mag dich wirklich. Frauen durchschauen so etwas schneller als Männer.“ Miles’ Ehrlichkeit war in dieser Hinsicht mehr, als Rupert verkraften konnte; er schluckte so hart, dass es schmerzte. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. „Miles“, begann er und versuchte, fest und bestimmt zu klingen, aber der Name entrang sich als heiseres Quaken seiner Kehle, als er sich aufrappelte und zum Wagen zurückwich. Der Schlüssel steckte, wie er aus den Augenwinkeln erkannte. Wenn er es bis dahin schaffte, konnte er zurückfahren und war fürs Erste in Sicherheit. Allerdings war er mit den europäischen Fahrgepflogenheiten nicht vertraut. Allein das linksseitige Lenkrad würde ihn durcheinanderbringen und im Stadtverkehr eventuell zu einem Unfall führen, abgesehen davon, dass er durch seine Verdächtigung in einem ohnehin erregten Zustand war. Ihm wurde so übel, dass er meinte, sich übergeben zu müssen. „Bitte tu’ mir nichts.“ Etwas verdutzt sah ihn der Freund an. „Was? Wo willst du denn hin? He … was hast du vor? Verdammt noch mal! Rupert!“ Der Ruf seines Namens fuhr schneidend und fast schrill durch die teilnahmslos liebliche Natur. Rupert hätte nicht gedacht, dass Miles’ eher tiefe Stimme zu einer solch hohen Frequenz fähig war. Flugs, da ihm dämmerte, was Rupert bezweckte, sprang Miles auf und jagte hinter Rupert her zum Auto, der bereits die Fahrertür aufgerissen hatte und halb auf dem Sitz hing. In wilder Verzweiflung schlug er nach Miles, der ihn ohne Schwierigkeiten aus dem Wagen zerrte. Rupert verlor die Balance und stürzte. Schwer atmend blieb Miles am Auto stehen und starrte auf Rupert, der das Gesicht in der Armbeuge verbarg. „Rupert“, wiederholte er, wobei er seiner Stimme einen sachlichen Klang gab. „Du musst keine Angst haben vor mir. Ich … mein Gott, wie kommst du denn darauf, dass ich dir was antun wollte? Es tut mir leid, wenn ich den Eindruck 78
bei dir erweckt habe … steh auf, bitte. Wir fahren zurück, okay? Ich rühr’ dich nicht an, ich schwör’s dir. Das hab ich nie vorgehabt.“ Zum Zeichen, dass er meinte, was er sagte, trat er mit halb erhobenen Händen zu Rupert, der immer noch am Boden lag. Sein Blick flehte um Vergebung und wirkte nun unter wehmütig hochgezogenen Augenbrauen sehr unsicher. „Rupert? Ist alles klar?“ Rupert schämte sich so sehr, dass er wünschte, die Erde, auf der er lag, würde sich auftun. Er hatte seinen Freund diskreditiert. Schlimmer noch, er hatte ihm etwas vorgeworfen, das nicht ausgesprochen werden durfte. Selbst wenn Miles diesbezüglich Neigungen haben sollte, so war er doch ein Gentleman, und zwar der formvollendetste von all den wenigen, die es noch gab. Und was genauso schlimm war, vielleicht am ärgsten, war der von ihm selbst mutwillig zerstörte Geburtstag, den Miles so liebevoll arrangiert hatte. Er hatte das Gefühl, ihm nie mehr in die Augen sehen zu können. „Verzeih’ mir“, wisperte er. „Der Tag war wunderschön, vielen Dank dafür. Und Gisèle ist mir wirklich egal.“ Rupert streckte die Hand aus, um sich von Miles in die Vertikale helfen zu lassen. Der schelmische Ausdruck in Miles’ Gesicht ließ ihn aufatmen, sein Herzschlag beruhigte sich allmählich. Trotzdem rieb er sich verlegen den Nacken. „Ich bin ein Idiot. Ich hab alles vermasselt, tut mir leid.“ „Ist schon gut“, sagte Miles. „Lass uns nicht mehr drüber reden.“ „Vielleicht sollten wir doch weiterziehen“, überlegte Miles auf der Rückfahrt. „Gisèle ist kein Umgang für uns. Hinterher stürzt sie uns alle drei ins Verderben. Noch besser wäre es, du würdest nach London zurückgehen.“ „Ich möchte bei dir bleiben“, erwiderte Rupert ungestüm und zappelte auf dem Beifahrersitz herum. „Das ist mein Wunsch, der einzige, den du jetzt wirklich ernst nehmen solltest, wenn du mir einen erfüllen willst!“ 79
„Außer Gisèle hast du noch kein einziges Mädchen kennengelernt, obwohl du dich auf die hier so gefreut hast“, bemerkte Miles, er klang etwas bekümmert, wenngleich er sich nach wie vor um eine neutrale Stimmlage bemühte. „Halte ich dich davon ab? Man kann ja nicht gerade behaupten, dass es die Arbeit wäre.“ Rupert war brüskiert. Den Rest des Tages wollte er in derselben Harmonie ausklingen lassen, die am Fluss zu spüren gewesen war. „Miles! Hör auf damit!“ ~*~ Solange es für Rupert im Bambi’s nichts zu tun gab, kam er sich tatsächlich ein wenig überflüssig vor. An die Obliegenheit des Klaviers hatte er sich so gewöhnt, dass er sie richtig genossen hatte. Doch beim Renovieren war er eher hinderlich, das musste sogar er zugeben. Obendrein wollte Miles ihn nicht mit Gisèle zusammenbringen, die fast jeden Tag, in der Hoffnung, ihn zu sehen, ins Bistro kam, und so hatte er frei. Die Stunden bis zum Abend schlug er in Parks und Cafés tot; mitunter trieb ihn die Hitze ins kühle Hotel, wo er sich in der Lounge lümmelte. Bei einer solchen Gelegenheit trabte Julien herbei, pflanzte sich neben ihn hin und nahm die Mütze vom Kopf, um sie zwischen beiden Händen zu kneten. „Salut! Ich seh’ dich gar nicht mehr oft hier. Im Bistro fehlst du.“ „Ihr fehlt mir auch“, murmelte Rupert. „Warum schaust du dann nicht wenigstens mal vorbei? Besonders Gisèle würde sich freuen, sie fragt jeden Tag nach dir.“ „Ja, darauf wette ich.“ „Hey“, lachte Julien und stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Warum so sauertöpfisch? Sie ist ein verdammt hübsches Mädchen! Und du ein prüder Engländer, wie er im Buche steht. Ich hab gesehen, dass du sie auch magst. Was 80
ist denn so schwierig, wenn zwei sich zueinander hingezogen fühlen?“ Rupert konnte nicht glauben, wozu ihn Julien praktisch durch die Blume aufforderte, und so vergewisserte er sich, ihn richtig verstanden zu haben, indem er seinen Gedanken laut aussprach. „Das wäre Ehebruch, Julien!“ Gespielt empört legte Julien den Finger auf Ruperts Lippen. „Scht, schrei’ nicht so! Das muss doch nicht jeder erfahren. Thierry erst recht nicht. Allerdings hätte er mal einen Denkzettel bitter nötig. Er ist nicht so unschuldig, wie er sich gibt. Die arme Gisèle hat es nicht leicht mit ihm. Sie sollte ihm auch mal eins auswischen, wieso nicht mit dir?“ „Also, ich weiß nicht …“ Rupert schwankte, inwieweit er Julien Glauben schenken sollte. Thierry ein Casanova? Das passte gar nicht zu ihm. Aber solche Geschichten wollte Rupert eigentlich auch nicht hören. Klatsch und Tratsch war etwas für Waschweiber. „Jetzt bist du platt, was? Gibt es das bei euch drüben auf der Insel nicht? Nein, Rupert, sag’ nicht, dass ihr alle so keusch und brav seid wie man hört. Oder seid ihr wirklich nicht so scharf aufs schwache Geschlecht?“ „Du gehst mir auf die Nerven“, zischte Rupert plötzlich gereizt. „Lass mich in Frieden!“ Er machte Anstalten, aufzustehen. Julien hielt ihn zurück und legte besänftigend die Hand auf sein Knie. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht verärgern, wirklich nicht. Eigentlich bin ich wegen etwas ganz anderem hier. Du hast doch sicher eure Fotos noch? Die, die ihr geschossen habt, seit ihr hier seid?“ Rupert nickte, er konnte sich nicht vorstellen, worauf Julien hinauswollte, der jetzt eine ungeheuer geheimnisvolle Miene aufsetzte. „Fein! Weißt du, ich habe mir folgendes gedacht: Mein Onkel hat doch diesen kleinen Buchladen. Und er versteht etwas von Fotografie. Ich möchte ihm gerne etwas von euch zeigen. Darf ich? Ich hab gerade Mittagspause, es wäre 81
günstig, wenn du mich begleiten würdest. Dann könnten wir danach eine Kleinigkeit essen gehen. Ich ess’ nicht gern allein.“ Ein seltsamer Grund, doch da Ruperts Magen sich meldete, erklärte er sich einverstanden.
82
Kapitel 8
R
aoul Delaroches Laden war ein verwinkeltes, von außen unscheinbares Gebäude, das innen genauso eindrucksvoll wirkte wie er selbst, da es wahre Schätze beherbergte. Bücher hatten schon immer eine unglaubliche Anziehungskraft auf Rupert gehabt. Hier stapelten sich Folianten, Sachbücher, Kataloge und antiquarische Romane penibel nach Genre geordnet bis unter die Decke, zu der eine mit den Regalen verbundene, bewegliche Leiter führte. Über allem schwebte eine heimelige Mischung aus Staub, Kaffee und Pfeifenduft. Unwillkürlich fragte sich Rupert, ob Raoul all diese Bücher gelesen hatte. Wundern würde es ihn nicht. Seine Theorie war, dass Leute, die sehr viel lasen, selten den Mund aufmachten. „Willkommen“, begrüßte ihn Raoul, er richtete das Wort nur an Rupert, obwohl Julien ihn begleitete. „Ich freue mich, dass Sie kommen konnten. (Das ‚du’ ging ihm merkwürdigerweise bei Rupert nicht leicht von den schmalen Lippen.) Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Rupert sah zu Julien, der aufmunternd nickte. Er fühlte sich täppisch ohne Miles, leicht irritiert und eigenartigerweise schutzlos. Wollte der Mann wirklich nur die Fotos sehen? Raoul verschwand hinter einem grünen Vorhang und erschien gleich darauf wieder mit drei Tassen türkischem Mokka auf einem zierlichen Silbertablett. Seine braunen, abgrundtiefen Augen leuchteten kurz auf, als Julien die Fotos auf die Theke legte. „Das sind nur ein paar, Onkel. Ich kann mich schwer entscheiden, welches mir am besten gefällt.“ Er wandte sich Rupert zu. „Hast du das von den beiden rivalisierenden Katern auf dem Cimetière de Montmartre? Ich glaube, das mag ich am liebsten.“
83
„Sie sind alle außergewöhnlich atmosphärisch. Vor allem die Landschaftsaufnahmen, und das ist etwas ganz Besonderes. Viele professionelle Fotografen bekommen dieses Licht nicht so hin wie Sie“, urteilte Raoul mit Kennerblick, während er die Fotos gründlich durch eine Lesebrille betrachtete. „Einzigartig. Wirklich ganz erstaunlich, Monsieur Mason.“ „Merci“, stammelte Rupert. „Wir hatten sehr viel Spaß dabei, sie zu schießen.“ Die letzte Bemerkung hätte er gerne rückgängig gemacht. Wie überheblich sich das anhörte! Doch Raoul lächelte ihn an, in seinen Blick trat eine Wärme, die die Lachfältchen um seine Augen vertiefte. Er sah richtig sympathisch aus, wenn er lächelte. „Ohne Zweifel. Ecoutez, Monsieur, ich weiß nicht, ob Julien Ihnen bereits erklärt hat, weswegen ich die Bilder sehen wollte. Ich habe gute Verbindungen zu Verlagen, die eventuell daran interessiert wären, Ihre Fotos als Bildband herauszubringen. Damit könnten Sie und Ihr Bruder sich ein kleines Zubrot verdienen. Es wäre nicht viel, aber eine Schande, Ihre Kunst den Leuten vorzuenthalten. Unter meiner Kundschaft sind viele Touristen, die gewiss Gefallen an diesen Kostbarkeiten fänden. Einen Versuch ist es wert.“ Rupert wurde schwummerig, mit bebenden Händen stellte er die Tasse ab und musste sich auf einen Stuhl hinter der Theke setzen. „Rupert!“ schrie Julien. „Alles in Ordnung? Soll ich Victor anrufen?“ „Ich bin … ich bin ganz überwältigt …“ flüsterte Rupert, während er Juliens besorgte Hand auf der Stirn abwehrte. „Das ist furchtbar nett von Ihnen, Monsieur Delaroche.“ „Ich mache es in der Hoffnung, dass die Veröffentlichung sich gut verkauft und ordentlich Profit auch für mich abwirft“, erklärte Raoul augenzwinkernd, er war nicht im Mindesten aufgebracht über Ruperts Schwächeanfall und tat so, als habe er nicht stattgefunden. „Besprechen Sie sich mit Victor, und dann reden wir noch einmal zusammen in aller Ruhe darüber.“ 84
Rupert war so aufgewühlt, dass er beim anschließenden Mittagessen mit Julien keinen Bissen herunterbrachte und stattdessen Kaffee in rauhen Mengen konsumierte. Julien ärgerte sich ein wenig darüber, da er Rupert eingeladen hatte. Er ärgerte sich auch, dass Rupert nichts von Victor erzählte, nach dem er ihn auszufragen gehofft hatte. Verstockt bis zum Gehtnichtmehr wich Rupert ihm ständig aus. Alles, was er erfuhr, war, dass sie erst kürzlich voneinander wussten, da man sie im Kindesalter getrennt hatte. Aber Julien war sich nicht sicher, ob Rupert ihn da nicht anschwindelte; er bekam ganz rote Ohren und schaute verlegen auf die Tischdecke, als er das sagte. Außerdem klang es doch ziemlich absurd, wenn man genauer darüber nachdachte. „Du weißt nicht viel über Victor, oder? Mich würde es wahnsinnig interessieren, was er so gemacht hat, bevor ihr euch begegnet seid. Wie ist das überhaupt passiert? Wie hast du davon erfahren, dass du einen Bruder hast?“ Rupert drehte das Glas in den Händen und wand sich innerlich unter dem Verhör. Wenn er bloß nicht so ein phantasieloser Lügner wäre! Miles hätte dem neugierigen Jungen das Blaue vom Himmel heruntergelogen ohne unglaubwürdig zu sein. „Er tauchte plötzlich auf bei mir … und er wollte, dass wir uns besser kennenlernen, darum sind wir nach Paris gefahren. Um – mehr Zeit füreinander zu haben. Ich kenn’ ihn tatsächlich erst einige Monate.“ Sich eine Zigarette anzündend geriet Julien ins Schwärmen. „Du musst schrecklich stolz darauf sein, einen so patenten und gutaussehenden Bruder zu haben. Verrückt, dass du so lange nichts von seiner Existenz wusstest. Er ist großartig! Thierry hat es gar nicht verdient, dass er sich soviel Mühe mit ihm gibt. Nicht dass ich es ihm nicht gönne, aber – so jemanden wie Victor trifft man im Leben nur einmal, und dann sollte man ihn mit Respekt behandeln. Thierry hält alles für selbstverständlich, was er für ihn tut.“
85
„Du lässt dich aber auch nicht lumpen“, erkannte Rupert. „Weder bei Thierry noch bei Victor und mir. Ich steh’ ewig in deiner Schuld, wenn dein Onkel ein Buch mit unseren Fotos herausbringt.“ „Er schafft das“, sagte Julien im Brustton der Überzeugung. „Was Onkel Raoul sich vornimmt, beendet er auch. Siehst es ja an mir. Ich wollte wirklich nicht hierher, und jetzt hab ich das Gefühl, ich könnte in Paris alt werden. Eure Fotografien sind aber auch wirklich gut. Ich hätte es auch für jeden anderen getan, aber da Victor mich darum bat, einen Job für euch aufzutun, ist es eine Ehre für mich. Du brauchst dich nicht bis ans Ende deiner Tage bei mir zu bedanken. Ich hoffe nur, dass Victor die Idee genauso gut findet.“ „Bestimmt“, meinte Rupert zuversichtlich. ~*~ In der Tat war Miles mehr als angetan davon, ein Buch zu veröffentlichen. Er erklärte sich sogar bereit, sich mit Rupert zusammenzusetzen und kurze Texte zu einigen Fotos zu schreiben, die sie mit Raoul gewissenhaft auswählten und mehrmals prüften. Bei Julien bedankte er sich mit einer original Filmrolle von „Marokko“; er verriet nicht, wo er sie aufgetrieben hatte, doch Julien weinte vor Glück und ernüchterte erst, als Miles ihm erklärte, dass er einen Kinosaal brauchen würde, um sie abspielen zu können. Als Blickfang hinter Glas im Bistro machte sie sich gemeinsam mit einem Foto der Hauptakteure Dietrich/Cooper dennoch besonders gut. „Wir brauchen einen Künstlernamen. Ein Pseudonym“, machte er Rupert eines Abends klar; er saß an der Schreibmaschine, an der er wie eine erstklassige Sekretärin zu tippen imstande war, während Rupert im Adler-SuchSystem die Remington bediente, sobald er an der Reihe war, weshalb er die Texte meist handschriftlich abfasste und sie dann Miles aushändigte, damit der sie ins Reine tippte. 86
„Wir haben doch schon andere Namen“, entgegnete Rupert. „Noch ein neuer würde mich verwirren, Miles.“ „Ich fände es klüger, den Band unter einem Namen herauszubringen.“ Rupert setzte sich aufs Bett und dachte nach. Er sollte nicht zu exotisch klingen, aber auch nicht gewöhnlich. Auf einmal schnippte Miles mit den Fingern. „Wie wär’s mit R. V. Mason? Wie klingt das, hm?“ Als er sich den Namen durch den Kopf gehen ließ, musste Rupert unwillkürlich grinsen. R.V. Mason, das war eine Wortspielerei, wie sie zu Miles passte. „Sind wir Mason? – Nein, Mayhew und Grayson.“ „Ist das gut?“ fragte Miles nochmals. „Superb“, pflichtete Rupert triumphierend bei. „Das ist es!“ Über ihren Künstlernamen amüsierten sie sich noch lange und brachen in der Nacht ein paar Mal in unbändiges Gelächter aus, ohne dass der eine den anderen fragen musste, was denn so komisch sei. Selbst Raoul, der nicht wissen konnte, dass sie nicht wirklich Mason hießen und somit ihre eigene Identität anzweifelten, lachte am nächsten Morgen schallend über das gelungene Pseudonym, und das mochte bei ihm einiges heißen. Er versprach, das Manuskript gemeinsam mit den besten Fotos zu einem Verlag zu schicken und ihnen Bescheid zu geben, sobald Näheres bekannt geworden war. Da er und Miles sich ohnehin beinahe jeden Abend sahen, dürfte bald damit zu rechnen sein. Eine fiebrige Aufregung ergriff Rupert, als sie sich auf den Weg zum Bambi’s machten. Thierry war mit der Familie ein paar Tage weggefahren, so dass keinerlei Gefahr bestand, dort auf Gisèle zu stoßen. „Wir kommen groß raus!“ rief er und packte den Freund am Arm. „Ich hätte das nie für möglich gehalten! Vielleicht
87
verkauft sich das Buch so gut, dass man uns ins Radio bringt!“ Miles lächelte ein wenig dünkelhaft auf ihn herunter. „Langsam, Rupert. Erstens einmal ist es noch gar nicht sicher, ob wirklich ein Buch daraus wird, zweitens verkauft es sich – wenn es denn in Druck geht - wahrscheinlich nicht so rasend, dass man dich zu Interviews bittet, und drittens würdest du das gar nicht wollen.“ Zögernd stimmte Rupert zu. „Nimm’s nicht so ernst“, riet Miles versöhnlich. „Wir leben auch ohne Öffentlichkeitsarbeit ganz passabel. Oder hast du einen Grund, dich zu beschweren?“ „Oh nein! Nein, ehrlich nicht. Du hast schon recht, es wäre mir zuwider. So wie es ist, kann es meinetwegen bleiben.“ ~*~ Inzwischen erstrahlte Thierrys Bistro bereits in neuem Glanz. Die Tapeten hatte er persönlich ausgesucht; ein kleingemustertes Rankenmotiv, von dem er glaubte, es sei in England der dernier cri. Miles hatte nicht widersprochen, wenngleich ihm zu ihrem Thema unifarbene Wände lieber gewesen wären, um die Wirkung der künftig dort angebrachten Plakate und Bilder nicht zu beeinträchtigen. Die wenigen Bahnen, die bereits an der Wand hingen, harmonierten wider Erwarten recht gut mit dem dunklen Holz der Vertäfelung. Beim maßgenauen Tapezieren war Rupert geschickter als der Rest der Männer, so dass Miles und er ohne sie diese Aufgabe übernahmen. Rupert genoss die Abende mit ihm. Es kam ihm sehr lange vor, dass er Miles mehrere Stunden für sich alleine gehabt hatte (die in der Nacht nicht mitgezählt, natürlich), seit sie Thierry und die anderen jeden Tag trafen. Sie redeten nicht viel, und trotzdem fühlte sich Rupert in Miles’ Gegenwart privilegiert. Zwar war es nicht zu leugnen, dass der Vorfall an seinem Geburtstag ihn einige Tage beschäftigt hatte, doch er kam schließlich zu dem Schluss, unangemessen hysterisch reagiert zu haben und hoffte, dass Miles ihm verzieh oder 88
besser noch – die unschöne Episode vergaß. Immerhin ließ nichts in seinem weiteren Verhalten darauf schließen, dass er Rupert etwas verübelte. Sehr spät in der Nacht animierte Miles Rupert dazu, Kleister und Pinsel wegzustellen, doch er verzichtete darauf, seine Jacke zu holen, wie er es getan hätte, wenn sie sofort ins Hotel zurückgekehrt wären. Er ging zur Küche und warf die Schutzfolie über dem Klavier mit einer eleganten Bewegung, die einem Magier zur Ehre gereicht hätte, zur Seite. „Spiel’“, forderte er Rupert auf, der sich ein wenig sträubte. Er war müde und geschafft von der ungewohnt harten körperlichen Arbeit. Es war keine unangenehme Müdigkeit, denn dafür war er ja mit Miles zusammen, aber das war zu viel. Außerdem wäre er dem Allmächtigen mehr als dankbar, falls er seine von Muskelkater geschundenen Glieder in Kürze heil ins Bett verfrachten konnte. „Es ist halb zwei Uhr nachts“, beanstandete er. Bettelnd wölbte Miles die Brauen; er hatte Worte gar nicht nötig, um das zu erreichen, was er wollte. Die Bandbreite seiner Mimik war faszinierend. Gerade jetzt sah er aus wie ein schmollender und zugleich listiger kleiner Junge, und Rupert musste einlenkend auflachen. „Ein Stück, nicht mehr.“ Miles zog den Küchenstuhl heran und setzte sich rittlings darauf. Jede Faser seiner Zwei-Meter-Statur schien angespannt. Rupert war geschmeichelt. Vorsichtig, als hätte er Angst, die Tasten zu zerbrechen, begann er mit der Etüde No. 3 in E-Dur; das ledergebundene Heft der Chopinpartituren klemmte auf dem Notenständer. Er war erstaunt, wie leicht die Musik kam und wie scharf seine Erinnerung an die Noten war, obwohl er seit zehn Jahren nicht mehr gespielt hatte. Es war, als flösse die Musik aus seinen Fingern ins Instrument ohne sein Zutun. Bei einem flüchtigen Blick auf seinen Zuhörer stellte er fest, dass dieser die Augen in tiefer Konzentration geschlossen hielt. Ob Miles den Zauber so fühlte wie er? 89
Über seine Virtuosität verblüfft, versuchte er ein weiteres Stück, diesmal die Nocturne No. 10 in As-Dur. Was daraufhin mit Miles geschah, war sonderbar. Er schauderte, öffnete die Augen und seufzte. Sein Blick ging durch Rupert hindurch, es war, als befände er sich in einer Trance. Rupert, dem es ähnlich ging, konnte nicht aufhören zu spielen, und er richtete die Aufmerksamkeit wieder auf sein Spiel. Er zuckte zusammen, als ihn von hinten jemand berührte. Miles’ Hände ruhten auf seinen Schultern, doch er zog sie zurück und entfernte sich einen Schritt, sowie er Ruperts Schrecken gewahr wurde. Rupert empfand leises Bedauern und zudem eine Traurigkeit, die er in nebulöse Verbindung mit Miles brachte. „Bleib’ da“, sagte er leise, immer noch spielend. Kein einziger falscher Akkord war ihm bisher entwischt. „Ich störe dich“, wehrte Miles befürchtend ab. Langsam schüttelte Rupert den Kopf. Als Miles wieder direkt hinter ihm stand, lehnte er den Kopf zurück an Miles’ Bauch. Er konnte blind die richtigen Akkorde greifen, eine Entdeckung, die ihn fast ehrfürchtig vor sich selbst erstarren ließ. Nach ein paar Sekunden tropfte Wasser in seinen Kragen. Ein einziger Tropfen nur, doch er hatte einen großen Effekt, sowie Rupert gedanklich geortet hatte, wo er seinen Ursprung hatte. Miles hatte sich hinter ihn gestellt, weil er nicht wollte, dass Rupert ihn weinen sah. Weinen vor Freude über diese wunderbare, mitreißende Komposition. Nicht einmal ein roher Bauerntölpel hätte sich in dieser Situation seiner Tränen geschämt. Miles tat es; Miles, von dem er es am allerwenigsten erwartet hätte. In diesem Moment wurde ihm mit kristallener Klarheit bewusst, dass er Miles in erster Linie für seine Sensibilität bewunderte. Er würde ihn immer achten, egal was passierte. Wie einen Bruder, ihm zur Seite stehen, ihn unterstützen, seine Wünsche und Hoffnungen erfahren. Und er wollte Gisèle wirklich nicht
90
mehr sehen. Weil Miles doch verwundbarer war, als er nach außen hin wirkte und zugab. Er brachte das Stück fehlerfrei zu Ende und blieb stumm sitzen. Im Bistro herrschte eine merkwürdige Atmosphäre, so als sei es von der übrigen Welt abgeschnitten. Draußen war es dunkel und still; selbst der Lärm der Autos war verstummt. Miles atmete tief ein. „Es ist eine Vergeudung, dass du so lange nicht am Klavier gesessen bist“, resümierte er, sein Ton war heiter, als sei nichts gewesen. „Ich möchte nicht wissen, wem und wie vielen da so einiges entgangen ist.“ Rupert blickte auf. „Ich wusste nicht, dass ich es noch kann“, flüsterte er. „Vielleicht bist du daran schuld. Keiner – keiner hat mir bisher so zugehört, und ich hatte auch nie das Bedürfnis, anderen vorzuspielen.“ Jäh fuhr ihm Miles durchs Haar, das Kompliment machte ihn verlegen. „Gehen wir, Rupert.“ ~*~ Die Zeit mit dem Klavier und Miles wurde zu etwas Rituellem und Rupert beinahe heilig. Gleich, wie viele sie waren und wann die letzten gingen, er und Miles blieben länger. Naturgemäß erweiterte Rupert sein Repertoire. Fast alle Arrangements spielte er von Anfang an einwandfrei, selbst das Impromptu, vor dem er in seiner aktiven Zeit als lernwilliger Schüler stets zurückgeschreckt war, weil er sich schon beim Durchlesen der Noten verhaspelte. Derlei Ängste kannte er nun nicht mehr, und selbst, falls ihm ein Fehler unterlief (was gelegentlich passierte, doch sie waren so gering, dass nur er es bemerkte), würde das Miles’ Bewunderung für sein Spiel nicht schmälern. Musik war das einzige, das ihn äußerlich und innerlich gleichermaßen berührte. Mitunter fühlte Rupert dasselbe. Eine unbeschreibliche Melancholie griff dann von Miles auf ihn über, und er verlangte unbewusst danach, ihn hinter sich zu haben, um den Kopf wie beim ersten Mal an ihn zu betten. Dadurch schien auch Miles getröstet, 91
und bisweilen, in besonders intensiven Augenblicken, vergaßen beide völlig ihre Umgebung. Dann gab es nur sie und das alte Klavier, das wie von Zauberhand alleine spielte. Beendet wurde jede Vorführung mit der Nocturne No. 10. Es war Miles’ Lieblingsstück und wurde auch Ruperts. Miles behauptete, danach schlafen zu können wie ein Stein. Das tat er allerdings eigentlich immer, ob mit oder ohne Chopin. Einmal jedoch schlief er sehr unruhig. Rupert, dem es sofort auffiel, lauschte mit weitaufgerissenen Augen auf den ungewohnt flachen Atem. Er zog sich die Decke über den Kopf, aber es wurde nicht besser. Miles wälzte sich hin und her und stöhnte, sprach sogar im Schlaf; etwas, das Rupert ängstigte, da er feststellte, dass Miles nicht wach wurde und trotzdem klar und verständlich immer wieder „Nein, bitte nicht“, murmelte. Letztendlich hielt Rupert es nicht mehr aus; er rüttelte ihn an der Schulter. „Miles“, raunte er, und lauter, als der Freund nicht reagierte: „Miles! Wach auf!“ Schlaftrunken hob Miles den Kopf. Über seinen verdunkelten Augen lag immer noch ein Schleier. Es war nicht ersichtlich, ob er Rupert erkannte. „Du hast schlecht geträumt“, bedeutete Rupert ihm. „Ich hab dich aufwecken müssen, tut mir leid. Willst du’s mir erzählen?“ Ohne ein Wort nahm Miles Rupert keuchend in den Arm, er hielt ihn fest, als wolle er ihn nie mehr loslassen. Lange blieben sie so, bis Miles sich beruhigt hatte. Ruperts Herz klopfte heftig, bevor er gegen Morgen schließlich einschlummerte.
92
Kapitel 9
N
achdem Julien und Raoul die Leisten neu angebracht und selbst die Decke mit Stuck verschönert hatten, konnte man sich der Innendekoration widmen. Miles drängte auf neue, elegante Bugholzstühle, da aus den alten Billigmodellen bereits die hässlich gelbe Schaumstoffpolsterung hervorquoll. Doch was das betraf, zeigte sich Thierry zuweilen störrisch und erstaunlich sentimental; er hing an der unzeitgemäßen Einrichtung, die er seinerzeit vom Vorbesitzer übernommen hatte. „Ich komme dafür auf, Thierry“, erinnerte ihn Miles mehr als einmal. Erst die Drohung, seinen Kredit zurückzuziehen, brachte Thierry zur Vernunft. Doch er trauerte tagelang um die präparierten Tiere, die seine Fenster geschmückt hatten und nun Attrappen von Minifilmrollen und dreidimensionalen Guckkästen Platz machen mussten, die sich Anfang des Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreut hatten. „Die Viecher jagen kleinen Kindern Angst ein“, argumentierte Miles; er wurde nie müde, für seine Überzeugungen einzustehen, bis selbst der größte Skeptiker angesichts der bestechenden Logik kapitulieren musste. „Nini war ganz außer sich, als sie neulich den Hasen mit dem stieren Blick entdeckt hat. Ich wette, die Arme konnte nächtelang nicht schlafen. Außerdem haben sie absolut nichts mit unserem Thema zu tun.“ „Es gibt doch Tierfilme“, begehrte Thierry auf, doch sein Ton war schon nicht mehr so stur. „Schau, das Rehkitz, das ist der Namensgeber meines Bistros. Du kannst es nicht einfach wegwerfen. Sei nicht so herzlos!“ „Der Name muss sich ändern“, beharrte Miles. „Damit lockst du niemanden hinterm Ofen vor. Höchstens Dreijährige, und die sind noch nicht geschäftsfähig.“ „Mon dieu! Was bist du nur für ein Holzklotz!“ 93
Thierry verdrehte händeringend die Augen. Aber Rupert bemerkte, dass er es nicht so meinte und insgeheim sehr froh um Miles’ Ideenreichtum und vor allem glücklich mit der Umsetzung war, die sich von dem ehedem muffigen Bistro zum jetzigen unterschied wie der Tag zur Nacht. Der Gästeraum wirkte nun viel edler mit der Vertäfelung und den Wandlampen im Jugendstil, und wenn erst die Fenster geputzt waren, würde er noch einladender sein. Es müsste mit dem Teufel zugehen, würde die Investition nicht mit Kundschaft belohnt werden, die entweder leidenschaftliche Kinogänger oder interessierte Anglophile waren. Neben Miles gebührte der Löwenanteil daran den Delaroches. Sie waren bescheidene, hilfsbereite Leute, denen zuviel Dankbarkeit peinlich war. Gerade ihre Zurückhaltung imponierte Rupert, und er schalt sich dafür, Julien zu Beginn ihrer Bekanntschaft als unreif verunglimpft zu haben. Immerhin war es sein Tick für Filme gewesen, der dem Bistro ein Gesicht geben würde. ~*~ Vom Kurzurlaub erfrischt kam Gisèle zum endgültigen Saubermachen. Rupert begrüßte sie nicht mehr und weniger herzlich als Miles. Offenbar hatte sie sich mit Thierry ausgesprochen, das war zumindest positiv. Ausgerüstet mit einer Armada an Putzmitteln, Lappen und Besen hatte sie sich einen Kittel und ein Kopftuch umgebunden, um dem Dreck der vergangenen Wochen standesgemäß zu Leibe zu rücken. Miles hielt es nicht für fair, ihr allein die Arbeit aufzuhalsen, und so schrubbten und fegten er, Thierry und Rupert eifrig mit. Die halbblinden Fenster und Spiegel zu reinigen war ein großer Spaß; Rupert verglich es mit dem Erforschen neuer Welten. Tatsächlich wurde es gleich sehr viel heller; es blendete fast, als Rupert das Glas nachpolierte. Eine wirkliche Überraschung war, dass man den Herd nicht austauschen musste, wie Miles zuerst gemutmaßt hatte. Nach 94
einer gründlichen Überholung seitens Miles, der technisch sehr versiert war, und einer anschließenden Desinfektion von Gisèle funktionierte er tadellos und glänzte wunderschön in weißem Email. „Nächste Woche kommt die erste Lebensmittelsendung“, erklärte Miles später im blitzblanken Café, das in der Tat nicht wiederzuerkennen war. Zur Feier des Tages teilte er sich mit Rupert ein Glas Bordeaux, den Thierry seinen Helfern kredenzte. Gisèle war früher gegangen, um die Kinder bei der Großmutter abzuholen. „Hast du notiert, was ihr noch an Gerätschaft braucht zum Kochen? Neue Töpfe, Mixer, Schneebesen?“ „Bien sûr“, entrüstete sich Thierry. „Schon vor Wochen.“ „Prima. Dann werden wir das Bistro Anfang August neu eröffnen. Julien sieht sich nach den Flutlichtern für die Plakate um, dann steht einem Neuanfang nichts mehr im Weg. Aber erst müssen wir Jacques die englische Küche nahebringen.“ „Das wird schwer“, prophezeite Thierry schmunzelnd, während er mit Miles anstieß. Er blieb länger als sonst in seinem nagelneuen und funkelnden Etablissement. Viel zu lang, dachte Rupert, der seinem Klavierabend entgegenfieberte. „Du hast es so schön gemacht“, lobte Thierry Miles, der zufrieden auf einem der noblen, neuerworbenen Stühle wippte und rauchte. „Alleine hätte ich es nie geschafft. Und ehrlich gesagt, ich hätte nicht geglaubt, dass du es tatsächlich durchziehst. Ich war oft unmöglich, dafür möchte ich mich entschuldigen; auch für Jacques. Im Prinzip ist er auch froh, dass es wieder aufwärts geht, er kann es eben nicht so zeigen. Aber ich habe meine Lektion gelernt. Es ist gut, sich auf andere zu verlassen. Danke an euch beide. Wenn ihr wollt, stelle ich euch auf Lebenszeit als Garçons ein.“ „Du klingst eher, als wolltest du uns loswerden, jetzt nachdem alles erledigt ist“, zog ihn Miles auf. „Freu’ dich nicht zu früh; du wirst dich noch eine Weile mit uns
95
rumschlagen müssen. Zumindest so lange, bis Jacques und du ordentlich Fish ’n Chips zubereiten könnt.“ Allmählich wurde Rupert ungeduldig. Es war sehr spät; Thierry schien im Bistro übernachten zu wollen, so sehr gefiel es ihm. Um Miles auf ihre geweihte Stunde hinzuweisen, improvisierte Rupert ein wenig lustlos auf dem Klavier. Vielleicht gelang es ihm, sich Thierry auf diskrete Art zu entledigen. Doch der hüpfte plötzlich wie vom Hafer gestochen vom Stuhl und strahlte, wobei er einen verstohlenen Blick auf Miles warf. „Weißt du was, Rupert? Ich habe eine Idee! Ich spiele leidlich Akkordeon. Jetzt, da du das Klavier repariert hast, könnten wir doch gelegentlich zusammen musizieren? Ich glaube, die Gäste wären begeistert.“ Kaum hatte er den Vorschlag unterbreitet, huschte er in die Vorratskammer und tauchte mit einem rot lackierten, teuer und viel zu schwer für ihn erscheinenden Schifferklavier wieder auf. „Die Kinder lieben es, wenn ich spiele. Aber Gisèle nicht mehr. Früher war sie ganz verrückt danach. Genauer gesagt habe ich sie damit bezirzt.“ Verschwörerisch zwinkerte er Rupert zu, als wolle er ihm sagen, er – Rupert – habe bedauerlicherweise die Gelegenheit verpasst, aber dank seiner Musikalität noch alle Chancen bei anderen, liebreizenden Franzosenmädchen. Er würgte einen amerikanischen Schlager im Radio ab und setzte sich geschmeidig zu Rupert. „Alors, mon ami. Was spielen wir?“ „Was du möchtest“, kapitulierte Rupert seufzend. Unvermittelt begann Thierry eine eingängige Melodie zu spielen. Da er heimatliche Klänge in Form von Chansons bevorzugte, für die sich das Akkordeon bestens eignete, war Rupert mit seinem Musikgeschmack so weit vertraut, dass er ihn nach einigen Minuten begleiten konnte. Sogar er musste zugeben, dass es ganz passabel klang, besser, als er es für 96
möglich gehalten hätte. Thierry beherrschte sein Instrument. Während er spielte, wechselte er Blicke mit den beiden Engländern; in sein Gesicht war ein beseeltes Lächeln eingegraben. Sowie sie fertig waren, applaudierte Miles; sein Ausdruck reflektierte Thierrys. „Phantastisch! Damit könntet ihr auftreten! Das war famos, Thierry!“ Theatralisch verbeugte sich Thierry. „Zuviel der Ehre, Monsieur Victor. Ich bin ein wenig eingerostet. Aber das können wir ja ändern, nicht wahr, Rupert? Übung macht den Meister. Du warst auch nicht übel.“ Gleichgültig zuckte Rupert die Achseln, Miles’ offensichtliche Euphorie, die hauptsächlich auf das Akkordeon gemünzt war, verletzte ihn. Thierry schaute auf die Uhr. „Ich werfe euch ungern raus, aber wollt ihr nicht nach Hause? Es ist spät, und ich brauche ausgeschlafene Mitarbeiter.“ ~*~ Einsilbig und verschlossen machte sich Rupert bettfertig. Miles fragte nicht nach dem Grund, obschon er wohl spürte, dass den Freund etwas bedrückte. Als sie das Licht gelöscht hatten, tastete er sich vor. „Was ist los mit dir? Du bist heute so schweigsam. Hat dir der Abend nicht gefallen? Wenn Thierry mitspielt, fokussiert sich nicht die gesamte Aufmerksamkeit auf das Piano. Das ist doch erfreulich für dich, oder? Ich dachte, du stehst nicht gern im Mittelpunkt. Thierry dagegen scheint richtig aufzublühen. Der geborene Maurice Chevalier. Ihr würdet euch perfekt ergänzen.“ „Sicher“, brummelte Rupert. Er robbte an die äußerste Kante des Bettes. Miles drang nicht weiter in ihn. Am nächsten Morgen stand Rupert nach einer quälenden Nacht früher auf als gewöhnlich. Miles schlief noch, die Decke hatte er aufgrund der nächtlichen Schwüle halb weggestrampelt. 97
Rupert bedachte die dunkle Haut seiner Nackenmuskulatur und die Linie der Wirbelsäule mit einem fast zärtlichen Blick, aber innerlich zerfraß ihn ein Gefühl, das ihm Angst machte. Wie hatte Thierry es wagen können, sich derartig an Miles heranzuschmeißen? Und wie hatte sein Freund zulassen können, dass er sie um ihren Abend brachte? Die letzten Stunden des Tages gehörten ihm und Miles, das wusste er genau. Zu so früher Stunde war nur das geschäftige Hotelpersonal auf den Beinen. Hoffentlich begegnete er Julien nicht, der wäre der Letzte, den er jetzt sehen wollte. Im Badezimmerspiegel hatte er dicke Ränder unter seinen Augen festgestellt. Neugierig wie er war, würde der Page postwendend Morgenluft wittern. Im Freien schützte er seine empfindlichen Augen mit einer Sonnenbrille und schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Frühstückshunger hatte er keinen. Er war seltsam ruhelos und streifte etwa zwei Stunden ziellos durch die Stadt. Nach einiger Überlegung kaufte er eine Metrokarte, worüber er höchst erschrocken war. Er hasste U-Bahnen und Menschenansammlungen im Allgemeinen, was tat er nur? Neigte er plötzlich zu Masochismus, nur weil Miles an einem Abend ausgebrochen war aus ihrer Routine? Aber er hatte es doch genossen! Er hatte doch nur für Miles gespielt, und das war der Dank dafür! Unschlüssig drehte er die Karte hin und her, bis sie zwischen seinen Fingern ganz feucht wurde. Wenn er das Geld nicht verschleudern wollte (und er war zur Sparsamkeit erzogen worden), musste er sie einlösen. In der Hosentasche fand er einen zerknitterten Zettel mit Thierrys Privatadresse, die Thierry ihnen in der Absicht, sie zu sich nach Hause einzuladen, notiert hatte. Er spähte auf die Uhr. Um diese Zeit war Thierry normalerweise im Bistro. Wahrscheinlich war Miles auch schon da. Dass er sich Sorgen um Rupert machte, glaubte er nicht. Er wollte ja immer, dass er selbständiger wurde und nicht an seinem Rockzipfel hing. 98
Tief durchatmend glättete er den Wisch. Er hatte keine Ahnung, wohin er fahren musste, aber es war die einzige Adresse, die er kannte. Auf gut Glück stieg er in eine Bahn, wo er sich nah am Ausgang hielt, um das Fenster im Blick zu haben. Solange er nach draußen sehen konnte, war es nicht ganz so schlimm. Ein älterer Herr tippte an seine Schulter. „Wohin wollen Sie?“ Himmel, er sprach Englisch! Rupert verschluckte sich beinahe. Durch den Blickwechsel bedingte Übelkeit stieg in ihm hoch, als er sich seinem Retter zuwandte. „Hier hin“, krächzte er und deutete auf den Fetzen Papier. Der Mann studierte es. „Das ist im dreizehnten Arrondissement. Sie sind völlig verkehrt, junger Mann. Diese Bahn fährt ins siebzehnte.“ „Hel-helfen Sie mir? Ich muss dorthin, vielleicht könnten Sie mir den Weg zeigen? Ich wäre Ihnen sehr verbunden.“ Der alte Franzose war ein Engel; er ließ sich nicht lange bitten. Sicherheitshalber kaufte er Rupert eine Straßenkarte, in der die Arrondissements verzeichnet waren und brachte ihn auch zur richtigen Bahn. „Junge Leute wie Sie sollten nicht alleine unterwegs sein“, empfahl er sich mit einem Lüpfen seines Hutes. „Kommen Sie gut an!“ Diese Bahn war deutlich voller als die erste; er erbeutete trotzdem einen Sitzplatz und starrte hinaus, während er Augen und Ohren schärfte, um die Erwähnung der Straße nicht zu versäumen. Im Takt des Zuges schaukelte er leicht hin und her, um sich mental abzuschotten. Wenn es bloß nicht mehr weit war! Die Panik griff mit eiserner Faust nach seiner Gurgel, und er meinte, ersticken zu müssen. Knoblauchartige Ausdünstungen und Schweißgeruch von überall ließen seinen Magen rebellieren. Ein paar Mal würgte er und lockerte seinen Kragen, doch Gott sei Dank blieb die Attacke eines Anfalls aus. ~*~ 99
Die Gegend, in der die Levants ein kleines Einfamilienhaus besaßen, war nicht die feinste, aber für Rupert fühlte sie sich nach dem glücklich überstandenen Abenteuer wie eine Heimkehr an, die Oase inmitten der Wüste. Jetzt brauchte er nur noch die Hausnummer zu finden. Das musste zu schaffen sein. Allerdings sank ihm der Mut, als er sich fragte, weshalb er eigentlich dieses Husarenstück auf sich genommen hatte. Na gut, Thierry würde sich freuen, aber was, wenn er tatsächlich schon im Bistro war? Bald kam das Häuschen in Sicht, gepflegt mit Vorgarten und einem Klettergerüst für die Kleinen. Es sah verlassen aus. Natürlich, die Kinder waren in der Vorschule oder bei Thierrys Mutter, seit Gisèle im Bistro mithalf. Er sah sich um, wagte es aber nicht, durch den Garten zu gehen und zu klingeln. Wahrscheinlich hatte er sowieso Pech. Doch der Gedanke, wieder die Metro zu benutzen, hielt ihn davon ab, unverzüglich den Rückzug anzutreten. Er schluckte und ließ die Arme hängen. Auf einmal sehnte er sich nach Miles. Vielleicht sorgte dieser sich doch um Ruperts Verbleib; er hatte gar keine Nachricht hinterlassen in seinem Schmollwinkel. „Rupert! Bist du’s wirklich? Na so eine Überraschung!“ Ihre Augen mit der Handfläche beschirmend eilte Gisèle ihm auf den Gartenfliesen entgegen. Sie trug eine ärmellose Bluse und einen Petticoat, der sich um ihre Beine bauschte. Sie sah entzückend aus. „Wie kommst du denn hierher? Ich dachte, du bist mit Victor bei Thierry?“ „Das … das sollte ich“, stotterte er. „Aber ich … wollte dich sehen. – Entschuldige, ich hab – hab die Blumen vergessen.“ Sie kam näher und fasste seine Hände. „Ist das eine Verabredung? Wie süß!“ War es das? Konnte sein. Trotz seines Gestammels waren ihm die Worte nicht allzu schwergefallen, da er emotional nicht bei der Sache war. Er liebte Gisèle nicht, und es verwunderte ihn, wie er sich zu einer solchen Kurzschlussreaktion hatte hinreißen lassen. Am besten, er 100
kehrte einfach wieder um. Aber die Metro … ein zweites Mal würde er das nicht durchstehen; er zitterte jetzt schon wie unter Schüttelfrost. „Ich bin auf dem Weg in die Stadt“, plapperte sie. „Komm’ doch einfach mit, und wir trinken einen Kaffee.“ Ehe er wusste, was er tat, ging er aufs Ganze: er zog er sie an sich und küsste sie derb auf den Mund. Gisèle reagierte anders als erwartet: mit ihrer Handtasche, in der sie Blei zu transportieren schien, holte sie aus und ohrfeigte ihn. Rote Sternchen auf schwarzem Grund tanzten vor Ruperts Augen, als er um sein Gleichgewicht rang. Er taumelte an den Zaun, wo er sich gerade noch fing. Gisèle schnaufte. „Du Schwein!“ rief sie außer sich. „Du glaubst wohl, alle Französinnen seien Flittchen?! Ich hab dich ganz falsch eingeschätzt, das kann ja nicht wahr sein…“ Entsetzt stellte Rupert fest, dass er sich während des Sturzes übergeben hatte und blutete. Er blinzelte und merkte, dass sein linkes Auge zugeklebt war. Gottlob hatte er wenigstens die Sonnenbrille nicht mehr auf; in Augennähe brachten Scherben selten Glück. Die Frau hatte ihn mit voller Wucht an der Schläfe getroffen. „Gisèle“, winselte er. „Es tut mir leid, mir geht es gar nicht gut … ich hab’s nicht so gemeint, das musst du mir glauben. Bitte – kannst du mich ins Hotel zurückbringen?“ Gisèle war keine, die echte Not nicht von Heuchelei unterscheiden konnte; vorsichtig näherte sie sich ihm und beäugte die Platzwunde. Sie fischte ein Taschentuch aus der Handtasche und presste es kurzerhand mit überraschend starkem Druck auf die blutende Stelle, während sie seinen Kopf mit der anderen Hand aufrecht hielt. Zimperlich war sie wirklich nicht. „Um Gottes Willen, Rupert. Das Auto hat Thierry, wir müssten mit der Metro fahren. Und in deinem Zustand … du erschreckst ja die Leute. Leg’ dich erst hin. Keine Angst, die Kinder sind nicht da. Ich werde einem Doktor telefonieren.“
101
Energisch führte sie ihn ins Haus, die Wohnung war klein aber sauber, er hatte Angst, alles mit dem Blut zu versauen. „Nur keine Umstände“, wehrte er ab, doch sie ignorierte ihn und gab ihm eine Beruhigungspille, nach deren Einnahme er wegdämmerte. ~*~ Die kleine Operation, die der benachrichtigte Doktor an ihm vornahm, indem er die Wunde nähte, bekam Rupert nur verschwommen mit. Gisèle hielt fürsorglich seinen Kopf in ihrem Schoß, aber er wäre ohnehin zu keiner Bewegung fähig gewesen. Sein Wimmern ließ sie vermuten, er leide Schmerzen, und so packte sie ihn fast gewaltsam am Schopf und flüsterte in Französisch auf ihn ein. Die Worte klangen beruhigend und melodisch. Er fühlte sich beinahe wie ein Neugeborenes, das dem für ihn noch unverständlichen Gebrabbel seiner Mama lauschte. Als der Arzt den letzten Stich gemacht hatte, rollte Ruperts Kopf zur Seite. Erstaunlicherweise trübte der heftig aufflammende, ziehende Schmerz sein Wohlbefinden erst nach dem Eingriff. Die Wirkung der Tablette ließ nach, und er glaubte, seine Schläfe müsse im nächsten Moment explodieren. Gisèle redete ihm weiter gut zu, aber es nützte nichts mehr. Wie eine gewaltige Welle überspülte ihn die Panik, die er sich in der Metro versagt hatte. Er war allein in einer fremden Umgebung, und wahrscheinlich würde er hier mit einer penetrant nach Stall riechenden Decke auf dem Sofa an einem Nervenanfall dahingerafft werden, ohne Familie, ohne Freunde. Er versuchte sich aufzurichten, konnte es aber nicht und wurde noch nervöser. Durst hatte er ebenfalls, doch die schöne Frau, seine Mutter, war nicht mehr da. Plötzlich hörte er eine Tür und Stimmen durcheinanderreden, jemand kniete an seinem Totenlager nieder und streichelte sein Gesicht. Unter furchtbarer Anstrengung öffnete er flackernd das nicht verbundene Auge. Sowie er verstand, wer bei ihm saß, verebbte die Erregung, und er konnte freier atmen. Miles’ Stimme war Balsam für 102
seine Seele, sanft und voller Verständnis drang sie in sein Bewusstsein. „Was machst du denn für dumme Sachen? Thierry und ich haben dich überall gesucht. Du hast mir eine Scheißangst eingejagt.“ „Miles … Gott sei Dank …“ „Du lieber Himmel“, entfuhr es Gisèle. „Er phantasiert!“ „Das werden die Medikamente sein“, begründete Thierry sachlich Ruperts vermeintlichen Fauxpas und stellte sich hinter seine Frau, wobei er ihre Schultern umfasste. Beide starrten in grausiger Faszination auf Rupert. Miles fuhr fort, ihn zu streicheln; seine Fingerkuppen modellierten meditativ Ruperts Haaransatz nach. Rupert schloss die Augen. Er war nicht mehr dem Tod nah. Blind griff er nach Miles, der seine Hand einfing. „Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich habe nicht geahnt, dass es dich so kränkt.“ Er drehte sich zu den Levants um. „Leihst du mir deinen Wagen, Thierry? Ich bring’ ihn ins Hotel zurück.“ „Lass ihn doch noch ein bisschen ausruhen. Uns stört’s nicht, oder Gisèle? Er sieht ganz spitz aus. Sicher der Schock.“ „Ich bin okay“, wehrte Rupert ab und richtete sich mit Miles’ Hilfe auf, der zustimmend nickte. „Es sieht dramatischer aus als es ist.“ Der Gestank der Decke brachte Rupert fast um. Er hatte nicht gewusst, dass Thierry in seiner Freizeit Reiter war. Keine Minute länger wollte er in diesem Haus bleiben, wo er die Schmach seiner frevelhaften Tat vor Augen hatte. Thierry setzte sich in Bewegung, um ihn zusammen mit Miles zu stützen. „Dann fahr’ ich euch beide. Aber du musst versprechen, bei ihm zu bleiben, Victor. Der Arme ist ja völlig verwirrt.“ Gemeinsam fuhren sie in die Innenstadt, Miles blieb im Fond an seiner Seite, damit Rupert sich an ihn lehnen konnte. Er war erschöpft, aber trotzdem glücklich. Was Gisèle ihnen wohl erzählt hatte? Sicher nicht die Wahrheit, denn die rückte
103
weder ihn noch sie in gutes Licht. Zudem wäre Thierry dann nicht so besorgt. Was weiter geschah, die Rückfahrt und die Ankunft im Hotel, war später in Ruperts Erinnerung nur noch schemenhaft. Wie er in den dritten Stock gekommen war, entzog sich komplett seiner Kenntnis. Miles flößte ihm schluckweise ein Glas Wasser ein, wobei er behutsam seinen brummenden Schädel anhob. Er war nicht nur ein erstklassiger Psychologe, Fotograf und Schreiber, nein, er verstand auch noch etwas von Krankenpflege. „Bleibst du hier?“ fragte Rupert ängstlich. „Bitte geh’ nicht weg.“ „Ich bin hier, bis du dich besser fühlst“, beschwichtigte ihn Miles. „Du bist mir einer! Fährst mit der Metro, dabei weißt du genau, dass das nicht gut ist für dich. Und dann kletterst du noch auf einen Baum, um Kirschen für Gisèle zu pflücken und holst dir eine Gehirnerschütterung. Du wolltest mir eins auswischen, oder? Wegen Thierry und seinem gottverfluchten Akkordeon.“ Rupert verlangte nach mehr Wasser, das wie ein kühlender Strom durch seine brennende Kehle rann. Reumütig bestätigte er Gisèles Lüge. Sie war nicht schlecht und gab ihm sogar den Anstrich eines verwegenen Kavaliers. „Ist es jetzt – wieder gut zwischen uns?“ Gerührt zupfte Miles an den vom Verband abstehenden Haarspitzen. „Wie kommst du darauf, dass ich dir böse war? Es ist doch meine Schuld. Ich hätte das wissen müssen. Du glaubst gar nicht, was mir unsere Abende am Klavier bedeuten. Trotzdem war es kindisch, was du getan hast. Kindisch und gefährlich. Der alte Miles sollte dich dafür übers Knie legen.“ „Ich möchte ein wenig schlafen“, murmelte Rupert. „Lass mich nicht allein. Mein Kopf schmerzt höllisch.“ „Ich geb’ dir was gegen die Schmerzen“, sagte Miles und löste ein Päckchen Aspirinpulver auf, das Rupert gehorsam schluckte. 104
~*~ Spät am Nachmittag kam er allmählich wieder zu sich; die Medizin hatte einen komatösen Schlaf zur Folge gehabt. Es ging ihm etwas besser, doch als er aufstehen wollte, sank er wie ein gefällter Baum aufs Kissen zurück. Miles lag neben ihm, er war ebenfalls eingedöst. Sein ausgestreckter Arm ruhte halb auf Rupert, und er realisierte ein Heftpflaster auf der helleren Unterseite, das ihm schon früher aufgefallen war. Damals hatte er es als Schutzmaßnahme einer kleinen Verletzung abgetan; dass er es allerdings immer noch trug, erstaunte ihn. Er nahm Miles’ Arm und legte ihn aufs Bett. Seufzend wurde Miles wach. Seine Augen musterten Rupert anteilnehmend, der sein Schweigen dazu nutzte, nach der ominösen Schramme zu fragen. Einen Augenblick zuckte Miles zusammen, seine Augen weiteten sich perplex. Er erwiderte nichts, sondern sah Rupert weiter undurchdringlich an. Am liebsten hätte dieser sich die Zunge abgebissen. Seine Wissbegier war Miles unangenehm, das war mehr als deutlich. „Entschuldige, ich hätte nicht - “ „Doch“, sagte Miles. Ist schon in Ordnung.“ Mit einem Ruck streifte er das Pflaster von der Haut. Zum Vorschein kam eine eingeritzte Zahlenkombination, auf die Rupert sich keinen Reim machen konnte. „Was ist das? Ein Studentenscherz? Davon hab ich aber nichts mitbekommen. Bei den Mutproben war ich meistens außen vor.“ „Ich bin gar nicht Miles Mayhew“, erklärte Miles ernst. „Ich war siebzehn, als sie uns ins Lager brachten.“ Siedendheiß verwünschte Rupert seine Taktlosigkeit. Voller Entsetzen verschloss er seinen Mund mit beiden Händen. Was war sein vorübergehendes Elend verglichen mit einem so grausamen Schicksal? Er konnte es gar nicht recht glauben, was Miles da andeutete. Eine solche Vorgeschichte konnte und durfte Miles nicht haben! „Oh, Miles … das ist furchtbar!“
105
Er kroch zu ihm und wollte ihn an sich ziehen, doch Miles richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Sinnend betrachtete er die Tätowierung. „Meine Familie war in Auschwitz. Meinem Vater und mir gelang die Flucht, aber er – hat es nicht geschafft. Er war zu geschwächt von den Strapazen dort. Ich habe mich in einem Heuwagen versteckt und es bis zum Hafen geschafft, wo man die Kinder nach Großbritannien ausschiffte. Ich musste mich jünger ausgeben als ich war, sonst hätte man mich zurückgeschickt. Bis der ganze Papierkram erledigt war … mein Gott! Als verhandle man über Menschenleben. Und ich saß am Pier auf glühenden Kohlen. Bis zuletzt dachte ich, niemand würde mich wollen in einem Land, in dem ich die Sprache nicht beherrschte und das mir auch sonst so fremd war. Aber ich hatte Glück und wurde von den Mayhews adoptiert, obwohl ich eigentlich viel zu alt war, um in eine Familie eingegliedert zu werden. Aber sie hatten keine Söhne, meine neuen Eltern, und waren jüdischer Abstammung. Das hat mir den Hals gerettet.“ Rupert war wie gelähmt vor Schreck, der ihm durch Mark und Bein gefahren war. Dazu verstörte ihn Miles’ Bericht, den er ohne jegliche Gefühlsregung schilderte. Innerlich zeriss es ihn beinahe, er schnappte nach Luft, brachte aber keinen Ton heraus. Als würde er den Aufruhr seines Freundes nicht bemerken, fuhr Miles mit objektiv klingender Stimme fort: „Mein wirklicher Name lautet Milos Kaminski. Komisch, oder? Mein bester Freund kennt mich nur als Miles. Ich komme ursprünglich aus der Tschechoslowakei. Dort habe ich mit meinen Eltern und zwei Schwestern gewohnt, bis die Nazis einmarschierten. Und nicht mal schlecht. Allerdings bin ich recht gut entschädigt worden, denke ich. Mein jetziger Vater hat mich gleich nach meiner Ankunft auf Oxford gedrillt. Und du siehst ja, wie ich lebe. Paris zu zweit auf unbestimmte Zeit, das kann sich nicht jeder leisten.“ 106
Über die Schulter lächelte er Rupert an, doch er war nicht in der Lage, die Traurigkeit in seinem Gesicht zu verschleiern, obwohl er so tapfer berichtet hatte. Rupert setzte sich neben ihn und legte den Arm um seine Taille und den Kopf an seine Schulter. Worte, das spürte er instinktiv, waren fehl am Platz. Doch er wollte Miles zumindest wissen lassen, wie sehr er mit ihm fühlte. „Meine Mutter war eine brillante Pianistin. Fast so gut wie du. Chopin hat sie am liebsten gespielt. Vor dem Einschlafen von uns Kindern. Deshalb hör’ ich dich so gerne. Manchmal, wenn ich die Augen zumache, während du spielst, seh’ ich sie richtig vor mir.“ Die Tränen liefen Rupert über die Wangen und benetzten Miles’ Hemd. Er war sprachlos und suchte verzweifelt Miles’ Hand, der seine sachte drückte, wie um ihn zu begütigen statt umgekehrt. „Nicht weinen, Rupert. Das ist lange her. Das Pflaster hilft mir, nicht jeden Tag daran zu denken. Irgendwann verblasst die Erinnerung wie diese Zahlen da.“ „Du hattest vor kurzem einen Alptraum“, fiel es Rupert wieder ein, seine Stimme war nur ein Hauch. Jetzt war das Ganze plausibel: Miles’ Angst, sein Griff, mit dem er ihn umklammert gehalten hatte. Vielleicht hatte er im Traum einen Familienangehörigen schützen wollen. „Ich konnte dich nicht aufwecken, obwohl ich es versucht habe. Ich wollte nicht mehr darüber sprechen, weil ich dachte, es sei unwichtig. Aber ich glaube nicht, dass man so ein Erlebnis je vergessen wird. Oh Miles, wenn es etwas gibt … ich tue alles.“ „Sei einfach du selbst“, sagte Miles ohne sichtliche Regung. „So wie bisher. Ich wollte es dir gar nicht sagen. Das geht niemanden etwas an. Und fang’ bloß nicht an, mich zu bemitleiden. So -“ Tatkräftig schlug er mit beiden Händen auf seine Oberschenkel. „Ich gehe zu Thierry, sonst dreht er durch ohne Hilfe. Und du bleibst schön liegen, verstanden? Du musst dich schonen.“
107
Kapitel 10 atsächlich fiel es Rupert nach Miles’ Beichte schwer, ihn nicht zu bemuttern. Wie er schon früher erkannt hatte, hatte Miles Fürsorglichkeit nicht nötig; sie war ihm sogar lästig, wenn man zu plump agierte, doch Rupert konnte nicht aus seiner Haut. Ständig musste er wissen, was Miles machte, wie es ihm ging, und er wurde unruhig, sobald sie länger als eine Stunde voneinander getrennt waren.
T
~*~ Eingedenk Miles’ Erzählung über seine Mutter verteidigte Rupert ihre Klavierabende von nun an rigoros. Selbst mit Jacques legte er sich an, der eher im Scherz behauptete, er müsse Tag und Nacht im Bistro werkeln, bis sich ihm die Anziehungskraft eines breiigen Porridges erschloss, über das man haufenweise Zucker streute, um den Geschmack zu verfälschen, der ohnehin nicht vorhanden sei. Allerdings war Jacques selten zu Scherzen aufgelegt, so dass man nie wirklich unterscheiden konnte, ob er eine Bemerkung ernst meinte oder nicht. „O làlà“, sagte er erstaunt, als Rupert ihn beinahe herrisch ersuchte, das Lokal spätestens nach Mitternacht zu verlassen. „Gibt es da ein Geheimnis, von dem keiner wissen darf, mein kleiner Rupert?“ Um seine Worte zu unterstreichen und ihn zugleich zu demütigen, packte er Rupert süffisant grinsend am Kinn und hob es an. Seine veilchenblauen, funkensprühenden Augen schienen ihn aufspießen zu wollen. Er erreichte sein Ziel: als der körperlich Größere fühlte sich Rupert in der Tat erniedrigt. „Lass ihn“, befahl Thierry. „Ich hab mit Victor darüber geredet, das geht völlig d’accord. Es hat nichts zu bedeuten. So wie sich die beiden plagen wegen uns, sollte man ihnen
108
noch viel mehr zugestehen. Das ist der kleinste Gefallen, den ich ihnen tun kann, Jacques.“ „Ach, mit dem großen Victor gesprochen hast du. Der ist ja quasi der Geschäftsführer, n’est-pas? Da hab ich natürlich nichts zu melden.“ Mit einer rüden Geste ließ er Ruperts Kinn los und kratzte ihn wie unabsichtlich dabei. Rupert ließ die Grobheit unkommentiert und schickte sich an, weiterzutapezieren. Miles war mit Monsieur Delaroche unterwegs; offenbar zeigte ein Verlag reges Interesse an einer Publizierung ihrer Fotos. Mit den Gedanken in Raouls Laden, in dem zur Stunde vermutlich eine Geschäftsbesprechung stattfand, machte sich Rupert an die Arbeit und summte ein Chanson, das er Thierry vor längerem hatte singen hören. Der assistierte und gab sich Mühe, Ruperts abwesenden Teampartner würdig zu vertreten. „Er hat halt den Vorteil einer ungewöhnlichen Länge“, entschuldigte er sich bei Rupert, wenn er eine Bahn verhedderte, die sich dann nicht selten einringelte und aneinanderpappte. „Das macht viel aus beim Renovieren. Darum ist Raoul auch so geschickt, aber Victor natürlich der ideale Heimwerker.“ „Victor, Victor save the Queen and Victory forever”, trällerte Jacques im Hintergrund in einer Art Spottgesang. Miles war ihm ein Dorn im Auge; von Anfang an waren Spannungen zwischen den beiden zu spüren gewesen. Auch Jacques besaß wie Miles ein perfektionistisches Wesen, doch ihm fehlten die Wärme und die Umgänglichkeit, mit der Letzterer seine Pläne verwirklichte, und er würde sie nie haben. Darum erklärte sich Rupert seine Feindseligkeit als puren Neid. Für ihn war es am leichtesten, Jacques zu ignorieren, denn mit gleicher Münze konnte er es ihm nicht heimzahlen. Hohngelächter und das Schlechtmachen anderer Leute verachtete er. Miles hätte in der jetzigen Situation vermutlich nach der Wilde-Maxime gehandelt „Liebe deine Feinde – nichts verärgert sie mehr.“
109
„Du machst es ganz gut“, tröstete Rupert Thierry. Er war entschlossen, sich von dem rauhbeinigen Kerl nicht provozieren zu lassen. „Du und dein blödes Engländergesicht“, schimpfte Jacques plötzlich wüst. „Ich kann’s nicht mehr ertragen! Überall seh’ ich’s, selbst wenn du gar nicht da bist! Ich wünschte, ihr hättet nie französischen Boden betreten!“ Verblüfft blieb Rupert der Mund offenstehen, als Jacques den Pinsel in den Eimer schleuderte. Der Kleister spritzte hoch auf und lief an den Wänden und der Leiter herunter, auf der Rupert balancierte. „Jacques!“ mahnte Thierry, indem er die Hände schlichtend auf und ab bewegte. „Was soll das? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Victor und Rupert sind unsere Freunde!“ „Deine Freunde!“ blaffte Jacques. „Ich wollte sie nie hier haben! Siehst du nicht, dass Rupert hinter Gisèle her ist?! Er tut so unschuldig, aber in Wirklichkeit hat er es faustdick hinter den Ohren!“ „Das stimmt nicht. Du magst mich nicht, darum geht’s“, verwahrte sich Rupert. Sein Ton war sachlich und nicht zu laut, um etwaige Skepsis zu erregen. Miles wäre stolz auf ihn. „Und wenn du etwas Persönliches mit mir zu besprechen hast, können wir das nach Feierabend klären, okay?“ Eine kurze Weile, die Rupert wie die Ewigkeit schien, maßen sie sich mit Blicken. Jacques’ Stirn, auf der eine Ader anschwoll, war umwölkt, er kochte innerlich, das war ihm anzusehen. Erbärmlich, wenn ein Mann seine Emotionen nicht wenigstens zügeln konnte. Thierry schaute hellhörig zwischen ihnen hin und her. Die Geschichte mit Gisèle kaufte er seinem Schwager nicht ab; er wusste um den nahezu argwöhnischen Drang, mit dem Jacques über Gisèle wachte, als sei sie immer noch das kleine Mädchen, das seines brüderlichen Schutzes bedurfte. Um diesen Mythos aufrecht zu halten, griff er mitunter zu drastischen Mitteln, so wie eben jenes der Untreue. Doch Gisèle liebte nur ihn – Thierry, trotz der Krise,
110
die sie gerade durchmachten. Im Urlaub an der Küste hatte sie es ihm beteuert und auch gezeigt. Von Jacques’ ewigem Genörgel und seinen Befürchtungen, Gisèle sei Freiwild für andere Männer, ließ er sich nicht ins Bockshorn jagen. In vieler Hinsicht war Thierry ein Gemütsmensch, der nur das glaubte, was er sah. Zum Glück für Rupert, denn ganz aus der Luft gegriffen war die These, die Jacques da aufstellte, zumindest oberflächlich betrachtet ja nicht. Endlich wich Jacques aus, bückte sich und langte nach dem Pinsel. „Bist ein Revolverheld, eh? Ich dachte, die gibt’s nur im Amiland. Na gut, schließen wir Frieden.“ Aber er kam nicht zu Rupert, um ihm versöhnlich die Hand zu reichen. Etwas später platzte Miles mit Raoul im Fahrwasser ins Bistro. Er war ganz außer Atem, packte Ruperts Mitte, der immer noch auf der Leiter stand und stellte ihn nach einem halben Schwung um sich selbst auf den blank gewienerten Holzboden. Dann nahm er Ruperts Gesicht zwischen die Hände und küsste ihn geradewegs und ungeniert auf den Mund. Das Geräusch dröhnte in Ruperts Ohren, er wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Zugleich elektrisierte ihn die Weichheit von Miles’ Lippen derart, dass er fast den Halt verlor und froh war, dass Miles besitzergreifend den Arm um ihn legte, als er sich grinsend den anderen zuwandte, die sie neugierig umringt hatten. „Ihr dürft uns gratulieren. Wir sind autorisierte Schriftsteller, Rupert und ich.“ „Formidable!“, freute sich Thierry und klopfte Miles auf die Schulter. „Das sind tolle Neuigkeiten!“ „Das Buch geht mit einer Erstauflage von tausend in Druck“, explizierte Miles Rupert aufgewühlt, wobei er ihn mehrmals an sich presste und ihn dabei von den Füßen riss, wie um sicherzugehen, dass Rupert ihn auch richtig verstand. „Und es wird in sämtlichen französischen Buchhandlungen ausliegen! Ist das nicht ein schönes Gefühl? Man sichert uns 111
dreizehn Prozent vom Erlös jeden Buches zu. Das ist ein ungewöhnlich hohes Honorar. Raoul hat knallhart verhandelt mit dem Burschen, du hättest ihn sehen sollen.“ Rupert nickte, in seinem Kopf drehte sich alles vor Glück. Er sah Raoul an, der ihn feierlich beglückwünschte. „Es kann gar nicht schiefgehen. Der Verlag ist sehr renommiert und wird Ihr Buch über die Grenzen von Paris hinaus bekannt machen. Dass die Verleger Vertrauen in die Verkaufskraft des Werkes haben, ersieht man an der hohen Auflagenzahl. Sobald es erhältlich ist, hätte ich mein Exemplar gerne signiert.“ Er zwinkerte Rupert eigentümlich schalkhaft zu, während Thierry Miles bestürmte, ihm ebenfalls ein Exemplar zu widmen. „Sie haben Victor die große Gewinnspanne zu verdanken, nicht mir. Ich würde es nie wagen, mich mit Monsieur Carton zu streiten.“ ~*~ Kurz bevor sie das Lokal abschlossen, tranken Rupert und Miles gemeinsam eine Flasche Wein am Klavier. Rupert amüsierte sich über Miles’ Grimassen, die er jedes Mal zog, wenn er das Glas absetzte. Dennoch fühlte er sich verpflichtet, Rupert beim Trinken Gesellschaft zu leisten. „Ich weiß nicht, was die Leute daran mögen“, vertraute er Rupert an. „Jede Sorte schmeckt scheußlich.“ „Du wirst dich dran gewöhnen müssen. Immerhin wohnen wir im Land des Weines. Wenn du weiterhin abstinent bleibst, beleidigst du deine Gastgeber. Außerdem muss der Tag gefeiert werden, das macht man nun mal üblicherweise mit Alkohol, ob es dir passt oder nicht.“ „Hm“, machte Miles vage. Sein Blick wanderte ins Leere, als er über Ruperts Kopf hinweg das Fenster fixierte. „Was hast du?“ Neben dem Klavier stieß ihn Rupert, der auf dem Schemel hockte, flüchtig an die Wade. „Au!“ Empörung markierend rieb Miles sich den Unterschenkel, bevor er auf seine Fingernägel schaute und so beiläufig wie möglich antwortete. „Thomas hat geschrieben. Mein Hotelier aus Oxford.“ 112
„Ich kenn’ ihn“, unterbrach ihn Rupert; von einer schlagartig einsetzenden, befremdenden Gereiztheit befallen kribbelten seine Beine. „Und?“ „Deine Eltern suchen dich, weil sie sich große Sorgen um dich machen. Sie vermuten sogar, dass du in Paris bist und planen eine Reise hier her.“ Rupert schnellte hoch. Sein Teint wurde abwechselnd bleich und dunkelrot vor Scham, Miles beschwindelt zu haben. Und er verteufelte das Gluckengehabe seiner Mutter. Gewiss war die Initiative von ihr ausgegangen, nachdem Rupert ein Vierteljahr nichts von sich hatte hören lassen. Eigentlich erstaunlich, dass sie nicht gleich nach der Ankunft des Briefes die Pferde scheu gemacht hatte. Er vermutete, dass sein Vater ihn abgefangen und seine Frau nicht unnötig mit dem Inhalt konfrontiert hatte. Ihm selbst dünkte er wahrscheinlich ganz vernünftig. „Das kann nicht sein! Die wissen doch gar nicht … ich hab doch nicht …“ Miles’ Blick wurde streng, er hatte ihn noch nie so erlebt, nicht aus eigener Erfahrung. „Was hast du ihnen am Telefon gesagt?“ Er war noch nicht wütend, aber kurz davor. Rupert tat es beinahe körperlich weh, Miles’ Unmut auf sich zu ziehen, und das auch noch zu Recht. „Nichts … nichts, was auf meinen Aufenthaltsort schließen könnte. Nur dass ich auf Kur bin, so wie du es vorgeschlagen hast.“ „Ich glaube, du lügst. Deine Eltern kommen ganz gut ohne dich klar, es sei denn, du hast ihnen etwas erzählt, das sie in Aufregung versetzt hat.“ Resignierend sank Rupert auf den Schemel zurück. „Ich konnte nicht anrufen. Darum habe ich einen Brief geschrieben, in dem ich ihnen mitgeteilt habe, dass ich auf Anraten meines Arztes eine Weltreise unternehme. Ich habe nicht daran gedacht, dass der Poststempel mich verrät.“
113
Miles betrachtete ihn ein wenig entgeistert. Von dem Brief hatte ihm der Kommilitone geschrieben, doch er hatte nicht geglaubt, dass es stimmte. Andererseits – wie sollten die Eltern sonst von Ruperts Aufenthalt informiert worden sein? „Ist schon gut, mach’ dich nicht fertig deswegen. Allerdings werde ich Konsequenzen ziehen. Wenn man dich findet, findet man auch mich. Wir müssen uns trennen, Rupert.“ „Nein!“ Es war ein regelrechter Aufschrei. „Miles – wir verlieren doch nichts, wenn ich ihnen noch mal schreibe. Diesmal die Wahrheit. Meine Bewerbung kann warten, das wird mein Vater einsehen. Ich erkläre ihnen, dass ich ein Jahr Urlaub nehme, bevor ich den Ernst des Lebens antrete. Das verstehen sie. Dich werde ich gar nicht erwähnen. Es wäre mir nur lieb, wenn diese blöde Angelegenheit mit dem Arzt und meiner eingebildeten Krankheit aus der Welt wäre, die hat sie sicherlich beunruhigt.“ „Also gut. Ich werde aber früher oder später ohnehin weiter müssen.“ „Mit mir“, insistierte Rupert fest. „Ich schreibe wirklich nicht von dir, das verspreche ich. Bitte vertrau’ mir. Ich hab dich auch nicht im ersten Brief erwähnt, obwohl zumindest meine Mutter es wohl begrüßen würde, wenn sie wüsste, dass ich mit dir unterwegs bin. Sie hält dich für einen sehr vernünftigen jungen Mann.“ Zur Betonung seines Gelöbnisses führte er die entsprechende Gestik des Überkreuzens über seiner Brust aus. Miles lächelte und hob sein Kinn an, ganz anders als Jacques am Nachmittag. Zugetan heftete er den Blick auf Rupert und die frische, rötlich-violett schimmernde Narbe an dessen Schläfe, das Souvenir an Gisèles Selbstverteidigung. Eine Zartheit war in dieser Gebärde, die Rupert schier den Atem raubte; er hoffte, er würde sie nicht durch eine unbedachte Äußerung oder Bewegung zerstören. „Hat dir schon jemand gesagt, was für hübsche Augen du hast?“ 114
Rupert senkte genant die Lider. Nicht weiter, Miles, bat er inständig. Sonst weiß ich nicht, wie der Abend endet. „Ich – ich spiele noch etwas, in Ordnung?“ Wie immer durchschaute ihn Miles. In dieser Hinsicht konnte ihm Rupert nichts vormachen. Unheimlich war das. „Das war kein Annäherungsversuch, Rupert. Nur eine Feststellung.“ Du bist mir schon so nah wie niemand es je gewesen ist, dachte Rupert im Stillen. Miles ließ ihn los, und er rückte auf dem Stuhl zurecht, um die Nocturne zu beginnen. ~*~ Jacques britische kulinarische Genüsse beizubringen hatte in der Tat etwas vom Ankämpfen gegen Windmühlen. Mit einer Engelsgeduld verbrachte Miles Stunden bei ihm in der sanierten Küche, die bereits von der Gesundheitsbehörde grünes Licht erhalten hatte. Jacques verkündete grantig, dass sich das wieder ändern würde, sobald der erste englische Fraß öffentlich serviert wurde und die Gäste der Reihe nach mit Koliken in Hospital überliefert werden müssten. Miles lachte darüber und ließ sich nicht verdrießen, aber Rupert hegte seit der offenen Kriegserklärung ihm gegenüber abgrundtiefes Misstrauen gegen Jacques. Als er mit Miles darüber reden wollte, winkte er ab. „Solchen Kerlen muss man den Wind aus den Segeln nehmen, indem man sie glauben lässt, sie befänden sich im Recht. Nimm dir nicht zu Herzen, was er gesagt hat. Intellektuell bist du ihm weit überlegen. Lass ihn reden und scher’ dich nicht weiter drum. Es gibt Leute, die dich besser kennen.“ „Er wirft mir eine Affäre mit Gisèle vor!“ „Ist das so falsch? Ich dachte, die hattest du gehabt“, schmunzelte Miles. „Auf dem Kirschbaum.“ Rupert konnte nicht anders, er lachte ebenfalls, wenngleich ihm nicht wirklich danach zumute war. In Zukunft würde er vor Jacques Fleury auf der Hut sein. Kochen war sowieso nicht seine Stärke. 115
Stattdessen half er Julien, die Bilder und filmischen Devotionalien zu ordnen und ihren Platz an den Wänden zu bestimmen. Es machte Spaß, sich durch die verschiedenen Sammlungsstücke zu wühlen, und es war beachtlich, was Julien alles zusammengetragen hatte. So jung wie er war, konnte er sich ja noch nicht allzu lange mit Filmen beschäftigen. Trotzdem erkannte selbst Rupert hier und da den Wert eines Autogramms oder eines Schals, den angeblich Audrey Hepburn letztes Jahr bei den Dreharbeiten zu Love in the Afternoon getragen hatte. Als Julien es ihm mit hochroten Wangen erzählte, wurde er angesichts des Enthusiasmus des Jungen sogar etwas ehrfürchtig. Natürlich musste Thierry sein Einverständnis zur Gestaltung geben, und da er in der Welt des Seins und Scheins fast so zuhause war wie sein Kumpel Julien, beteiligte er sich eifrig beim Gestalten der Dekoration. Ab und zu tauschten er und Julien kichernd wie Backfische Erinnerungen an gemeinsame Kinoabende aus. Jedes Plakat, jedes makellose Gesicht auf den unzähligen Fotos verknüpften sie mit einer lustigen oder absurden Begebenheit. Frauenporträts weckten besonders heftige Emotionen; die jungen Männer schrien entzückt und affektiert zugleich auf, während sie Handküsse mit gespreizten Fingern auf die Bilder projizierten. Ein eher gelangweiltes „Ah, très magnifique!“ war das kärglichste Lob, das eine Rupert unbekannte Leinwandschönheit mit apart breiten Backenknochen einheimste. Als sie ihn nach seinem fachmännischen Urteil fragten, hob Rupert verlegen die Schultern. „Ich kenne sie nicht“, gestand er. Beiden fiel der Unterkiefer herunter. Schließlich fasste sich Thierry als Erster, indem er Julien anstupste. „Er kennt Ingrid Bergman nicht“, tuschelte er ihm erschüttert zu. „Kannst du das glauben?“ „C’est impossible - Unmöglich!“ rief Julien. „Das nächste Mal kommst du mit uns“, bestimmte Thierry. „Wirst es nicht bereuen. Kino ist eine feine Sache.“ 116
„Besonders wenn Thierry mitten im Film einschläft und schnarcht wie ein Elefant.“ Sie mochten sich, das war ihnen anzusehen. Ihr gemeinsames Interesse schweißte sie umso mehr zusammen. Plötzlich wünschte Rupert, Julien würde seinen Pagenjob schmeißen und mit Thierry das Bistro führen. Er und Miles würden es nämlich nicht tun, das war ihm klar. Ruhelos wie sein Freund war, würde es ihn sicher doch bald fortziehen von Paris. Miles brauchte Abwechslung, Herausforderungen. Er war nicht so wie Rupert, der sich sehr gut vorstellen konnte, mit diesen netten Menschen eine Existenz aufzubauen, vielleicht sogar ein hiesiges Mädchen kennenzulernen. Doch merkwürdigerweise war dieser Gedanke so fern wie der Mond und kaum zu greifen. Er würde die Zukunft nehmen, wie sie kam. Allein ohne Miles war sie undenkbar. In seinen Tagträumen sah er Miles und sich ein Haus in der Provence bewohnen, mit einem großen Garten, in dem sie Gemüse anbauten. Selbstverständlich wusste er, wie idealistisch, wenn nicht gar dumm sein Denken war. Doch selbst Miles tat nichts, ihn davon abzuhalten, die Zukunft in rosaroter Farbe zu malen. Im Gegenteil, er schien Gefallen daran zu finden, Rupert unter die Fittiche zu nehmen, ihn ein wenig wie einen Schüler zu unterweisen und ihn zuweilen auch zu necken. Als er ihm von dem Haus erzählte, wiegte er abwägend den Kopf und meinte, es sei gar keine schlechte Idee. Mädchen erwähnte er nicht mehr. Es war kein Thema zwischen ihnen. Manchmal kam Rupert das verwunderlich vor, aber da er nicht das Bedürfnis nach körperlicher Liebe verspürte, reichte ihm Miles’ Gesellschaft voll und ganz. ~*~ Die Namenssuche für das neue Bistro, das nun offiziell ein englisches Pub war, gestaltete sich recht schwierig. Thierry, der an „Bambi’s“ hing, zeigte sich mit keinem Vorschlag zufrieden und ging damit allen auf die Nerven. 117
„In zwei Wochen müssen wir uns einig geworden sein“, brummelte Miles und rückte Cary Grant gerade. Julien ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Plakate und Fotos der Filmstars wurden von Leuchtern angestrahlt, welche ein dezentes Licht über Tische und Stühle warfen. Palmen in großen Töpfen vermittelten ein Flair von Casablanca. Vom Eingang durch den Windfang führte eine kurze, sich vom ebenen Boden abhebende Brücke aus Brettern, über die jeder eintretende Gast ins Bistro gelangte. Seine Augen blieben an einem eindrucksvollen Porträt des Schauspielers Laurence Olivier hängen, und er runzelte die Stirn. Das Theater, in dem er auftrat, hieß … „’Old Vic’!“ rief er fingerschnippend. Die anderen, bereits erschöpft vom Suchen des passenden Namens, horchten auf. „Als Reminiszenz an deinen Wohltäter, Thierry! Außerdem ist es ein legendäres Schauspielhaus und auch Filmfans ein Begriff!“ Das langersehnte, breite Grinsen erschien auf Thierrys Gesicht, während er sein Oberlippenbärtchen liebkoste. „Julien, petit, was täte ich ohne dich?! So nennen wir’s!“ Ein kollektives Aufatmen und vereinzeltes Applaudieren war zu hören. Miles, dem der Vorschlag zwar schmeichelte, meldete Bedenken an. „Der Name ist rechtlich geschützt, Julien. Das gibt Ärger mit der britischen Behörde.“ Rupert schaltete sich ein. Er war begeistert von dem Vorschlag und fand, Miles habe eine Ehrung in dieser Form mehr als verdient. Das fertige Bistro hatte ihn weit über zweitausend Pfund gekostet; obwohl er nie über Zahlen redete, hatte Rupert die Rechnungen gesehen und addiert, und das war bestimmt mehr, als das aufgenommene Darlehen ausmachte. „Und wenn wir ein ‚e’ hinter das ‚Old’ setzen, wie in der frühen Schreibweise?“ Der Vorschlag wurde allgemein gutgeheißen, und so blieb es bei „Olde Vic“. Raoul, der die schönste Handschrift hatte, entwarf ein wetterfestes Aushängeschild mit altenglischen 118
Lettern, während Thierry auf dem Trödelmarkt eines aus Metall fand, das nach britischem Brauch direkt mit einer Kette neben die Tür gehängt werden konnte und drei zechende Ritter darstellte. Miles fand es kitschig, wurde aber überstimmt und musste dulden, dass Raoul es unter dem Schriftzug befestigte, der jedem ausnehmend gut gefiel. In der Zeit, die ihnen bis zur geplanten Neueröffnung blieb, testeten sie Gerichte und Spirituosen bis zum wortwörtlichen Erbrechen. Neben Jacques musste auch Thierry an den Herd; unter Miles’ drakonischer Aufsicht backten, kochten und probierten sie die Spezialitäten der Speisekarte, die - mit floralen Ornamenten umrahmt, welche das Jugendstilelement der Einrichtung wieder einfingen - , ebenfalls aus Raouls künstlerischer Feder stammte. Rupert, dessen Gaumen an Porridge und Yorkshire Pudding gewöhnt war, wurde als Testesser engagiert und unterzog die Gerichte einer pedantischen Kontrolle. Oft war ihm abends übel vom Durcheinanderessen, und Miles versorgte ihn mit einem Magenbitter aus der Hausapotheke der Levants. ~*~ Fast jeden Tag notierte Rupert eine Seite in sein Tagebuch. Anhand der Aufzeichnungen stellte er fest, wie abwechslungsreich und bunt sein Leben geworden war, seit Miles es dominierte. Er wusste nicht, ob er sich nach der alten Lebensweise zurücksehnte oder die Erfahrung ein Gewinn war. Minutenlang brütete er über dieser Frage, mit dem Federhalter an seine Schneidezähne tippend. Es war nicht so, dass er das Gauklerdasein vermissen würde, wenn er in sein geordnetes Leben zurückkehrte, resümierte er schließlich. Die augenscheinliche Flucht seines Freundes stürzte ihn allerdings in Konflikte. Er wollte Miles nicht verlassen, um keinen Preis. Das käme ihm wie Hochverrat vor. Innerlich beschloss er, abzuwarten. Vielleicht hätte Miles eines Tages soweit Vertrauen gefasst, dass er ihn einweihen würde in den Grund, weshalb er mit ihm im Schlepptau der Heimat so abrupt den Rücken gekehrt hatte. 119
Seine Eltern drängten sich in sein Gehirn. Wieder einmal hätte er beinahe vergessen, ihnen zu schreiben. Dabei war es dringend notwendig, ihnen reinen Wein einzuschenken, bevor sie tatsächlich in Paris nach dem verschollenen Sohn Ausschau hielten. Er nahm Papier und Tintenfass und begann nach reiflicher Überlegung, einen Brief ohne Ortsangabe und Datum zu verfassen, den er vor wenigen Tagen nicht gewagt hätte, abzuschicken: Liebe Mum, lieber Dad, Bitte vergesst meinen ersten Brief; er wurde in Unbedachtsamkeit und gekränktem Stolz geschrieben. Einzig wahr darin ist, dass ich mich für ein paar Monate ins Ausland abgesetzt habe, um in Ruhe über meinen weiteren Weg nachzudenken und Abstand zu haben von Ratschlägen von Leuten, die es gut mit mir meinen, mich jedoch daran hindern, eigene Entscheidungen zu fällen. Ich habe vor wenigen Wochen meinen dreißigsten Geburtstag gefeiert und muss selbst wissen, was gut für mich ist, und das ist erst einmal die berufliche Auszeit, auch wenn sie euch nicht schmecken sollte. Nicht dass ich Unterstützung ablehne; ihr seid mir immer gute Eltern gewesen, und ich hoffe, ihr werdet es weiterhin sein. Eine intakte Familie zu haben ist etwas ungeheuer Wertvolles, das weiß ich jetzt. Seid eurem plötzlich abenteuerlustigen Sohn nicht gram; ich werde mich bemühen, euch nicht zu enttäuschen und nicht pflichtvergessen all deine Anstrengungen meinetwegen über Bord werfen, Dad. Es ist mir aber wichtig, euch zu versichern, dass es mir gut geht und es mir an nichts mangelt. Ich lerne interessante Orte und Menschen kennen und finde trotz allem Müßiggang sinnvolle Aufgaben, die es mir möglich machen, mich über
120
Wasser zu halten. Das ist eine neue und aufregende Erkenntnis, über die ihr euch mit mir freuen dürft. Gleich auf der Fähre nach Calais bin ich einem außergewöhnlich herzensguten und zuverlässigen Menschen begegnet, der sich mir und meiner Hilflosigkeit annahm. Sein Name ist Milos Kaminski. Inzwischen sind wir gute, wenn nicht gar beste Freunde, mir liegt sehr an ihm. Du wolltest doch immer, dass ich engere gesellschaftliche Kontakte pflege, Mum. Ich lerne viel von ihm und fühle mich tief in seiner Schuld. Es gäbe etwas, das ich vielleicht für ihn tun kann, doch dazu bräuchte ich eure Hilfe. Kaminski ist zwar britischer Staatsbürger, stammt aber aus dem slawischen Raum und wurde vor circa fünfzehn Jahren mit den Eltern und zwei Schwestern nach Auschwitz deportiert. Ihm gelang die Flucht, und er fand in England ein neues Zuhause. Er weiß nicht, ob seine Familienangehörigen das Lager überlebt haben, und falls doch, sind sie sicher in alle Winde verstreut. Vielleicht leben seine Schwestern und die Mutter ebenfalls in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten. Du, Vater, hast doch gute Kontakte zum Außenministerium und zur Botschaft. Ich hoffe, es ist nicht zuviel verlangt, dich dort zu erkundigen, ob man Näheres über den Verbleib der Familie herausfinden kann. Die Namen der Frauen lauten Maria (Mutter), Lene und Katjuscha. Wahrscheinlich ist der Familienname entweder durch Heirat oder Assimilierung nicht mehr derselbe, aber ich zähle auf dich. Würdest du meinen Freund persönlich kennen, würdest du keine Sekunde zögern, ihm zu helfen. Es würde mir viel bedeuten, denn eine Freundschaft wie unsere gibt es gewiss nicht wie Sand am Meer. In tiefer Dankbarkeit und Liebe, Rupert
121
P.S. Eine Benachrichtigung auf dem Postweg im Falle eines Ergebnisses erübrigt sich, da wir keine feste Adresse haben und Kaminski und ich ohnehin wieder nach London kommen werden. Der Brief klang pathetisch, je öfter er ihn durchlas. Aber einen besseren, formelleren zu schreiben, brächte er nicht fertig. Außerdem waren die Empfänger seine Eltern, sie sollten ruhig wissen, was ihn bewegte und dass er sich verändert hatte. Und er tat es für Miles, dem er nicht nur etwas schuldete. Er wollte es wenigstens versuchen für ihn. Falls sein Vater erfolglos blieb, schadete es auch niemandem. Denn dass er Miles nichts davon erzählen würde, verstand sich von selbst. Wahrscheinlich würde er den Brief in tausend Fetzen zerreißen und ihn als sentimentales Geschwätz abtun. Die zweite Alternative war, dass er enttäuscht wäre, wenn sich als sicher herausstellte, dass seine Familie spurlos verschwunden war, und diese Vorstellung war Rupert fast noch unerträglicher. Rasch leckte er den Haftstreifen des Kuverts ab und machte sich unverzüglich auf den Weg zum nächsten Briefkasten, ehe er wankelmütig wurde und es sich anders überlegte. Er hoffte nur, dass der elende Poststempel diesmal vom Regen verwischt sein würde, falls seine Mutter von ihren Plänen trotz seiner Nachricht nicht abzuhalten war.
122
Kapitel 11
K
urz vor der Eröffnung des Olde Vic erschien ihr Buch, das den bombastischen Titel „Paris für Idealisten“ trug. Miles und Rupert wären mit einem weniger prahlerischen zufrieden gewesen, doch Monsieur Carton, der Verleger, war ganz stolz auf seinen Geistesblitz, und so hatten sie ihm die Freude gelassen. Raoul brachte ihnen einige Exemplare zum Signieren für sich selbst, Freunde und die Kundschaft. Es war ein sehr ansprechendes, aufwendiges Buch in dunkelgrünem Leder mit der Ansicht des Eiffelturms von unten auf dem Cover, eines ihrer gefälligeren Motive. Respektvoll schaudernd strich Rupert über den Einband und die geprägten Buchstaben des Titels. Obwohl nur ein Pseudonym darüberstand, war es ein sehr eigenartiger Gedanke, etwas geschaffen zu haben, das von wildfremden Menschen gekauft und im besten Falle bewundert wurde. „Warum habt ihr euch nicht wenigstens für ein Autorenfoto auf der letzten Seite zur Verfügung gestellt?“ fragte Thierry mit unverhohlener Enttäuschung, nachdem er unter schwärmerischen Ausrufen das Buch durchgeblättert hatte. „Ihr seid doch ein gutaussehendes Pärchen.“ „Sieh mal genau hin. Auf manchen Fotos kannst du Rupert entdecken“, sagte Miles. „Das war aber nicht so vereinbart“, beschwerte sich der, konnte Miles, der den endgültigen Druck der Bilder bestimmt hatte, aber nicht böse sein. Auch Thierry nahm eine Handvoll Bücher ab, um sie im Bistro auszulegen und interessierten Gästen zum Kauf anzubieten, und selbst Jacques zeigte sich widerwillig beeindruckt von der Auswahl der Fotos. ~*~
123
Gisèle fuhrwerkte die ganze Woche im Bistro herum, um ihm mit weiblicher Intuition den letzten Schliff zu geben, wobei Thierry fürchtete, sie nutze die Gelegenheit und verstaue den Nippes, der sich daheim in ihrer Besenkammer auf mysteriöse Art vervielfältigte, jetzt im Pub. Allmählich entspannte sich Miles und erholte sich von den Mühen des Umbaus; er war am zuversichtlichsten von ihnen allen, dass das neue Konzept ein Erfolg werden würde. Da das Olde Vic jetzt wieder in Thierrys Hand war, nahmen er und Rupert das dolce far niente wieder auf. Manchmal vertraute ihnen Gisèle trotz Ruperts Ausrutscher im heimischen Garten für ein paar Stunden die Kinder an, mit denen sie in der Stadt spazieren gingen oder einen Ausflug zum nahegelegenen Schloss Versailles machten. Zwischen Miles und der kleinen Nini entwickelte sich eine besondere Beziehung. Sie sprach noch nicht, doch Miles fand auf geheimnisvolle Weise einen Weg, mit ihr zu kommunizieren. Überdies gelang es ihm jedes Mal, ihr Greinen oder Schreien zu bremsen, indem er sie aus dem Kinderwagen nahm und sie sich bäuchlings über die Schulter legte. Meist schlief sie dann sofort ein. Wenn Rupert es versuchte, steigerte sich das Greinen zu einem so ohrenbetäubenden Gebrüll, dass er sie mit schmerzverzerrtem Gesicht und ausgestreckten Armen Miles übergab. Dann und wann ernteten sie verstohlene Blicke oder auch offene Skepsis von Passanten, Miles oft mit der im Schlaf wohlig sabbernden Nini und einem Handtuch zum Schutz seines Hemdes über der Schulter und einhändig den sperrigen Wagen lenkend. Rupert schwelgte in der kontroversen Aufmerksamkeit mit einem fast anarchistischen Vergnügen, das Miles zu seiner Freude bei besonders kritisch schauenden Leuten ebenfalls verspürte und es nicht lassen konnte, ihnen in akzentfreiem Französisch und mit todernster Miene zu deklamieren, es sei eine ganz erstaunliche Sache, beinahe ein Wunder, was die moderne Forschung in der Medizin alles möglich mache. 124
Die Gesichter der Zuschauer wurden länger und länger, manche drückten Abscheu, andere Unglauben, selten Belustigung aus. Miles war es einerlei, er schaukelte Nini auf der Schulter und schenkte Rupert ein konspiratives Lächeln. Die Kinder liebten ihre englischen Onkel. Und wenngleich Miles der heiße Favorit war, knüpfte vor allem der eher schüchterne François zarte Bande zu Rupert. Die Barriere der Sprache, der Rupert nicht mächtig war, stellte für François kein Hindernis dar, und so zeigte er seine Zuneigung, indem er bei jeder Begegnung sofort nach Ruperts Hand griff und ein verschmitztes Grinsen zu ihm nach oben schickte. Da er wenig Erfahrung mit Kindern hatte und sie für verwöhnte, zerbrechliche Bälger hielt, war Rupert nicht allzu erpicht auf feuchte Patschehändchen und klebrige Zuckermünder. Doch François übte sich in erwachsener Zurückhaltung und freute sich über Ruperts Führung in der Stadt genauso wie über wilde Spiele mit Onkel Victor im Bistro. ~*~ Je näher die Eröffnung rückte, desto kribbeliger wurden die Beteiligten. Julien hatte sich freigenommen, um eventuell in einen Kellnerfrack zu schlüpfen. Durch seine mannigfaltigen Aufgaben im Hotel war Servieren kein Novum für ihn. Genaugenommen war er der einzige neben Miles, der dem großen Tag gelassen entgegensah. Weil Thierrys Nerven nach ihrer Versicherung weniger flatterten, sagten auch Miles und Rupert für den ganzen Tag Unterstützung zu. Miles sollte Cognac für die Erwachsenen auf Kosten des Hauses ausschenken, während Rupert dafür zu sorgen hatte, dass die kleinen Bonbongläser in der Mitte jedes Tisches gefüllt waren. Jacques haderte wie gewohnt mit den seiner Meinung nach faden Speisen und der Einsicht, dass alles von ihm abhinge. Es war das erste Mal, dass Rupert ihn verzweifelt und an Lampenfieber leidend erlebte. Was ihn selbst anging, so 125
konnte er den zweiten Faktor sehr gut nachempfinden: für den Abend hatte Thierry ihn gebeten, das Piano zu spielen. Endlich war es soweit. Punkt zwölf Uhr mittags zerschnitt Thierry das Band vor der Tür im Beisein seiner Truppe und erstaunlich vielen neugierigen Menschen. Reklame sei zu teuer, hatte Thierry gemeint und sich eine Ankündigung in der Zeitung erspart. Nichtsdestotrotz stürmten gleich bei der Eröffnung einige Jugendliche und auch ältere Herrschaften in das Olde Vic und bestaunten die ungewöhnliche Einrichtung, bevor sie sich einen Platz suchten. Vor dem Tresen hatte Thierry Barhocker aufgestellt; auf einem davon saß Rupert mit mahlenden Kiefermuskeln, während Miles neben ihm Position bezogen hatte, beruhigend die Hand auf dessen Arm ruhen ließ und auf potentielle Cognactrinker wartete. Bald legte sich die Aufregung von Thierrys Angestellten; alles lief wie am Schnürchen. Mit fortwährender Dauer wurden sie lockerer. Miles plauderte sogar mit einigen Gästen und wurde zum Star des Abends. Mehrere Touristen, die in ihm den englischen Gentleman enttarnten, bestanden auf ein Erinnerungsfoto vor der malerischen Kulisse eines Pappaufstellers von Rhett Butler und Scarlett O’Hara im Sonnenuntergang. Zu jeder Stunde waren fast sämtliche Tische besetzt. Bei Einbruch der Dämmerung wurde es eng im Bistro, so dass Miles als Aushilfskellner mit Julien und Thierry eingespannt wurde. Er bewegte sich elegant zwischen Stühlen, Tischen und herumwandernden Gästen und verlor bei aller Hektik nie sein gewinnendes, gleichmütiges Wesen; Rupert war sehr stolz auf ihn. Später schaltete Thierry das Radio aus und mimte übertrieben gestikulierend den Conferencier für Ruperts musikalische Vorführung. Schweißgebadet wischte sich Rupert die Hände an den Hosenbeinen ab. Er hatte gehofft und gebetet, Thierry möge es im Eifer des Gefechts vergessen haben. Miles kehrte an seine Seite zurück und tätschelte 126
aufmunternd und flüchtig seine Wange. „Es wird gut“, flüsterte er ihm zu. „Du kannst es, das weiß ich.“ Thierry hatte ihm eine Partitur bekannter Filmmusiken zusammengestellt, die Rupert in den letzten Tagen gepaukt hatte, bis ihm die Noten zu den Ohren herauskamen. Zuerst klimperte er ein wenig linkisch herum, um sich und seine vor Aufregung steifen Finger warmzumachen. Die schlagartige, erwartungsvolle Stille im Raum irritierte ihn. Hilfesuchend flog sein Blick zum Tresen, wo Miles ihm zuzwinkerte. Dermaßen ermutigt schlug er die ersten Takte von As time goes by an, woraufhin das filmerprobte Publikum im Wiedererkennungseffekt klatschte und pfiff. Er verdrängte die Beklemmungen und stellte sich vor, nur für Miles zu spielen, so wie er es gewohnt war. Wie von selbst tanzten seine Hände über die Klaviatur, untadelig und leicht wie Federn. Es folgte ein Querschnitt aus Cole Porter-Musicals und –Songs, die Rupert mit einer unaufdringlichen, sich in die Swingmelodien einfügenden Singstimme komplettierte. Anfangs kostete es ihn enorme Überwindung, doch er merkte, dass er die Leute begeisterte und wurde mit jeder Nummer sicherer. Zudem liebte er diese Art von Musik. Die Gäste waren außer sich. Manche standen auf, um auf dem Klavier ein paar Sous als Dankeschön zu hinterlassen. Eine exaltiert wirkende Frau zog eine Rose aus dem Väschen ihres Tisches und warf sie in Ruperts Richtung. Reichlich wackelig in den Knien vor verebbender Anspannung stand er auf und schüttelte verdutzt bekannte und unbekannte Hände, die sich ihm entgegenreckten oder freundschaftlich-derb auf seinen Rücken klopften. Miles erwartete ihn am Tresen, ein leicht spöttisches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, das seine Anerkennung nicht verbarg. Er schob dem verausgabten Freund, den die Euphorie um seine Fähigkeiten peinlich berührte, sein Glas zu. Am liebsten hätte er sich zu Jacques in die Küche verkrochen, 127
um dem Trubel zu entkommen, und das mochte in der Tat etwas heißen. „Exzellent“, sagte Miles, ein Leuchten stand in seinen Augen, als er ihn ansah. Jemand winkte ihm, er schnappte sich den Papierblock und quittierte die Rechnung des Gastes. Zeit für Rupert blieb ihm keine mehr. Jetzt erst begann für Rupert der entspannende Teil. Er seufzte und ließ sich von Julien Tee und ein Scone mit Schlagrahm und Erdbeermarmelade bringen, das ein schmerzhaftes Ziehen in seinem verkrampften Unterkiefer auslöste. „Der Renner“, raunte Julien ihm zu. „Hoffentlich geht uns der Teig nicht aus! Die Leute sind verrückt danach. So wie auf dich und deine Vorstellung! Das war wirklich ganz große Klasse, Rupert!“ „Danke“, entgegnete er ehrlich erfreut. Der Erwartungsdruck war groß gewesen, aber Juliens Kompliment bedeutete ihm viel. Alles war so unwirklich, dass er sich wie betrunken fühlte, obwohl er keinen Tropfen angerührt hatte. Als sie den letzten Gast verabschiedet hatten, lehnte er ermattet an Miles’ breiter Brust und schluchzte vor Erschöpfung und Glück. Es war ihm nicht einmal unangenehm, dass sich die Überreizung auf diese Weise entlud oder was die anderen über ihn dachten. Mochten sie ihn doch für ein Sensibelchen halten, es war ihm alles gleichgültig in seinem Zustand. Er hatte etwas getan, was ihn fürchterlich geängstigt und von dem er früher nie geglaubt hatte, dazu fähig zu sein, geschweige denn die Kraft zu haben, es durchzustehen. Seine kühnsten Träume handelten nicht davon, aber in der Realität war es ihm wie durch ein Wunder gelungen. Das Springen über seinen Schatten war belohnt worden. Niemand konnte ihm das je nehmen. Miles hielt ihn fest und zog über Ruperts Kopf hinweg mit Thierry Tagesbilanz, der im Siegestaumel weder Rupert noch irgendetwas um sich herum wahrnahm außer seinen Gesprächspartner. 128
„Ist mit Rupert alles okay?“ fragte Julien schüchtern. Er war dabei, mit Raoul die restlichen Gläser abzuräumen und flanierte gerade vorbei. „Warum weint er? Er war der Joker heute Abend, das war doch toll … wir sind alle unheimlich stolz auf dich. Rupert? Tut dir was weh?“ Sachte stieß er ihn an, doch Rupert wischte nur schniefend über sein tränennasses Gesicht. Miles beschwichtigte den Jungen. „Er ist in Ordnung, Julien, keine Angst. Es war nur ein bisschen viel.“ „Das verstehe ich“, stimmte Julien zu. „Würde mich auch umhauen, wenn ich ein so begnadeter Pianist wäre. Die Zuhörer konnten gar nicht genug kriegen. Du solltest professionell auftreten.“ Da Rupert nicht antwortete, fuhr er ihm scheu mit der Hand über den zitternden Rücken und machte sich wieder an die Arbeit. Sein Onkel bedachte ihn mit einem warnenden Blick, den Julien arglos und ein wenig schnippisch mit einem Schulterzucken vergalt. „Quoi?“ zischte er, als er Raoul passierte. „Hab ich was Verbotenes getan?“ „Pass auf, mit wem du sprichst“, versetzte Raoul scharf und verpasste seinem Neffen einen Klaps auf den Hinterkopf. Seine Stimme klang drohend, und Rupert, der das Gespräch verfolgt und einiges verstanden hatte, vor allem aber durch den rüden Ton aufmerksam geworden war, fragte sich, was den sonst so sanftmütigen Raoul in Harnisch gebracht hatte. „Ich habe alle eure Bücher verkauft“, teilte Thierry Miles eben emphatisch mit. „Und Vorbestellungen aufgenommen! Der Tag war wunderbar, ich kann euch gar nicht genug danken! - Rupert, wie wär’s, wir singen gemeinsam in der Oper? Das war natürlich ein Scherz, aber vielleicht können wir deinen Auftritt irgendwann wiederholen, du hast viele Fans gewonnen heute!“ Freudestrahlend wuschelte er Ruperts Haar. Dass der nicht reagierte, beschäftigte ihn nicht weiter. 129
„Thierry …“ Jacques rauschte aus der Küche und stutzte, als er Miles und Rupert in so inniger Umarmung erblickte. Echauffiert und etwas Abfälliges murmelnd entledigte er sich seiner verschmutzten Schürze. „Du hast versprochen, mir in der Küche zur Hand zu gehen! Eine Sauerei ist das … wie soll ein Mensch das alleine bewältigen?“ „Ach, Jacques“, hauchte Thierry wie im Traum. „Wir sind wieder im Geschäft! Zum ersten Mal, seit ich den Laden übernommen habe. Was ist ein bisschen Dreck dagegen? Geh du nur nach Hause, ich kümmere mich darum.“ Im Hotel übermannte Rupert plötzlich der Drang, zu lachen. Er lachte gegen seinen Willen, konnte aber nicht aufhören. „Ich war gut“, meinte er und ließ sich in den Sessel fallen, während er albern gluckste. Sein Zwerchfell schmerzte. Trotzdem lachte er weiter wie unter einer zwanghaften Folter, obwohl er lieber geheult hätte. Miles, der erkannte, dass Ruperts Freude nicht echt war, lachte nicht. „Du warst mehr als das. Du warst einmalig. Ich wusste gar nicht, was für eine schöne Singstimme du hast.“ „Miles …“ Sein Ton klang flehend, er bekämpfte vergeblich einen Schluckauf. „Lass mich das nie wieder tun.“ Miles hockte vor den Sessel und stützte die Hände links und rechts auf die Lehnen. „Ich habe dich nicht gezwungen“, erinnerte er ihn sanft. „Ich hätte mich schrecklich blamieren können!“ „Das hast du aber nicht. Bist du kein bisschen stolz darauf, dass du es geschafft hast und damit Thierry und den Gästen einen unvergessenen Abend geboten hast?“ „Ich möchte mit dir nach Hause zurück“, bockte Rupert. „Das hier ist kein Leben für mich. Ich brauche einen langweiligen, geordneten Tagesablauf. Ich hab’s versucht, aber es geht nicht. Ich bin nicht wie du.“ Er schlug die Hände vors Gesicht. Bedächtig nahm Miles sie weg und zwang ihn, ihm in die Augen zu schauen. „Ich bin nicht freiwillig fortgegangen. Glaub’ mir, ich würde gerne mit dir gehen, aber es ist unmöglich. Wenn du zurück 130
willst, halte ich dich nicht auf. Eine Weile wäre es schlimm für mich, aber ich habe es versprochen.“ Von Miles’ Blick erweicht schüttelte Rupert den Kopf; nun fluteten erneut Tränen seine Unterlider. „Ich verlass dich nicht, selbst wenn du es mir befehlen würdest. Wir sind doch Freunde.“ Miles überreichte ihm ein Taschentuch. Die schienen ihm nie auszugehen. „Rühr’ dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich wieder da.“ Er brachte Rupert ein Schlafmittel, das er in der Apotheke gegenüber besorgt hatte. „Nur heute“, sagte er, als Rupert misstrauisch die Packungsbeilage durchlas und sie resignierend beiseite legte, da die Buchstaben anfingen zu flimmern. „Damit du ein wenig Ruhe findest.“ ~*~ Die nächsten Tage glichen dem ersten im Pub, dessen Eigenwilligkeit schon binnen kurzem durch Mundpropaganda im ganzen Viertel bekannt wurde. Besonders Touristen kehrten gerne ins Olde Vic ein. Hauptsächlich waren es Briten, aber auch Deutsche und Belgier schätzten die Mischung aus viktorianischem Zeitalter und Hollywood. Etwas so Exotisches hatten sie noch nie gesehen. Viele knipsten so wild um sich, dass Thierry im Scherz in Erwägung zog, eine Steuer fürs Fotografieren zu erheben. Thierry hatte beschlossen, an diesem Wochenende früher Schluss zu machen, eine Pause hatten sie verdient nach der anstrengenden Zeit. „Sobald ich mir Angestellte leisten kann – und das wird in Kürze sein - läuft der Laden ohne mich“, frohlockte er. „Nicht dass es mir keinen Spaß macht, aber zuverlässige Mitarbeiter braucht jeder Chef. Ihr wolltet ja leider nicht.“ Zu jedermanns Überraschung zog ausgerechnet Jacques die Spendierhosen an. Da der Abend gerade erst begann, lud er die gesamte Mannschaft ins Moulin Rouge ein. 131
„Nun seid ihr schon Monate hier und habt noch keinen Cancan gesehen“, begründete er seine Freigiebigkeit. „Eine Schande ist das doch! Und Julien kommt mit, weil er immer noch grün ist hinter den Löffeln. Er glaubt immer noch, dass Frauen nur weibliche Männer sind. Genauso gut kann er an den Weihnachtsmann glauben.“ Damit zog er barsch an Juliens Ohr, der ihm das nicht einmal übelnahm und kichernd davon hüpfte. Raoul war nicht dabei, so genoss er Narrenfreiheit. Warum das Etablissement seit Jahrzehnten so berühmt war und beweihräuchert wurde, war Rupert ein Rätsel. Es war stickig in dem grellrot beleuchteten, plüschigen Saal, schwitzende Körper schmissen sich brutal an die Bühne, um halbnackte Mädchen Beine und Hüften schwingen zu sehen und ihnen obszöne Rufe zuzuwerfen, je derber, je besser. Die Tänzerinnen mussten entweder ein dickes Fell haben oder blind und taub sein. Als er einen Blick auf Miles erhaschte, hob der verständnislos die Achseln und machte Rupert Handzeichen, dass er nach draußen oder zumindest in den hinteren Teil des Saales gehen würde, wo die Luft erträglicher sei. Dort befand sich außerdem ein Restaurant, doch Rupert verlor Miles aus den Augen in dem Gewimmel aus Gliedmaßen und wurde zurückgezerrt. Thierry, den Miles im Vorfeld von Ruperts Platzangst unterrichtet hatte, entpuppte sich als Retter in der Not, sowie er Rupert verdächtig japsen hörte. Er packte ihn am Kragen und schleifte ihn mit sich auf eine Art Loge. „Hier kannst du viel besser sehen“, erklärte er. „Bloß halt nicht unter die Röcke, das ist das einzig Negative.“ Rupert beobachtete das Publikum. Überwiegend waren darunter adrett gekleidete Herren, auch Damen und vereinzelt sogar Ehepaare. Tatsächlich war Gisèle auch eingeladen gewesen, doch wie Raoul hatte sie dankend abgelehnt. Ganz so schlüpfrig wie sein Ruf war das Moulin Rouge anscheinend
132
nicht, oder aber sie hatten das Programm vor Mitternacht aus Rücksicht auf die jugendlichen Besucher entschärft. In den hinteren Rängen wussten sich die Älteren zu benehmen und betrachteten die Darbietung der Chorgirls aus distanziertem Blickwinkel als Hintergrundunterhaltung. Am Rand erspähte Rupert Miles; er saß auf einem mit Plüsch überzogenem Sitzpodest. Vor ihm tänzelte Jacques von einem Fuß auf den anderen. Vorne an der Bühne prüfte Julien lachend und johlend wie ein Teenager die Unterröcke der Mädchen. „Der kleine Julien“, kommentierte Thierry etwas gönnerhaft. Er war Ruperts Blick gefolgt. „Komischerweise hatte er noch nie ein Mädchen, das ist eigentlich nicht zu begreifen. Wahrscheinlich verbringt er zuviel Zeit mit mir oder seinen Filmen. Jetzt wähnt er sich sicher am Ziel seiner heimlichen Phantasien.“ Rupert lockerte seinen Schlips. Allmählich blockierten die Atmosphäre und der Anblick der vielen Menschen seinen Atem; der erste Vorbote einer Panikattacke. „Mir ist schlecht. Ich muss an die frische Luft.“ „Ich begleite dich“, erbot sich Thierry. „Versäumen tut man nichts. Die Show ist jedes Mal die gleiche.“ Draußen fühlte sich Rupert wie ein anderer Mensch. Thierry zündete sich eine Zigarette an und lächelte ihm hinter dem aufsteigenden Qualm und halbgeschlossenen Lidern zu. „Man könnte direkt meinen, du hast etwas mit Julien gemein. Du bist noch ziemlich unerfahren, oder?“ Die anzügliche Frage ignorierend wandte sich Rupert mit vor Kälte hochgezogenen Schultern von Thierry ab. Er hatte bemerkt, dass Miles sich ebenfalls unwohl fühlte. Vielleicht hatte er sich Jacques entziehen können und wartete nun hier irgendwo auf ihn. Thierry ließ sich nicht beirren. „Magst du Gisèle? Du darfst ehrlich sein, ich verarge es dir nicht. Sie ist hübsch und außerdem sehr klug. Aber du solltest dir keine falschen Hoffnungen machen. Ich kenne sie praktisch mein
133
ganzes Leben lang. Sie wird mich nie wegen einem anderen verlassen.“ Rupert hüstelte in seine Faust. „Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst“, murmelte er schließlich. Gleichmütig zerdrückte Thierry die ausgerauchte Kippe mit dem Absatz seiner schwarzen Lederschuhe. „Ach ja, richtig. Du hast ja deinen Bruder.“ „Was soll das, Thierry? Willst du mich niedermachen, weil deine Frau daran schuld ist?“ Nachdrücklich tippte er an die Narbe auf seiner Stirn. „Gisèle ist nicht nur hübsch und klug, sondern auch sehr rabiat. Eine harmonische Beziehung stelle ich mir anders vor.“ „Sie hatte allen Grund, das zu tun“, entgegnete Thierry eisig. „Sie hat mir erzählt, wie es wirklich war. – Keine Angst, ich verrate es niemandem. Aber ich hätte Jacques damals ernster nehmen sollen.“ „Du hast nichts zu befürchten. Ich finde Gisèle sehr sympathisch. Aber was ich mir da geleistet habe, war ein Fehler. Tut mir leid. Das ist gar nicht meine Art.“ Er streckte Thierry die Hand hin. Nach kurzem Zaudern ergriff Thierry sie. „D’accord. Es tut mir auch leid, was ich über dich und Victor gesagt habe. Ich bin sehr froh, euch beide kennengelernt zu haben.“
134
Kapitel 12
K
ünftig hielten sich Miles und Rupert an Thierrys Pub, falls sie abends Lust verspürten, auszugehen. Touristenfallen waren nichts für sie, das hatten sie einhellig festgestellt. Viel gemütlicher und atmosphärischer war das Olde Vic, in dem sie überdies als „Familienmitglieder“ stets gerngesehene Gäste waren. Thierry und auch Jacques hatten im Zuge des überwältigenden Erfolgs des neuen Konzepts ihre Vorbehalte aufgegeben und betrieben das Lokal mit Begeisterung, die man selbst dem zugeknöpften Schwager ansah, wenn er sich außerhalb seines Reiches, der Küche, blicken ließ und den beiden Freunden einen Sherry ausgab. Einmal, als Thierry sich zu ihnen an den Tisch setzte, erklärte er mit Verschwörermiene, Miles hätte ein Wunder an Jacques vollbracht. Noch nie hätte er so ausgeglichen und freundlich gewirkt. Kam einmal ein schlechterer Tag, so vertröstete er sich und seinen Teilhaber optimistisch auf den nächsten. ~*~ Die Investition hatte sich bereits nach zwei Wochen bezahlt gemacht. Miles’ Freund aus Oxford hielt Kontakt mit Thierry, versorgte ihn zuverlässig mit Nahrungsmitteln, die es nur auf der Insel gab, und freute sich darauf, seinen Partner irgendwann persönlich kennenzulernen. Rupert fragte sich, ob er den Grund für Miles’ Flucht auf den Kontinent kannte. Immerhin schrieb er auch weiterhin an Miles, freilich unter Verwendung des Pseudonyms. Aber er schien genau im Bilde zu sein. Irgendwie ärgerte sich Rupert darüber und über Miles’ Schweigsamkeit, die er allerdings auch nicht wagte, mit impertinenten Fragen zu durchdringen. Bestimmt kannte er – Rupert – Miles mittlerweile viel besser als dieser schnöselige 135
ehemalige Kommilitone. Und dennoch wusste der mehr über Miles als er. An einem Abend kurz nach ihrem Besuch im Moulin Rouge war das Olde Vic brechend voll; sie mussten sich gedulden, bis ein Tisch für zwei frei wurde. Jacques gesellte sich zu ihnen, wie er es häufig zu tun pflegte, da Thierry ihn gelegentlich in der Küche ablöste. Das „blöde Engländergesicht“ schien längst vergessen, denn er behandelte Rupert mit jovialer, aber gekünstelter Kumpelhaftigkeit, fast ein wenig herablassend. Was Miles betraf, standen die Dinge anders; es lag immer Respekt für ihn in seinen dunkelblauen Augen, wenn er mit ihm sprach. Meistens in Französisch; sein Englisch war gebrochen und noch schwerer zu verstehen als Thierrys. Er holte einen weiteren Stuhl, setzte sich darauf und rieb sich den Nacken unter der schwarzen Mähne. „Ich möchte euch sehr herzlich danken für euer Engagement. Ihr habt ja gesehen, ich bin nicht einfach und vielleicht ein bisschen grobschlächtig, aber ich meine es nie so. Merci beaucoup. An euch beide.“ Damit erhob er sich schnell und schlängelte sich durch die Tische davon, wobei er um ein Haar mit einem Gast zusammenstieß. Perplex schauten ihm die Freunde nach. „Er hat was vor“, vermutete Rupert. „Vielleicht will er Niederlassungen aufmachen und muss dazu eine Geldquelle anzapfen. Deine ist ja nicht von schlechten Eltern.“ Miles wandte den Blick nicht von der Küchentür, hinter der Jacques verschwunden war, bevor er kopfschüttelnd die Serviette auf den Schoß legte, um gemütvoll sein Irish Stew zu verzehren. Kurz vor Feierabend um zehn Uhr rang Jacques verzweifelt die Hände angesichts des Berges an Geschirr, der sich angehäuft hatte. Thierry und er hatten keine Zeit gehabt, zwischenzeitlich zu spülen, wie sie es sonst taten, wenn das Pub nicht überfüllt war.
136
„Oh, Jacques, könntest du das übernehmen?“ bat Thierry. „Ich möchte mir heute mir Gisèle einen schönen Abend im Kino machen. Kann sie nicht enttäuschen, da wartet sie schon lange drauf.“ Ohne die Antwort abzuwarten, schlüpfte er in seine Jacke, legte die Finger an die Lippen und trat auf Zehenspitzen hinaus. „Daher also der Ausdruck ‚auf Französisch verabschieden’“, bemerkte Rupert geistreich. Sie waren die letzten Gäste, da Miles sich gewünscht hatte, Rupert wieder einmal auf dem Piano spielen zu hören. Ein Wunsch, den Rupert ihm nur zu gerne bewilligte. Seit der Eröffnung vermisste er diese Momente. Miles erhob sich. „Fair ist das nicht“, sagte er. „Ich helfe ihm. Du kannst ja hierbleiben und dich ein wenig warm spielen.“ Über diesen Vorschlag dachte Rupert kurz nach, er passte nicht zu Miles. Er hätte nicht sagen können inwiefern, doch etwas daran kam ihm eigenartig vor. Dennoch nickte er und wechselte über ans Klavier. Es war ja sehr nobel von Miles, dass er ihm die Spülhände ersparen wollte. Womöglich nahm er an, mit verschrumpelten Fingern spielte er nicht mehr so gut. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln. Er beugte sich über die Tasten und spielte ein paar nichtssagende Akkorde. Jäh unterbrach er sein Spiel und horchte er auf, als aus der offenen Tür zwischen Sprachfetzen auch undefinierbare Geräusche und ein Scheppern wie von Töpfen in die Gaststube wehten. Leise näherte er sich der Küche. Hinter der Tür versteckte er sich und lauschte atemlos dem folgenden, auf Englisch geführten Dialog. „Du hast dich überhaupt nicht für die Tänzerinnen begeistert“, sagte Jacques, er stand dicht vor Miles, den Rupert aus seiner Perspektive halb von hinten sah. Der kleinere Franzose verschwand fast völlig hinter ihm. Doch seine 137
flinken Hände streiften abwärts über seine Hüften, hakten sich an Miles’ Gürtel fest. Eigenartig apathisch wirkend, hinderte Miles ihn nicht daran. „Du machst es lieber mit deinesgleichen, eh? Ich habe es gewusst in dem Moment, als ich dich gesehen habe.“ „Hör auf“, verlangte Miles, doch er neigte den Kopf in einem Winkel, der es Jacques ermöglichte, mit einem widerlichen Schmatzen spielerisch nach seiner Unterlippe zu schnappen. „Du willst es doch auch“, lächelte er. Jetzt begannen seine Hände damit, die Gürtelschließe zu öffnen. Schwer atmend stieß ihn Miles von sich. Mit einem Wehlaut wich Jacques an die Spüle zurück, doch es war Miles’ Lippe, die blutete; Jacques hatte einen Fetzen Haut abgerissen. Er betupfte sie prüfend mit den Fingern und starrte darauf, ehe er wieder Jacques ins Visier nahm. Rupert war dankbar dafür, dass er sein Gesicht nicht sah. „Lass mich in Ruhe“, flüsterte er. „Ich mag das nicht.“ Maliziös grinsend fuhr sich Jacques mit der Hand über den feucht glänzenden Mund. „Hast du Bedenken wegen Rupert? Deinem Bruder? Er ist gar nicht dein Bruder, hab ich recht? Ihr treibt es miteinander, eh? Auch das ist mir nicht neu, Victor. Es stört mich nicht. Ich will dich nur für diesen Abend haben. Keine Angst, der kleine Rupert muss gar nichts erfahren. Du hast ihn fortgeschickt für unser Rendezvous, oder? Siehst du, ich habe es mir doch gedacht.“ „Jacques. Du verstehst das nicht.“ Inzwischen klang Miles’ Stimme völlig normal und kühl. „Ich kann nur einen Menschen lieben, und das bist nicht du.“ „Sondern Rupert“, brauste Jacques auf. „Was seid ihr Briten für ein prüdes, langweiliges Volk! So fad wie eure Küche!“ Rupert hatte genug gehört. Wie von Furien gehetzt rannte er hinaus auf die Straße. Im ersten Augenblick fehlte ihm die Orientierung, bis ihm einfiel, dass das Hotel nicht weit war. Er musste seine Sachen packen und abreisen, sofort! 138
Mit rudernden Armen lief er davon und beinahe in ein wütend hupendes Auto, als er die Straße überquerte. Alles dünkte ihm wie ein böser Traum, und dennoch passte es auf unheimliche Weise ins Bild. Miles’ Geheimnis war offenbart. Er liebte Männer! Unzucht stand unter Strafe. Vermutlich hatte man ihn in flagranti ertappt, so wie er gerade, und ihn angezeigt. Vielleicht sogar einer, der auf ihn hereingefallen und naiv war, so wie er! Er war das ideale Opfer, gutgläubig, hilflos und dankbar für jedes Wort. Seine Freundschaft, sein Mitgefühl, seine Gesten und Andeutungen, und besonders die Eifersucht auf Gisèle, von der er an seinem Geburtstag gesprochen hatte – all das kam ihm nun wie Heuchelei vor. Demungeachtet war zumindest letzteres ja so etwas wie ein verkapptes Geständnis gewesen. Er hätte es ahnen müssen, wollte jedoch nicht daran glauben. Sein gesamter Eindruck des gütigen, gewandten und zungenfertigen Gentlemans, den er um Miles herum aufgebaut hatte, stürzte ein. Lieber Gott, wie arglos er das Bett mit ihm geteilt und darüber auch noch Verbundenheit empfunden hatte! Und Miles – wie musste er sich gequält haben in der ganzen Zeit! Doch, es ließ sich nicht leugnen, er liebte ihn auch, aber auf andere Art. Und gerade darum musste er verschwinden. Um keine Versuchung mehr zu sein. Ohne es zu beabsichtigen, hatte er Miles wochenlang gefoltert. Er hätte ihn haben können, mehr als einmal. Miles war der Stärkere von ihnen, psychisch und physisch. Gelegentlich hatte er Rupert fast da gehabt, wo er ihn haben wollte. Außerdem verfügte er über eine nahezu magische Anziehungskraft, von der er sich nicht scheute, ausgiebig Gebrauch zu machen. Dass er sie zum Zweck einer gewissen Abhängigkeit von sich einsetzte, war Rupert gar nicht bewusst gewesen. In seiner Vorstellung war Miles frei von allem Fehl gewesen, eine Lichtgestalt inmitten einer tristen Welt.
139
In Windeseile warf er seine Habseligkeiten in den Koffer. Geld hatte er nicht viel, doch da Miles großzügig seine Ausgaben übernommen hatte, reichte es wohl noch für die Heimreise. Als er fast fertig war, hörte er Schritte im Flur. Es waren Miles’ Schritte, er kannte sie genau. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, er wirbelte herum und schmiss das Gepäck auf den Boden. Ein letzter Ausweg blieb ihm noch, er entschied sich ohne Nachzudenken dafür. „Rupert?“ Die Tür wurde aufgestoßen. Rupert kniff die Augen zu und sprang vom Sims hinab in die Tiefe. Ein markerschütternder Ruf hinter ihm war das Letzte, das er wahrnahm. ~*~ Von seinen eigenen Schreien wurde er wach. Bestialische Schmerzen peinigten ihn. Es war, als risse man ihn an sämtlichen Extremitäten bei lebendigem Leib und ohne Betäubung auseinander. Zu keiner Bewegung fähig lag er im Grünstück des Vorgartens vom Hotel, und er schrie grauenvoll, wie ein verendendes Tier. Eigentlich hatte er mit dem Tod gerechnet oder wenigstens einer tiefen Bewusstlosigkeit, die ihn vor dieser unsäglichen Qual bewahrte. Was dann aber einem Versagen gleichgekommen wäre. Doch versagt hatte er jetzt so oder so. Vor lauter Elend und Marter bemerkte er Miles zunächst nicht, der ihn in den Armen hielt und verzweifelt wiegte. Hinter ihm hockte ein bleicher Julien mit schockgeweiteten Pupillen; das Hotelpersonal und eine Menge Schaulustiger umringten sie. Zwar konnte er verschwommen erkennen, wie sie ihre Münder bewegten und einige aufgeregt gestikulierten, doch außer ihm schien jeder den Ton ausgeknipst zu haben. Schließlich gewann für eine Minute sein Verstand die Oberhand; er hörte zu schreien auf und atmete flach durch die Nase. Miles war bei ihm, er konnte seine weichen Haarspitzen in seinem Gesicht fühlen und das leise, beschwichtigende 140
Wippen, mit dem er auch Thierrys Tochter ohne großen Aufwand hypnotisierte. Hatte man ihn zu ihm in die Hölle geschickt? Denn woanders konnte er doch nicht sein. Nichts konnte schlimmer sein als das, was er gerade durchmachte. Etwas in seinem Inneren explodierte. Wieder brüllte er vor Schmerzen. Miles hielt inne. Mit seiner großen, starken Hand strich er ihm das Haar zurück, das nass an seiner Stirn klebte, und drückte die Nase an Ruperts Wange. Rupert erwiderte den Druck, dann senkte er den Kopf und biss sich in Miles’ Revers fest, um nicht zu schreien. „Du brichst mir das Herz“, flüsterte Miles rauh, seine Lippen streiften Ruperts Haar. „Was hab ich getan, dass du mir das antust?“ „Weiter“, flehte Rupert undeutlich mit dem Stoff zwischen den Zähnen. „Du musst mich … weiterbewegen … ich fühle nichts … nur Schmerz. – Oh Gott, hilf mir.“ Er schluchzte auf. Was, wenn er gelähmt war, oder aber er erst nach Tagen seinen Verletzungen erlag und die letzten Stunden in dieser grässlichen Agonie verbringen musste? Am liebsten hätte er wieder zu schreien begonnen, allein die tragischen Mienen der Umstehenden und die Furcht, seine Pein dadurch zu intensivieren, hielten ihn davon ab. „Hilfe kommt gleich“, beteuerte Miles, das Schaukeln wieder aufnehmend. Tatsächlich hatte nicht die leichte Erschütterung die Schmerzen verursacht, denn er fühlte sich ein wenig getröstet und sogar gelindert durch Miles’ Aktion, ihn zu wiegen, die wohl eher automatisch erfolgte statt als therapeutische Maßnahme gewertet werden konnte. „Es wird alles gut.“ „Miles … mach’, dass es aufhört.“ Sein Kopf sank zur Seite, während seine blutverschmierten, verklebten Finger sich in Miles’ Jacke verkrampften. Er wünschte, er könnte ohnmächtig werden, doch paradoxerweise hinderten ihn die Schmerzen daran. Vom Donner gerührt riss er die Augen auf, 141
als ihm plötzlich klar wurde, was seine spontane Handlung bedeutete. Er fröstelte, seine Zähne schlugen hart aufeinander und verursachten ein Krachen in seinem Schädel. „Ich sterbe.“ „Bleib hier!“ Miles’ Stimme klang drängend, während er die kalte Hand des Freundes in seine nahm und fast zerquetschte vor Angst. „Du darfst mich nicht verlassen. Das verzeih’ ich dir nie. Bleib bei mir! Der Krankenwagen ist unterwegs, du musst noch ein bisschen durchhalten. Verstehst du mich? Rupert - “ Als Rupert die Augen schloss, hörte er Julien wie durch Watte sprechen. „Das kann er nicht überleben, Victor. Nicht einmal ein kräftigerer Mann würde das.“ „Er kann“, widersprach Miles harsch und beinahe hitzig. „Ich weiß er kann’s.“ Mechanisch fuhr er fort, Rupert zu wiegen, der jetzt in gnädige Bewusstlosigkeit geglitten war. „Es ist eine Tragödie“, sagte Julien leise und knetete anteilnehmend Miles’ Schulter. „Kannst du dir denken, was der Grund war?“ Stumm schüttelte Miles den Kopf; jetzt tropften Tränen auf Ruperts ausdrucksloses, blasses Gesicht. Er horchte an seiner Brust, um den Herzschlag zu prüfen. Er war da. Schwach, aber vernehmbar. „Ich frage ihn später. Manchmal – ist das Leben nicht einfach für ihn, ich weiß nicht, warum er sich’s so schwermacht. Aber ich hätte nie gedacht - “ Das Martinshorn und die Sirenen der eintreffenden Rettungsfahrzeuge unterbrachen ihn. Wie auf Kommando löste sich alles aus seiner Starre, die Menschenmenge löste sich auf, um die Sanitäter nicht zu behindern, während das Hotelpersonal sich für Fragen der Flics, der hiesigen Polizei, wappnete. Viel zu berichten gab es nicht, doch jeder wüsste gerne, weshalb der junge Engländer aus dem Fenster gesprungen war. Überspannt hatte er ja auch auf jeden länger verweilenden Hotelgast gewirkt; möglicherweise spielte er schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, sich das Leben
142
zu nehmen. In der Tat war keiner darüber wirklich überrascht, obwohl natürlich geschockt. Miles verhandelte mit den Ärzten. Man wollte ihn nicht mitfahren lassen im Krankenwagen, doch er insistierte und verschaffte sich schließlich mit erstaunlicher Unhöflichkeit und der Androhung eines gerichtlichen Verfahrens das Recht, Rupert zu begleiten. Julien bat um sofortige Nachricht, sobald man Genaueres in Erfahrung gebracht hatte, was Miles mit einem geistesabwesenden Nicken versprach. Bis zum Hospital wich er nicht von Ruperts Seite, der wieder zu sich gekommen war und zwischen Wachen und sekundenlanger Bewusstlosigkeit hin und herpendelte und sich in den Phasen der geistigen Anwesenheit schier die Seele aus dem Leib schrie. Miles bat den Sanitäter, der in der Absicht, die Atmung zu unterstützen, stoisch den Sauerstoff richtete, um ein Schmerzmittel für ihn. Bedauernd schlug der die Bitte aus. „Tut mir leid, Monsieur, er muss nüchtern sein für die OP. Ich weiß, es klingt grausam, aber niemand hat Sie gezwungen, hier zu sein. Für die Angehörigen ist es oft schlimmer als für die Betroffenen. Das Schreien mäßigt die Schmerzen. Falls Sie’s nicht aushalten, hätten Sie den Ambulanzwagen nicht betreten dürfen. Und sagen Sie hinterher vor Gericht nicht, man hätte Sie nicht gewarnt.“ Miles ließ den Blick nicht von Rupert. Seine Hand ruhte leicht auf dessen Brustkorb, der sich im Versuch, die Lungen mit Sauerstoff zu füllen, zuckend aufbäumte. Die Angst zu ersticken musste schrecklich für ihn sein. Für ihn war es schrecklich, dass er Rupert diese Angst nicht nehmen konnte, denn anscheinend war sie nicht unbegründet. Doch solange der Sanitäter nicht Alarm schlug oder sich sonst auffällig verhielt, war vermutlich alles im grünen Bereich. „Eine OP? Was muss da gemacht werden?“
143
„So wie es aussieht, sind beide Beine gebrochen, vielleicht auch die Wirbelsäule. Das können wir erst im Krankenhaus durch das Röntgenbild genau feststellen. Die Atemnot deutet jedenfalls auf eine Rippenfraktur hin. Und vielleicht auch innere Blutungen. Er hat Glück, dass er noch japst. Normalerweise enden Sprünge aus dem dritten Stockwerk tödlich. Oder Pech, je nachdem, aus welcher Warte man’s betrachtet.“ Entsetzt ob der Diagnose und der makaberen Sprücheklopferei massierte Miles seinen Kiefer. Die Stoppeln seines ungewohnten Bartwuchses, den er jetzt erst registrierte, juckten. In letzter Zeit hatte er sein Äußeres ein wenig vernachlässigt. „Kann ich bei ihm bleiben?“ Der Sanitäter schmunzelte mitfühlend. „Nicht während des Eingriffs. Aber wir brauchen Ihre schriftliche Einwilligung dazu. Danach dürfen Sie soviel Zeit mit ihm verbringen, wie Sie möchten.“ „Und wenn er stirbt?“ Das Wort kam wie Blei über seine Lippen. Er entsann sich eines einprägsamen Erlebnisses während seiner Studienzeit. Ein Kommilitone hatte eine Blinddarmentzündung gehabt und war operiert worden. Ein harmloser Eingriff, sollte man meinen. Doch er war unter den Händen der Chirurgen während der Narkose gestorben. „Na, na. Wer wird denn so pessimistisch sein? Ihr Bruder mag nicht so robust sein wie Sie, aber das heißt doch nicht, dass er nicht wieder gesund werden kann. Ich kenn’ diesen Typ. Der ist meist zäher als er scheint.“ Miles antwortete nicht, er hielt den Kopf dicht über Ruperts Brust und lauschte dem Röcheln seiner Lungen, dieweil er die stressbedingte Falte über Ruperts Nase glättete. „Es wird wieder gut“, wiederholte er sanft. „Nicht aufgeben, Rupert.“ ~*~ „Ich bin reich“, hörte er Miles verzweifelt durch einen Schleier sagen. „Ich zahle, was Sie wollen, wenn Sie ihn ohne bleibende Schäden wieder zusammenflicken.“ 144
„Sie bestechen mich“, antwortete eine körperlose, sarkastische Stimme mit französischem Akzent. „Hören Sie, Monsieur: wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Ihrem Bruder zu helfen, schließlich sind wir Ärzte. Dazu müssen Sie uns aber unsere Arbeit tun lassen. Je weniger Sie sich einmischen, umso schneller können wir die Notoperation vorbereiten und durchführen.“ Rupert probierte den Kopf zu heben. Überall hingen Schläuche in seinem Gesicht und seinen Armen. Wenn er doch wenigstens kurz mit Miles reden könnte. Schnaufend machte er Anstalten, sich dem transparenten, mit Wasserdampf beschlagenen Ding auf seiner Mundpartie zu entledigen, das ihm zudem die Sicht versperrte. Der Arzt wollte seine Initiative vereiteln, doch Miles hielt seinen Arm fest. „Einen Augenblick nur“, bettelte er. Knurrend entfernte sich der Anästhesist. Rupert fasste nach Miles, aber es gelang ihm nicht, sich auf ihn zu konzentrieren, und er griff daneben. Die Qual raubte ihm jegliche Sinne bis auf das Schmerzempfinden. Ein tröstendes Zischen von sich gebend fing Miles seine Hand ein, in der dutzende von Nadeln steckten. Rupert stöhnte. Die vielen Apparate und der strenge Geruch nach Desinfektionsmitteln beunruhigten ihn. Nur Miles’ Anwesenheit und irgendein piepsendes Gerät verhinderten, dass sein Blutdruck in ungeahnte Höhen schoss. „Was ist … wo bin ich?“ „Im Krankenhaus“, sagte er gewollt lebhaft, doch Rupert bemerkte, wie schwer es ihm fiel, Zuversicht zu zeigen. Unter seinen Augen lagen Schatten, als hätte er nächtelang kein Auge zugetan. „Hab keine Angst, ich bin da und passe auf. Du wirst eine Weile schlafen, und dann geht es dir besser.“ „Wirst du da sein? Auch wenn ich - nicht mehr aufwache, so wie George? Wenn bloß die Schmerzen aufhören, dann ist es mir egal. Ich war so dumm. Ich hab alles kaputtgemacht. Sag meinen Eltern bitte, dass es mir leidtut. Und ich möchte“ - sein Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln, das ihm unwillkürlich entfleuchte – „nicht neben Mr. Wilde beigesetzt 145
werden, sondern daheim in der Familiengruft. Vorausgesetzt, man will mich dort noch … als Selbstmörder.“ Miles schluckte, der plötzliche Druck seiner Hand tat Rupert weh, aber er entzog sich ihm nicht, sondern schloss angsterfüllt die schlaffen Finger um Miles’ Handrücken. Sie schienen auf beklemmende Weise knochenlos und schmerzten so abscheulich wie der Rest von ihm. Er versagte sich, seinen Blick auf Wanderschaft gehen zu lassen. Einen appetitlichen Anblick bot er ganz sicher nicht. Miles war hart im Nehmen, es schien ihm nichts auszumachen, einen Klumpen Matsch zu ermutigen. Er hob Ruperts Hand zum Mund und liebkoste die Finger. Es war so eine natürliche, innige Geste, dass Rupert die Tränen in die Augen stiegen. „Daran darfst du nicht denken. Du schaffst es, ganz sicher. Meinetwegen. Ich will dich wieder spielen hören, diese Finger übers Klavier laufen sehen wie anmutige Tänzer. Ich habe so viele Menschen verloren, Rupert, ich will das nicht noch mal durchmachen.“ Das Glitzern in Miles’ Augen war es, das Rupert den Lebenswillen zurückgab. Gleich ob als Krüppel oder körperlich Genesender, er wollte leben. Nicht nur um Miles’ Willen, der den Ausschlag zu dieser Entscheidung gegeben hatte. „Wir sehen uns dann“, wisperte er. „Mach’ dir keine Sorgen um mich.“ Ein Pulk Ärzte kam herein und sedierte Rupert. Die Schmerzen lösten sich auf, und er sank in eine tiefe Schwärze.
146
Kapitel 13
S
ehr viel später erwachte er, obwohl er natürlich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Genauso gut hätte es fünf Minuten her sein können, dass er Miles zum letzten Mal gesehen hatte. Eine Maschine an seinem Bett überwachte pfeifend seine Körperfunktionen, und eine über ihm schwebende Flasche versorgte ihn mit Flüssigkeit. Er wunderte sich, wie er bei diesem Lärm hatte schlafen können. Richtig, er war narkotisiert gewesen! Schlagartig kehrte die Erinnerung wieder. Langsam blinzelnd betrachtete er seine Umgebung; das künstliche Licht tat in den Augen weh. Auf dem Tisch neben dem Kopfende konnte er Blumen erkennen und einen Brief, der sehr offiziell aussah. Ächzend beugte er sich vor, um ihn zu lesen. Die Buchstaben flirrten und entwickelten ein Eigenleben, sie hüpften kichernd aus der Linie, als er versuchte, einen zusammenhängenden Satz zu bilden. Missmutig legte er die Stirn in Falten und schloss erschöpft die Augen. „Die Bestätigung und das Honorar zum Verkauf der 500. Ausgabe von Paris für Idealisten“, sagte eine weit entfernte Stimme. „Raoul hat es vorbeigebracht, mit den besten Wünschen. Die Rosen sind von Gisèle und Thierry, und der Wiesenstrauß und die Pralinen von Julien.“ Unter Schmerzen drehte er den Kopf zur Seite. Miles saß dort, er hatte sich ein wenig vorgebeugt. Beinahe hätte Rupert ihn nicht erkannt. Seine sonst sehr schöne Stimme war ein Krächzen, und er sah aus wie einer der Clochards unter den Brücken der Seine. Seine Kleidung, auf die er soviel Wert legte, war zerknittert, sein Kinn unrasiert und sein normalerweise gepflegt glänzendes Haar strähnig. Eine Aufmerksamkeit und Genesungswünsche von Jacques fehlten, Rupert konnte sich denken, weshalb. Einem 147
Nebenbuhler schickte man keine Geschenke, sondern hoffte auf eine Verschlechterung. „Wie lange …?“ flüsterte Rupert. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. „Sieben Tage“, erwiderte Miles ebenso leise. „Wegen der Schmerzen haben sie dich nicht aufgeweckt und dir Beruhigungsmittel verabreicht.“ „Warst du … die ganze Zeit hier?“ „Ja.“ „Du solltest nach Hause und dich ausruhen.“ Miles strich über Ruperts Haar, hielt es zurück und sah ihm direkt ins Gesicht. Seine graublauen Augen wirkten durch den Schlafmangel noch größer und intensiver. „Du bist schwer verletzt, ich kann dich nicht alleine lassen. Außerdem soll ich die Schwester informieren, wenn du aufwachst, damit sie dir etwas Morphium spritzt.“ Rupert wurde leicht nervös. Er realisierte, dass er verbunden war. Sein linkes Bein steckte in Gips, und er selbst in einer Art Korsett, das man im Bett an einem Gestell aufgebaut hatte. Auch sein Arm war bandagiert. Die Finger beider Hände konnte er nicht bewegen, da sie wohl ebenfalls ruhiggestellt waren. Die stechenden Schmerzen, die ihn plötzlich durchzuckten, lokalisierte er im Rückgrat. Um das zu fragen, was er fürchtete, benötigte er mehrere Anläufe. „Bin ich … bin ich gelähmt?“ Miles nahm seine umwickelten Hände in seine. Rupert meinte, die frostige Kühle seiner Haut durch das Verbandsmaterial zu spüren und schauderte zusammen. Miles’ Blick ließ ihn nicht los, doch er antwortete mit einer Gegenfrage. „Warum hast du’s getan?“ „Ich weiß nicht“, jammerte Rupert. „Werde ich wieder gehen können, Miles? Ich wollte nicht, dass es so endet. Es schien mir – die beste Lösung.“ „Wofür?“
148
„Bitte beantworte meine Frage. Sonst wäre ich lieber tot. Was ist mit mir?“ Der Freund seufzte, er senkte die Lider, wie um sich zu sammeln. Als er wieder aufsah, hatte sein Blick etwas Distanziertes. Dennoch überwog die Sorge um Rupert. „Ich kann dir nichts sagen. Die Ärzte wissen noch nichts Genaues. Dein Bein ist mehrfach gebrochen, ebenso zwei Rippen, der Arm und die Handgelenke. Die Milz und die Leber hatten Risse erlitten, und die Wirbelsäule ist gestaucht. Außerdem hast du sehr hohe Temperatur und ein SchädelHirn-Trauma. Du bist nicht außer Gefahr, obwohl die Operation gut verlaufen ist. Sie werden dich noch eine Weile hierbehalten.“ „Heißt das …?“ „Wirklich dankbar kann ich erst sein, wenn das Fieber gesunken ist. Deine Ärzte sagen, die Krise sei nach etwa zwei Wochen überstanden.“ Das Hängegestell knarrte, als Rupert sich bewegte und vor Schmerzen rote Sterne sah. Das Pfeifen und Piepen des Apparates wurde laut und penetrant. „Ruf’ die Schwester … bitte!“ Er tat es, und nach wenigen Minuten erschien eine Krankenschwester mit dem Morphin. Sie sprach mit Miles auf Französisch, lächelte Rupert zu und verschwand wieder, nachdem sie ihre Pflicht erfüllt hatte. „Was sagt sie?“ murmelte Rupert; das Mittel wirkte unverzüglich. Er fühlte sich müde. „Dass du Glück hattest und zäh bist. – Ich habe deine Eltern benachrichtigt.“ Unter enormer Willensanstrengung öffnete Rupert die Augen. „Warum?“ „Es schien mir richtig. Du lagst bis heute Morgen auf der Intensivstation, ich wusste nicht, ob …“ Schluchzend brach er ab, während er zu Boden sah. Seine breiten Schultern bebten, und er barg das Gesicht in den Händen. Erschüttert rang Rupert die Müdigkeit nieder. „Miles. 149
Nicht … es ist doch in Ordnung. Ich bin dir deswegen nicht böse!“ Jede Vorsicht vergessend umarmte Miles den Freund, indem er ihn aufrichtete. Die Berührung schmerzte und ließ zugleich ein Glücksgefühl durch Rupert strömen, das ihm sagte, dass er kämpfen würde, um gesund zu werden. Und sei es nur, um für Miles Klavier zu spielen. „Ich hatte solche Angst, Rupert! Ich dachte, ich werde wahnsinnig! – Ist es meine Schuld? Warum bist du gesprungen? Du bist nicht selbstmordgefährdet, selbst wenn sie’s behaupten, es stimmt nicht. Warum hast du’s getan? Hat dir jemand Rauschgift verkauft? Du kannst mir alles sagen, das weißt du doch. Dafür bin ich da.“ Jetzt weinte er hemmungslos; die Belastung der letzten Tage und die Anstrengung, einen kühlen Kopf zu bewahren, während sein Freund zwischen Leben und Tod schwebte, hatten ihn überfordert. „Du hast mir auch nicht alles gesagt“, sagte Rupert in Miles’ Hemdkragen. Er hätte ihn gerne physisch beschwichtigt, mit seinem Haar gespielt, das immer noch schön war und nach Brillantine duftete. Aber sein Zustand erlaubte es nicht. Er war verpackt wie eine ägyptische Mumie. Das Morphin bootete seine Scheu vor dem brisanten Sujet aus. „Ich hab dich mit Jacques gesehen.“ Das Schluchzen verebbte. Miles’ Atmung, die Rupert als sanftes, beruhigendes Pochen am Brustkorb gespürt hatte, beschleunigte sich und traf ihn jetzt als schmerzhaftes Stoßen an seinen Rippen. „Mit Jacques? Wann?“ Rupert holte tief Luft. Sein Oberkörper reagierte mit einem furchtbaren Ziepen, das ihm flüchtig das Bewusstsein raubte. „Kurz vor … kurz bevor … ich gegangen bin.“ „In Thierrys Lokal? In der Küche?“ Seine Stimme war kaum zu vernehmen, doch er hielt Rupert fest wie zuvor.
150
Kläglich äußerte Rupert einen Laut der Zustimmung, die Stirn an Miles’ Schulter. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst. „Ich wollte dich nicht mehr quälen wie all die Wochen vorher. Darum – hast du mich doch mitgenommen, weil du dachtest – weil ich – dir gefalle. Ich hab es nicht verstanden, Miles, und ich verstehe es immer noch nicht. Ich bin langweilig, ich hätte dich gar nicht verdient. Ich hatte Angst, weil ich Angst davor habe, dich aber nicht verletzen will. Es war falsch, aber ich wusste nicht, wie ich es dir erklären konnte. Ich bin nicht – oh, Miles, ich liebe dich auch, aber nicht so, wie Jacques und du – in der Küche … als du sagtest, du könntest ihn nicht lieben, weil - “ Er verhaspelte sich, das Morphin ließ ihn den Faden verlieren, und er schämte sich schrecklich. Miles hörte ihm zu, er war vollkommen ruhig. Als er sicher war, dass Rupert nichts mehr zu sagen hatte, löste er sich von ihm. Behutsam half er ihm in die vorgegebene, unbequeme Haltung des Stangenkorsetts zurück. „Warum hast du nicht auf mich gewartet, bevor du gesprungen bist? Ich war hinter dir, eine Sekunde noch und wir hätten diesen Irrtum aufklären können.“ Rupert stutzte. „Irrtum?“ „Du glaubst, ich begehre dich wie ein Mann eine Frau, habe ich das richtig verstanden?“ Beschämt – auch über Miles’ unverblümte Wortwahl nickte Rupert. „Dieses Licht ist furchtbar grell“, konstatierte er aus heiterem Himmel, um das Thema in andere Bahnen zu lenken. „Es tut richtig weh.“ Miles musterte ihn, bevor er seine Finger über Ruperts Stirn und Augenbrauen legte. Die Dunkelheit vor seinen Augen war fast wie ein Refugium. Es war besser, Miles während dieses unzweifelhaft prekären Gesprächs nicht in die Augen sehen zu müssen. Und er hatte nicht mehr diesen brennenden Schmerz hinter den Lidern. 151
„Wenn es so wäre, müssten wir darüber reden. Und egal, ob ich dich begehren würde oder nicht; aus diesem Grund musst du dich nicht gleich umbringen. Ich muss zugeben, dass – es mir manchmal schwerfällt, dir meine Zuneigung nicht in einer Weise zu offenbaren, die dich erschrecken könnte. Aber ich mag dich einfach, das ist alles. So bin ich. Es tut mir leid, dass du mein Verhalten falsch interpretiert hast. Ich liebe dich, Rupert, auf reine Art. Ich könnte dir nie etwas antun oder so roh sein wie Jacques in der Küche während deiner Beobachtung. Mir hat das selbst Angst eingejagt. Bitte überdenke das, bevor du noch einmal so was Törichtes tust. Damit hättest du mich verletzt, nicht mit deiner Zurückweisung.“ Als er die Hand wegnahm, war Rupert eingeschlafen. Er setzte sich auf den Besucherstuhl, der seit sieben Tagen sein einziger Komfort war, und seufzte. Die Lust auf einen Kaffee und eine Zigarette trieb ihn schließlich doch aus dem Hospital. Nachdem er sich erfrischt und rasiert hätte, würde die Welt eine andere sein. Überdies wollte er Ruperts Eltern in seinem momentanen Aufzug nicht unter die Augen treten. Er hatte es ohnehin nicht leicht bei ihnen, man brauchte sie nicht unnötig provozieren. Armer Rupert! Seine Verzweiflungstat ging ihm jetzt doppelt so nahe. Wie leichtsinnig er mit dem Leben gespielt hatte, und das alles aus einer unbegründeten Furcht heraus. ~*~ Zwei Tage darauf trafen Ruperts Eltern in Paris ein. Miles hatte ihnen die Adresse des Krankenhauses genannt, die des Hotels verschwieg er, so dass sie sofort ihren Sohn besuchten. Miles empfing sie auf dem Korridor. Von früheren Begegnungen kannte er die Graysons andeutungsweise; der Vater, ein etwas untersetzter Choleriker mit wilden, stechenden Augen, mochte ihn nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Anders verhielt es sich mit Ruperts Mutter. Von ihr hatte Rupert den hohen, schlanken Wuchs geerbt, jedoch nicht ihr unkonventionelles, manchmal aufsässiges Wesen, mit dem 152
sie ihren tugendhaften Mann häufig vor den Kopf stieß. Was die Sittsamkeit betraf, schlug Rupert mehr nach dem Vater. Sie begrüßte Miles wie eine Schauspielerin mit flatternden Handküssen, während sie ihm auf Absätzen entgegen stöckelte, die sie fast auf Augenhöhe mit ihm emporhoben, als sie keuchend vor ihm verharrte. „Miles! Wie geht es Rupert? Mein armer Schatz!“ Miles hatte ihnen am Telefon von einem Unfall mit einem angetrunkenen Autofahrer berichtet; die Wahrheit würde sie umbringen. „Heute sehr viel besser, Madam. Ich bin überzeugt, er wird es schaffen. – Sir“, wandte er sich höflich grüßend an Grayson senior, der ihm demonstrativ widerwillig die Hand gab. Beide hatten Ruperts unglaublich blaue Augen, die Frau dunkler, der Mann heller, fast opalisierend und durchdringender als Ruperts. „Wenn das mal nicht auf Ihr Konto geht“, knurrte er. „Sie sind ein Tunichtgut. Schon immer gewesen. In Ihrem Beisein erkenne ich meinen Sohn nicht wieder. Angeblich hat er einen netten manierlichen Gentleman kennengelernt. Nun muss ich auch noch feststellen, dass mein Sohn zum Lügner geworden ist.“ „Rupert! Nun sei doch froh, dass er jemandem begegnet ist, den er kennt und dem er vertraut! So ein Zufall, nicht wahr? Seit wann sind Sie hier, Miles?“ Miles räusperte sich. Er musste aufpassen, dass er sich in seinem Netz aus Halbwahrheiten nicht verstrickte. „Seit zwei Wochen, Mrs. Grayson. Auf der Party eines gemeinsamen Bekannten haben wir uns dann getroffen. An dem Abend, als es … passiert ist.“ „Warum haben Sie den Kerl im Wagen nicht angezeigt?“ wetterte Grayson. „Wahrscheinlich waren’s am Ende Sie selbst, der ihn zum Krüppel gemacht hat! Wäre Ihnen durchaus zuzutrauen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Gutgläubigkeit meines Sohnes ihm zum Verhängnis wird.“
153
Der Mann stellte Miles’ Geduld auf eine harte Probe. Dennoch knirschte er nur mit den Zähnen und sagte nichts. Graysons Jähzorn entgegenzutreten brachte nichts, er hatte es schon mehr als einmal feststellen müssen. Wieder schüttelte Yvette Grayson bekümmert den Kopf, während sie den toten Fuchs um ihren Hals lockerte und ihren Hut mit der Pfauenfeder abnahm. Seit ihrer letzten Begegnung mit Miles war ihr Haar vollständig grau geworden. Seltsamerweise machte es sie jedoch nicht alt. „Wie sieht er aus?“ wollte sie wissen. „Nicht schlimm“, beruhigte Miles sie. „Es war böse am Anfang. Aber er schläft die meiste Zeit und hat jeden Tag weniger Schmerzen.“ Da sich Mrs. Grayson so offensichtlich auf ein Wiedersehen freute und darüber hinaus den Ernst der Lage verkannte, verzichtete er darauf, auf die Medikamente hinzuweisen, ohne die Ruperts Schmerzen unerträglich wären. Wirklich geheilt wäre er frühestens in einem halben Jahr, prophezeiten die Ärzte, und er hatte keinen Grund, ihre Diagnose anzuzweifeln. So schlimm wie er gestürzt war, grenzte eine Rekonvaleszenz dieser Zeit fast an ein Wunder. „Das ist gut. Mein armer Liebling. Allein in einem fremden Land! Wenn er dann auch noch leiden müsste … das wäre wahrhaft zuviel verlangt!“ „Sobald es ihm besser geht, kommt er wieder nach Hause“, bellte Mr. Grayson. „Und aus Ihrem Dunstkreis, Mayhew, verschwindet er endgültig, dafür trage ich persönlich Sorge.“ Mrs. Grayson verpasste ihrem Mann einen Seitenhieb mit der Handtasche. „Du bist unmöglich! Mr. Mayhew hat für einen raschen Krankentransport gesorgt und sich um Rupert gekümmert, seit er hier liegt. Vielleicht wäre er ohne ihn tot. Ein wenig Dankbarkeit wäre zumindest angebracht.“ „Pah! Du liest keine Zeitung, Weib!“ Angriffslustig zupfte Mrs. Grayson an ihren Spitzenhandschuhen.
154
„Ich weiß sehr wohl, weswegen du ihm gegenüber Vorbehalte hast. Aber er hat unseren einzigen Sohn gerettet, das wiegt für mich weit mehr als das. Und außerdem, Rupert: ich dachte immer, du gibst nichts auf Verleumdungen, schon gar nicht in der Zeitung.“ „Sie werden den Behörden nicht erzählen, dass ich hier bin?“ forschte Miles argwöhnisch. „Das war unsere Bedingung, Mr. Grayson. Ich hätte Ihnen sonst nicht unseren Aufenthaltsort preisgegeben.“ „Nein, natürlich nicht“, schnauzte der. „Ich habe es versprochen, und ein Gentleman hält sein Wort. Nun bringen Sie uns schon zu Rupert, Mann, und seien Sie nicht kindisch!“ Rupert schlief, als sie eintraten. Mrs. Grayson stieß einen entsetzten kurzen Schrei aus. Mittlerweile war seine Haut dort, wo sie entblößt war, von großflächigen Hämatomen bedeckt; ein Anblick, der sie abrupt ernüchterte. Miles hatte nicht daran gedacht, dass sie das schockieren könnte. Er bot ihr den Stuhl am Fenster an, während Mr. Grayson kritisch um das Bett herumstiefelte. „Sieht bös’ aus“, diagnostizierte er schließlich. „Wieder eine Unaufrichtigkeit, Mayhew.“ Mit einer Zartheit, die seine Worte Lügen strafte, streichelte er Ruperts gesunden Arm. „Rupert. Kannst du mich hören? Dein Vater und deine Mutter sind da“, raunte er ihm zu. „Lassen Sie ihn schlafen, Sir“, bat Miles, der um Ruperts Qualen wusste. Die Minuten, in denen er keine Schmerzmittel benötigte, waren selten. „Bin ich extra in dieses barbarische Land gekommen, um meinem Sohn beim Schlafen zuzusehen?! Davon habe ich als junger Vater genug gehabt! Mit dem Unterschied, dass man es damals noch entzückend fand.“ Einigermaßen erholt näherte sich Mrs. Grayson. Sie setzte sich an die Kante des Bettes und nahm Ruperts verbundene Hand in ihre, wobei sie leise weinend die andere, ebenfalls bandagierte Hand betrachtete. 155
„Sie sind nur gequetscht“, versuchte Miles sie aus dem Hintergrund zu trösten, da er ihre Traurigkeit erahnte und sie zu Beginn ebenfalls empfunden hatte. „Er wird seine Hände wieder gebrauchen können wie vorher.“ „Er macht soviel mit seinen Händen“, klagte sie, als habe sie ihn nicht gehört. „Haben Sie ihn je am Klavier gesehen? Wenn seine Finger steif bleiben, wird er nie mehr derselbe sein. Es ist das einzige, was er gut kann, sagt er. Und dieses grässliche kalte Gestell, in dem er liegt, was ist das? – Mein armer kleiner Rupert! Was hat man ihm nur angetan? Und dabei klang sein Brief so optimistisch und fröhlich! Ich habe mich so sehr gefreut über seine Veränderung!“ „Dass wir ihm die Auszeit zugebilligt haben, versteht sich von selbst“, erklärte Mr. Grayson, wie um sich vor Miles zu rechtfertigen, der laut Ruperts Brief überhaupt nichts darüber wissen konnte, da er nicht einmal erwähnt war. „Sir?“ Miles tat ahnungslos, was wiederum Mr. Graysons Unmut entfachte. „Na, das eine Jahr Urlaub, bevor er sich für einen Posten in Cambridge bewirbt. So hatte ich das seinerzeit auch gehandhabt. Man wäre ein Vollidiot, wenn man sich keine Pause gönnen würde! Der Ernst des Lebens beginnt früh genug.“ In diesem Moment gab Rupert ein Stöhnen von sich. Mrs. Grayson starrte gebannt auf sein wächsernes Gesicht. „Rupert, mein Schatz. Wir sind da, Mum und Dad.“ Langsam öffnete er die Augen. Zuerst fiel sein Blick auf Miles, der mit auf dem Rücken gekreuzten Armen an der Wand lehnte und durch nichts verriet, welch bedeutenden Besuch er hatte. Er brauchte eine Weile, ehe er scharf sehen konnte. Seine Mutter saß bei ihm, ihre Hand am Mund vor Überraschung, ihn lebend anzutreffen. „Sohn?“ Die schroffe Stimme seines Vaters vom anderen Ende.
156
Er schluckte. Es war ihm unangenehm, dass sie ihn so sahen, hilflos in einem Gestänge aufgebahrt. „Es tut mir leid“, wisperte er. „Bitte verzeiht mir.“ „Oh, Rupert!“ Seine Mutter erhob sich und zerdrückte ihn fast. „Was denn verzeihen? Es war ein dummer Schicksalsschlag, nichts weiter! Jetzt musst du erst mal wieder schnell gesund werden!“ „Über deine Nachricht haben wir uns sehr gefreut“, hob Grayson senior nochmals hervor. „Stell’ dir vor, ich konnte sogar deine Anfrage befriedigend lösen. Die Verwandten dieses Milo Kaminski leben unter demselben Namen in New York. Eine Schwester ist offenbar verheiratet, aber wenn wir die Mutter und die andere Tochter kontaktiert haben, wird es auch kein Problem sein, sie aufzustöbern. Hat er dich denn noch gar nicht besucht, dieser Mr. Kaminski? So wie du im Brief getönt hast, seid ihr anscheinend ein Herz und eine Seele. Eigentlich sollte er doch hier sein. Oder hat er Angst, sich bei dir anzustecken? Na ja, es wäre nicht das erste Mal, dass du dir falsche Freunde suchst. Dafür hast du scheinbar ein Talent.“ Vor lauter Aufregung vergaß Rupert die wieder einsetzenden Schmerzen. Als er mit klopfendem Herzen den Raum nach Miles absuchte, war er nicht mehr da. „Vielen Dank für deine Mühe, Dad. Mum, danke für den Besuch. Ich – bin sehr müde. Wenn ihr Miles auf dem Korridor begegnet, schickt ihr ihn bitte zu mir?“ Sie fanden ihn nicht. Seine Mutter kehrte noch einmal zurück, um es ihm auszurichten. „Spurlos vom Erdboden verschwunden! Hoffentlich war er nicht eine Halluzination von uns dreien.“ Verschmitzt zwinkerte sie ihm zu. „Er ist ein guter Junge. Was dein Vater über ihn sagt, meint er nicht so. Er wäre nur manchmal gerne selber ein wenig Mr. Mayhew.“ „Weiß er, weshalb Miles hier ist?“
157
Sie vollführte eine geringschätzige Handbewegung. „Ach, du kennst doch die sensationsgierigen Schmierfinken von den Zeitungen. In der einen hat er eine Bank überfallen, in der nächsten eine junge, gutaussehende Witwe geschändet, in der dritten einen Collegebuben verführt … gib nichts auf das leere Geschwätz. Wenn du den Grund erfahren willst, solltest du ihn selbst fragen. Er wird dir am ehesten mit der Wahrheit dienen können. Und jetzt gute Nacht, du musst dich schonen, und der Tag war aufregend. Wir sehen uns morgen wieder. Nächste Woche muss dein Vater leider abreisen. Aber du hast ja Mr. Mayhew, der ein bisschen nach dir schaut.“ Sie küsste ihn auf die Stirn. „Vielleicht ist er nicht mehr lange da“, mutmaßte Rupert melancholisch. „Ich glaube, ich habe ihn vergrault.“ Die Auflösung seiner heimlich gestellten Anfrage musste den Freund in einen emotionalen Tumult gestürzt haben. Ursprünglich hatte er es ihm ganz anders beibringen wollen. Es war ja sogar für ihn ein Schock, hatte er mit einem positiven Ergebnis gar nicht wirklich gerechnet und innerlich Miles’ Angehörige für tot erklärt. Als er wieder alleine war, ließ ihm Miles’ rätselhafter Abgang keine Ruhe; er klingelte nach der Schwester und bekniete sie in seinem lückenhaften Französisch, nach Miles zu suchen. Trotz intensiver Fahndung blieb er unauffindbar, und Rupert verdammte seine Bewegungsunfähigkeit. Er hätte mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit gewettet, dass Miles zu Thierry gelaufen war und dort über seine Trinkfestigkeit hinweg dem Sherry zusprach. Lange darüber hadern konnte er allerdings nicht; bald schlief er ein. ~*~ Der nächste Morgen dämmerte. Eine Gestalt an seinem Bett ließ ihn erzittern; aus den Augenwinkeln erkannte er lediglich einen Schatten. Das Licht war aus. Als Miles bemerkte, dass 158
Rupert ihn nicht eindeutig identifizierte, änderte er seine Position. „Du bist verrückt“, meinte er. „Ich habe mich die ganze Nacht vollaufen lassen. Und jetzt werde ich über dich herfallen, deine Verbände mit den Zähnen einer nach dem anderen vom Leib ziehen und dich mit Haut und Haar vernaschen.“ Rupert schluckte. Angesichts seiner Machtlosigkeit in dem Gestell und Miles’ leichter Whiskyfahne wäre das nicht einmal völlig abwegig. Irgendwie schlummerte wohl doch eine gleichgeschlechtliche Neigung in Miles. „Ich wollte – etwas für dich tun. Das war wohl – nicht so nach deinem Geschmack.“ „Rupert. Hab ich dir nicht gesagt, dass du dich nicht einmischen sollst in meine Angelegenheiten?“ „Du musst diese Leute nicht finden, wenn es dir widerstrebt“, wandte Rupert zaghaft ein, das Gestell schaukelte nach links, als er versuchte, sich zur Seite zu drehen und sich somit von Miles abzuwenden, um Desinteresse zu signalisieren. Miles’ Schritte dröhnten in seinem Kopf, als er nahe an das Bett herantrat. Er stützte sich schwer auf die Matratze. Die Trunkenheit hatte er einigermaßen unter Kontrolle, doch Rupert durchschaute ihn. Er kämpfte mit sich und dem, was er Rupert zu sagen hatte. „Du fehlst mir“, sagte er. „Jede Nacht in diesem verfluchten Hotel fällt mir die Decke auf den Kopf, weil ich deine Anwesenheit vermisse. Doch, ich möchte diese Leute treffen, wie kommst du darauf, ich wollte nicht? Sie sind meine Familie, nicht ‚diese Leute’. Es ist nicht so, dass ich sie vergessen habe. Ich will sie sehen. Mit dir. Wir reisen nach Amerika. Was hältst du davon? Du warst noch nie dort, oder? Ich auch nicht. Meiner Mutter gefällst du, das kann ich dir jetzt schon sagen. Sie hat immer meinen fruchtlosen Geigenunterricht bedauert.“
159
Rupert stieß ein erleichtertes Schnauben aus, das mit gutem Willen als Auflachen bezeichnet werden konnte. Ebenso befreit wie kühn beugte sich Miles über ihn und gab ihm einen alkoholisierten Kuss auf die leicht geöffneten Lippen, bevor er wieder verschwand und für die nächsten Stunden unsichtbar blieb.
160
Kapitel 14
T
äglicher Besuch verkürzte ihm die lange Zeit im Korsett, das Rupert als eine himmlische Strafe seiner unbedachten Tat akzeptierte, wenngleich es ihm zunehmend vorkam wie eine Streckbank, die ihn auf Miles’ Körpergröße zu trimmen versuchte. Abgesehen von seinem treuen Begleiter, der eigentlich immer da war, versuchten ihm seine französischen Freunde den Krankenhausaufenthalt mit allen möglichen Mitbringseln und Versprechungen zu versüßen. Raoul präsentierte ihm bald das Honorar zum 1000. verkauften Exemplar ihres Buches und brachte ihm dazu eine Sonderedition mit, die jetzt auf dem Markt erscheinen sollte. Miles hatte sie um einige Motive erweitert, die er mit Rupert am Krankenbett ausgewählt hatte. Als er sie nach Raouls Abschied durchblätterte, überwältigte ihn die Schwermut. Würde er je wieder so unbekümmert in die Kamera grinsen können wie auf dem Autorenfoto, auf das Thierry bestanden und Miles zu einem Kompromiss bewegt hatte, wenigstens einen der Fotografen abzulichten? Er zweifelte daran und wäre vermutlich verzweifelt, wenn Miles nicht gewesen wäre, der ihn auf andere Gedanken brachte und ihm versicherte, dass er bald wieder der alte sein würde, wenn er auf die kleinen Fortschritte achtete und nicht der Vergangenheit nachtrauerte. Immerhin schmerzten seine Hände nicht mehr. Die Brüche dort heilten am schnellsten. Selbst die Ärzte waren verblüfft, mit welcher Akkuratesse die Gelenke zusammenwuchsen. ~*~ In der vierten Woche kam ihn erstmals Jacques Fleury besuchen. Verlegen knüllte er sein Barett und wagte es nicht, 161
Rupert direkt anzusehen. Unstet ging sein Blick durch das sterile Krankenzimmer, auf dem lediglich die Blumen für einen Farbklecks sorgten. „Victor hat mir erzählt, dass du spioniert hast“, begann er, es klang nicht verärgert, eher demütig. „Ich muss mich entschuldigen, ich wollte niemanden kränken. Am wenigsten dich. Du bist ein ganz besonderer Mensch, der Spott nicht verdient hat, weil du … nun - so liebenswert bist und keiner Fliege etwas zuleide tust. Trotzdem habe ich Lügen über dich verbreitet. Wahrscheinlich hat sie mich gewurmt, deine Makellosigkeit. Auch darum wollte ich Victor verführen. Ich wollte dich eifersüchtig machen. Entschuldige bitte. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist.“ Nachtragend war Rupert nicht, zumal ihm Friedfertigkeit weniger abverlangte als Hass. Und da er sich vorstellen konnte, welche Überwindung Jacques die Beichte kostete, verzieh er ihm beinahe augenblicklich. ~*~ Als er trotz regelmäßiger Besuche öfter über Eintönigkeit zu klagen anfing, beschaffte Miles ein Fortbewegungsmittel in Form eines Rollstuhls. Entgeistert starrte Rupert den altertümlich anmutenden Stuhl an. Von der Streckbank zum stachelbewehrten Folterstuhl. „Ist das ein Scherz?“ „Morgen starten sie deine Therapie. Das bedeutet, du musst dich wieder bewegen. Die Schwester hat mir gestattet, dich als kleinen Vorgeschmack darauf ein wenig herumzufahren.“ „Miles“, protestierte Rupert, als der ihn kurzerhand, aber sehr einfühlsam aus dem Bett hob und in den Rollstuhl setzte. Eigenartigerweise fiel es ihm schwer, aufrecht zu sitzen; seine Schultern sackten nach vorne. Es tat gut, sich nach so langer Zeit in steifer Haltung zu krümmen. „Ich komme mir bescheuert vor in dem Ding.“ „Und ich geh’ nicht mit dir aus, wenn du aussiehst wie Robinson Crusoe. Hinterher hält man mich noch für Freitag.“ Auf altmodische Art und irgendwie bedrohlich wetzte Miles 162
ein Rasiermesser an einem Riemen, den er über den Besucherstuhl gespannt hatte. Gelegentlich hatte eine Schwester Rupert rasiert, doch aus Angst, ihn zu schneiden, nie besonders gründlich. Miles musste das sehr gegen den Strich gegangen sein; ungepflegte Bärte waren ihm zuwider. Er ging zum kleinen Spiegel über dem Spülbecken der Waschnische, hängte ihn ab und legte ihn Rupert mit der Rückseite nach oben in den Schoß. „Am besten hältst du den Spiegel. Dann kannst du mir sagen, ob ich was vergessen habe.“ „Okay“. Er nahm den Spiegel auf, doch Miles hinderte ihn zunächst daran, einen Blick hineinzuwerfen, indem er jäh seinen Arm herunterdrückte, als sei ihm in letzter Sekunde etwas eingefallen. „Rupert“, sagte er leise. „Wann hast du dich zuletzt im Spiegel betrachtet?“ „Hm … weiß nicht. Das muss vor meinem Unfall gewesen sein“, erwiderte Rupert achselzuckend. „Wieso?“ Da er bereits beim Sprechen den Spiegel seiner Funktion zuführte, schwieg Miles und wandte sich diskret ab. Was Rupert im Glas erblickte, war ein solcher Schock, dass er zischend einatmete. Dieser Kerl da, bis zur Unkenntlichkeit abgemagert, mit eingefallenen, rotumränderten Augen und blau verfärbten Lippen, das war nicht er. Die Blutergüsse in seinem Gesicht und am Hals waren nicht einmal das Schlimmste. Die Ähnlichkeit mit einem monatelang Verschollenen oder Schiffbrüchigen ließ sich nicht leugnen. Mit der gesunden Hand betastete er die schärfer hervortretenden Kanten seines Kiefers unter dem Bart und ließ sie fassungslos zurücksinken. Miles’ Hände, die sich von hinten auf seine Schultern legten, ließen ihn schreckhaft zusammenfahren. „Wir müssen nicht in die Stadt. Ich dachte nur, ein wenig frische Luft täte dir gut. Fünf Minuten nur. Der Park unten ist auch ganz schön.“
163
Rupert legte den Kopf in den Nacken und schaute zu Miles auf. „Ich möchte aber raus“, hauchte er. Die Rasur genoss Rupert wider Erwarten. Nach kurzer Bänglichkeit schloss er die Augen und lauschte dem kratzenden Geräusch, das die störrische Gesichtsbehaarung verursachte. Miles war so vorsichtig wie ein professioneller Barbier, der seit fünfzig Jahren nichts anderes tat, als fremden Männern dank seiner Werkzeuge zu einem jüngeren Aussehen zu verhelfen. Er hatte sich Ruperts Physiognomie genau eingeprägt, was ihm jetzt zum Vorteil gereichte. Bevor sie aufbrachen, stopfte er fürsorglich eine Decke um Rupert. ~*~ Über einen Monat hatte Rupert keinen Grashalm gesehen oder die Vielfalt der Welt außerhalb der Krankenhauswände erlebt. Ehe er recht wusste, kündigte sich der Spätsommer mit buntem Laub und rötlichem Efeu an. Er atmete die süßliche Luft ein und fühlte sich wie Christoph Columbus, der einen neuen Kontinent entdeckte. Anders als versprochen, fuhr Miles ihn durch den Park zum Olde Vic. Von weitem konnte man das Hotel erkennen und das Fenster, aus dem Rupert sich gestürzt hatte. Es stand offen; Miles hatte das Zimmer nicht gewechselt. Thierry und Julien wuselten im Lokal zwischen zufriedenen und winkenden Gästen hin und her. Als sie Rupert bemerkten, hielten sie inne. Seine Kundschaft in den Wind schießend, stob Thierry auf ihn zu und herzte ihn nach französischem Usus, wobei er sich zusammenreißen musste, ihn in seinem Überschwang nicht an sich zu pressen. „Rupert! Wie schön, dich zu sehen! Victor meinte, ihr kämt eventuell vorbei, aber ich hätte nicht damit – Ich bin tief geehrt von deinem Besuch! Der bringt Glanz in meine Hütte.“ Rupert sah sich um. Eine rege, aber nicht hektische Beschäftigung herrschte im Lokal, nur wenige Tische waren frei. Mit dem britischen Konzept schien Miles selbst auf Dauer einen Nerv getroffen zu haben. 164
Julien war ein bisschen zurückhaltender. Beide hatten ihn häufig am Krankenbett besucht und sich an sein verändertes Aussehen gewöhnt, doch in „normaler“ Umgebung wirkte Rupert so hinfällig und kränklich, dass jeden Gesunden Skrupel befielen. „Du schaust gut aus“, log er. „Heuchler“, sagte Rupert freundlich. In seinem Rollstuhl fühlte er sich dreimal so schlecht, wie er an den Mienen seiner Freunde ablas. „Das wird wieder“, tröstete Julien. „Am wichtigsten ist, dass du auf dem Weg der Besserung bist und wieder laufen lernst. Darüber hab ich mir schreckliche Gedanken gemacht, als du da unten im Vorgarten lagst. Gott sei Dank, dass alles recht glimpflich verlaufen ist. Und die Krankenhauskost ist halt einfach ein Fraß, aber zum Glück musst du nicht bis in alle Ewigkeit davon leben. Und außerdem bist du ja jetzt hier. Jacques hat extra für dich frische Scones im Ofen.“ Der kam auch unverzüglich herbei gerannt und überschüttete Rupert mit Küsschen, Tee und Gebäck. Von Ressentiments gegen englische Küche und den britischen Bürger im Allgemeinen war nichts mehr zu spüren. Alle drei leisteten ihnen einander am Tisch Gesellschaft und interessierten sich für Ruperts weitere Behandlung. „Und sobald du dieses Ding nicht mehr brauchst, laden Julien und ich dich ins Kino ein“, bestimmte Thierry. „Ich hab mich schlau gemacht, es gibt hier eines in der Nähe, das amerikanische Filme zeigt. Sogar einen mit Ingrid Bergman in der Hauptrolle. Und Gregory Peck. Der ist auch nicht zu verachten, Rupert.“ Nach ihrem spendablen Kaffeekränzchen borgte sich Miles Thierrys Wagen, der im Hinterhof parkte. Wie schon im Hospital nahm er Rupert auf den Arm, um ihn vom Rollstuhl ins Auto zu verfrachten. „Lassen wir ihn hier?“ fragte er, mit dem Kinn auf den Rollstuhl deutend. „Du verabscheust ihn, und ich kann’s dir nicht verdenken.“ 165
„Wenn du meinst … bin ich nicht zu schwer für dich?“ „Du bist ein Hüpfer, Rupert. Schon immer.“ Damit schlug er die Beifahrertür zu und stieg auf der anderen Seite ein. Ihr Ziel hieß Versailles. Miles liebte das verspielt anmutende Schloss mit den Wasserfontänen im hektargroßen Garten. Für eine Innenbesichtigung war es zu spät, doch der Garten war jedem Bewunderer des Sonnenkönigs zugänglich. Obwohl Rupert fürchtete, sein Gewicht könne Miles schaden, gab es keine andere Möglichkeit, in den Park zu gelangen als in dessen Armen. Er fühlte sich seltsam dabei, aber vor allem angenommen und geschätzt. Jemand xBeliebigen hätte Miles diese Ehre nicht erwiesen. Seine weitausgreifenden Schritte federten jede Erschütterung ab, der Rupert im Rollstuhl unweigerlich ausgeliefert gewesen wäre und die Schmerzen verursacht hätte. Doch im Park, wo ihnen die übrigen Besucher hinterher gafften, vergrub Rupert peinlich berührt das Gesicht an Miles’ Kragen, bis der Freund ihn am Brunnen abgesetzt hatte. Nicht einmal ein winziger Schweißtropfen war auf seiner Stirn zu sehen. Rupert war fast ein wenig beleidigt. War er tatsächlich ein solches Leichtgewicht? Er beschloss, sich ordentlich aufzupäppeln, sowie er alleine das Olde Vic aufzusuchen imstande war. Jacques’ Scones waren köstlich, und auch Herzhaftes bereitete er inzwischen passabel zu. „Schön, oder?“ sagte Miles, den Blick auf die Fontäne in der Mitte des Bassins gerichtet. „Wir haben gutes Wetter erwischt. In letzter Zeit hat es nur geregnet.“ „Das tut mir leid“, murmelte Rupert unweigerlich; überrascht schaute ihn Miles an, dann tätschelte er lachend sein Gipsbein. „Du bist doch nicht für das Wetter verantwortlich. – Mir tut es leid, ich bin nicht gut im Smalltalk. Den überlasse ich lieber Julien.“ Geduldig wartete Rupert. Er ahnte, dass Miles etwas auf dem Herzen hatte. Hätte er nur einen Spaziergang geplant, 166
wäre der Rollstuhl mitgekommen; sie wären ein bisschen im Park herumgeschlendert und anschließend wieder ohne viele Worte zurückgefahren. Aber so – ohne Ruperts mobile Hilfe – musste Miles etwas Besonderes vorbereitet haben. Denn durch die gesamte Anlage würde er ihn trotz seiner Kraft nicht tragen können. Gedankenverloren zupfte Miles an einer Moosflechte herum. Hinter in seine Stirn fallenden Ponysträhnen spähte er in die Weite. Seine Hände klatschen lautlos aneinander. „Wirst du mitkommen nach New York?“ „Natürlich“, sagte Rupert ein wenig erstaunt. „So war’s doch abgemacht.“ „Ich war furchtbar betrunken an dem Tag“, begründete Miles seine Vergewisserung, den Blick stur geradeaus. „Ich hab nichts getan, was dich aufgeregt hat?“ „Nein“, schwor Rupert. Das stimmte nicht ganz, aber so wie Miles implizierte, hatte er es nicht empfunden. Er war nicht unverschämt, gedankenlos oder roh gewesen. Der brüderliche Kuss, den sie ausgetauscht hatten, würde ihm immer Miles’ Wohlwollen versichern. „Gut“, sagte Miles wie zu sich selbst. „Dann wäre die Reise beschlossene Sache?“ „Warum fragst du, wenn du die Antwort schon weißt? Ich hab dir die Suppe doch überhaupt erst eingebrockt, dann will ich sie auch mit dir auslöffeln. Sehr zu freuen scheinst du dich nicht auf ein Wiedersehen.“ Er klang sarkastisch, wenngleich er es nicht so meinte. Endlich wandte sich Miles seinem Freund zu. Seine Miene drückte die Gefühle aus, die in ihm tobten. „Ich bin unsicher, Rupert. In fünfzehn Jahren kann sich soviel ändern. Vielleicht nicht generell, aber ein Erlebnis wie Auschwitz verändert die Menschen, die überleben. Es macht sie hart und bitter. Meine Familie war nicht so. Aber was ist, wenn sie es jetzt ist? Wenn meine Mutter mir Vorwürfe macht, weil ich Vater nicht mit raufgezerrt habe auf den Heuwagen?“
167
Rupert schwieg bestürzt. An derlei Aspekte hatte er gar nicht gedacht. „Warst du denn anders, vorher?“ erkundigte er sich schüchtern. Unbewusst massierte Miles Ruperts Oberschenkel. Es war, als ob er an irgendetwas Halt brauchte. Die Frage wühlte ihn auf, das war ihm anzumerken. „Ich weiß es nicht. Mein Leben war nicht das, das ich jetzt führe. Aber vielleicht war ich glücklicher ohne Bildung und Wohlstand. Gemessen am durchschnittlichen Verhältnis waren wir nicht arm, aber sehr viel ärmer als meine neue Familie. Vermutlich hat mich das schon verändert. Ich war demütiger, bescheidener und weniger oberflächlich. Vor allem war ich glücklicher. Wahrscheinlich verstehst du das nicht, was soll’s? Ich versteh’s selber nicht. Man entwickelt sich weiter, mit oder ohne Auschwitz. Kinder sind allgemein unbeschwerter. Es soll keine Entschuldigung sein.“ Rupert lehnte sich vor, um Miles ins Gesicht zu sehen. Die Sonnenstrahlen hatten sein eigenes, durch die lange Krankenzeit empfindlich gewordenes erhitzt. Er war so stolz gewesen auf seine hart erarbeitete Bräune, die durch die Erschöpfung und den Strapazen der letzten Wochen buchstäblich verblasst war. Sein ohnehin matter englischer Teint erwies sich bei der Zurückgewinnung als nicht gerade hilfreich. „Eine Entschuldigung wofür?“ Miles blies die Backen auf und ließ die Luft entweichen. Sein langes Deckhaar wehte nach vorne, er strich es unwillig zurück. Er wagte es nicht, Augenkontakt herzustellen. „Für Alpträume, Bettnässen und Verantwortungslosigkeit.“ Erst einmal sagte Rupert nichts. Die beiden letzten Faktoren könnte er widerlegen. Trotzdem war ihm klar, dass es mit Floskeln nicht getan war. „Lass uns gehen“, meinte Miles schließlich mit einem prüfenden Blick gen Himmel. Rupert regte sich nicht. „Selbst wenn du das alles hättest: ich würde dich nicht weniger mögen“, resümierte er. 168
„Das ist sehr lieb von dir“, sagte Miles trocken, während er Rupert hochhob und mit ihm zum Ausgang strebte. Tief durchatmend fasste sich Rupert ein Herz. „Warum kannst du nicht wieder nach England? Meine Mutter spricht von Zeitungsartikeln, in denen sich Gerüchte hochschaukeln, weil du quasi über Nacht verschwunden bist. Wäre es da nicht besser, sich zu stellen und die Wahrheit mitzuteilen? Du bist kein schlechter Mensch, dafür würde ich mich verbürgen. Fehler machen doch alle mal, aber dafür gibt es die Chance, sie wiedergutzumachen. Ich möchte dir helfen. Warum erzählst du mir nicht, was der Grund ist für unsere Reise?“ Bedächtig setzte Miles ihn ab, den Arm noch stützend um Ruperts Mitte, doch er ließ ihn linkisch auf seinem gesunden Bein taumeln. Dummerweise konnte er nicht einmal die Arme zum Erhalt des Gleichgewichts einsetzen; es tat weh, sobald er sie auszustrecken versuchte. Miles entfernte sich weiter von ihm. Einzig mit einer Hand hielt er ihn davon ab, auf die Erde zu knallen. Durch die Bandagen an seinen eigenen Händen war es Rupert nicht einmal vergönnt, nach Miles zu greifen. Er musste sich darauf verlassen, dass er ihn nicht fallen ließ. „Warum kannst du nicht gehen, Rupert?“ Verärgert hüpfte Rupert auf einem Bein auf ihn zu. Er brauchte ihn doch, das wusste Miles genau. War seine Frage dermaßen dreist, dass er ihn nun so im Stich ließ und damit Ruperts Genesung riskierte? Gerade waren die Knochen am Heilen, sie durften unter keinen Umständen wieder brechen. Das wäre nicht nur ärgerlich, sondern auch äußerst peinsam. „Ich falle doch“, schrie er panisch auf. „Bitte komm zurück!“ Miles gehorchte. Bevor Rupert vollends die Balance verlor, fand er sich in Miles’ Armen wieder. Ein wildes, aufgebrachtes Schluchzen stieg in seine Kehle, das er an Miles’ Jacke dämpfte, der ihm die Beine vom Boden schwang. „Es war zu früh“, sagte Miles nachsichtig. „So wie es für dich zu früh ist, laufen zu wollen. Wir brauchen beide Zeit. Ich
169
hätte es dir im Übrigen nicht nachgetragen, wenn du es nicht mehr gekonnt hättest, das Laufen.“ Rupert verstand den Wink. Vielleicht würde er nie mit ihm darüber reden. Was war so beschämend, dass man es für sich behielt, fast daran zugrunde ging und dabei die übelsten Verleumdungen in Kauf nahm? ~*~ Im Wagen überfiel Rupert das Gefühl, etwas versäumt zu haben. Es war mehr eine Intuition, er konnte nicht näher definieren, was es war, jedenfalls bat er Miles, rechts an den Feldweg heranzufahren. Der tat es und schaltete den Motor ab. Die DS neigte sich spürbar aber sanft dem Straßenbelag zu; mit ihrer Hydropneumatik war sie ein Segen für Ruperts geschundenen Körper. Er öffnete den Gurt; zur Sicherheit hatte Miles ihn angeschnallt. „Und?“ fragte Miles amüsiert, während er Rupert neugierig fixierte. „Was gibt das jetzt? Ist dir der Gurt unangenehm? Das muss leider sein, sonst hätte ich ein schlechtes Gewissen. Schließlich bist du Invalide, wenn auch nur vorübergehend. Oder musst du austreten? Brauchst du Hilfe bei irgendwas oder schaffst du’s allein?“ Rupert rutschte quer über den Sitz. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Rücken, bis seine Nase Miles’ Jochbein so nahe war, dass ihre Spitze es berührte. Mutiger werdend küsste er ihn kurz auf die Wange und wich gleich darauf wie ein überängstlicher Junge, der von seiner eigenen Courage überrascht wird, zurück. Miles’ Haut war sehr weich und ein wenig feucht; sie roch gut. Natürlich und etwas salzig durch den Schweiß. Im Wagen war es dampfig; Ruperts erst kürzlich überstandene Fieberattacken vertrugen keine Zugluft, und so blieben die Fenster geschlossen. Um Miles’ Mundwinkel zuckte es; Ruperts kleine Einlage hatte ihm gefallen. „Du bist nicht verantwortungslos“, stellte Rupert richtig. „Du hast Verantwortung für mich übernommen. Ich hätte ohne das nie erfahren, wie spannend es sein kann, Neues zu 170
entdecken. Oder anderen zu Erfolg zu verhelfen, so wie Thierry. Ohne deine Zuversicht und Verantwortung wäre das alles nicht möglich gewesen.“ Miles hatte die Hände nicht vom Lenkrad genommen. Jetzt verzog er schmerzlich den Mund und betätigte die Kupplung. „Ohne mich hättest du dir nicht um ein Haar das Genick gebrochen.“ „Das war ganz allein meine Dummheit“, rief Rupert. „Für die ich verantwortlich war!“ Empört über Miles’ Selbstanklage und den Zweifel über die Eigenverantwortung schnappte Rupert nach Luft. „Ich bin erwachsen, Miles!“ „Du bist ein Kind“, insistierte Miles. „Ein großes Kind in einem erwachsenen Körper.“ Den Rest der Fahrt schaute Rupert stumm aus dem Fenster. Auch Miles schien seiner Anschuldigung nichts mehr hinzuzufügen zu haben. Der Ursprung seiner beschützenden Art lag in seinen Erlebnissen, erkannte Rupert. Die Schwachen, zu denen Miles in einer der niederträchtigsten Epochen der Geschichte gehört hatte, zogen ihn – einen äußerlich starken Mann – an, weil er auf diese Art kompensierte, was man ihm und seiner Familie angetan hatte, wobei er ohnmächtig hatte zusehen müssen. Darum hatte er sich in Oxford für Rupert, der sich gegen die Streithähne nicht hatte behaupten können, die Nase zertrümmern lassen. Nachdem ihm dies aufgegangen war, war er Miles nicht mehr böse. Trotzdem musste er Miles’ ungnädiges Urteil seiner Person erst einmal verdauen, wenngleich er sicher war, dass Miles es nicht negativ besetzt, ihm auf seine eigenwillige Art sogar ein Kompliment gemacht hatte. Verglichen mit Miles’ Lebenserfahrung war Rupert ja wirklich nicht mehr als ein ABC-Schütze. In Rupert hatte Miles gefunden, wonach er sein halbes Leben gesucht hatte, nachdem er aus einer eigenen verzerrten Sicht seine Familie nicht hatte retten können und nur an sich selbst gedacht hatte. Für Rupert war es schwer, sich in diese 171
Lage hineinzuversetzen, doch er konnte sich durchaus vorstellen, dass der Selbsterhaltungstrieb in einer extremen Situation wie dieser am meisten zählte. Insofern waren Miles’ Selbstvorwürfe nach Ruperts Dafürhalten unbegründet. Jeder hätte zuerst an die eigene Haut gedacht. Oder? Er war sich unschlüssig. Geschwister hatte er nicht, doch der Gedanke an seine Mutter in einer Gaskammer oder den Vater, der die geglückte Flucht aufgrund physischer Unzulänglichkeiten nicht durchstand, schmerzte tatsächlich. Als sie angekommen waren, blieb Rupert sitzen. Er machte keinerlei Anstalten, den Arm um Miles’ Nacken zu legen, damit dieser ihm aus dem Wagen helfen konnte. Miles verharrte neben der offenen Beifahrertür. „Rupert! Schmollst du?“ Rupert sagte nichts. Stattdessen kaute er auf seiner Unterlippe herum. Es war albern, wie er sich benahm, doch Miles hatte ihn gekränkt und sollte es wissen. Da er weiterhin vor sich hinstierte, holte Miles den Rollstuhl und lenkte ihn direkt an den Autositz. „Spring’ rein“, sagte er. Rupert sah auf; in seinen Augen funkelten verletzter Stolz und die Furcht, nichts weiter zu sein als ein weiteres Lämmchen, das der gute Hirte Miles auf den rechten Weg führte. Er konnte nicht ohne Hilfe in das Ding gelangen, seine Handgelenke waren noch nicht kräftig genug und schmerzten bei der geringsten Belastung. Einen Moment lang maßen sie sich mit Blicken, wobei Miles schließlich kapitulierte und seinen senkte. „Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Es war nicht so gemeint und völlig unbedacht. Ich bin ein bisschen durcheinander durch die letzten Tage. Du bist kein Kind. Das war ungehobelt von mir. Du bist mein bester Freund und wirst es immer sein.“ Etwas besänftigt ließ sich Rupert in den Rollstuhl hieven.
172
Kapitel 15
D
ie Bewegungstherapie war eine Tortur; Rupert hatte nicht geglaubt, dass man ihn noch ärger foltern konnte als mit dem Streckkorsett. Um sechs Uhr morgens wurde er unbarmherzig geweckt; auf Schmerzmittel musste er trotz Beschwerden weitgehend verzichten. Eine rabiate Schwester packte ihn auf ein Laufband zum „Warmwerden“ und „Lockern“, wo er unter ständiger Beobachtung eine halbe Stunde vor sich hinschnaufte. Danach stand Ballspielen auf dem Programm, um seine Reflexe zu prüfen und die Armmuskeln zu stählen. Darin war er recht gut, seine Ärzte zeigten sich zufrieden und überrascht von seiner Leistung. Das Bein machte Probleme. Nicht nur, dass es durch den Gipsverband geschwächt war, auch der mehrfache Bruch heilte sehr viel langsamer als die übrigen. Miles, der Rupert nach wie vor täglich besuchte und während der Therapie häufig anwesend war, empfand tiefes Mitgefühl. Manchmal war Rupert vollkommen ausgelaugt, verschwitzt wie nach einem Marathonlauf und litt unter unkontrollierten Muskelzuckungen, die Tantalusqualen verursachten. An solchen Tagen war er nur dankbar für Miles’ Hilfe, ihn ins Bett zu bringen, wo er augenblicklich einschlief. Wenn er das Pech hatte und wach blieb, kam eine noch aggressivere Schwester als die am Morgen und begann eine brutal anmutende Massage, die Rupert nicht selten aufschreien ließ, da sie keinerlei Rücksicht auf die vereinzelt noch sichtbaren Hämatome der inneren Blutungen nahm. Beim Zusehen litt Miles mehr als Rupert. Wenn es gar zu schlimm wurde, verließ er fluchtartig den Raum. Als Rupert nach einer Behandlung einmal vor Erschöpfung nicht mehr ansprechbar war, beschloss Miles, etwas zu ändern.
173
Stundenlang sprach und feilschte er mit den leitenden Medizinern um den Patienten, den er nun mit nach Hause nehmen wollte. Zwar waren die Ärzte anfangs skeptisch, doch sie ließen sich überzeugen, als die beiden Krankenschwestern einstimmig sein Interesse an der Behandlung des Bruders bestätigten und er sie ohne weiteres im eigenen Heim fortsetzen könne, sofern sie regelmäßig zur Kontrolle im Hospital aufkreuzten. Nach letzten Anweisungen, dutzenden ausgefüllten Formularen und Krücken für die ersten Schritte im Gepäck, brachte Miles Rupert ins Hotel zurück. Der konnte sein Glück kaum fassen; er konnte sich über die unverhoffte Freiheit gar nicht beruhigen. „Wir werden hart arbeiten“, warnte ihn Miles. „Müßiggang wird nicht geduldet. Am Ende des Monats will ich dich selbständig laufen sehen, ohne Krücken, ohne Hinken. Kein Lamentieren und kein ‚Ich kann nicht mehr’, ist das klar?“ „Ich tu’ alles“, gelobte Rupert erleichtert. ~*~ Miles hatte nicht zuviel versprochen. Das Programm, das auf der klinikeigenen Therapie basierte, war hart. Er hatte gehofft, auf ein wenig Verständnis zu stoßen, wenn ihn die Müdigkeit übermannte, doch Miles ließ das nicht gelten. Nur wenn er sah, dass Rupert sich ernsthaft quälte, machte er eine Pause oder ließ das Training bis zum nächsten Tag ruhen. Der Tagesablauf war wie im Hospital fast immer der gleiche. Allein was die Disziplin des frühen Aufstehens betraf, machte Miles Abstriche. Sie frönten den langen faulen Vormittagen wie vor Ruperts Fenstersturz, frühstückten gegen elf und begannen dann mit einem kurzen Spaziergang, den Rupert halb auf Krücken, halb auf seinen Begleiter gestützt bewältigte. Obwohl er mit den Krücken recht geschmeidig hantierte, war ihm Miles als Gehhilfe angenehmer, da der nur eingriff, wenn Rupert nach einiger Zeit schwankte und das 174
Gleichgewicht zu verlieren drohte und ihm so – im Gegensatz zu den Krücken – nicht vermittelte, beeinträchtigt sein. Ansonsten hielt er sich unauffällig beobachtend neben ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben oder eine Zigarette rauchend, die er zur Seite schnippte, wenn er gebraucht wurde. Ruperts eiserner Wille imponierte ihm, und er sparte nicht mit Anerkennung, die seinen Freund anspornte, noch längere Strecken zurückzulegen. „Übertreib’ es nicht“, sagte er gelegentlich außer Puste vor Anstrengung, mitzuhalten. Am Abend kam der gemütliche Teil. Miles erwies sich als sehr viel einfühlsamerer Masseur als die Betreuerinnen im Krankenhaus. Er hatte spezielles Öl besorgt, mit dem er Ruperts gesamten Körper verwöhnte, da es seine überbeanspruchten Muskeln wärmte. Durch die ungewohnte Art, sich fortzubewegen, hatte Rupert häufig Verspannungen im Schulterbereich. Daran hatten die Schwestern keinen Gedanken verschwendet. Es war schon fast ein Hohn, wie Miles sich für seinen angeblichen Egoismus geißelte, während im Dienst der Menschlichkeit Stehende das dringendste Bedürfnis Kranker oder Verletzter übersahen. Nach anfänglicher Scheu machte es Rupert nichts mehr aus, sich auszuziehen und Miles’ sachte, aber energisch knetende Hände auf der Haut zu spüren. Er hatte gefürchtet, Miles hege finstere Wünsche, die er irgendwann an Rupert ausleben würde, aber er blieb während der halben Stunde wohltuend reserviert. Dreimal die Woche ersetzte ein heißes Schaumbad die Massage. Rupert fand das zwar auch sehr schön und entspannend, freute sich aber insgeheim mehr auf die Tage dazwischen. ~*~ Dank Miles’ liebevoller Pflege machte Rupert raschere Fortschritte als in der unpersönlichen Atmosphäre eines Krankenhauses. 175
An ihrem „freien“ Tag besuchten die beiden das Olde Vic, wo sich ihre Freunde beeindruckt zeigten von Ruperts rasanter Genesung und seines täglich besser werdenden Aussehens. Während Miles mit François und Nini in der Stadt sein Unwesen trieb, setzte sich an einem trüben Nachmittag Gisèle an Ruperts Tisch. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen; sie beharrte auf einer Krankenhausphobie, weswegen sie ihm dort nie einen Besuch abgestattet hatte. Sie drückte sich an den Krücken vorbei auf die Eckbank, die Rupert in Beschlag genommen hatte und dort still seinen Tee trank. „Salut“, begrüßte sie ihn und errötete ein wenig, oder vielleicht hatte sie sich vor ihrem Zusammentreffen kräftig in die Wange gekniffen. Die Palette der weiblichen Tricks war bekanntermaßen unerschöpflich. „Schön, dass es dir wieder besser geht. Es tut mir leid, dass ich nie da war, aber es hätte mich bis in meine Träume verfolgt. Thierry hat dir doch hoffentlich jedes Mal meine Grüße ausgerichtet?“ „Das hat er“, erwiderte Rupert. „Und ich trag’s dir nicht nach, dass du nicht gekommen bist. Erstens wäre es mir wahrscheinlich genauso gegangen an deiner Stelle, und zweitens kennen wir uns gar nicht besonders gut.“ „Na ja.“ Sie druckste herum. „Immerhin bin ich wohl der Grund für deine impulsive Tat … die du beinah mit dem Leben bezahlt hast und mir trotz allem schmeichelt. Jede Frau wäre geschmeichelt von so geballter Romantik. Könnte aus der Feder eures Shakespeare stammen. Armer Rupert. Dabei ist es nicht so, dass ich überhaupt nichts für dich empfinde.“ Er fing ihre Hand ein, die sie erhob, um ihm kokett über die Wange zu streichen. „Ich glaube, das Thema ist abgehakt, Gisèle. Ich möchte lieber nicht darüber reden.“ „Magst du mich denn gar nicht mehr? Bin ich kein bisschen attraktiv?“ spreizte sie sich und sprang auf, um sich vor ihm zu drehen. Verlegen blickte er weg. Die anderen Gäste im Lokal befleißigten sich anerkennender Pfiffe. Sie lächelte ihnen zu, winkte und setzte sich dann wieder. 176
„Die würden wissen, was sie an mir haben.“ „Du bist doch mit Thierry glücklich“, argumentierte er. „Oder nicht?“ Mädchenhaft schob sie die Unterlippe vor und deutete einen Schmollmund an. „Natürlich. Das heißt aber doch nicht, dass ich nicht auch meinen Spaß haben kann.“ Juliens Bemerkung über Thierrys Affären fielen ihm wieder ein; sie schienen ein offenes Geheimnis zu sein, von dem sogar Gisèle Wind bekommen hatte. Besonders aufgebracht wirkte sie nicht. Er bemühte sich, nicht allzu überrascht auszusehen. Die lockere Art, mit Beziehungen zu jonglieren, gehörte in diesem Land wohl zum guten Ton, und er hatte keine Lust, sich als Spießer aufzuspielen, zumal ihn die Privatangelegenheiten der Levants nicht interessierten. Gisèle grinste. „Jetzt bist du baff, nicht wahr?“ „Nicht wirklich. Julien hat gesagt …“ „Julien hat gesagt …“ äffte sie ihn nach. „Ausgerechnet der? Das glaub’ ich dir nicht. Der würde sich nie denunzieren! Obwohl … er tut immer so harmlos, aber in Wahrheit ist er ein ganz raffinierter Bengel. Wenn Raoul wüsste, was sein Neffe so treibt, hätte er ihn längst wieder aufs Land zurückgeschickt. Ich glaube fast, Julien macht es, um ihm eins auszuwischen. Raoul ist sehr streng mit ihm, strenger als die Eltern. Da rebelliert man schnell in Juliens Alter.“ Seine Ohren rauschten und wurden rot. „Ich weiß nicht, was du meinst.“ Er verkroch sich in sein Teeglas und schlürfte geräuschvoll. Wenn sie ihn doch bloß in Ruhe lassen würde. Seine letzte Bemerkung stachelte sie zum Gegenteil auf. Allerdings legte sie es lediglich darauf an, ihn zu schocken; ihre Stimme blieb ruhig, als referiere sie über das Wetter. „Sag’ bloß, du hast noch nichts gemerkt? Oh, Rupert, du bist ein noch größeres Schaf als ich dachte. Julien und Thierry schlafen miteinander. Darum hält sich seine Erfahrung mit Mädchen in überschaubaren Grenzen. Jacques hofft immer, 177
dass er zur Besinnung kommt und das Ganze nur eine postpubertäre Verwirrung ist, aber Thierry tut nichts, um dem Knaben Einhalt zu gebieten. Er schwelgt in Juliens Verliebtheit. Und unter uns: wer täte das nicht? Julien ist süß und aufgeweckt. Die meisten Männer verlernen das mit der Zeit.“ Vor Schreck, besonders aber irritiert vor der Kaltblütigkeit ihres Tons, stieß Rupert das halbvolle Glas um. Mit einem verärgerten Laut langte sie nach einer Serviette und betupfte vergeblich die nasse Tischdecke. „Zut! Kannst du nicht aufpassen, du Tolpatsch? Du hättest mein Kleid ruinieren können!“ Er senkte die Stimme, während er sich ungläubig über den Tisch lehnte. „Julien und Thierry … sind ein Paar?“ „Ja, verflixt, so ist das. Nun komm schon, mach nicht so ein entsetztes Gesicht! Ihr Engländer habt das doch erfunden. Bei gemeinsamen Kinoabenden ist es halt nicht geblieben, es ist ja so schön kuschelig im Dunkeln. Und weißt du was? Ich bin nicht sauer auf Thierry, und solange er keinem Rock hinterher steigt außer meinem, auch nicht eifersüchtig. Er ist mir ein guter Ehemann, einen besseren Vater für meine Kinder könnte ich mir nicht wünschen. Ein Milchbubi wie Julien ist keine Konkurrenz für mich. Du wärst eine ernstzunehmende für Thierry.“ Kichernd verschanzte sie sich hinter ihrem Orangensaft und nuckelte am Strohhalm. „Jacques meint, du und Victor seid ähnlich veranlagt, für so was hat er einen sechsten Sinn. Das wäre aber Inzest, oder? Würde jedoch erklären, warum ich dich kaltlasse. Und Victor kann ich dann ebenfalls nicht überzeugen. Schade eigentlich. Ihr seid beide nicht hässlich.“ „Wir sind … keine Brüder“, stammelte Rupert, den ihre freimütige Eröffnung verwirrte. „Na wenigstens das nicht.“ Sie stieß einen theatralischen Seufzer aus. „Mach’ dir nichts draus, Rupert. Du bist sowieso nicht mein Typ.“
178
Ungeschickt fasste er nach seinen Krücken. „Ich muss gehen, Gisèle. War nett, mit dir zu plaudern.“ „He. Wolltest du nicht auf Victor warten? Der müsste jeden Moment wieder kommen. Bei dem Sauwetter werden die Kinder nicht länger draußen spielen wollen.“ ~*~ Wie immer, wenn Rupert etwas beschäftigte, machte er einen Spaziergang, um den Kopf freizubekommen. Mehrmals glitschte er mit den Krücken auf dem regennassen Trottoir aus, konnte sich aber rasch wieder aufrichten und humpelte keuchend weiter. Er wusste selbst nicht, weshalb ihn das Gespräch dermaßen aus der Bahn warf; schließlich hatte Gisèle recht: derlei Neigungen waren ihm nicht neu. Wenn er ehrlich war, hatte er sie ja am eigenen Leib erfahren. Weiter als bis zu einem Kuss hatte die Erfahrung zwar nicht gereicht, und es würde ihm nie einfallen, mehr zu erwarten, doch eine Zukunft, die nur von Miles bestimmt wurde, schien ihm gar nicht so fern, wie schon sein Hirngespinst des Hauses in Südfrankreich bewiesen hatte. Also musste er einsehen, dass Julien sich zu Thierry hingezogen fühlte und umgekehrt. Er wäre ein Heuchler, wenn er das nicht wenigstens auf diffuse Weise verstand. Gisèle dauerte ihn schrecklich. Sie hatte sich zwar abgebrüht gegeben, doch er ahnte, dass es sie erbitterte, nach all den gemeinsam verbrachten Jahren mit einem scheinbar loyalen Partner die zweite Geige zu spielen. Wenn Thierry mit Julien zusammen war, entwickelte sich etwas ganz Spezielles zwischen den zweien, das sogar er als Außenstehender wahrnahm. Thierry veranschaulichte damit seiner Frau, dass sie langweilig sei und seinen grundlegenden Ansprüchen nicht genüge. Julien für den Spaß, Gisèle für die Hausarbeit. Nein, richtig war das nicht. Aber stand es ihm denn zu, sich mit diesem Problem zu befassen? Er hatte genug mit seiner Therapie am Hals, die ihn jeden Tag forderte. Dennoch ging ihm das Dreiergespann nicht aus dem Sinn. 179
In der Lounge wartete Miles. Gisèle hatte ihn über Ruperts vorzeitigen Aufbruch informiert. Da er diesem nicht das Gefühl geben wollte, unter ständiger Aufsicht zu stehen, hatte er sich in Geduld geübt und war mit Bauchgrimmen dorthin zurückgekehrt, wo Rupert früher oder später ebenfalls auftauchen musste. Als er Rupert durch die Drehtür hinken sah, warf er seine Zigarette in den überfüllten Aschenbecher, sprang auf und lief ihm entgegen. Er nahm ihm die Krücken ab und zwang ihn, ohne Hilfsmittel zum Lift zu gehen. Rupert konnte es, wenn er wollte, doch seine Bequemlichkeit und die Angst vor plötzlich auftretenden Schmerzen hinderten ihn häufig daran. „Wo warst du?“ In der Abgeschiedenheit des Fahrstuhls konnte er seine Sorge nicht mehr verhehlen. „Warum hast du nicht auf mich gewartet oder bist wenigstens direkt ins Hotel gegangen, ehe der Regen anfing? Klatschnass bist du! Was glaubst du, wie schnell du wieder Fieber kriegst und ich dich ins Krankenhaus zurückbringen muss! Du hättest dich verirren, hinfallen und dir was brechen können! Mach das nie wieder!“ Er ließ ihm ein Bad ein, das so heiß war, dass Rupert meinte, darin zerfließen zu müssen wie in frisch ausgebrochener Lava. Miles blieb unerbittlich, sobald er wehleidig jammernd hochfuhr. „Meine Haut schlägt Blasen! Es ist viel zu heiß!“ protestierte er, als er Miles’ Hand erneut auf seinem Kopf fühlte, die seinen Oberkörper ins Wasser zurückdrückte. Prompt klapperte er mit den Zähnen, während er unter einer jähen Gänsehaut erschauderte. „Gerade heiß genug, um die Erkältungserreger abzutöten“, versetzte Miles. „Du bist selbst schuld, also hör’ auf zu heulen!“ Nach dem Bad packte Miles ihn unverzüglich ins Bett. Es überraschte Rupert, wie sehr er einen Schnupfen fürchtete. Allerdings konnte er sich im Gegensatz zu Miles nicht an sein 180
hohes Fieber entsinnen, das ihn nach dem Sturz fast innerlich verbrannt und ihn in Lebensgefahr gebracht hatte. Er lag da und dachte nach, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Er hatte zu viele Hemmungen, sich des Themas ausgiebig anzunehmen; selbst in Gedanken genierte er sich, die unkonventionelle Beziehung der drei zu analysieren. Miles las im Wohnbereich und hatte den Vorhang zugezogen, um Rupert durch das Licht nicht zu stören. Etwas später hörte Rupert die Tür; vermutlich ging Miles hinunter in die Bar zu einem Schlummertrunk, den sie sich dann und wann gönnten. Außerdem spielte dort jeden Mittwochabend ein Pianist gepflegten Jazz. Nicht so gut wie Rupert, betonte Miles, aber es genügte, solange dieser sich noch schonen musste. Obwohl er sich bemühte, stellte sich der Schlaf nicht ein. Wäre er nicht so vermummt gewesen, hätte er sich ruhelos hin und hergewälzt. Thierry, Julien und Gisèle spukten in seinem Hirn herum. Er begann, etwas Wirres zu träumen, an das er sich nach einer Fünf-Minuten-Schlafphase nicht mehr erinnerte. Aufgewühlt und orientierungslos hob er den Kopf und sah sich um. Erst nach einigen Augenblicken erkannte er die mondäne Einrichtung als die ihres Pariser Hotels. Einigermaßen beruhigt sank er in die Kissen. Doch die Unruhe verließ ihn nicht, er lauschte auf das Ticken und das halbstündige Schlagen der nervtötenden Uhr auf der Kommode. Erst als er erneut die sich öffnende Tür und ein Klirren des Schlüssels vernahm, umhüllte ihn ein Gefühl der Geborgenheit, das die Unruhe schließlich zügelte. Wenige Augenblicke später kam Miles herein, die Knöpfe des Pyjamas schließend. Das Quietschen der Matratze, das entstand, als er sich hinlegte, ließ das Ticken der Uhr auf wundersame Weise verstummen. „Ich dachte, du schläfst längst“, sagte er. „Wenn ich gewusst hätte, dass du wach bist, hätte ich dich zu einem Drink eingeladen.“ 181
Er knipste die Lampe aus. Die darauf folgende Stille, in der die Geräusche der Stadt unter ihnen bereits als Einschlafhilfe dienten, wurde nur von Ruperts gelegentlichen Seufzern unterbrochen. Schließlich setzte Miles dem ein Ende, indem er das Licht wieder anmachte. „Nun gut. Was drückt dich? Falls es dein Ungehorsam ist: ich vergebe dir. Obwohl ich manchmal glaube, du provozierst mich mit Absicht, um zu testen, wie weit du gehen kannst.“ „Das tu’ ich nicht. Entschuldige bitte. Ich bin in vieler Hinsicht eben doch noch ein Kindskopf, du hast schon recht.“ „Also, was ist es dann?“ Stockend und beinahe schamhaft berichtete Rupert von Thierry und Julien. Angesichts der Vermutung, dass Miles ihr Verhältnis wahrscheinlich gut nachempfinden konnte, war ihm die Beichte doppelt so peinlich. Miles ließ sie zunächst unkommentiert. Erstaunt oder abgestoßen schien er nicht zu sein. Falls doch, so vertuschte er es gut. Rupert drehte sich auf die andere Seite, um ihn anzusehen. Während seines Monologs hatte er es nicht gewagt. Sein Freund lag auf dem Rücken, die Arme im Nacken verschränkt, und starrte an die Decke. „Gisèle tut so, als sei es ihr vollkommen gleichgültig“, erklärte Rupert leise. „Aber das glaube ich nicht. Sie tut mir leid, Miles.“ „Bist du sicher, dass die beiden intim miteinander sind?“ Brüskiert von dem freimütigen Ausdruck zuckte Rupert zusammen. „Gisèle sagt es. Und ich glaube, sie führen eine sehr ehrliche Beziehung. Na ja, sofern man das von einer solchen behaupten kann. Immerhin hat er seine Zuneigung für Julien nicht vor ihr verheimlicht.“ „Wenn sie es dir genauso erzählt hat wie du mir, dann sagte sie ‚miteinander schlafen’. Was ist denn mit uns? Wir schlafen auch zusammen, da wir das Bett teilen. Findest du das verwerflich oder unmoralisch? Ich dachte bisher, du magst es.
182
Jedenfalls hast du sogar darauf bestanden, als ich dich fragte, ob es in Ordnung sei.“ Rupert richtete sich auf. „Du weißt, dass das nicht dasselbe ist. Wir sind in einem Hotelzimmer, wo keine andere Möglichkeit besteht, als dicht nebeneinander zu schlafen. Und ja, es gefällt mir, weil du ein Stück Heimat bist, das ich anfangs vermisst habe. Julien und Thierry haben jeder ein eigenes Zuhause mit eigenen Betten. Wenn Thierry eines teilen sollte, dann mit seiner Frau. Und übrigens hat auch Monsieur Delaroche das nicht verdient. Da besorgt er seinem Neffen einen gutbezahlten Job, und der hat nichts anderes im Kopf als seinen Spaß – mit Männern.“ Miles wandte ihm das Gesicht zu und grinste. „Kommt da deine gewissenhaft sittliche Erziehung durch? – Im Ernst, Rupert, damit solltest du dich nicht belasten. Gisèle war dir bisher nicht gerade ein Freund. Mich wundert, dass du dich ihretwegen so quälst. Und Raoul ahnt wahrscheinlich sowieso etwas. Was könnte er aber daran ändern? Julien ist zwanzig, er lässt sich nicht gängeln.“ „Nenn’ mich meinetwegen spießbürgerlich“, erwiderte Rupert. „Aber sie sah nicht glücklich aus, als sie es mir gesagt hat.“ Wieder herrschte Schweigen. Rupert glaubte schon, Miles sei ins Reich der Träume unterwegs, als er den Faden des Gesprächs wieder aufnahm. „Soll ich mit ihnen reden?“ „Mit wem?“ „Den abtrünnigen Chorknaben. Vielleicht ist ja alles nur halb so wild, und Gisèle macht aus einer Mücke einen Elefanten. Überdies möchte ich nicht, dass du dir deshalb die Nächte um die Ohren schlägst.“ „Danke“, murmelte Rupert, er robbte an Miles heran und spürte noch dessen Arm um seine Schulter, bevor er Knall auf Fall einschlief.
183
Kapitel 16
E
ilig hatte es Miles mit seinem Vorsatz nicht. Wichtiger als ein klärendes Gespräch mit den Franzosen, das er vielleicht aus Pietät scheute (Rupert wusste, dass dies nicht der Fall war, redete es sich aber ein), war ihm Ruperts Therapie. Es gab Momente, in denen Rupert sich einen weniger disziplinierten Betreuer gewünscht hätte und Miles das auch wissen ließ. Doch seine Beschwerden prallten an ihm ab, und sowie er drohte, ihn wieder ins Spital zu überweisen, wurde Rupert seine Bequemlichkeit bewusst, von der er geglaubt hatte, sie unter Miles’ Aufsicht besser entfalten zu können als bei den mitleidslosen Krankenschwestern. Was sich jedoch als Trugschluss herausstellte. Im Großen und Ganzen war Miles verständig und mutete ihm nicht zuviel zu, doch er war genauso ein ehrgeiziger Mentor, der das Beste für seinen Schützling wollte. Da er sich und Rupert das Ziel gesetzt hatte, bis zu einem bestimmten Termin die Behandlung abgeschlossen zu haben, bekam das süße Nichtstun nur kleine Chancen. Glücklicherweise vergaß Miles es doch nicht ganz; Tiere und kleine Kinder zeigten sich erst gelehrig und willig, wenn man ihnen die Übungen versüßte. Erwachsene waren in dieser Hinsicht nicht viel anders, dachte er, und sollte recht behalten. Über Ruperts Fortschritte freute er sich mehr als Rupert selbst. Es war ein eigenartiges, aber auch angenehmes Gefühl für Rupert, wenn er zwanzig Schritte ohne Hilfe zurückgelegt hatte und dafür zur Belohnung einen Kaffee oder einen Imbiss im nächsten Bistro spendiert bekam. Und da er geradezu süchtig nach diesen kleinen Belohnungen wurde, strebte er trotz seiner gespielten Meuterei an, Miles jeden Tag mit mehr Selbständigkeit seinerseits zu überraschen. Alltägliche Dinge 184
wie der Gang zur Toilette oder das Anziehen hatten ihm monatelang das Leben schwer gemacht. Damit sollte endlich Schluss sein. Es wäre zum Lachen, wenn er nicht zur alten Form zurückfinden würde nur aufgrund eines Missverständnisses. Die Krücken waren ihm ohnehin hinderlich und, wie er festgestellt hatte, nicht ungefährlich. Vor allem auf häufig frequentierten Plätzen und Promenaden musste er aufpassen, dass er keinen Passanten aufspießte oder einen ungünstig auf einer Erhebung parkenden Kinderwagen ins Rollen brachte, dem Miles hinterher gerannt und einer aufgelösten Mutter unter tausend Entschuldigungen wieder übergeben hatte. ~*~ Eines Morgens machten sie sich dann doch auf zum Olde Vic. Da Thierry erst am späten Vormittag öffnete, blieb ihnen genügend Zeit, in Ruhe zu sprechen. Miles zeigte keinerlei Anzeichen von Nervosität; er hatte Rupert versprochen, nicht dabei sein zu müssen, falls ihm die Angelegenheit zu nahe ging. Im Vorfeld hatten sie sich geeinigt, Gisèle nicht zu erwähnen. Als Freunde und temporäre Angestellte des Inhabers besaßen sie ein Duplikat des Hausschlüssels. Hinter dem Windfang waren Julien und Thierry dabei, alles für den Tag vorzubereiten. Im Radio schmachtete Elvis Presley, Julien fegte die Ecken aus, während Thierry hinter dem Tresen das Geschirr und Gläser auf übersehene Schmutzränder und eventuelle Risse kontrollierte. Er lief ihnen beflissen entgegen. „Bonjour, mes amis! Ihr wisst ja, Frühstück gibt es erst in einer Stunde. Oder hattet ihr einfach nur Sehnsucht nach mir?“ „Weder noch, Thierry.“ Bereits an Miles’ Tonfall ließ sich erahnen, dass etwas Ernstes in der Luft lag. In der Haut des drahtigen Kellners hätte Rupert jetzt nicht stecken mögen. „Bringst du uns Tee? Für vier, bitte. Rupert und ich haben etwas mit euch zu besprechen.“ Besorgt zupfte Rupert den Freund am Ärmel. Er hatte nicht miteingebunden werden wollen in das Gespräch und Miles 185
ausdrücklich darauf hingewiesen. Warum hielt er sich nicht an die Vereinbarung? „Klingt viel versprechend“, sagte Julien, während sich Thierry ohne Umschweife in die Küche begab. Er setzte sich zu den beiden an einen Tisch und strahlte. „Der Laden brummt, Victor! Ich werde wohl meinen Job kündigen und Thierry unter die Arme greifen müssen, damit er den täglichen Ansturm bewältigen kann. Und ich lerne Deutsch, Niederländisch, Spanisch und Amerikanisch, um mit jedem Gast in seiner Heimatsprache zu kommunizieren.“ „Wunderbar“, nuschelte Miles mit der Zigarette im Mundwinkel und riss ein Streichholz an der Schuhsohle an. „So hab ich mir das vorgestellt.“ In trauter Runde tranken sie ihren Tee und schwatzten ein wenig über die unglaubliche Verwandlung des einst tristen Bistros. Vor der Tür tummelten sich einige Vorbeigehende, sahen kurz auf die Uhr und schlenderten weiter, nachdem Thierry sie auf die Öffnungszeiten aufmerksam gemacht hatte. In seiner jetzigen Situation konnte er es sich leisten, seine Gäste auf einen späteren Zeitpunkt zu vertrösten. Miles stellte sein Glas ab und sah Thierry und Julien einer nach dem anderen durchdringend an, bis Julien etwas verunsichert losprustete. „Was ist denn? Hat die pingelige Gesundheitsbehörde eine Beschwerde vorgebracht? Oder will dein Hotelier uns nicht mehr beliefern?“ „Oh, nein“, sagte Miles. „Alles in Ordnung, mein Liebling.“ Verdutzt ob des Kosenamens schaute Julien zu Thierry, der verständnislos die Achseln hob. Rupert saß wie auf glühenden Kohlen; an seinen Seiten rann Schweiß hinunter. „Hört zu.“ Verschwörerisch beugte sich Miles ein wenig über den Tisch, als habe er Angst, Unbefugte könnten sie belauschen. „Das Lokal läuft morgen auf den Tag genau erfolgreich ein Vierteljahr unter neuem Namen. Rupert und ich dachten, dass das ein guter Anlass zum Feiern im kleinen Rahmen wäre. Nur Rupert, ihr und ich. Kommt morgen Abend ins Hotel. Ich bestelle Champagner und Kaviar, und wir lassen 186
ohne Druck gemütlich auf uns zukommen, was sich ergibt. Und kein Wort zu niemandem. Ihr schätzt doch Experimente?“ „Seid ihr nicht Brüder …?“ wandte Julien mit großen Augen ein; Bedenken, das Miles mit einer nonchalanten Schulterbewegung entkräftete. „Na und? Das soll uns nicht daran hindern, ein bisschen Spaß zu haben. Hat’s noch nie und wird es auch nicht. Es sei denn, euch stört es.“ Rupert stockte der Atem. Er machte ihnen einen Vorschlag, dessen delikate Natur sie sofort erfassten. Triumphierend stieß Thierry Julien ans Schienbein. „Wir sind offen für alles“, versicherte er im selben Ton, bemüht, seine Erregung zu kaschieren. „Wir könnten ja auch schon heute vorbeikommen, wenn es keine Umstände macht, was ist schon ein Tag mehr oder weniger. Ich hab nichts vor. Du, Julien?“ Julien schüttelte den Kopf. „Darf ich dich küssen, Victor? Als kleinen Aperitif? Ich meine, das ist ja wirklich – ein großzügiges Angebot!“ Völlig überrumpelt hockte Rupert wie ein Stock neben Miles, der sphinxhaft lächelte und leicht Ruperts Hand unterm Tisch drückte, wie um ihm zu versichern, dass er keinen Grund habe, sich zu ängstigen, solange Miles bei ihm war. Doch es nützte nichts. Er fühlte sich übergangen, erniedrigt und belogen. Von einer solchen Verabredung hatte er sich gefürchtet. Hatte er nicht immer geahnt, dass er Miles nicht trauen konnte? Geschah ihm ganz recht, dass er so übel hereingelegt worden war. Er und seine verfluchte Naivität! Als Juilen sich vorbeugte, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, stieß Miles ihn von sich, dass er mitsamt dem Stuhl hinten überkippte, und sprang auf. Entsetzt starrte Thierry auf den ächzenden Jungen am Boden und half ihm im nächsten Moment auf eine Bank am Fenster. Vor Schmerz runzelte Julien die Brauen und krümmte sich. Zu allem bereit baute sich der kleine Thierry vor dem großen Miles auf; das flinke Eichhörnchen forderte den mächtigen Löwen heraus. 187
„Was soll das?! Du hast ihm wehgetan! Er wollte sich nur bedanken!“ Miles atmete schwer, er hatte sich nicht wieder gesetzt. Jetzt nahm er Rupert am Ellenbogen, um ihn ebenfalls zum Aufstehen zu animieren. Wie betäubt von der unerwarteten Wende der Ereignisse folgte Rupert, seine Gedanken fuhren Achterbahn. Vor seinen Augen schwamm alles, und er wünschte sich die Krücken herbei, die zuhause am Schrank lehnten. Gottlob war Miles da, an den er sich unauffällig klammerte. Jetzt, nach dieser unmissverständlichen Abfuhr, durfte er es wohl riskieren, auf Tuchfühlung zu gehen. „Was seid ihr für törichte kleine Jungs“, bedeutete ihnen Miles, seine Stimme klang plötzlich scharf und schrill vor Zorn. Durch die heftige Abwehr, mit der er sich Julien vom Leib gehalten hatte, war sein Haar in die Stirn gefallen. Mit der Rupert inzwischen vertrauten, ungeduldigen Geste wischte er es zurück. „Für weniger kommt ihr ins Gefängnis und macht euer Leben kaputt! Und nicht nur eures, sondern auch das eurer Familien. Wenn ihr schon meint, euch auf diese Art amüsieren zu müssen, dann denkt wenigstens an sie. Thierry, du hast Frau und Kinder! Noch sind sie zu klein, um zu verstehen, was ihr Vater so treibt, aber wenn sie es erfahren und von der Gesellschaft geächtet werden, sehen sie dich mit anderen Augen! Und hast du Gisèle mal gefragt, wie sie darüber denkt? Ist dir gar nie der Gedanke gekommen, es könne sie kränken? Oder dass sie Angst hat, jemand wie ich oder Rupert plaudern dein Geheimnis aus? Uns zu vertrauen ist eine große Dummheit, denn wir sind fremd und können uns jederzeit erlauben, damit zur Polizei zu gehen und das Land unbehelligt zu verlassen. Dasselbe gilt für dich, Julien, wenn dabei auch nur dein eigenes Leben ruiniert wird. Du brauchst keine Angst zu haben: meinetwegen kannst du deinem Hang weiterfrönen; du hast keine Familie wie Thierry. Aber du verletzt deinen Onkel Raoul, der soviel für dich getan hat. Wenn er nicht mehr 188
schweigend darüber hinwegsieht und deine Eltern benachrichtigt, ist dein Leben vorbei, bevor es richtig angefangen hat. Vor allem: lass Thierry in Ruhe. Er gehört Gisèle und den Kindern. Natürlich könnt ihr euch weiterhin treffen, euch schöne Abende im Kino machen und einen trinken gehen, aber auf rein freundschaftlicher Basis. Nicht so wie bisher. Ihr werdet sehen, dass euch eine platonische Beziehung ebensoviel geben kann, wenn nicht gar mehr.“ Im letzten Teil seiner Gardinenpredigt hatte er sich zum Großteil gefangen; er war wieder ruhig, sein Atem ging normal. Thierry und Julien sahen elend aus auf ihrem Sünderbänklein. Fast konnten sie einem leid tun, Rupert hatte ohnehin ein viel zu weiches Herz. Dennoch: auch Miles war die Rede nicht leicht gefallen. Endlich erhob sich Thierry wie in Trance und schenkte jedem von ihnen ein Glas Whisky ein. „Fang’ nicht wieder damit an.“ Miles nahm ihm die Flasche weg, ließ es aber zu, dass er sein Glas auf Ex leerte. „Es hätte so schön werden können“, lamentierte Thierry. „Ich dachte, ihr hättet Verständnis …“ „Das habe ich, Thierry. Mehr als du denkst. Julien ist ein hübscher Kerl. Aber du hast Gisèle, die tausendmal hübscher ist und außerdem deine Frau. Sie liebt dich, und es kränkt sie, dass du sie nicht für vollwertig erachtest, indem du mit Julien flirtest.“ „Habt ihr mit Gisèle gesprochen?“ Gemäß ihrer Absprache schüttelte Miles den Kopf. „Nein. Das war nicht nötig. Wenn du ihr mehr Aufmerksamkeit schenken würdest, hättest du gesehen, dass sie unglücklich ist. Sie will es nicht zeigen aus Angst, dich zu verlieren. Aber das ist fast so dumm wie eure heimliche Liaison. Zeig’ ihr, dass du sie liebst. Dass du dankbar bist für François und Nini. Kinder wirst du mit Julien nämlich nie haben.“ Julien, der immer noch ein wenig den Eingeschnappten markierte, lachte über diese auflockernde Bemerkung wider
189
Willen auf. „Sehr scharfsinnig!“ sagte er, sein Ton klang versöhnlich. „Das wäre aber wirklich das Letzte!“ Da Julien die Sache mit Humor nahm, entspannte sich auch Thierry etwas, er zog den Mund in die Breite. Alles in allem wirkte sein Lächeln unsicher, aber Miles schien etwas in ihm angestoßen zu haben, das ihn berührte und über das er ernsthaft nachdachte. „Ich war Gisèle die letzten zwei Jahre kein guter Ehemann. Und dich, Julien, habe ich davon abgehalten, mit Mädchen auszugehen. Das war nicht rechtens, ich gebe es zu. Unsere Freundschaft muss ja nicht zu Ende sein. Vielleicht ist ein neuer Anfang gar nicht so verkehrt. In jeder Beziehung.“ Rupert atmete auf und löste seine verkrampften Finger, mit denen er sich an Miles’ Jackenzipfel festgehalten hatte. Erstaunlich, wie Miles die Situation von einer kitzligen in die richtige manövriert hatte, ohne belehrend oder taktlos zu agieren. Sein Misstrauen reute ihn. Miles’ Ruf, der ihm bereits auf dem College vorausgeeilt war, bewahrheitete sich immer wieder. Er ging keinem Konflikt aus dem Weg und steckte voller Überraschungen. In erster Linie aber war er das, was er selbst gewiss vehement abgestritten hätte: ein gerechtigkeitsliebender Philanthrop. ~*~ Der November in Paris stand dem Londoner in nichts nach; grau und regnerisch hielt er Einzug und mit ihm eine gewisse Melancholie der Menschen, vor der auch Miles und Rupert nicht gefeit waren. Besonders Letzterer, dem die Schwermut ohnehin im Blut lag, konnte es gar nicht glauben, wie schnell die Zeit verflog. Im Frühjahr waren sie hier angekommen. Über ein halbes Jahr logierten sie nun in diesem Hotelzimmer, wobei Rupert fast die Hälfte davon im Krankenhaus gelegen hatte. Er hatte das dumpfe Gefühl, etwas versäumt zu haben. Manchmal rutschte er in ein Loch, aus dem Miles ihn nur unter großer Anstrengung herauslocken konnte. Er ging mit ihm in die Oper, ins Kino und in vornehme Restaurants wie 190
das Maxim’s, nur um Rupert zu zerstreuen. Tatsächlich halfen ihm diese Vergnügungen über seine Trübsal hinweg. Wenn auch nur für kurze Zeit, so war er doch dankbar, in Miles einen verständigen Begleiter und Freund zu haben. Durch den Wetterumschwung schmerzte sein Bein, und wenn sie unterwegs waren, verübelte ihm Miles die Krücken nicht, die Rupert streng genommen nicht mehr benötigte. Doch er duldete keinen Schlendrian; bei Wind und Wetter waren sie draußen, besuchten Raoul oder Thierry und Gisèle mit Jacques in ihrem Heim. Die Levants hatten wieder zueinander gefunden und turtelten so offensichtlich und schamlos, dass Rupert mitunter rot wurde, wenn er sie schmusen sah. Ihnen schien das trübe Wetter nicht aufs Gemüt zu schlagen. Julien hatte Konsequenzen gezogen und um Urlaub gebeten, den er bei seinen Eltern verbrachte. Er brauche Abstand, sagte er, um innerlich zu Thierry ein normales, freundschaftliches Verhältnis aufzubauen. Das Argument war vernünftig, und so hatte er Raouls Segen, für ein paar Wochen in seiner südfranzösischen Heimat aufzutanken und sein bisheriges Leben zu überdenken. Von seinen Eltern, mit denen er gelegentlich korrespondierte, hatte Rupert bei ihrem Krankenbesuch die Adresse von Miles’ Angehörigen erhalten; nach einiger Zeit fasste er sich ein Herz und schrieb an die Mutter. Seine Handschrift war noch krakelig durch die Knochenbrüche, aber mit gutem Willen lesbar. Er erzählte von der Sorge Miles’, sie trage ihm den Tod des Vaters nach. Es war verrückt, sich derart in Miles’ Privatangelegenheiten zu verbeißen, aber Rupert meinte, das Recht dazu zu haben. Mittlerweile betrachtete er sich fast als leiblicher Bruder. Demzufolge konnte ihm nicht gleichgültig sein, ob Miles und seine Verwandten sich in gutem Einvernehmen wieder sahen oder einander gram waren. Zu guter Letzt legte er ein Foto von Miles bei, das er ohne dessen
191
Wissen geschossen hatte. Sie sollten wissen, wie es ihm ging und wie gut er aussah. Zwei Wochen später erhielt er Antwort. Aufgeregt presste er den Briefumschlag unter seinem Mantel an die Brust und bewahrte ihn in der Tasche auf, bis er Zeit und Ruhe hatte, ihn ungestört zu öffnen, wozu er sich ins Badezimmer zurückzog und auf den Toilettendeckel setzte. Mrs. Kaminsky war außer sich vor Freude. Sie hatte den Sohn ebenso wie den Vater tot geglaubt, darum hatte sie nie Anstrengungen unternommen, ihn zu finden. Ruperts Brief sei wie ein Geschenk des Himmels, er sei herzlich eingeladen, sie baldmöglichst zusammen mit ihrem Sohn in New York zu besuchen. Auch Miles’ Schwestern freuten sich sehr auf ihren lang verschollenen Bruder und auf dessen hilfsbereiten Freund, der weder Aufwand noch Mühe gescheut hatte, sie wieder zusammenzuführen. Ruperts Beispiel folgend hatte auch sie eine Fotografie der Familie mit Lenes Ehemann beigelegt, sowie ein Porträt der Geschwister, das die Wirren des Krieges in irgendeinem Geheimfach überstanden hatte. Zunächst betrachtete er das Foto jüngeren Datums. Alle drei Frauen hatten dasselbe Haar wie Miles, dunkel und weich. Entgegen Miles’ Befürchtung wirkten sie nicht verbittert, sondern strahlten die charismatische Gelassenheit aus, die den Kaminskis eigen schien. Sein Blick blieb an der jüngeren Schwester Katjuscha hängen. Sie war etwa Mitte bis Ende Zwanzig und trug einen Bubikopf. Ihre Augen lächelten trotz der Tatsache, dass ihr Mund es nicht tat; er hatte so etwas noch nie gesehen und fühlte sich unerklärlicherweise davon irritiert und angezogen gleichermaßen. Ihre innere Heiterkeit war so präsent, dass selbst das Foto sie nicht rauben konnte. Die Aufnahme von Miles und seinen Schwestern rührte nicht minder starke Empfindungen auf. Sie war abgegriffen, fleckig und brüchig, doch machten der schlechte Zustand und das Motiv gerade ihren Charme aus. 192
Der etwa zehnjährige Milos saß in einem Korbsessel, Katjuscha ein wenig linkisch auf dem Schoß, und grinste in die Kamera. Zwar hatte Rupert ihn als Kind nicht gekannt, aber er glaubte anhand der Momentaufnahme zu erkennen, dass Miles trotz aller Schicksalsschläge von jeher ein Optimist war. Lene stand mit feierlich ernstem Gesicht daneben und ließ den Arm auf der Sessellehne beschützend über den Geschwistern ruhen, so als ahne sie mit prophetischer Weisheit die bereits aufziehenden Gewitterwolken des unseligen Dritten Reiches. Gerührt schluckte Rupert den Kloß im Hals und strich sachte über das Porträt. Es musste der Familie einiges abverlangt haben, es auf dem unsicheren Postweg über den Ozean zu schicken. Mit klopfendem Herzen legte er den Brief auf den Wannenrand. Er barst fast vor Glück für Miles, zögerte jedoch, ihn von seinem heimlichen Kontakt zu unterrichten. Miles mochte es ja nicht, dass er sich einmischte. Er steckte das Kuvert in seine Manteltasche, wo er es überall mit sich herumtrug wie einen Schatz. ~*~ Etwa zur selben Zeit wurde Miles von einer Unruhe erfasst, die Rupert rätselhaft war. Er forderte seinen Freund nicht mehr zum Ausgehen auf; stattdessen zog er häufig alleine los und kam erst nach Hause, wenn Rupert schon schlief. Mitunter traf er sich mit Raoul, der sich nach Juliens Abschied etwas umgänglicher zeigte. Abgesehen davon hatte er mit Miles schon immer am besten gekonnt. Obwohl Rupert sich etwas ausgeschlossen fühlte, tolerierte er Miles’ Veränderung ohne Vorwürfe. Doch als keine Besserung in Sicht war und Miles immer einsilbiger wurde und auch nachts keine Ruhe fand, entschied er, ihn aufzumuntern. Sie saßen in einem Café. Miles ließ einen Espresso nach dem anderen die Kehle hinunterrinnen. Noch kein einziges Wort hatte er mit Rupert gewechselt, seit sie sich gesetzt 193
hatten. Er schaute in die Ferne zu den Fenstern und manchmal durch Rupert hindurch, als sei er Luft. Tief einatmend nestelte er in seiner Tasche nach dem Brief. Es war riskant, aber vielleicht die einzige Möglichkeit, etwas von dem Miles in ihm zu wecken, den er kannte. Schweigend platzierte er ihn auf die Mitte des Tisches und nippte an seinem Kaffee. Eine Weile geschah nichts; Miles war zu sehr in Gedanken, um auf Rupert zu reagieren. Erst ein Rascheln des Papiers, verursacht durch Ruperts Finger, lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Freund und schließlich widerwillig auf das Schriftstück. „Für mich?“ fragte er gleichmütig, um gleich darauf ein wenig barsch zu werden. „Er ist an dich adressiert. Warum gibst du unsere Adresse weiter? Ich hab dir gesagt, ich will nicht, dass man unseren Aufenthaltsort erfährt. Kannst du nicht einmal das tun, was man dir sagt?“ „Öffne ihn“, sagte Rupert leise. Miles tat es, immer noch ungehalten. Als die Fotos aus dem Umschlag flatterten, bückte er sich danach und erstarrte. Langsam richtete er sich auf, seine Hand zitterte. „Woher hast du das?“ flüsterte er mit belegter Stimme. „Ein Brief ist auch dabei“, erklärte Rupert. „Deine Mutter freut sich sehr auf dich. Sie ist Klavierlehrerin für Privatstunden und besitzt einen Konzertflügel. Sie spielt immer noch Chopin am liebsten.“ Er wusste nicht, weshalb er das sagte, es war völlig unwichtig. Und doch löste die Bemerkung in Verbindung mit den Fotos eine emotionale Aufwallung in Miles aus: er flüchtete mit dem Brief in die Herrentoilette. Perplex sah Rupert ihm nach, dann erhob er sich und folgte ihm. Er hatte sich in einer der Kabinen hinter den Pissoirbecken eingeschlossen. Rupert rüttelte an jeder Tür; nur eine war verriegelt.
194
„Miles“, rief er gedämpft, während er die Klinke hinunterdrückte. „Bitte mach’ auf. Ich dachte, es freut dich. Wo du doch nicht sicher warst …“ Der Knauf drehte sich von innen, und Miles warf sich in seine Arme. Er weinte bitterlich und barg das Gesicht an Ruperts Schulter, die innerhalb von Sekunden nass bis auf die Haut wurde. Unter der Heftigkeit torkelte Rupert auf seinem gesunden Bein mit Miles in die Sicherheit der Kabine zurück, wo ihm die Wand Halt gewährte. Miles war völlig fertig. Er konnte sich nicht mehr beruhigen. Sanft und wie selbstverständlich strich ihm Rupert mit beiden Händen durchs Haar. Das schöne, glatte Haar, das Miles seit ihrem Parisaufenthalt wachsen ließ und nur noch an besonderen Tagen mit Brillantine zähmte; er verlor sich regelrecht darin und schloss die Augen, um den Moment voll auszukosten. Plötzlich war er der Erwachsene, und Miles der Junge mit dem verletzten Herzen, der getröstet werden musste. „Scht“, machte er. „Es ist doch alles gut, Miles.“ Miles hielt ihn umfangen, eisern und wie ein Ertrinkender. Es tat trotzdem nicht weh. Miles brauchte ihn, das war ein Gefühl, das alle Pein der Welt aufgewogen hätte. „Deine Familie liebt dich. Du brauchst keine Angst zu haben. Du hast nicht versagt. Sie hatten gedacht, du und dein Vater wärt tot. Wie könnten sie dir böse sein? Kannst du dir nicht vorstellen, wie groß ihre Freude war, als sie nach so langer Ungewissheit erfuhren, dass du wohlauf bist? Sie sind nicht wütend.“ „Die Fotos …“ schluchzte Miles. „Darf ich sie behalten?“ Rupert lachte spröde, es fiel ihm schwer, angesichts der aufgeladenen Situation nicht mitzuweinen. „Es sind deine. Ich nehm’ sie dir nicht weg.“ „Oh Rupert! Ich bin hysterisch, verzeih’.“ Mit dem Handrücken trocknete er seine Tränen und die schwarzen Wimpern, bevor er sich schneuzte. „Komm“, sagte er und nahm Ruperts Hand. „Wir müssen feiern.“
195
196
Kapitel 17 Im Olde Vic war alles leer. Den Montag hatte Thierry als Ruhetag auserkoren; ein Luxus, den er sich gönnte. Miles schloss die Tür auf und entkorkte hinter dem Ausschank einen erlesenen Wein, der zu den teuersten auf der Karte gehörte. Rupert meldete Bedenken an, doch Miles ließ sich nicht beeinflussen. Falls Thierry ihn bezahlt haben wollte, wäre es ihm ein Vergnügen. Von den Flutlichtern schaltete er nur einen Teil an. Sie verbreiteten ein schummriges Licht, das gegen den Nebel draußen ankämpfte. Der Raum wirkte gemütlich und so heimelig, dass Rupert wohlig fröstelte, als Miles mit dem Wein und zwei Gläsern antanzte. Keiner von ihnen hatte das Bedürfnis zu reden, und so genossen sie den teuren Rebensaft in vollen Zügen. Nach dem ersten Glas zog Miles Rupert auf die Füße. „Spiel’“. Es war das erste Mal seit seinem Unfall, dass Miles ihn darum bat. Ein wenig unsicher setzte er sich auf den Schemel. „Ich weiß nicht, Miles. Vielleicht kann ich es nicht mehr. Oder meine Finger brechen.“ „Unsinn. Bitte. Tu’s für mich.“ Er stand hinter Rupert, wie früher. Ewigkeiten schien das her, und doch so vertraut. Zaghaft schlug er einen Akkord auf der Klaviatur an. Wieder kam die Musik von selbst in seine Fingerspitzen und von dort in perfekter Harmonie auf die Tasten. Er spürte, wie Miles seine Schulter umfasste, roh fast und so, als müsse er sich mit Gewalt auf den Beinen halten. Rupert spielte trotz einer Warnung in seinem Hinterkopf weiter, er konnte gar nicht anders, es war wie ein Rausch. Der Druck auf seinen Schultern ließ nach; als er aufsah, entdeckte er Miles. Rittlings auf einem Stuhl sitzend
197
beobachtete er den in sein Spiel Versunkenen. Um seine Mundwinkel huschte ein wehmütiges Lächeln. „Rupert“, sagte er sehr eindringlich, aber auch sehr liebenswürdig. „Wir fahren nach Hause. Möchtest du Pate für meine Tochter sein?“ Abrupt beendete Rupert den Walzer. Er musste sich verhört haben. Heiße und kalte Kongestionen wechselten sich in seinem Körper ab und fluteten die Adern, wo sie schließlich gefroren. „Was?“ „Es würde mich ehren, wenn du ja sagst.“ Mit offenem Mund wandte sich Rupert dem Freund zu, doch er bekam keinen Ton heraus. Das musste ein Scherz sein! Miles senkte den Blick, während er mit seinen Fingern spielte. „Ich bin dir schon lange eine Erklärung schuldig. Das ist sie. Ich bin Vater.“ „Nein!“ entfuhr es Rupert. „Letzte Woche kam ein Telegramm. Von Claire. Meiner Verlobten. Nun, wir sind eigentlich nicht verlobt … das ist der Grund, weshalb ich fort musste. Ihr Vater war gegen die Verbindung und hat mich wegen Notzucht angezeigt. Sie stammt aus gutem Haus, und er wollte keinen Juden in der Familie. Außerdem – bekam ich kalte Füße, als sie mir sagte, dass sie ein Baby erwartet. Ich wollte die Verantwortung nicht übernehmen. Aber inzwischen möchte ich es versuchen. Sir Bellwood hat seine Klage zurückgezogen, nachdem er Claire nun endlich glaubt und nicht mehr die Mär der Schändung aufrecht hält. Er meint, es sei besser, einen Judenvater zu haben als gar keinen. Weise Einsichten, wie ich finde. Unsere Tochter heißt Fanny. Ich – habe sie noch nicht gesehen, sie kam erst vor ein paar Wochen zur Welt. Würdest du uns bei der Erziehung helfen? Sie muss dich lieben, Rupert, oder sie ist nicht meine Tochter. Außerdem werden wir einen Trauzeugen für die anstehende Hochzeit brauchen. Willst du?“ „Natürlich … ja“, stotterte Rupert fassungslos, Tränen traten in seine Augen. „Mit Freuden!“ 198
~*~ Die Autorin
Christine Wirth lebt im Badischen. Sie liebt Tiere, ihre Familie, alte Filme und Zwiebeln. Dankeschön an Mareike Unting und Daniela Hartmann für die freundliche Unterstützung. Und natürlich an Nikky ~ fürs Dasein.
199