Die Märchen der Heimat des Braven Bauers Waldberger

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Eine Sammlung wunderschöner Märchen aus der Heimat des braven Bauern Waldberger von Moni Reichenpfader-Herdlicka mit Illustrationen von Kay Inga Smith

Märchenbuch

ISBN: 978-3-902326-49-2

von Moni Reichenpfader-Herdlicka 01 waldbauer_coverU1-U4_430x210 MP.indd 1

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Die Märchen aus der Heimat des braven Bauern

Waldberger Moni Reichenpfader-Herdlicka

Inhalt Die Märchen aus der Heimat des braven Bauern Waldberger ............................

Seite

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Das Märchen von der kleinen Karotte Möhrchen ..............................................

Seite 4

Das Märchen vom Fasching der Tiere ..............................................................

Seite 16

Das Märchen von Poldi dem Murmeltier und dem Wassergeist im Grünen See ...

Seite 28

Das Märchen vom Grashüpfer Philip, der die große Stadt sehen wollte ..............

Seite 40

Das Märchen vom Regenzauberer Papou .........................................................

Seite 52

Das Märchen vom kleinen Schneesternchen Leni ...............................................

Seite 64

Das Märchen von der kleinen Elfe Rosa-Rosa ..................................................

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Die M채rchen aus der Heimat des braven Bauern

Waldberger


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s war einmal in einem schönen, ruhigen Tal. Dort gab

es hohe, alte Bäume, einen lustig plätschernden Bach, sehr schmale Wege und nur ganz wenige Häuser. Eines dieser Häuser war der Bauernhof des braven Bauern Waldberger. Das jahrhundertealte Haus war teilweise aus Stein gebaut. Der erste Stock des Bauernhauses war strahlend weiß gestrichen. Ein mächtiger Balkon erstreckte sich über die ganze Breite des Hauses. Er war aus dunklem, festen Holz geschnitzt. Das Dach des Bauernhauses bildeten graue, alte Schindeln. Neben dem Bauernhaus stand der große Stall. Schon von weitem hörte man das Gackern der Hühner, das Muhen der Kühe, das Quieken der Schweine und das Meckern der Ziegen. Ab und zu krähte auch der bunte Hahn in voller Lautstärke. Das laute Iah des Esels war ebenfalls Teil des Tierstimmenkonzertes am Bauernhof. Wenn man dann näher kam, stieg einem der Geruch der Tiere auch schon in die Nase. Es roch dort nach Kühen, Schweinen, Ziegen und Hühnern.

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or dem Haus lag Rex, der wuschelige Hofhund. Vor seiner Nase lief

die übermütige Katze Minka ständig hin und her. Sie wollte den ganzen Tag mit ihm spielen, aber er lag lieber faul vor seiner Hundehütte. Diese stand unter einem alten Nussbaum, der im Sommer einen breiten kühlen Schatten warf. Ein Holztisch und zwei gemütliche Bänke standen daneben, auf denen der Bauer und seine Frau in ihrer spärlichen Freizeit ausruhen konnten. Viele bunte Vögel waren zu Gast auf dem Bauernhof. Denn sie fanden dort immer genug zu fressen. Sie liefen zwischen den Hühnern mit wippenden Bewegungen hin und her – manche schienen sogar zu watscheln wie kleine Enten. Sie alle pickten eifrig die Körner vom Boden auf.

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in mächtiger Wald mit alten Nadelbäumen und mit vielen

Waldtieren erhob sich unmittelbar hinter dem Bauernhof. Große, saftige Wiesen lagen vor und an den Seiten des Hofes. Der Wald, die Wiesen und eine Alm an einem schönen Bergsee gehörten dem Bauern Waldberger. Er pflegte seinen Besitz – gemeinsam mit seiner Frau und dem Förster Seppl – mit Liebe und viel Freude. Außer der Familie Waldberger, den vielen Tieren im Stall und den Waldtieren gab es wundersame Wesen, die in dieser schönen Gegend wohnten. Es waren zarte Elfen, kleine Feen, eine alte Hexe, zwei streitbare Berggeister und der bedächtige Wassergeist. All diese Wesen lebten in den hohen Bäumen, zwischen den dichten Sträuchern, auf den weißen Bergen und im dunkelgrünen Waldsee. Sie alle – und noch vieles mehr – wirst du in diesem Buch wiederfinden. Im Laufe eines Jahres geschah nämlich vieles am und um den Hof des Bauern Waldberger; Lustiges, Trauriges, Verwunderliches – doch lies einfach selbst ...

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Das Märchen von der kleinen Karotte

MĂśhrchen


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s war einmal weit draußen vor den Toren der Stadt, wo die Felder

groß und die Wiesen im Sommer saftig grün und unendlich weit waren. Dort lebte der fleißige Bauer Waldberger. Er hatte das ganz Jahr die Felder und Wiesen eifrig und mit Liebe bestellt. Mit großen Erntemaschinen hatte er sein Obst und Gemüse schon lange geerntet. Viele Kisten mit roten Äpfeln, saftigen Birnen, vielen Erdäpfeln und auch mit großen und kräftigen orangefarbenen Karotten standen nun zur Abholung bereit. In einer großen, grünen Kiste lagen unzählige Karotten. Unter all den Karotten war auch das kleine Möhrchen. Es war viel kleiner und nicht ganz so gerade gewachsen wie die anderen Karotten ringsum in der Kiste.

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ber all die Karotten hatten eines gemeinsam: Sie warteten

ungeduldig auf die Fahrt zur großen Stadt, wo sie am Markt verkauft werden sollten. Sie freuten sich schon darauf, zu gutem Saft, leckerem Salat oder zu einer Suppe verarbeitet zu werden. Aber noch war es nicht soweit. Sie mussten sich noch etwas in Geduld üben und in ihrer Kiste auf den lang ersehnten Tag warten. Eines Tages ging dann Bauer Waldberger in den Vorratsraum und holte die großen schweren Kisten mit dem köstlichen Obst und Gemüse heraus. Auch die Kiste mit den Karotten war darunter. Er hob sie auf seinen roten Lastwagen. Der Bauer Waldberger wollte nun sogleich zur großen Stadt fahren. Als er seinen Wagen startete, begannen die kleinen Herzen der Karotten vor Freude zu hüpfen. Während der langen Fahrt sprangen die Karotten lustig in der Kiste umher und genossen die aufregende Reise. Bei jeder Bodenwelle wurden sie hochgehoben und purzelten dann wieder in die Kiste zurück. Sie wussten, bald würden sie in der Stadt angekommen sein. Unser kleines Möhrchen bekam schon viele kleine rote Flecken vor lauter Aufregung.

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chon wurde das große, rote Auto langsamer

und blieb zwischendurch immer wieder einmal stehen. Die Karotten konnten zwar nichts sehen, aber es war klar, nun konnte es nicht mehr weit zum Markt sein. Der Verkaufsstand war schon aufgebaut und der Bauer Waldberger stellte stolz eine Kiste neben die andere. Die ersten Frauen und Männer waren bereits gekommen und suchten sich gesundes Obst und Gemüse vom Verkaufsstand des Bauern aus. Sie bestellten, zahlten und trugen ihren Einkauf nach Hause. Die Karotten in der Kiste wurden immer weniger und weniger. Schon wieder sagte eine Frau zum Bauern: „Lieber Waldberger, können Sie mir bitte ein halbes Kilo schöne Karotten aussuchen?“

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er Bauer tat sogleich, was die Frau

gewünscht hatte. Er griff in die Kiste, hob auch unser Möhrchen heraus, legte es aber gleich wieder in die Kiste zurück. Er steckte die anderen Karotten in einen Papiersack und gab diesen der Frau. Wieder wurde die Kiste leerer und immer leerer und unser Möhrchen immer aufgeregter. Es bekam noch mehr kleine rote Flecken. Da hörte es die Stimme eines Mannes, der zu Waldberger sagte: „Gib mir auch ein halbes Kilo kräftige Karotten!“ Waldberger griff wieder in die Kiste, besah unser Möhrchen kritisch und legte es wieder zurück. Noch immer war unser kleines Möhrchen in der großen Kiste. Nur mehr wenige der anderen Karotten lagen neben ihm. Möhrchen sagte ganz leise zu sich: „Jetzt muss es gleich soweit sein. Jetzt werde auch ich sicher bald abgeholt!“

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in alter, weißhaariger Mann mit seinem Enkelkind kam zum

Verkaufsstand des Bauern, und er sagte: „Gib mir doch bitte die restlichen Karotten aus deiner Kiste!“ So gab ihm Waldberger die Karotten, kassierte das Geld und war zufrieden, die guten Waren verkauft zu haben. Der alte, weißhaarige Mann ging nun mit Möhrchen und den anderen Karotten nach Hause. Er legte sie in den Kühlschrank und schloss die große Türe. Das Licht im Kühlschrank ging sogleich aus. Nun war es ringsum finster und die Karotten lagen dicht an dicht im engen Papiersack. Möhrchen war schon sehr neugierig, wann sich die Kühlschranktür wohl wieder öffnen würde und was dann geschehen würde.


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anz langsam verging die Zeit, doch

plötzlich öffnete sich die Tür und der alte Mann schaute herein. Er steckte seine Finger in den Papiersack und nahm alle Karotten heraus. Doch nein, nicht alle! Möhrchen blieb allein im Papiersack zurück, als die Kühlschranktür wieder geschlossen wurde. Es verging wieder Stunde um Stunde. Mehrmals öffnete jemand die Tür und das Licht im Kühlschrank ging an. Als die Türe wieder ins Schloss fiel, verlosch das Licht sogleich. Abwechselnd holten der alte Mann, eine junge Frau und ein ebenfalls junger Mann Lebensmittel heraus. Einmal war es Milch, dann Butter oder Eier, dann wieder eine köstliche Wurst. Aber der Papiersack mit unserem Möhrchen blieb in einer Ecke des Kühlschranks liegen.

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öhrchen war ziemlich einsam unter all den anderen, fremden

Lebensmitteln. Es dachte schon, dass es alle vergessen hätten, und sagte leise zu sich selbst: „Nur weil ich nicht so groß und so gerade gewachsen bin wie die anderen, haben sie auf mich vergessen.“ Möhrchen schlief bei diesem Gedanken traurig ein und träumte davon, groß und stark und gerade gewachsen zu sein. Draußen fielen dicke, weiße Schneeflocken. Die alten Bäume im Vorgarten hatten bereits weiche Schneehauben auf ihren knorrigen Ästen. Die Rosen waren ganz unter der weißen Pracht verschwunden. Mehr und mehr Flocken tanzten zur Erde nieder und blieben funkelnd auf den anderen liegen. Doch unser kleines schlafendes Möhrchen in seinem Papiersack konnte nichts von dieser herrlichen Pracht sehen.

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er Morgen kam und man hörte aus dem Haus fröhliche Stimmen

von übermütigen Kindern. Sie aßen hastig ihr Frühstück, um so bald wie möglich im Freien spielen zu können. Die große Glastüre zum Garten ging auf und viele kleine Füßchen hinterließen ihre Abdrücke im frischen, weißen Schnee. Die Kinder hüpften zwischen den Schneeflocken hin und her. Sie machten kleine Schneebälle, die wie große, weiche Wattekugeln durch die Luft flogen. Drinnen in der warmen Küche hatten die junge Frau und der junge Mann Butter, Saft und ein Glas süße Erdbeermarmelade wieder in den Kühlschrank zurückgestellt. Durch das Geräusch, welches das Marmeladeglas auf der Glasplatte machte, wurde Möhrchen aus seinem schönen Traum geweckt. Möhrchen schaute sich mit pochendem Herzen um. Doch es war alles wie am Abend zuvor.

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öhrchen war noch immer ganz

alleine in seinem hellbraunen zerknitterten Papiersack und es war immer noch viel zu klein und ein wenig gekrümmt – und nicht groß und kräftig wie in seinem Traum. Wieder dachte Möhrchen: „Sie haben sicher auf mich vergessen und das, weil ich nicht so kräftig bin wie all die anderen!“ Obwohl die Türe zu Möhrchens kühler Wohnung geschlossen war, hörte es die lauten Kinderstimmen immer näher kommen. Schon öffnete sich die Tür und ein lustiges Bubengesicht mit großen, wachen Augen schaute herein. Der Bub nahm Möhrchen samt seinem Papiersack heraus. Er lief in den winterlichen Garten – gefolgt von laut lachenden Kindern.

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öhrchen streckte sich soweit es ging und versuchte, aus dem Sack

zu schauen. Es sah einen riesigen weißen Mann, der aus drei verschieden großen Kugeln bestand. Er hatte zwei schwarze Kohlenstücke als Augen, einen knorrigen Zweig als Mund und einen alten, zerkratzten Kochtopf auf seinem Kopf. Ein warmer Schal war um seinen Hals gebunden. „So eine merkwürdige Gestalt hab ich noch nie gesehen!“, dachte Möhrchen bei sich. Der fröhliche Junge zog seine Fäustlinge aus und nahm mit warmen, dampfenden Händchen unser kleines Möhrchen aus seinem Sack heraus. Der Junge stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte sich und steckte Möhrchen auf den riesigen weißen Kopf des seltsamen Mannes. Möhrchen befand sich zwischen dem knorrigen Mund und den beiden kohlrabenschwarzen Augen. War Möhrchen jetzt die Nase im Gesicht dieses weißen

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Riesen? Ja, so war es! Alle Kinder lachten froh, tanzten im Kreis und sangen: „Unser Schneemann ist der schönste auf der ganzen Welt!“ Möhrchen sah nun die weißen Flocken, die durch die Luft wirbelten. Es sah die kleinen Meisen, die kurz auf ihm Rast hielten und dann weiterflogen. Es sah die spielenden Kinder ringsum, und Möhrchen war nun sehr, sehr glücklich. Jeden Tag kam der alte, weißhaarige Mann und erzählte dem großen Schneemann all die schönen Geschichten aus seiner Vergangenheit. Auch unser Möhrchen hörte immer aufmerksam zu und genoss jeden Tag aufs Neue. Möhrchen war sehr froh und glücklich, den ganzen Winter lang im Vorgarten der netten Familie leben zu können. Und wenn der Schnee noch nicht geschmolzen ist, dann wirst du – wenn du sehr aufmerksam über die Zäune der Vorgärten schaust – das kleine Möhrchen sicher irgendwann im Gesicht eines Schneemannes wiederfinden.

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Das M채rchen vom

Fasching der Tiere

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s war einmal in einem großen Wald mit vielen alten, riesengroßen

Nadelbäumen. Der Wald gehörte dem fleißigen Bauern Waldberger. Es war Winter und überall lag glitzernder weißer Schnee. Die hohen Bäume waren über und über mit Schneekristallen bedeckt. Es funkelte überall und es schien, als wäre es die märchenhafteste Zeit im ganzen Jahr. Doch das war sie nicht für alle. Die unzähligen Waldtiere hatten den Frühling und den Sommer und vor allem den Herbst viel lieber als den kalten Winter, denn sie hatten es schwer, genügend Futter zu finden. Wäre da nicht der Förster Seppl gewesen, der jeden Tag frisches Futter in den Wald brachte, hätten die armen Tiere im Wald fürchterlich gehungert. Seppl brachte Kastanien für die Rehe und Hirsche. Er brachte Karotten für die Hasen. Für die Wildschweine brachte er Äpfel und für die Füchse brachte er Fleisch. Auch auf die Vögel vergaß Seppl nicht. Er streute für sie Hirse und Sonnenblumenkörner.


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urch Seppl hatten sie nun alle jeden Tag etwas zu essen. Dennoch

froren sie in der Nacht und manchmal auch tagsüber, wenn der Wind durch die Bäume pfiff. Manchmal fanden sie auch keinen trockenen Platz, um zu schlafen. Jetzt dauerte der Winter schon drei Monate und die Tiere wurden immer trauriger und begannen fortwährend zu nörgeln. „Wir haben seit vielen Wochen schon keinen frischen Grashalm mehr gesehen“, sagten die Rehe. „Ich komme nur mehr schwer aus meinem Bau heraus!“, sagte der Fuchs. „Und wir finden keinen trockenen Schlafplatz mehr, weil es jeden Tag wieder schneit!“, sagten die Wildschweine. „Und wir Hasen sind schon ganz kraftlos, denn wir sinken beim Hoppeln immer so tief ein!“ Der kluge Rabe Waldemar hörte das Jammern der Tiere. Er sah, dass die Stimmung von Tag zu Tag schlechter und schlechter wurde. Keines der Tiere lachte mehr. Sie hatten auch keine Lust mehr zu essen und wurden dadurch immer schwächer.

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Die ersten Tiere fühlten sich schon krank. „Nur weil sie nichts anderes mehr tun als jammern und klagen“, dachte der Rabe bei sich, „fühlen sie sich so schwach und krank.“ Die Hasen bekamen stechende Ohrenschmerzen, und das war sehr schlimm bei den großen Löffeln, die sie hatten. Die Rehe litten an starken Bauchschmerzen und krümmten sich den ganzen langen Tag. Die Wildschweine verloren eine Borste nach der anderen. Der Fuchs wiederum hatte so starken Schnupfen, dass er kaum noch atmen konnte. So beschloss der kluge Rabe Waldemar, ganz fest nachzudenken, um einen Weg zu finden, damit die Tiere wieder lachen konnten. Er setzte sich auf einen dicken knorrigen Zweig und schloss seine kohlrabenschwarzen Augen. Er dachte nach und dachte nach – wohl einige Stunden lang. Schon hatte er eine Idee, er prüfte diese und verwarf sie wieder. Er begann wieder von vorn und dachte nach und dachte nach. Waldemar gab nicht auf. Da, plötzlich hatte er wieder eine Idee! Er prüfte diese wieder und diesmal war es die richtige. Waldemar lächelte zufrieden und schlief nun glücklich ein.

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m nächsten Morgen als die Sonne über den Wipfeln der Bäume

erschien, war Waldemar schon lange wach. Aufgeregt lief er immer wieder zwischen zwei Bäumen hin und her, sodass seine Spuren eine kleine Rille im Schnee bildeten. Er konnte es kaum erwarten, bis alle Tiere erwacht waren. Jetzt war es hell genug, und der Rabe Waldemar konnte die anderen Tiere suchen und ihnen von seiner Idee erzählen. Die Rehe waren die Ersten, die er auf seiner Suche traf. Dann entdeckte er die Vögel und nach langem Suchen auch die Füchse. Am schwierigsten war es, die Wildschweine zu finden, denn sie konnten sich sehr gut hinter den dicken Bäumen oder im Gestrüpp verstecken. Er fand sie unweit der Hasen.

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un war es Mittag und alle Tiere waren versammelt. Der Rabe

Waldemar setzte sich auf den Ast eines alten, hohen Baumes und begann von seiner Idee zu erzählen: „Ihr lieben Hasen, Rehe, Vögel, Füchse und Wildschweine, seit Wochen seid ihr traurig und es wird immer schlimmer. Wollt ihr diesen Zustand verändern? Wollt ihr wieder von ganzem Herzen lachen?“ Alle versammelten Tiere riefen: „Ja, ja wir wollen, aber wir sind so traurig und verzagt, dass wir nicht lachen können!“ Mit krächzender Stimme sprach der Rabe weiter: „Machen wir doch ein lustiges Faschingsfest. Wir verkleiden uns alle. Die Vögel machen Musik und wir tanzen bis uns die Pfoten bzw. Füße heiß werden.“ Zuerst sahen die Tiere ungläubig drein, aber je länger sie über diesen Vorschlag nachdachten, umso besser gefiel er ihnen.

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o beschlossen sie: „Wir treffen einander am Nachmittag bei der

Futterkrippe und dann kann das Fest beginnen.“ Eilig liefen sie, hoppelten sie, flogen sie in alle Windrichtungen davon. Die Stunden vergingen rasch und die ersten Tiere kamen bei der Futterkrippe an. Diese war gefüllt mit duftendem Heu, dunkelbraunen Kastanien, rotbäckigen Äpfeln und köstlichem Salzstein. Daneben stand eine große, silberne Schale mit Vogelfutter. Denn Förster Seppl hatte inzwischen – wie jeden Tag – das Futter in den Wald gebracht.

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ie Vögel nahmen auf dem strohbedeckten Dach der Futterkrippe

Platz. Sie alle waren verkleidet. Auf den kleinen Köpfen der Amseln saßen lustige, bunte Hüte. Auf den großen Schnäbeln der Krähen waren gelbe und leuchtend grüne Brillen zu sehen. Und erst die Eulen! Sie trugen bunte, kleine Schleier mit glitzernden Perlen vor ihrem Gesicht. Der kluge Rabe Waldemar war als mächtiger Zauberer verkleidet. Er trug einen dunklen Umhang aus schwarzem Samt und einen spitzen Zauberstab in seiner Hand. Dieser eignete sich auch wunderbar als Taktstock. Weil der Rabe für sein Leben gern sang, stimmte er sogleich ein fröhliches Lied an. Alle Vögel rings um ihn sangen sogleich lustig drauflos. Nach und nach waren alle Tiere gekommen. Sie hatten sich die lustigsten Verkleidungen ausgedacht. Eine Häsin ging als zarte Fee. Ein kleiner Hase verkleidete sich als Zauberlehrling. Wieder ein anderer war ein lustiger, tollpatschiger Clown. Die Wildschweine hatten sich allesamt als Balletttänzerinnen verkleidet. Sie trugen Tüllröckchen in rosa, hellblau und mintgrün, und auf ihren Köpfen hatten sie kleine silberne Krönchen.

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ls die anderen Tiere die Wildschwein-Balletttänzerinnen sahen,

kugelten sie sich vor Lachen im weißen Schnee. Ein übermütiges Reh, das als Hexe verkleidet war, verlor sogar seinen schwarzen, spitzen Hexenhut, als es sich am Boden wälzte. Der elegante Fuchs kam verkleidet als Prinz aus dem Morgenland. Er trug einen rotgoldenen Turban auf seinen Kopf und ein prächtiges Gewand aus grüner Seide. Die Vögel sangen aus voller Kehle. Alle Tiere hüpften und sprangen im Takt der Musik. Sie kicherten und lachten aus vollem Herzen. Sie warfen bunte Papierschlangen durch die Luft und streuten Konfetti auf den Waldboden. Als die Tiere genug getanzt und gesungen hatten, setzen sie sich rund um die Futterkrippe und erzählten einander viele heitere Geschichten. Jedes Tier hatte schon

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viel erlebt, und da war viel Lustiges darunter. Es lachten die Erzähler, und es lachten die Zuhörer. Auch die Bäume ringsum schüttelten sich vor Lachen, sodass der Schnee von ihren Zweigen rutschte. Zwischendurch fraßen die Tiere mit Freude das von Seppl vorbereitete Futter. Je mehr Geschichten sie hörten und erzählten, desto ausgelassener wurde die Stimmung. Die Hasen vergaßen auf ihre pochenden Ohrenschmerzen, die Rehe dachten nicht mehr an die schneidenden Bauchschmerzen und der Fuchs bekam genug Luft, da seine Nase nicht mehr verstopft war.

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as ausgelassene Fest dauerte bis in den späten Abend.

Schlussendlich gingen alle Tiere schlafen und träumten von der Musik, dem Konfetti, den bunten Papierschlangen. Sie träumten aber auch von den wunderschönen, lustigen Geschichten, die sie von den anderen gehört hatten. Einige Tiere lachten laut im Schlaf. In der Früh wachten sie ausgeruht auf und waren voller Tatendrang. Sie freuten sich auf den neuen Tag und sprangen und hoppelten und flogen im Wald herum. Als Förster Seppl neues Futter für die Tiere brachte, war er sehr verwundert, denn überall lagen Papierschlangen und Konfetti, und diesmal war auch die Futterkrippe ganz leer. Er dachte bei sich: „Gott sei Dank, die Waldtiere haben wieder Appetit und werden

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so stark genug sein, den Winter zu ertragen!“ Er füllte die Krippe wieder bis zum Rand und ging fröhlich weiter durch den weißen Winterwald. Dort im Wald hörte man immer wieder das Lachen und Kichern der Tiere, wenn sie einander trafen und sich an die Geschichten und die ausgelassene Stimmung erinnerten. So verging nun Tag um Tag. Die Nächte wurden kürzer und die Sonne schien jeden Tag ein bisschen länger. Bald war es soweit, der Frühling war gekommen und alle Tiere konnten nun selbst ihr Futter suchen. Sie fanden jetzt ganz leicht trockene Stellen zum Schlafen. Alle hatten sie gesund den Winter hinter sich gebracht. Sie waren froh darüber und dankten dem klugen Raben Waldemar für seine gute Idee, ein so schönes Faschingsfest zu veranstalten. Und wenn du ganz still durch den Wald gehst, kann es sein, dass auch du im Winter ein fröhliches Tier kichern hörst!

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Das M채rchen von

Poldi dem Murmeltier und

dem Wassergeist im Gr체nen See

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s war einmal gleich über der Baumgrenze auf der Alm des Bauern

Waldberger. Die Sonne schien warm auf die letzten Schneereste. Zwischen den schmalen Schneeflecken waren schon die ersten hellgrünen Blätter der Schneerosen zu sehen. Die kleinen Pflänzchen kämpften sich durch die trockenen Grasbüschel, die im schneereichen Winter unter dem Schnee festgepresst worden waren. Überall auf der Alm roch es nach warmem und feuchtem Stroh. Endlich, es war Frühling. Der letzte Schnee begann zu schmelzen und es bildeten sich überall auf den Bergwiesen kleine plätschernde Bäche. Sie flossen in den noch teilweise zugefrorenen Bergsee. Im Bergsee blubberten die Luftblasen, die sich unter der nur mehr sehr dünnen Eisdecke gesammelt hatten. Im Sommer spiegelten sich im See die saftig grünen Bergwiesen, sodass man glauben konnte, der See selbst wäre dunkelgrün gefärbt. So kam er auch zu seinem Namen: Grüner See.

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m Grünen See lebten silberne Forellen, dünne glänzende Wasser-

schlangen, hellgrüne Frösche und braune Kröten. Auch ein Wassergeist – so sagte man – lebte ganz tief unten im kalten Grünen See. Rund um den See erwachte langsam wieder das Leben nach der langen Winterruhe. Die ersten Murmeltiere waren aus ihrem Winterschlaf erwacht. Unter ihnen war auch Poldi, ein besonders fröhliches Murmeltier, das am liebsten den ganzen Tag gefressen hätte. Nach dem langen Winterschlaf war vor allem er besonders hungrig. Er hatte jetzt sechs Monate von seinen Fettreserven gelebt. Es war nun höchste Zeit, dass Poldi das Murmeltier wieder etwas zu fressen bekam. Überall roch es nach köstlichem Futter und Poldi hatte es sehr eilig seinen leeren Magen zu füllen.

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o rasch es eben ging, sprang er aus seinem mit Stroh gepolsterten

Erdloch. Er war noch ziemlich schlaftrunken und unsicher bei seinen ersten Schritten. Und schon war es passiert: Poldi rutschte auf einem Schneebrett aus und raste den Berg hinunter. Unter ihm raschelten die Schneekristalle laut. Schneller und immer schneller wurde unser kleiner Poldi, bis er am Ende dieser unfreiwilligen Rutschfahrt kopfüber auf dem dünnen Eis des Sees landete. Er wollte sich gerade aufrichten, doch da gab das Eis unter ihm knackend nach. Langsam versank er im kalten Grünen See. Er wollte noch um Hilfe pfeifen, aber da war er schon vollends im See untergegangen. Irgendetwas zog ihn immer tiefer in den See hinunter. Ihm wurde schon ganz schwindlig, denn er bewegte sich wie in einer Spirale nach unten. Er trudelte vorbei an den silbernen Fischen, an dunkelgrünem Wassergras und an versunkenen Baumstämmen. Doch dann konnte er nichts mehr sehen, denn rund um ihn war es ganz dunkel geworden.

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ein kleines Murmeltierherz begann wild zu schlagen. Er hatte riesen-

große Angst. Es war bitterkalt da unten. Bald hatte er keine Luft mehr. Er begann zu weinen und seine salzigen Tränen vermischten sich mit dem eisigen Wasser. Doch da sah Poldi plötzlich einen Lichtschein. Mitten aus diesem Lichtschein streckte sich ihm etwas Langes, Dünnes entgegen. Es sah aus wie der Fangarm eines Tintenfisches, aber Tintenfische gab es ja keine im Grünen See. Der Arm legte sich um Poldis zitternden Körper und zog ihn sanft in eine unterirdische Höhle. Nicht nur Licht war in diesem Raum tief unten im See. Es gab auch Luft zum Atmen. Und Poldi atmete, und wie er atmete. Nach diesem Schock schien er besonders viel Luft zu brauchen. Ringsum roch es nach gesunden Kräutern und frischem Gras, und es war angenehm warm da unten.

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ls Poldi sich wieder erholt hatte, schaute er sich ganz langsam um. Er

sah nun das Wesen zu dem der lange dünne Arm gehörte. Es war Kasimir, der Wassergeist. Kasimir war sehr schlank. Sein Haut war olivgrün und mit kleinen warzenähnlichen Erhebungen bedeckt. Der Kopf war breit. Kasimir beäugte Poldi neugierig mit seinen drei bernsteinbraunen Augen. Poldi wusste nicht recht, wie er tun oder sagen sollte. Eigentlich hatte er ziemliche Angst. Aber neugierig war er auch und dennoch ziemlich unsicher. Poldi begann zu pfeifen, das machte er oft, wenn er nicht wusste, was er sagen sollte. Das lustige Pfeifen gefiel Kasimir dem Wassergeist. Kasimir schloss eines seiner drei Augen und lachte über sein ganzes breites Gesicht. Kasimirs Lachen klang wie das Gurren einer Taube. „Das Lachen passt gar nicht zum Aussehen dieses Wesens“, dachte Poldi bei sich.

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etzt nahm sich Poldi ein Herz und fragte den Wassergeist: „Wie heißt

du? Wo bin ich hier? Was machst du hier? Wie lange bist du schon in dieser Höhle? Bist du hier alleine? Warum ist Luft in dieser Höhle? Warum riecht es hier so gut?“ Da unterbrach ihn der Wassergeist Kasimir, der kein Freund vieler Worte und schon gar kein Freund unendlicher Fragen war. „Stopp!“, sagte er mit grollender Stimme. „Ganz langsam kleines Murmeltier. Ich bin es nicht gewöhnt Gesellschaft zu haben.“ Dann schwieg er wieder und schaute Poldi mit seinen drei Augen lange an. Die beiden waren so unterschiedlich, wie man nur unterschiedlich sein kann. Da war Poldi, das etwas pummelige, fröhliche Murmeltier, das wunderschön pfeifen konnte und sich beim Reden häufig überschlug. Und da war Kasimir, der schlanke, olivgrüne Wassergeist mit seinen riesigen hervorstehenden Augen, der am liebsten schaute und schwieg. Doch es schien, als ob sie einander – trotz oder gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit – vom ersten Augenblick an mochten.

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oldi begann – nun schon wesentlich langsamer – mit seiner ersten

Frage. „Wer bist du?“, fragte er zaghaft. „Ich bin der Behüter der Sees!“, antwortete Kasimir. Jetzt war die Neugierde des kleinen Murmeltiers Poldi nicht mehr zu stoppen. Er vergaß seine Scheu und fragte sogleich: „Wie behütet man einen See?“ Kasimir erzählte nun, dass viele Tiere unter und am Wasser in Not gerieten, und denen half er dann. Aber das war nicht seine Hauptaufgabe. Vorrangig sorgte er dafür, dass der See nicht krank wurde. Der kleine Poldi konnte sich einfach nicht vorstellen, wie ein See krank werden konnte. Doch Kasimir sprach langsam weiter: „Ja, da ist viel zu tun. Denke nur einmal an die vielen Abfälle, die die Wanderer in den See werfen. Oder sie lassen Dosen am Rande des Sees liegen und beim nächsten Regen werden diese dann in den Grünen See geschwemmt.“

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ieder hörte Kasimir auf zu reden und schaute diesmal traurig drein.

„Ja und dann, wenn die wilden Berggeister streiten, sodass die Donner grollen. Es kommt allzu oft vor, dass sie mit Blitzen aufeinander losgehen. Wenn sie dann völlig erhitzt sind, schüttet der Wolkengeist Wasser auf die Streitenden. Das ist dann die Zeit der großen Unwetter in den Bergen. Dann gelangen Geröll oder sogar ganze Felsbrocken, Erde, Schlamm und Latschen in den Grünen See. Diese verstopfen dann den Zufluss oder gar den Abfluss des Sees und der Kreislauf ist unterbrochen.“ Langsam und bedächtig erzählte Kasimir noch lange von den vielen Aufgaben eines Wassergeists. Das Murmeltier Poldi hörte aufmerksam zu und irgendwann schlief es dann ein. Viele Stunden später wurde Poldi wach. Neben ihm saß der Wassergeist Kasimir, der ihn mit seinen drei bernsteinbraunen Augen anschaute. Er hatte die ganze Nacht bei Poldi gesessen und über seinen Schlaf gewacht.

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bwohl Poldi den Wassergeist sehr gerne mochte, hatte er doch

Heimweh nach seiner Familie an den Ufern des Grünen Sees. Er wusste nicht, wie er dies seinem neuen Freund erklären sollte. Der Wassergeist Kasimir konnte aber auch die Gedanken der Tiere lesen. Er wusste bereits, dass Poldi großes Heimweh hatte. Ungefragt sagte er zu ihm: „Du musst nur der Wassernixe folgen. Sie hat einen strahlenden Stern auf ihrem Kopf. Sie wird dir den Weg nach Hause zeigen.“ Die beiden verabschiedeten sich herzlich voneinander. Poldi streckte seinen braunen Kopf aus der Höhle. Er sah die kleine Nixe unmittelbar vor der Höhle im dunklen Wasser. Sie zeigte ihm den Weg. Der helle Stern strahlte wie ein Kristall in zartrosa, hellblau und hellgelb. Rasch waren sie an der Oberfläche des Sees angekommen. Die Nixe verschwand sogleich im tiefen Grünen See.

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oldi schwamm zum Ufer und schüttelte sich das kalte Wasser aus

seinem Fell. Fröhlich pfeifend lief er zu seiner Murmeltierfamilie, die traurig am Ufer gesessen hatte. Er erzählte ihr von der Rutschfahrt auf dem Schnee, vom Sturz in das kalte Wasser und von seiner rasanten Reise in die Tiefe, von seinem Freund dem Wassergeist und wie er den See gesund hielt und von der hilfreichen Nixe mit dem leuchtenden Kristallstern. Die Murmeltiere beschlossen dem Wassergeist Kasimir zu helfen. Sie pfiffen ab nun besonders laut, wenn sie Menschen sahen, die ihre Abfälle liegen ließen. Es klappte, denn die Menschen fühlten sich ertappt und nahmen ihre Abfälle wieder mit ins Tal. Wenn die wilden Berggeister zu streiten begannen, stimmten sie einen fröhlichen Murmeltier-Pfeif-Chor an. Es gelang den Murmeltieren dadurch immer öfter die Geister von ihrem Streit abzuhalten und auf andere Gedanken zu bringen. Kasimir der Wassergeist war sehr froh darüber.

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enn du einmal auf der Alm Murmeltiere pfeifen hÜrst – denk

daran, dass sie dem Wassergeist Kasimir helfen, den See gesund zu halten. Vielleicht kannst auch du etwas dazu beitragen!

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Grashüpfer Philip der die große Stadt sehen wollte


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s war einmal vor langer, langer Zeit auf einer saftig grünen

Bergwiese. Die Bergwiese gehörte dem braven Bauern Waldberger. Es war Frühling und überall blühten gelbe, rosa und blaue Blumen. Es duftete nach süßem Honig und wilden Gräsern. Die Sonne schickte ihre ersten, warmen Strahlen auf die saftige Wiese. Leicht strich der Wind über die kleinen Köpfe der Blumen. Sie fühlten sich gestreichelt und kicherten leise. Auf der Erde unter den Blütenköpfen tummelten sich kleine und große Käfer. Die einen waren braun wie die Erde, die anderen wiederum waren rot mit schwarzen Flecken, und wieder andere hatten zarte gelbe Streifen. Sie alle liefen geschäftig über den warmen Erdboden.

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on weiten schon hörte man ein lustiges Pfeifen und fröh-

liches Singen immer näher kommen. „Die Welt ist schön, die Welt ist schön, noch nie hab ich so einen Frühling gesehen“, sang eine kleine Schar von Grashüpfern und hüpften dabei vor Freude. Sie stießen sich mit ihren langen, dünnen Beinen vom Boden ab und landeten sanft wieder auf ihnen. Es war Philips Familie. Philip war ein kleiner, hellgrüner Grashüpfer, der zum ersten Mal den Frühling auf der großem Bergwiese erlebte. Alles war neu für ihn. Er staunte über die Farben und Arten der Blumen, die vielen verschiedenen Käfer und über den wunderbaren Duft der saftigen Bergwiese.

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hilips Familie erzählte von den Käfern, wie sie hießen, wie nützlich sie

waren und vom Gras, das Futter für die Tiere des Bauern Waldberger werden sollte. Sie erzählten auch von den Feen und Elfen, die sich manchmal auf der Wiese trafen und leicht wie Federn von einer Blume zur anderen flogen. Es gab so viele Geschichten, die Philips Eltern zu erzählen wussten. Einmal erzählte seine Mutter Zirpeline und dann wieder erzählte sein Vater Gregor. Philip passte gut auf, damit er auch alles erfahren konnte. Doch Zuhören ist anstrengend und so wurde er sehr müde. Er legte sich unter eine zarte gelbe Blume und schlief sofort ein. Er träumte von den Farben der Wiese und von den zarten Elfen und der strahlenden Sonne. Doch plötzlich wurde er durch laute Geräusche aufgeweckt. Seine Mutter hatte ihn schnell zur Seite gerissen, damit er nicht durch eine große karierte Decke erdrückt wurde. Philip wusste nicht, wie ihm geschah.

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eine Mutter Zirpeline erklärte ihm sogleich: „Lieber Philip, das ist eine

Menschen-Familie, die aus der großen Stadt kommt und eine Wanderung macht. Wenn die Menschen dann müde und hungrig sind, legen sie eine Decke auf den Boden und essen eine Jause.“ Tatsächlich, die Menschenfamilie hatte auf der Decke Platz genommen und aß Wurst, Käse und Brot und trank aus einer metallisch glänzenden Flasche. Sie scherzten miteinander und erzählten von der großen Stadt. Philip hörte wieder aufmerksam zu. Er lauschte den vielen Geschichten von riesig großen Häusern, kleinen Parks, vielen Autos, einer U-Bahn,

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vielen Straßenbahnen und unzähligen Menschen. Der kleine Grashüpfer wurde immer neugieriger und hörte immer genauer zu. Seine grünen Ohren färbten sich nach und nach knallrot. Es war alles so neu und aufregend. Doch plötzlich packten die Menschen die bunte karierte Decke und all das, was sie mitgebracht hatten wieder ein. Sie gingen ihres Weges und Philip sah ihnen lange versonnen nach. Und dann begann Philip zu fragen und zu fragen und zu fragen. Er fragte seiner Mutter Zirpeline beinahe ein Loch in den Bauch. Er wollte alles wissen über die große ferne Stadt. Zirpeline hatte schon viel über die Stadt gehört. Viele Käfer und Schmetterlinge waren schon dort gewesen und hatten den anderen davon berichtet. Zirpeline erzählte von den lauten Geräuschen, vom hektischen Treiben der Menschen, der Hitze im Sommer, aber auch von den vielen Geschäften, den Blumenläden, den Würstelständen und von vielem mehr.

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ieder hatte Philip gut aufgepasst. Er war davon so müde geworden,

dass er – bevor noch die Sonne unterging – einschlief. Und diesmal träumte er davon zwischen den Autos, den Straßenbahnen und den unzähligen Menschen herumzuspringen. Jede Minute erlebte er aufregende neue Dinge. Das war ein Leben, das war ganz nach seinem Geschmack. Als er am Morgen erwachte, wollte er nicht mehr mit den anderen Grashüpfern über die bekannten Wiesen hüpfen. Er wollte weg und zwar weit, weit weg in die große Stadt. Den ganzen Tag über grübelte er, wie er es anstellen konnte, und wieder schlief er vor Anstrengung ein. Als er erwachte, saß er auf einem Büschel Gras, das auf dem offenen, grünen Anhänger des Bauern Waldberger lag. Wie er dort hingekommen war, wusste er nicht. Er hüpfte in die Höhe und schaute dabei über den Rand des Anhängers. Da sah er den Bauern Waldberger. Waldberger saß vorn auf dem leuchtend roten Traktor. Er brachte das frische Gemüse in die große Stadt.

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hilip sah, wie sich entlang der Straße, die sie befuhren, die Gegend

rasch veränderte. Noch waren links und rechts bunte Wiesen, schon kurze Zeit später standen am Straßenrand einige weiße Häuser mit roten Dächern und kleinen Vorgärten. Dann, als auch die Straße breiter wurde, sah Philip eine Siedlung mit großen, grauen Hochhäusern. Nur wenig Zeit verging, und sie waren Mitten in der – von Philip so ersehnten – großen Stadt. Waldberger lud die Kisten ab, und dabei fiel auch das Büschel Gras, auf dem Philip saß, auf den Boden. Der Boden war nicht weich wie auf der großen Wiese. Es war ein harter, dunkelgrauer Asphaltboden, auf dem Philip unsanft landete.


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asch stellte er sich auf seine dünnen Hinterbeine und hüpfte fröhlich

um die nächste Ecke. Doch da rauschte ein dicker dunkelgrauer Reifen neben seiner rechten Schulter vorbei. Er sprang zur Seite und wäre fast unter einem roten Stöckelschuh einer eleganten Dame zu liegen gekommen. „Schnell weg!“, dachte er bei sich. Er sprang rasch weiter über den grauen Asphalt. Jetzt war er nicht mehr fröhlich, sondern ängstlich und gehetzt. „Ich muss mich in Sicherheit bringen!“, sagte Philip laut zu sich selbst. Da sah er das rettende Grün. Es war ein schmaler Grünstreifen kurz vor einer Fußgängerampel. Erleichtert setzte er sich auf einen dünnen Grashalm und atmete schnell hintereinander. Er war ziemlich außer Atem geraten. Doch jetzt war er in Sicherheit! Oder doch nicht? Denn neben ihm stampfte eine riesige Hundepfote auf. Sie gehörte zu einem ebenso riesigen Hund. Philip ähnlich groß waren.

erstarrte vor Angst. Er kannte nur Kühe, die „Aber Kühe sehen anders aus!”,

dachte er bei sich.

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er Hund trottete friedlich weiter. Er verschwand mit seinem Herrl um

die nächste Ecke. Jetzt konnte Philip wieder aufatmen. Aber wie lange? Er hüpfte weiter, um sich in Sicherheit zu bringen. Zwei Straßen weiter war eine kleiner Park mit Bänken und vielen spielenden Kindern. „Dort werd ich bleiben!“, sagte Philip zu sich. Er setzte sich froh nieder und wollte sich erholen von seiner wilden Jagd durch die große Stadt. Doch nichts war es mit Ausruhen. Plötzlich hörte Philip lautes Gurren und dieses Gurren kam bedrohlich näher. Es waren viele graue und weiße Tauben, die von alten Damen im Park gefüttert wurden. Doch Tauben waren Vögel und Vögel – so hatte Philip von seiner Mutter Zirpeline gelernt – aßen besonders gerne junge Heuschrecken. Da hieß es, so schnell wie möglich weg hier! Unser Philip hüpfte so schnell er konnte, hinter sich hörte er noch immer deutlich das Gurren der Tauben. Er wusste jetzt, dass er besonders schnell sein musste, aber wohin sollte er hüpfen? Überall waren Schuhe und Hunde und Tauben. Er schloss die Augen und zitterte am ganzen Körper.

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a schubste ihn etwas zur Seite. Rasch öffnete

Philip seine Augen und da sah er seine Mutter Zirpeline. Sie hatte ihn aufgeweckt: „Was hast du Schlimmes geträumt, Philip? Du bist ja schweißgebadet!“, sagte sie mit gütiger Stimme. Philip wollte seinen Augen nicht trauen. Er lag auf dem Boden der saftig grünen Blumenwiese und die Sonne blinzelte ihm zu. Neben ihm saßen seine Mutter Zirpeline und sein Vater Gregor. Hatte er das wirklich alles nur geträumt? „Ich war in der großen Stadt mit all den vielen Menschen und Autos und den vielen Tauben!“, sagte er kleinlaut zu seiner Mutter Zirpeline. Sie verstand sofort und nahm ihn sanft in ihre Arme.

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„Mein Kleiner“, sagte sie, „ich bin froh, dass es nur ein Traum war und dass du hier bei uns bist!“ Sie küsste seinen schmalen, grünen Kopf und lächelte ihn an. Von nun an sprang Philip fröhlich über die ihm vertrauten Wiesen, freute sich über die Käfer, die Bienen und die Schmetterlinge. Er war von ganzem Herzen glücklich und zufrieden, dass er an einem Ort leben durfte, der zu ihm passte. Und wenn du ganz aufmerksam durch die Wiesen gehst, dann siehst du ihn vielleicht zwischen den vielen bunten Blumen lustig herumspringen!

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Regenzauberer Papou


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s war einmal an einem glühend heißen Sommertag im sonst so

angenehm kühlen, grünen Tal des braven Bauern Waldberger. Überall nur Hitze und Kraftlosigkeit. Sogar die Fliegen waren zu müde zum Fliegen. Die bunten Blumen ließen ihre Köpfchen hängen. Die Schmetterlinge saßen im Schatten und hatten ihre wunderschönen Flügel zugeklappt. Dort wo sonst der Bach lustig ins Tal plätscherte, war nur ein kleines schmales Rinnsal zu sehen. Die großen runden Steine lagen trocken im staubigen Bachbett. Kein einziger Fisch tummelte sich zwischen ihnen. Die Bäume und Sträucher hatten ihre Blätter zusammengerollt. Das alles sah Wichtl. Wichtl war ein Wiesengeist, der das ganze Jahr über rund um die Welt reiste. Er blieb immer dort, wo gerade ein schöner Sommertag war. Wichtls Haut war wiesengrün. Auf seinem Kopf wuchsen saftige Grasbüschel. Er hatte sieben Augen, die wie ein Kranz rund um seinen Kopf angeordnet waren. Jedes dieser Augen hatte eine andere Farbe. Nun schaute sich Wichtl nochmals um. Er konnte es nicht glauben. Ringsum war nur Dürre und Trockenheit zu sehen.

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a begegnete ihm ein müder Wanderer. Gleich fragte Wichtl: „Sag mir

Wandersmann, warum ist es hier so außergewöhnlich trocken?“ Der Wanderer sah ihn traurig an, schüttelte langsam seinen Kopf und sprach: „Ich weiß es nicht. Was ich gesehen habe ist, dass es immer heißer und heißer wird. Außerdem fällt seit Monaten kein Tropfen Regen mehr.“ Wichtl wusste, dass der Regenzauberer Papou immer gewissenhaft für genug Regen gesorgt hatte. Papou liebte es in den warmen Wasserpfützen herumzuspringen. Er mochte es auch gerne, wenn er zwischen den schillernden Regentropfen tanzten konnte. Er war von ganzem Herzen glücklich, wenn der Geruch warmer, feuchter Wiesen in seine Nase stieg. Und jetzt das. „Das passt so gar nicht zu Papou“, dachte Wichtl bei sich.

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ichtl hätte einfach weiterziehen können, aber er wollte verstehen,

warum es so trocken war in diesem Tal. Er fragte den Bauern Waldberger und den Förster Seppl. Er fragte aber auch die Tiere im Wald und die Blumen auf der Wiese. Aber niemand wusste, warum es nicht mehr regnete. So beschloss Wichtl zur klugen Hexe Akinom zu gehen und sie nach dem Grund zu fragen. Bald schon hatte er die einsame Hütte der Hexe erreicht. Die Türe öffnete sich von selbst, als er davor stand. Er trat ein und setzte sich zu Akinom auf die Ofenbank.

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ichtl stellte sogleich die für ihn wichtigste Frage: „Liebe kluge Hexe,

weißt du den Grund, warum es schon so lange keinen Regen mehr in diesem Tal gibt?“ Akinom nickte langsam und nachdenklich und begann zu erzählen: „Weißt du Wichtl, immer wenn es zu regnen begann, stöhnten die Menschen.“ Akinom erzählte ihm, dass die Menschen sagten: „Nein, nicht schon wieder! Wir halten dieses Wetter einfach nicht mehr aus! Wir möchten baden gehen oder in der Sonne liegen! Es regnet ja bald schon den ganzen Sommer lang!“ Auch wenn es in Wahrheit nur einige Stunden waren, in denen die Tropfen zur Erde fielen, taten sie so als würde das größte Übel über sie hereinbrechen. Manchmal sagten die Menschen auch: „Zum Kuckuck mit dir, du böser Regenzauberer Papou!“

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nd eines Tages war es dann soweit. Der Regenzauberer Papou hatte

es wieder regnen lassen, um den Durst der Bäume, der Blumen und der Tiere im Wald zu löschen. Sogleich begannen aber die Menschen zu schimpfen: „Geh zum Kuckuck, böser Zauberer!“ Das kränkte Papou so sehr, dass er es leid war für Regen zu sorgen. Akinom nahm einen Schluck von ihrem selbstgebrauten Kräutertee und fuhr dann fort: „Sieh doch selbst“. Sie zeigte auf die Glaskugel, die auf dem Tisch stand. Wichtl rückte näher und schaute hinein. Da sah er, wie Papou weiter und weiter den Berg hinaufstieg. Bis er ein großes Loch im Felsen fand. Dann bückte er sich und schaute durch die Öffnung. Drinnen sah er smaragdgrüne Steine an den Wänden funkeln. Ein kleiner Bach aus glitzernden Kristallen rieselte über den Boden. Von den Wänden lief kühles, frisches Wasser. Kleine strahlend weiße Leuchtkäfer erhellten die große Höhle. Es war feucht und angenehm kühl in ihrem Inneren, das gefiel Papou.

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Er schlüpfte rasch durch das Loch, legte sich auf den Boden und lächelte, als er die Kühle der Steine auf seinem Rücken spürte. Sofort vergaß er seinen großen Kummer. Er streckte sich aus und träumte mit offenen Augen von weichen Regenwolken und einem schillernden Regenbogen. Tag um Tag verging und Papou genoss sein neues Zuhause in vollen Zügen. Während dessen freuten sich die Menschen im Tal, dass es endlich nicht mehr regnete. Sie genossen anfangs die heißen Sonnenflammen, die zur Erde niederbrannten. Als aber die Hitze immer unerträglicher und das Wasser knapp wurde, begannen sie den Regenzauberer Papou zu rufen. Doch er konnte sie oben in seiner Höhle nicht hören. Mehr und immer mehr Sonnenflammen tanzten zur Erde nieder, und es wurde heißer und immer heißer. Die Menschen begannen zu husten, weil der Staub in ihre Lunge drang. Sie wollten nicht mehr baden gehen, da der Teich schon viel zu warm war. Den Fischen fiel das Atmen schwer, weil es kein frisch perlendes Wasser mehr gab. Die Frösche zogen sich in den noch etwas kühleren Wald zurück, denn in der Sonne würden sie bald vertrocknet sein. Unerbittlich stiegen die Temperaturen und keine Wolke war am Himmel zu sehen.

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ben auf dem Berge erwachte Papou eines Morgens und spürte ein

eigenartiges Gefühl in seinem Körper. Plötzlich tropfte eine salzige Träne aus seinem linken Auge. In seinem Bauch fühlte er einen dicken Knödel, der immer größer und größer wurde. Sein Mund war trocken und er musste einige Male kräftig schlucken. Seine Schultern waren hochgezogen, sein Kopf hing nach vorne. So sehr er es auch versuchte, er konnte seinen Rücken nicht durchstrecken.

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„Was ist geschehen? Was ist das für ein Gefühl?“, fragte er sich. Er kannte schon viele verschiedene Gefühle. Er wusste, wie sich große Freude, starke Müdigkeit, schmerzender Kummer und Enttäuschung anfühlten. Doch all das fühlte sich anders an. Nun verblasste das Bild in der Glaskugel. Wichtl sah Akinom an und sagte dann: „Es ist das Gefühl der großen Einsamkeit. Papou vermisst nicht nur die strahlende Sonne und das Licht, sondern auch all die Wesen, die Teil seines schönen Lebens waren.“ Akinom nickte. Wichtl machte sich sogleich auf, Papou aus seiner selbstgewählten Einsamkeit zu befreien. Er stieg rasch den Berg hinauf und fand auch bald die Höhle in der Papou traurig saß. Wichtl schlüpfte durch die Öffnung, setzte sich zu Papou und legte ihm seinen wiesengrünen Arm um die Schultern. Sogleich verschwand Papous Einsamkeit. Wichtl erzählte ihm, wie sehnlich ihn die Menschen und Tiere zurückerwarteten. Er sprach auch von der Trockenheit, die überall herrschte. Lange saßen sie beisammen und Papou wünschte sich nichts mehr, als sofort ins Tal zurückzukehren.

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a nahm Wichtl, der Wiesengeist Papou an der Hand. Sie huschten

durch die Öffnung der Höhle und liefen gemeinsam den Berg hinunter. Über ihren Köpfen schwebte eine kleine flauschige Wolke. Bald schon waren sie ihm Tal angekommen. Papou hob den Kopf und zwinkerte der Wolke zu. Sogleich ließ sie die ersten Tropfen zur trockenen Erde fallen. Diese nahm das Wasser langsam auf. Der ersten Wolke folgten noch viele weitere kleine und große Wolken, aus denen es alsbald zu regnen begann. Und plötzlich stand am Himmel ein wunderschöner Regenbogen.

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ie Menschen und Tiere liefen auf die Wiesen und Felder hinaus.

Kinder hüpften barfuß in den kleinen Pfützen herum. Die Fische sprangen in die Luft, als wollten sie die Regentropfen fangen. Grüne und braune Frösche machte riesengroße Sprünge und setzten sich auf den glitschigen Steinen nieder. Sie alle waren nun sehr glücklich und standen oder saßen noch stundenlang im prasselnden Regen. Nach einigen Tagen war alles wieder im Lot im Tal des Bauern Waldberger. Der Bach plätscherte fröhlich. Die Wiesenblumen trugen ihre Köpfe wieder aufrecht. Die Schmetterlinge flogen wieder über die saftigen Wiesen. Die grünen Bäume hatten neue, hellgrüne Blätter bekommen.

Sonnenflammen

huschten

zwischen

den

weißen

Sommerwolken zur Erde. Und Papou, der Regenzauberer sorgte wieder für genügend Regen im Tal. Es war alles wie vor der langen Dürrezeit.


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och nein, eines war anders geworden: Die Menschen freuten sich

nun, wenn Papou es regnen ließ. Und begann doch jemand über den Regen zu schimpfen, so erzählten sie ihm die Geschichte vom Sommer als Papou verschwunden war. Solltest du einmal traurig sein, weil du wegen des Regens nicht im Freien spielen kannst, dann denke immer daran: zum Sommer gehören beide, der Regenzauberer Papou und die glühenden Sonnenflammen.

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s war einmal an einem wunderschönen Wintertag. Es war draußen

vor den Toren der Stadt, wo der brave Bauer Waldberger seinen Hof hatte. Dort war die Landschaft noch weiß und unberührt. Die Nächte waren noch wirklich schwarz und ganz still. Es war zu einer Zeit, in der die Tage kurz und die Nächte umso länger waren. Es war winterlich kalt, und die Sonne stand tief am blassblauen Himmel. Die Felder und der Wald des Bauern Waldberger waren mit einer zarten Schneedecke überzogen. Es funkelte überall, sodass man die Augen beim Hinsehen zusammenkneifen musste. Beim Gehen knirschte der Boden unter den warmen Schneestiefeln und der Atem bildete kleine, aber dichte Nebelwölkchen vor dem Mund. Noch schien die Wintersonne, doch hinter den Hügeln waren schon flauschig weiche Schneewolken zu sehen. Ganz langsam kamen sie näher und schoben sich gemächlich vor die Sonne.

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n den Wolken drängelten sich unzählige, weiche Schneeflocken. Jede

dieser Schneeflocken bestand aus vielen kleinen Schneesternchen. Diese zappelten ungeduldig hin und her, sodass die große Wolke immer wieder ihre Umrisse verändern musste, um ihnen Platz zu schaffen. Einmal hatte die Wolke hier einen Bauch, dann hatte sie dort einen Buckel und dann wuchs ihr eine Beule aus dem Kopf.

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ll die kleinen Schneesternchen warteten auf den Moment, an dem

sie zur Erde schweben durften. Sie stellten sich schon vor, wie sie durch die Luft tanzen würden, und jedes von ihnen konnte die Freiheit und Weite spüren. Doch noch war es nicht soweit, noch saßen sie zappelnd und dicht gedrängt in der großen – aber dennoch viel zu engen – Schneewolke. Ihre Ungeduld wuchs und wuchs. Eine der Ungeduldigsten war Leni. Sie und ihre Geschwister bildeten eine große, glitzernde Schneeflocke. Jede Schneeflocke war eine kleine Familie unter all den anderen Schneeflockenfamilien, die sie umgaben. Die kleinen Schneesternchen hielten sich an den kleinen, zarten Händchen fest, und Leni lächelte ihre Geschwister an, und sie lächelten fröhlich zurück.

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ndlich war es soweit: Die große Wolke ließ sie frei, und nun war ihr

Traum Wahrheit geworden. Sie schwebten, wirbelten und tanzten zur Erde nieder. Sie wurden immer wieder von einem Windstoß in die Luft gehoben, wirbelten durch die Luft und schwebten wieder der Erde entgegen. Es war ein Wirbeln, ein Lachen und ein Tanzen. Leni und ihre Geschwister hielten einander fest an den Händen, um nicht auseinander getrieben zu werden und jauchzten allesamt im Chor: „Schön ist die Freiheit und das Tanzen im Wind!“ Wieder und wieder wurden sie vom Wind in die Luft gehoben, kamen aber dennoch der Erde immer näher. Bald hatten sie nur mehr ein paar Meter bis zum schneebedeckten Boden. Einige Momente später schlug die Schneeflocke – und damit all die kleinen Schneesternchen – am Boden auf, und da konnten die Schneesternchen ihre Hände nicht mehr festhalten. Ein rauer Windstoß fegte über den Boden und trennte Leni von ihren Geschwistern.

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eni schaute nach links und nach rechts, aber so sehr sie auch suchte,

sie konnte keines ihrer Geschwister entdecken. Ein bisher für sie fremdes Gefühl stieg in ihr hoch. Das kleine Schneesternchenherz begann heftig zu pochen und die kleinen Fingerchen zitterten. Ganz leise begann sie zu schluchzen, denn sie fühlte sich so allein und einsam. Ihr Schluchzen wurde immer lauter und lauter, so wurden die Schneeflocken in ihrer Nachbarschaft auf sie aufmerksam. Schluchzend bat sie ihre Nachbarn: „Bitte helft mir, ich habe meine Familie verloren!“

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ie Schneeflocken versuchten sich zu erinnern, ob sie die

Geschwister gesehen hatten. Sie schauten ringsum, ob sie eines davon erblicken konnten. Doch nein, keines der anderen Schneesternchen und auch keine der anderen Schneeflocken konnten ihr helfen. Es war noch Tag, und noch schien die Sonne durch die weißen Wolken. Leni wollte sich – solange es noch hell war – auf die Suche nach ihren Lieben machen. Sie wartete den nächsten Windstoß ab, und ließ sich vom Boden heben und weitertragen. Überall glitzerten die weißen Schneesternchen in ihren Schneeflockenfamilien. Überall sah Leni kleine Schneesternchen, doch ihre Geschwister waren nicht darunter. So suchte sie weiter und weiter.

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ber – so viel sie auch suchte – keine Spur von ihren Schneestern-

chen-Geschwistern. Es wurde langsam finster, und bald schon war es ganz dunkel. Leni konnte nichts mehr sehen, so beschloss sie, sich wieder auf die Erde fallen zu lassen. Nun kauerte sie sich traurig zwischen zwei dicke Schneeflocken und weinte bitterlich. Das Weinen war so eindringlich und wurde lauter und lauter, und bald war es auch im Himmel zu hören. Dort oben, weit über den Wolken, schlief die zarte Fee Elise tief und fest auf ihrem gläsernen Thron. Hinauf bis an ihr Ohr drang das jämmerliche Weinen und Schluchzen unseres kleinen Schneesternchens Leni. Die zarte Fee Elise erwachte und erhob sich aus ihrem Stuhl, um dem kläglichen Jammern zu folgen. Sie flog durch die Finsternis des Alls, dann durch die Weiten der Milchstraße, vorbei an den Sternen und Monden, bis hin zur Erde. Bald erreichte sie den Ort, an dem das jämmerliche Weinen seinen Ursprung hatte.

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a sah die Fee Elise das kleine Schneesternchen Leni auf dem

schneebedeckten Hügel sitzen. Gleich flog sie zu ihr hin und fragte sie: „Warum schluchzt du so, kleine Leni?“ Das kleine Schneesternchen Leni erzählte von der Wolke, dem Tanz in der Luft, der großen Freiheit, den zahllosen Windböen und schlussendlich vom harten Aufprall auf der Erde, bei dem sie ihre Geschwister verloren hatte. Die Fee konnte die Einsamkeit und Traurigkeit des kleinen Schneesternchens gut verstehen. Sie war sogleich bereit, Leni zu helfen. Sie hob ihren silbernen Zauberstaub und machte damit drei langsame, kreisrunde Bewegungen in der Luft. Es sprühten goldene und silberne Sterne aus dem Stab. Sie leuchteten und funkelten. Die Fee murmelte einige Worte, und im gleichen Moment war sie auch schon wieder verschwunden. Das Murmeln der Fee war nicht mehr zu hören, und auch das Funkeln der Sterne war nicht mehr zu sehen.

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chon dachte das kleine Schneesternchen Leni: „Jetzt bin ich wieder

ganz alleine auf der großen weiten Welt!“, und sank sogleich traurig in sich zusammen. Da fühlte sie plötzlich, wie sich eine kleine, zarte Hand in ihre linke Hand legte. Dann bemerkte sie, dass sie auch auf der rechten Seite eine warme Hand festhielt. Ja, sie waren es – ihre Geschwister waren wieder bei ihr! Glück und Geborgenheit waren zu Leni zurückgekehrt. Nun beschlossen sie, sich niemals mehr aus den Augen zu verlieren und sich gegenseitig immer festzuhalten. Sie blieben beisammen solange dieser Winter dauerte. Und wenn wir alle ganz aufmerksam sind, sehen wir Leni und ihre Schneeflockenfamilie jedes Jahr wieder vom Himmel zur Erde tanzen und hören sie jauchzen und kichern bei ihrem wilden Ritt durch die Luft!

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Das M채rchen von der kleinen Elfe

Rosa-Rosa

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s war einmal am Ende des langen, kalten Winters. Oder vielleicht

doch nicht ganz am Ende. Denn immer wieder fiel der Schnee und die Eiszapfen wollten und wollten nicht schmelzen. Das hatte seinen guten Grund. Dem eisigen Geist des Winters gefiel es gut im Tal des Bauern Waldberger. Er dachte nicht daran weiterzuziehen. Von den weißen Spitzen der Berge schaute er zufrieden in die tief verschneite Gegend. Immer wieder blähte er seine Wangen, dass man meinen konnte, sie würden platzen. Er blies dabei eisige Luft ins Tal. Dann schickte er dicke Schneewolken vom Berg hinunter. Aus denen tanzten dann unendlich viele Schneeflocken zur Erde nieder. Die Menschen, die im Tal lebten, konnten sich nicht erinnern, jemals einen so harten Winter erlebt zu haben. Die Futtervorräte für die Tiere wurden knapp und das Brennholz ging schon dem Ende zu. Die Bauern machten sich große Sorgen um die Ernte, da sie die Saat nicht ausbringen konnten. Die Menschen waren ratlos. Auch die Feen und Elfen, die ebenso stark unter dem langen kalten Winter litten, wussten keinen Ausweg.

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m schlimmsten war es für die kleine zarte Elfe Rosa-Rosa. Sie liebte

es, in Blüten zu liegen oder mit ihren kleinen Füßchen über die duftenden Wiesen zu trippeln. Gerne flog sie mit den Bienen um die Wette und schlug dabei fröhlich mit ihren fast durchsichtigen weißen Flügeln. Ihr weißes Kleidchen war mit silbernen Sternen besetzt. Es wehte beim Fliegen lustig im warmen Wind. Doch davon konnte Rosa-Rosa seit Monaten nur träumen. Es war Winter und wie es schien, sollte es auch Winter bleiben. Die kleine Elfe Rosa-Rosa fror sehr, wenn der Wind durch die blattlosen Bäume und Sträucher pfiff. Ihr kleines Näschen war rosarot und sah wie eine leuchtende Ampel aus. Rosa-Rosa wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich wieder die warme Sonne auf ihren Flügeln zu spüren.

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ie fragte ihre Elfengeschwister: „Was kann ich tun, damit

es wieder Frühling wird?“ Doch die Geschwister waren ratlos. So flog sie zu den Feen des Waldes und fragte diese: „Was kann ich tun, damit der Winter geht und der Frühling kommt?“ Auch sie wussten keine Antwort und schüttelten nur traurig ihre zarten Köpfchen. Die kleinste der Feen namens Sternchen hatte plötzlich eine Idee: „Liebe RosaRosa, geh doch zur klugen Hexe Akinom. Sie ist sehr, sehr alt und hat schon vieles in ihrem Leben gesehen. Vielleicht weiß sie einen guten Rat.“


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ogleich machte sich die kleine Elfe Rosa-Rosa auf, die kluge Hexe

Akinom zu finden. Sie flog über die weißen Hügel, durch den hellen Hochwald bis hin zum Hexenwald. Dort standen die Bäume immer dichter und dichter, sodass kaum mehr Licht zu sehen war. Bald hatte unsere kleine Elfe die Orientierung verloren. Ihre zarten Flügel bewegten sich nur mehr sehr langsam auf und nieder. Sie war bereits sehr erschöpft vom langen Flug und wollte schon umkehren. Da sah sie plötzlich die Umrisse einer Hütte hinter den Bäumen. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und flog rasch näher. Dicker Rauch stieg aus dem Kamin auf. Ringsum roch es nach Kräutern und warmem Brot. Als sie vor der Tür angekommen war, öffnete sich diese wie von selbst. Drinnen im Haus war ein offener Herd mit einem großen Blechkessel zu sehen. Darin blubberte eine hellgrüne Suppe, die nach Zimt roch. Über dem Kessel auf einer eisernen Stange hingen getrocknete Kräuter,

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knorrige Wurzeln und gepresste Blumen. Auf der Ofenbank neben dem Herd saß die kluge Hexe Akinom. Sie hatte einen schwarzen Umhang über ihre schmalen Schultern gelegt. Ein schwarzes Kleid, das bis zum Boden hing, war um ihre bucklige Gestalt gewickelt. Auf dem vorgebeugten Kopf trug sie ein grobes, schwarzes Tuch, das ihr schneeweißes Haar verdeckte. Langsam hob sie ihren Kopf und schaute unserer Elfe neugierig in die Augen. Akinom lebte schon weit über hundert Jahre in ihrer Hütte tief im Wald. Besucher kamen nur sehr selten bei ihr vorbei. Manchmal verirrten sich Wanderer. Oder es suchten Menschen Akinoms Hilfe, wenn sie sehr krank waren. Denn die kluge Akinom hatte stets das richtige Kraut dagegen. Aber sonst war sie fast immer alleine in ihrem Hexenwald. Die meiste Zeit verbrachte sie damit, in ihrem dicken Zauberbuch zu lesen. Dort waren Rezepte und Zaubersprüche für alle Gelegenheiten im Leben niedergeschrieben.

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as Buch war so dick, dass Akinom unendlich lange darin lesen konnte.

Sie las und las und gelangte niemals zur letzten Seite. Denn wenn irgendwo auf der Welt etwas Neues entdeckt wurde, fügten sich sofort die passenden Seiten hinzu. Unsere Hexe hatte dadurch Zugang zum gesamten Wissen, das es auf der Erde gab. Nun fragte die kluge Hexe Akinom mit krächzender Stimme: „Was führt dich zu mir? Was kann ich für dich tun?“ Die kleine Elfe stellte wieder ihre Frage: „Sag mir, was kann ich tun, damit es wieder Frühling wird?“ RosaRosa erklärte der Hexe, dass es schon viel zu lange Winter war im Tal des Bauern Waldberger, dass die Futtervorräte bald nicht mehr reichten und dass die Menschen Sorge um ihre Ernte im Herbst hatten.

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ie kluge Hexe Akinom hörte aufmerksam zu, stellte einige Fragen,

nahm ihren Stock und ging mit schweren Schritten zu ihrem Zauberbuch. Sie suchte nach einem Rezept oder einem Zauberspruch, um den Winter vertreiben zu können. Doch so sehr sie auch suchte, kein Rezept und kein Zauberspruch passte. Akinom fand Sprüche, mit denen sie Schnee in Watte verwandeln konnte. Sie fand Sprüche, mit denen sie das laute Rauschen eines Sturmes in das leise Säuseln eines zarten Lüftchens verwandeln konnte. Aber all das half nicht, den Winter aus dem Tal zu vertreiben. Die kleine Elfe Rosa-Rosa war aufgeregt im Raum herumgeflogen. Sie war schon gespannt, wie wohl der Zauberspruch lauten würde. Doch jetzt als sie merkte, dass auch die kluge Hexe kein Mittel gegen den langen Winter hatte, ließ sie traurig ihre Flügel hängen und trudelte zu Boden. Die Hexe ging zurück zu ihrer Ofenbank und setzte sich langsam nieder. Sie legte beide Hände auf ihren Gehstock und stützte dann ihren Kopf darauf. Lange schaute sie vor sich hin und versuchte eine Lösung zu finden.

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lötzlich huschte ein Lächeln über ihr faltiges Gesicht. „Liebe Rosa-

Rosa“, sagte sie dann, „hast du schon mit dem Wintergeist gesprochen? Hast du ihn schon gefragt, warum er nicht gehen mag?“ Die kleine Elfe sah ungläubig in das Gesicht der Hexe. Sie verstand nicht, was die Hexe damit sagen wollte. So wiederholte die kluge Akinom ihre Fragen: „Warst du schon beim Wintergeist und hast mit ihm gesprochen? Hat er dir gesagt, warum und wie lange er noch bleiben mag? Bist du sicher, dass er nicht gehen will?“ Nun hatte unsere kleine Elfe verstanden. Sie bat die kluge Hexe: „Kannst du mir bitte helfen, den Wintergeist zu finden?“ „Gerne kleines Elfchen“, erwiderte Akinom, hob ihre dürren Arme und murmelte einen Zauberspruch. Im gleichen Moment war die kleine Elfe Rosa-Rosa auf der Spitze des Berges angelangt, wo der Wintergeist schlief.

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Rosa-Rosa flatterte näher und setzte sich auf den großen Kopf des Wintergeists. Dann rutschte sie vorsichtig bis hin zu seinem großen weichen Ohr. Leise flüsterte sie: „Lieber Wintergeist, bitte wach doch auf! Ich möchte mit dir sprechen!“ Das Schnarchen des Wintergeists verstummte und er öffnete seine eisblauen Augen. „Was willst du von mir? Und warum reißt du mich aus meinem schönen Traum?“ „Es ist schon viel zu lange Winter hier im Tal“, sagte die Elfe jetzt mit lauter, kräftiger Stimme, „Du bist schon zu lange hier. Es wird Zeit, dass der Geist des Frühlings im Tal Einzug hält. Viele Täler weiter im Süden warten die Menschen ungeduldig auf den ersten Schnee. Aber hier im Tal haben sie schon genug von der Kälte, den Eiszapfen, dem blendenden Weiß und dem eisigen Wind. Die Menschen freuen sich schon alle darauf, dass die Natur wieder von ihrem Winterschlaf erwacht. Magst du uns nicht endlich verlassen?“

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er Wintergeist sah über-

rascht drein. Er hatte die Zeit übersehen und vor lauter Windmachen, Schneewolkenverschieben und Eiszapfenformen vergessen weiterzuziehen. Er bedankte sich bei der kleinen Elfe und packte in Windeseile die kalten Nebel und den rauen Wind in seinen großen Sack. Dann nahm er die dicken Schneewolken unter den Arm und verließ sogleich das Tal. Nun begann die warme Sonne zu scheinen, die Eiszapfen tropften bis sie ganz verschwunden waren. Der Schnee wurde zu Wasser und floss über die Wiesen in den sprudelnden Bach. Ein warmer Frühlingswind strich durch die Bäume. Langsam kamen die ersten grünen Halme durch den Boden. Bald schon würden die ersten Frühlingsboten duftend aus der Erde wachsen. Die Menschen feierten vor lauter Freude ein großes Fest.

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ie kleine Elfe Rosa-Rosa war sehr froh, dass endlich der Frühling

wieder da war. Vor allem aber war sie froh, die kluge Hexe Akinom kennen gelernt zu haben, die ihr geholfen hatte, den richtigen Weg zu finden. Und ein wenig war sie auch stolz, dass sie mit dem Wintergeist gesprochen hatte und damit so vielen Menschen, Tieren, Elfen und Feen hatte helfen können. Sollte auch dieser Winter schon viel zu lange dauern, denke immer daran, es wird sicher wieder einen Frühling geben. Denn es gibt ja immer wieder eine kleine Elfe, die beherzt eine gute Lösung sucht!


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Impressum: Erste Auflage, August 2009 Herausgeberin, Verlegerin und Autorin: Moni Reichenpfader-Herdlicka Grafikerin, Layout: Kay Inga Smith, Salzburg Befreundete Lektorinnen: Doris Brandl jun., Katrin Rippel, Monika Wilfinger Druck: www.marsmedia.at Alle Rechte, einschließlich die der Übersetzung in Fremdsprachen, der Verfilmung, eines Ab- oder Nachdruckes, des öffentlichen Vortrages sowie für Rundfunk- und Fernsehsendungen, sind dem Verlag vorbehalten. Jede Veröffentlichung, auch auszugsweise sowie jede EDV-mäßige Übernahme bedarf der Zustimmung der Verlegerin. Moni Reichenpfader-herdlicka A-1060 Wien, Webgasse 24/1/5 Email: moni.reichenpfader@herdlicka.com Home: www.monibuch.at ISBN: 978-3-902326-49-2


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Eine Sammlung wunderschöner Märchen aus der Heimat des braven Bauern Waldberger von Moni Reichenpfader-Herdlicka mit Illustrationen von Kay Inga Smith

Märchenbuch

ISBN: 978-3-902326-49-2

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