KUNST GRAUBÜNDEN UND LIECHTENSTEIN
AUSGABE 2010
cartier.com
Palace-Galerie - St. Moritz - 081 833 18 55
Captive de Cartier
06 18 26 44 52 60 68 76 86 HERAUSGEBER MARC GANTENBEIN | VERLAG PRINTMEDIA COMPANY CHUR, SPUNDISSTRASSE 21, 7000 CHUR, TEL 081 286 68 03, WWW.P-M-C .CH DRUCK RDV RHEINTALER DRUCKEREI UND VERLAG AG, HAFNERWISENSTRASSE 1, 9442 BERNECK, W W W. RDV. C H | GR AF I K DI EBÜ NDNER , CHU R AUFLAGE 15‘000 EX. PRO JAHR | ERSCHEINEN JÄ H RLIC H | E INZELVER KAU FSPR EI S CHF 15.–/ E URO 10. – (ZZG L. VER SAND KO ST ENANT EI L) PAPIER UMSCHLAG LUXOSAMTOFFSET, HOCHWEISS, GESTRICHEN MATT, 250 G. | INHALT LUXOSAMTOFFSET, HOCHWEISS, GESTRICHEN MATT, 170 G. LIEFERANT SIHL + EIKA PAPIER AG, 8800 THALWIL S Z E N E E D I TO R I A L M A DA L E N A S T E V E N S E X E C U T I V E M A S T E R O F A RT S M A N AG E M E N T PIROSKA SZÖNYE ISBN 978-3-9523366-2-5
SC2010071611
CORSIN FONTANA
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DORIS BÜHLER
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EVELYNE BERMANN
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HANS RUDOLF WEBER
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GERTRUD KOHLI
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REMO ALBERT ALIG
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THOMAS ZINDEL
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WERNER MAR XER
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BRIGIT TE HASLER
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GKB-KUNSTSAMMLUNG
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CATAMA EVENT & ART
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ST. MORITZ ART MASTERS
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AGENDA
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VON MEDICI ZUM MEDIENCI Liebe Leserinnen und Leser «die bekanntesten Künstler kommen aus …» In der Königsdisziplin – der bildenden Kunst wurde schon immer Geschichte geschrieben. Wir haben uns von den Medici’s zu Medienci’s gewandelt in einer Welt, die Kopf steht – steht die Kunst auf. Der Kunstmarkt ist nicht verrückt – er reagiert einfach auf die Realität. Es ist Ausdruck einer Lebenshaltung – eine Einstellung, die Mut fordert. Es sind die Protagonisten, die uns am eindringlichsten lehren, was es heisst, lebendig zu sein, unverwechselbar und individuell, dennoch offen für die Begegnung mit dem Anderen. In der Gegenwart der Kunst geschieht jene Verwandlung des Fremden ins Eigene, die das Eigene nicht zerstört, sondern öffnet für den vielfältigen Zusammenhalt des Ganzen. Sie entwickelt Zeitgeist – Eruptionen, die sich dem allgemeinen Wellengang unserer Zivilisation dicht anschliessen. Die Informationsgesellschaft wird abgelöst von der Dream Society, dem Zeitalter der Geschichten und der Erzähler. Die echten Glossisten bebildern heute selber. Marc Gantenbein, Herausgeber Piroska Szönye, Executive Master of Arts
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CORSIN FONTANA , BASE L
T E X T: B E AT S T U T ZER
F OTOS: M A RT I N P. B Ü H L ER , B A S EL , F OTO F LU RY, P O N T R E S I N A , M I C H A EL F O N TA N A , B A S EL , S ERG E H A S EN B Ö H L ER , B A S EL
CORSIN FONTANA CORSIN FONTANA HAT SEIN GESAMTES ŒUVRE CORSIN IN SEINEM STUDIO IM ATELIERHAUS KLINGENTAL IN DER ALTEN K ASERNE IN BASEL HERVORGEBR ACHT. HIER ARBEITET DER 1944 IN CHUR GEBORENE KÜNSTLER SEIT ÜBER VIER ZIG JAHREN KONTINUIERLICH UND INTENSIV AN SEINEM WERK, DAS ZU DEN FASZINIERENDSTEN UND EIGENWILLIGSTEN DER JÜNGEREN SCHWEIZER KUNST GEHÖRT.
Spinnengewebegegenstand, 1979, Spinngewebe, Holzreif und Flechtmaterial, 85 x 85 x 2 cm, Privatbesitz St. Moritz
Ohne Titel, 2009, Betonguss, Armierungsstahl 16/18, Position 11/12/13/14/15, 52 x 45 x 45 cm / SEL 7 cm, Courtesy: Tony Wuethrich Galerie, Basel
Mit seiner jüngsten Werkgruppe reagierte Corsin Fontana einmal mehr antizyklisch: Auf die lange Phase, als zahlreiche grosse und kleinere Blätter mit horizontal-vertikalen Vergitterungen entstanden, wandte sich der Künstler von der Zweidimensionalität ab und beschäftigte sich wieder mit skulpturalen Problemen. Dabei blieb er dem vertrauten, auf die gerade Linie reduzierten Formenvokabular treu, welches nun allerdings durch die dritte Dimension zur Stereometrie geweitet wird. Grundelement der neuen Skulpturen ist ein sorgsam gegossener Betonwürfel . Aus diesem ragen gedrillte Stahlstäbe heraus, wie man sie auf Baustellen antrifft. Die im Verhältnis zum Kubus relativ kurzen Stäbe sind jeweils in unterschiedlicher Anzahl und verschiedener Gruppierung, aber stets in rigider Reihung angeordnet: Einmal steigen sie vertikal aus dem Betonwürfel empor, was unserer Vorstellung von «klassischer» Plastik – von Sockel und stehender Figur – entspricht, ein anderes Mal hingegen sind die Stäbe horizontal ausgerichtet und treten auf irritierende Weise seitlich aus dem Betonwürfel heraus. Neben der materiellen Dualität von krudem, gleichwohl sinnlich haptischem, hellem Beton und dunklen Eisenstäben ist es primär das rhythmische Gleichmass, mit dem zwar sehr sparsame, aber umso eindringlichere Formkonstellationen erreicht werden. Trotz der minimalen formalen Interventionen ist eine schier unendliche Vielzahl von Konstellationen möglich. Corsin Fontanas neue Skulpturen thematisieren eine fundamentale Problematik der Skulptur der Moderne: das Phänomen von Positiv- und Negativform. Der massive Körper dialogisiert mit virtuellen Volumina. Das eine bedingt das andere, und zwischen Körper und Raum kommt es zum spannungsvollen Diskurs. Der Raum, in den die Stäbe ausgreifen und den sie durch Zwischenräume definieren und proportionieren, verkommt keineswegs zur banalen Leere, denn das nicht Greifbare wird durch die Potenz der konkreten Körperformen gleichsam energetisch «aufgeladen». Formal gründen diese Skulpturen auf der vorangegangenen Werkgruppe der Painted proofs, den mit schwarzer Wachskreide akkurat gezogenen Kreiskonstellationen sowie auf den Arbeiten mit Gitterstrukturen, als Fontana die verhältnismässig breiten Striche zu dichten Vertikal-Horizontal-Strukturen fügte. Bei den ungewöhnlich grossen, bildmässigen Blättern gesellte sich als neues Element die Farbe in unterschiedlichsten Werten hinzu: Die monochrome Verwendung von Zinkgrau, Bordeauxrot, Orange oder Dunkelgrün ergibt bei identischer Formstruktur je eine ganz andere Anmutung. Das ganze Bildfeld ist mit präzisen und dennoch intuitiv gesetzten horizontalen Streifen so gegliedert, dass das Weiss des Blattgrundes an den Nahtstellen als strahlendes Licht durchblitzt. Die in einem hochkonzentrierten, gar obsessiven Arbeitsprozess in vielen Schichten aufgetragenen Horizontalen sind von kompakter Farbmaterialität und weisen eine enorme sinnliche, gar haptische Präsenz auf. Geometrie und Intuition halten sich wundersam die Waage. Die farbintensive Zeichnung und der weisse Grund verzahnen sich derart, dass unsere Wahrnehmung auf eine irritierende Art auf die Probe gestellt wird. Insofern kommt auch dem Bildträger eine aktive Funktion zu, und die Arbeiten weisen eine unerwartete räumliche und tektonische Qualität auf.
Ohne Titel, 2003/06, Schwarze テ僕kreide auf Papier, 176 x 116 cm, Kunstmuseum Basel
Ohne Titel, 1973, Holz, Papier und Kaliumpermanganat, je 175 x 10 x 10 cm, Im Besitz des K端nstlers
Spinnengewebegegenstand, 1977, Spinngewebe, Holzreif und Flechtmaterial, 45 x 45 x 3 cm, Privatbesitz St. Moritz
Diesen beiden Werkgruppen der letzten Jahre sind manche andere vorausgegangen. Corsin Fontanas Schaffen gliedert sich seit dem Beginn Ende der 1960er-Jahre in markante Werkgruppen. Jede lotet neue formale und inhaltliche Aspekte aus und ist geprägt durch einen ungewöhnlichen Umgang mit den künstlerischen Mitteln. So brachte Fontana schon sehr früh ungewöhnliche Materialien in den Kunstkontext ein und beschäftigte sich intensiv mit der Natur, ihren Prozessen und ihrer Vergänglichkeit. Das Spektrum seines Schaffens reicht von den Mikrostrukturen über die Schlangenlandschaften bis zu den die wie Ritualobjekte anmutenden Stäben, Kugeln und Keulen aus Schweinsblasen und Ton oder Papier, die einen Bezug sowohl zu fremden Kulturen wie zum Brauchtum in den Alpen herstellen; dazu gehören aber auch die so genannten Brenneisenbilder, die faszinierenden Spinnengewebeobjekte, die urtümlich anmutenden Holzobjekte oder grosse, enigmatische Holzschnitte. Für die Sammler, die Kunst kritik und das Publikum fiel die Begegnung mit jeder neuen Werkphase stets überraschend aus, stand diese doch zur unmittelbar vorangegangenen in einem scheinbar eklatanten Widerspruch. Die stete, beharrliche Suche nach neuen Möglichkeiten verhinderte indes jede drohende Erstarrung von gültig Formuliertem. Corsin Fontana verfolgte nur so lange eine Bildidee und einen Werkgedanken mit allen Implikationen, bis der Ansatz zum tragfähigen Resultat führte. Dann folgte jeweils eine Art Inkubationszeit, bis wieder Neues, Frappantes und Innovatives herangereift war. So erstaunt es nicht, wenn mitunter von krassen Stilbrüchen, Neuanfängen oder Kehrtwendungen zu lesen war. Der ständige Wandel der Techniken und Materialien erweist sich indes aus zeitlicher Distanz als eine einzige, konsequente, geradlinige Entwicklung von einleuchtender Folgerichtigkeit. Denn die Gegensätze und Widersprüche der Werkgruppen sind bloss scheinbare, da sie sich auf Äusserlichkeiten beziehen, während die massgeblichen Intentionen von fundamentaler und konstanter Bedeutung geblieben sind. Die Retrospektive im Bündner Kunstmuseum Chur im Herbst 2009 hat dies deutlich gezeigt: Sie offenbarte, wie eng vermeintlich Diskrepantes beieinanderliegt, wie Grundformen über Jahrzehnte wiederkehren und dass allein das schillernde Hin und Her zwischen den zweidimensionalen Arbeiten und der skulpturalen Attitüde von Objekt und Skulptur sowie der wechselnde Gebrauch absonderlicher Materialien und ungewöhnlicher Arbeitsprozesse die Rezeption einer als folgerichtig erachteten Entwicklung stets verunsicherte und hemmte.
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CATAMA E VE NT & ART, LIEC HTE NSTE IN
T E X T: G ERT G SC H W EN DT N ER
F OTOS: M A RCO R A M P O N E
CATAMA EVENT & ART DIE FIRMA CATAMA EVENT & ART AG WURDE IM JAHR 2008 VON CATHERINE RAMPONE UND AMALIA GUBSER GEGRÜNDET. CATHERINE ARBEITETE IM GOLFEVENT-BEREICH UND AMALIA WAR ALS R AUMGESTALTERIN TÄTIG. SIE ABSOLVIERTEN AN DER HOCHSCHULE LIECHTEN STEIN DIE KMU-LEHRGÄNGE MANAGEMENT, MARKETING UND KUNSTGESCHICHTE..
catama organisiert Golfevents für Kunden, Verbände und Institutionen sowie exklusive Golfreisen für kleine Gruppen in Verbindung mit Kulinarik und Kultur.
Expressionismus wurzelt. Ihre Arbeit untersucht den menschlichen Körper in seiner physischen und geistigen Dynamik.
catama engagiert sich auch im Kunstbereich und vertritt zurzeit folgende Kunstschaffende:
Im Juni 2009 lud catama zu einem Kunstwochenende mit den vertretenen Künstlern auf dem Storchenbüel in Sevelen ein. Martin Frommelt zeigte eine grosse, höchst malerische Email-Arbeit im Innenhof des Anwesens.
Martin Frommelt ist für die Kunstentwicklung sowie für das Kunstverständnis in Liechtenstein von herausragender Bedeutung und hat in den vergangenen 60 Jahren ein umfassendes Werk im Bereich Grafik, Malerei, Mosaik, Email und Glasfensterarbeiten geschaffen.
Gert Gschwendtner komplettierte den Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg um ein Figurenfragment und Texte an den Wänden. Er zog einen Bogen zum Haus mit der Installation «Heimatstüberl».
Gert Gschwendtner Philosoph, Pädagoge und Kunstschaffender. Seine Arbeit beinhaltet Kunstinstallationen, Performance, grafisch-malerische sowie skulpturale Objekte.
Thomas Bohle stellte eine repräsentative Auswahl seiner Keramiken aus und ergänzte sie mit Druckgrafik. Doris Bühler liess einen überlebensgrossen blauen Kopf bis zu den Augen aus dem Weinberg auftauchen und gruppierte kleine Bronzeskulpturen an Wänden und auf Mauern.
Thomas Bohle Keramiker, der sich dem einzelnen, raumgreifenden Gefäss widmet. Seine Impulse liegen sowohl in der europäischen als auch in der japanischen Keramik.
Betty Dürr brachte erzählerische und dadaistische Glasobjekte aus Murano direkt nach Sevelen.
Doris Bühler Bildhauerin und Malerin, deren Repertoire im amerikanischen
Weitere Informationen erhalten Sie unter www.catama.li oder kontaktieren Sie uns unter info@catama.li
DAS HOCHWALDLABOR E.V. Durch die intensive Zusammenarbeit von catama event & art mit dem Künstler Gert Gschwendtner ist ein grosser Wunsch in Erfüllung gegangen. Das Hochwaldlabor (von Gschwendtner 2005 ins Leben gerufen) hat eine juristische Form erhalten. Es ist geschaffen als Arbeitsund Diskussionsplattform für Kunst, Philosophie und Gestaltung. Im November 2009 fand die Gründungsfeier des Hochwaldlabor e.V. in Schaan statt. Es versteht sich als interdisziplinäre Ergänzung zu universitären Strukturen und standesvertretenden Institutionen und stellt die Verbindung her zwischen Kunst und Neurobiologie. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden drei Säulen aufgerichtet: das Institut, die Werkstatt und der KunstRaum. ∙ Das Institut führt Clemens Plank (Architekt, Hochschuldozent) ausgehend von der konstruktiven Ästhetik. Er beobachtet im Speziellen die Architektur unter wahrnehmungstheoretischen Gesichtspunkten. ∙ Die Werkstatt wird geleitet von Dr. Benno Simma (Architekt, Designer, Literat und Musiker) und zeigt praktische Ergebnisse aus dem Diskurs mit gestalterischen Konzepten.
CATAMA EVENT & ART AG Postfach 730 9490 Vaduz, Liechtenstein Telefon +423 233 27 29 www.catama.li www.hochwaldlabor.org
∙ Der KunstRaum wird kuratiert von Gert Gschwendtner (Philosoph, Pädagoge und Kunstschaffender) und bietet Platz für eine intensive geistige Auseinandersetzung im Rahmen der konstruktiven Ästhetik. Die konstruktive Ästhetik umschreibt den verantwortungsbewussten Umgang mit Beurteilungen von Phänomenen. Weitere Informationen erhalten sie unter www.hochwaldlabor.org oder direkt unter post@hochwaldlabor.org.
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DORIS BÜHLE R , TRÜBBAC H UND LIEC HTE NSTE IN
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F OTOS: WO L F G A N G M Ü L L ER , PAT R I C B Ü H L ER
DORIS BÜHLER MIT DEN HÄNDEN SCHAUEN IHRE WERKE ERGRÜNDEN DEN MENSCHLICHEN KÖRPER ALS EIN IN STRU M ENT, DA S S ICH M IT LE B EN U N D DU RCH GE DAN KEN VERÄNDERT. SIE HANDELN DAVON, WIE ANDERE RÄUME ERFORSCHT UND DURCHDRUNGEN WERDEN KÖNNEN. DORIS BÜHLER IST EINE BILDHAUERIN , DIE IN LIECHTENSTEIN LEBT UND IN TRÜBBACH ARBEITET – AN JENEN EINFACHEN DINGEN, DIE BEKANNTLICH DIE SCHWIERIGSTEN SIND.
Hände, die greifen, erzeugen Spannungsfelder – zu anderen Menschen oder zu Gegenständen. Sie eignen sich an – schaffen eine körperliche Verbindung. So sinnlich und – im wahrsten Sinne des Wortes – berührend kann der Besuch in Doris Bühlers Atelier in Trübbach (SG) sein. Nicht nur, dass dort die Fingerübungen ihres Studiums (am Wheaton College in Massachusetts, USA, in Paris sowie in der New York Academy of Art) neben den jüngsten Werken zu sehen sind – und so diese in ihrer Entstehung begreifbar machen. Die Loft ihres Ateliers hat etwas von einem Lebensraum, von einer Geburtsstätte und auch etwas von einem Ort des Abschieds. In einer Holzkiste liegt der Torso einer Frau – 160 Zentimeter lang – samten in einem dunklen, fast schwarzen Blaugrün schimmernd. Eine Fabrik in der Nähe von Stuttgart, die sonst Autobauteile verarbeitet, hat den Kunststoff körper beflockt. Jetzt hat der Frauentorso eine Haut, ein Fell, eine Oberfläche. «Gaea», die Erdmutter, rinnt durch die Hände, hält den Fingerkuppen stand, lässt sich begreifen – als Erde, als Gras, als Stein. Alles, was wächst, was existiert, ist hervorgekommen, hat einen Übergang ins Dasein hinter sich, ist Mensch geworden. Wir sind ein Teil des Ganzen. Der fehlende Teil des Torsos verweist auf das an uns selber, was wir nicht begreifen können und was uns doch mit dem verbindet, was uns umgibt. Sei es nun der Boden, die Wand, seien es Sand, Wasser oder Schnee.
Es sind die Übergänge, die Doris Bühler erforscht. Mit Geduld und Genauigkeit, und mit wissenschaftlicher Exaktheit. Manchmal mit einem Gefüge aus verschiedenen Materialien – wie bei «Something in between» (Dazwischen) –, manchmal im für die Bildhauerei klassischen Bronzeguss – etwa beim lebensgrossen «Phönix» im Städtle Vaduz FL. Immer weist Bühler dabei aufs Umfeld hin, in dem wir leben, und erzeugt gleichzeitig Spannung zwischen Raum und Figur. So purzelt der «Geistesblitz» in einer zehn Meter hohen Installation aus einem Haus hervor und «taucht» schliesslich in den Boden. Sein Körper f liegt vor dem blauen Himmel vorbei an Federwolken. Der «Beobachter» – diese Eindruck gebietende Plastik aus 340 verschweissten Aluminiumplatten mit ausgefrästen Augen – richtet seinen konzentrierten Blick auf den Betrachter und lässt ihn kaum höher als der Boden über das Gras der Wiese streifen. Dabei kann man Doris Bühler trotz ihrer innovativen Skulpturen durchaus als «klassische» Bildhauerin verstehen, welche ihre Wurzeln in der Tradition ebenso zeigt wie das Geäst der schöpferischen Gedanken. Denn als bildende Künstlerin interessiert sie sich für den Menschen als solchen und mit ihm für die ganze Schöpfung. So etwas lässt sich einfach dahersagen – allein, in der figurativen Kunst muss alles auch begreifbar sein, muss in der 3. Dimension funktionieren, muss – selbst als Gedanke – Gestalt annehmen. Diesem Begreifbarmachen entgegenlaufend und doch ihm erst Sinn gebend ist der Wille, den «anderen Raum» sichtbar zu machen. Jenen Raum, wo das Beseelende zu Hause ist. Mit «Dazwischen» etwa erforscht Bühler den Zustand, wo eine Person die reflektierende Materie – dargestellt durch Spion Glass – durchschweift. Sie ist in diesem Augenblick gleichermassen in einem realen wie in einem nicht realen Zustand. Als sei der Körper zwar da, der Geist aber weit entfernt. Der Körper wird vom Spion Glass auf irritierende Weise gespiegelt, bei gewissen Lichtbedingungen entsteht ein Punkt, wo Schatten und Figur sich umdrehen und die Figur auf sich selbst zuzugehen scheint. Das Ziel dabei ist es, so Bühler, die Verbindung zwischen Materie und Energie zu ergründen und die Grenzen in unseren Köpfen zu sprengen. Dokumentationen mit Fotografien zeigen, wie sich Bühlers Werke verändern, wenn sie in einer Landschaft ihren Platz gefunden haben. So sind die drei «Gaeas» fürs gemütliche Liegen im Kies oder Gras gedacht und wurden doch schon aufgestellt – als Tänzerinnen im Reigen. Bei Doris Bühler haben Skulpturen einen natürlichen Ausdruck – sie geht ihren Modellen an den Leib bis hin zu jeder Falte und zur absoluten Kenntlichkeit. Wie schwierig diese Natürlichkeit zu erreichen ist, das verschweigt sie. Denn jeder ihrer künstlerischen Gedanken soll hinüberwachsen zu den Betrachtenden – nicht als Rätsel, sondern gleich als Erkenntnis. www.dorisbuehler.li
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E VE LYNE BE RMANN , SC HA AN /LIEC HTE NSTE IN
T E X T: DAG M A R S T R EC K EL
F OTOS: A N D R E A B A D RU T T
LICHTRÄUME KRAFTFELD DER FARBE EVELYNE BERMANNS ACRYLGLASARBEITEN, TRANSPARENTE UND KLEINFORMATIGE GEHÄUSE WIE AUCH ARBEITEN FÜR DEN RAUM SIND GETRAGEN VON DER AURA DES KONSTRUK TIVEN, VON STRENGE UND ORDNUNG, VON DER HARMONIE DES GEOMETRISCHEN GEFÜGES. IN IHRER KLARHEIT BEREITEN SIE DEM GLANZVOLLEN AUFTRITT DER FARBE DIE BÜHNE. DIESE GEFÄLLT SICH IM SOUVERÄNEN LEUCHTEN. ROT STRAHLT UNS AN, KONKURRIERT MIT GELB, DAS LEUCHTET, ALS SEI ES DIE SONNE SELBST. PINK WEISS SICH DAGEGEN ZU BEHAUPTEN. BLAU FÜHRT IN DIE TIEFE UND WIRD VON GRÜN AUFGEHALTEN. METALLISCH SCHIMMERNDE PLÄTTCHEN GLÄNZEN ZURÜCKHALTEND IM TR ANSPARENTEN WÜRFELGEHÄUSE.
Ohne das Licht aber wäre auch die Farbe nicht. In ihm leuchten die geometrischen Acrylglasf lächen wie aus sich selbst heraus. Ein leichter Glanz liegt über allem. Die Farbigkeit vervielfacht sich in der räumlichen Schichtung ihrer Transparenz. Doch ganz im Vordergrund, noch vor der Farbigkeit der Formen, stehen die Strahlkraft und die Feinheit der farbig fluoreszierenden Schnittkanten, einer Linienzeichnung gleich. Sie stehen an erster Stelle. Ihre feine und diskret strukturgebende Zeichnung schafft Klarheit im Gefüge der Farbformen und -schichten. Und je nach Standort des Betrachters ändert die leuchtende Zeichnung der Farblinien ihre Erscheinung. Das fliessende Licht, künstlichen oder natürlichen Ursprungs, durchdringt den transparenten Acrylglaskörper scheinbar unbemerkt, belebt und intensiviert sein Erscheinungsbild. Fliessend und richtunggebend zugleich verwandelt es den Gegenstand und weitet ihn in den Raum hinein, lässt ihn in der Projektion auf der Wand zu einem vorübergehenden Stillstand kommen. Licht und Leuchten sind in den Rauminszenierungen gegenwärtiger als die Objekte selbst. Acrylglas ist ein zeitgenössisches und absolut zeitgemässes Material, ein farbig-transparentes Kunstglas, mit dem Evelyne Bermann seit dem Jahr 2000 arbeitet. Einfachheit und geometrische Ordnung bilden in ihren Acrylglasarbeiten die Grundlage der formalen Gestaltung: «Ich mag die Strenge, ich mag die Ordnung, das sind grundsätzliche Formen, Quadrate, Kreise und Dreiecke. Aber durch die Farben und durch die Leuchtkanten entsteht etwas Neues.» (E. Bermann, 2005)
Mit den Acrylglasobjekten wechselte die 1950 in Liechtenstein geborene Grafikerin und Künstlerin zur Gegenstandslosigkeit über, näherte sich entschieden der Abstraktion an und hat der auch gedanklichen Nähe von Ornament und Abstraktion eine Form gegeben. Farbe, Linie, Fläche und Raum sind an sich frei von Anspielungen und Inhalten. Der Bedeutungsgehalt liegt ausserhalb der konkret gegebenen künstlerischen Mittel. Farbe, Linie und Fläche verweisen primär nur auf sich selbst, werden als autonome künstlerische Mittel eingesetzt: Man sieht, was man sieht. Diese künstlerische Position wurde in den 1960er-Jahren gerade auch in der Schweiz von der Gruppe der Konkreten um Max Bill, Richard Paul Lohse, Camille Graeser und Verena Loewensberg, aber auch von Gottfried Honegger und Carl Gerstner formuliert. Davor hatte vor allem auch das Bauhaus, das in Weimar, Dessau und Berlin als Schule in den 1920er-Jahren gewirkt hatte, in diese Richtung gehend seine Spuren hinterlassen. Johannes Itten hatte dort den Vorkurs eingeführt und geleitet und mit zurück in die Schweiz gebracht. Max Bill, der Kopf der Zürcher Konkreten, hatte am Bauhaus studiert. Ende der 1960er besuchte Evelyne Bermann die Kunstgewerbeschule in Zürich, die damals stark von den Lehren des Bauhaus geprägt war. Bermanns Affinität zur konkreten Kunst und zur Farbe wurden dort verwurzelt. Und auch wenn kein Element von inhaltlicher Bedeutung ist, Farbe an sich ist Energie, physikalisch messbare Energie. Und auch Licht, ohne das Farbe nicht wäre, ist mehr als nur optisch eindrückliche Energie. Die Wirkung von Farbe und Licht auf Körper und Psyche
des Menschen ist unbestritten. Selbst als künstliches Licht ist es ein eindrückliches Phänomen. Diese Tatsachen haben Bermanns Interesse am Umgang mit Licht und Farbe im Raum geweckt. 2005 realisierte sie im fensterlosen, dunklen Ausstellungsraum des Engländerbau in Vaduz eine Lichtraum-Inszenierung. Drei raumgreifende, statische, aus farbigen Acrylglas-Modulen errichtete Raumobjekte waren annähernd entlang der Mittelachse des 25 m langen und 13 m breiten Raumes verteilt. Aus verschiedenen Richtungen und Höhen durchstrahlte sich in regelmässigen Intervallen änderndes, computergesteuertes Licht den Raum: «Durch das Licht werden die Raumkörper (…) in der Projektion verzogen. Wenn du die Farben der Objekte mit den Farben der Projektion vergleichst, sind die Farben auf der Wand in ihrer Mischung abgestufter. Eine der ursprünglichen Ideen zu diesem Projekt war, dass ich bei den kleineren Würfeln aus Acrylglas, die ich schon länger baue, dachte, es müsste ein Erlebnis sein, darin herumzulaufen. Ich wollte keinen Wintergarten bauen, sondern fand das Hinausprojizieren des Innenlebens dieses Körpers spannend. (…) Ich wollte keine kleinen Häuser bauen, sondern etwas erlebbar machen, das man in der Form mit Architektur gar nicht erleben kann. (…) Als optischer Mensch hat mich das feine Sichverändern dessen, was man sieht, während man um ein Acrylglasobjekt herumgeht, interessiert. (…) Mich interessiert die Bühnenhaftigkeit, die Kunstwelt.» (E. Bermann, 2005) Evelyne Bermann lebt und arbeitet in Schaan, Liechtenstein. 1967–1972 Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Zürich, Fachklasse für Grafik. Designerin in Ateliers in Amsterdam, Genf und Tel Aviv. 1975–1985 Grafikerin und Werbeleiterin in einem Industriebetrieb in Liechtenstein, 1985 eigenes Grafikatelier. Seit 1976 freies künstlerisches Schaffen, ab 1992 Konzentration auf Kunst: Projekte für Kunst-am-Bau, Skulpturen und Wandobjekte in Feueremaille, seit 2000 Objekte in Acrylglas und Rauminszenierung; Ausstellungen in FL, CH, D, I, A, USA.
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GKB
T E X T: F R I DO L I N J A KOB ER , B E AT S T U T ZER ( K U N S T )
F OTOS: S T EPH A N SC H EN K , R A L PH F EI N ER , A L I C E DA S N E V E S V I EI R A
DIE SAMMLUNG DER GRAUBÜNDNER KANTONALBANK ZEITGENÖSSISCHE BÜNDNER KUNST – DAS IST DER SAMMLUNGS SCHWERPUNKT DER GR AUBÜNDNER K ANTONALBAN K (GKB). AN 73 STAN DORTEN IM K ANTON G R AU B Ü N DE N S I N D DIE WERKE DER SAMMLUNG PR ÄSENT FÜR KUNDEN, MITARBEITENDE UND BESUCHER.
Alois Vinzens, CEO Graubündner Kantonalbank «Unsere Kunstsammlung ist gleichzeitig Ausdruck und Botschafterin unserer eigenen Wertehaltung – in und für Graubünden.» Als die Graubündner Kantonalbank 2005 ihr Kundenhaus an der Poststrasse nach Umbau und Renovation der Bevölkerung präsentierte, war die Nähe der Bank zur modernen Kunst plötzlich nicht mehr zu übersehen. Denn seither wirkt die blaue Betonschale von Christoph Haerle mit dem Titel «Die Tränen der Lucrezia» als Eyecatcher am Eingang zur Altstadt von Chur, während die Bilderfriese von Elisabeth Arpagaus in der neuen Kundenhalle die Architektur von Jüngling und Hagmann sorgsam unterstützen. Doch die Verbindung von Bank und zeitgenössischer Bauplastik zeigt sich schon am historischen Hauptsitz, welcher hier von 1909 bis 1911 entstand. Am Bauwerk, das mit Otto Schäfer und Martin Risch zwei jüngere Churer Architekten geplant hatten, zeigten der Bildhauer Wilhelm Schwerzmann und die Maler Christian Conradin und Augusto Giacometti ihr Können. Das Bankgebäude selbst ist also ein architektonisches Kunstwerk, welches den Geist von Chur und von Graubünden verkörpert und nach der Jahrhundertwende eine Bündner Renaissance einläutete. Ähnlich sorgfältig und bewusst zeigt sich der Umgang mit Kunst und Baukunst am Kundenhaus von 1981 an der Engadinstrasse, wo 2009 das neue Auditorium der GKB in der Form eines facettenreichen Edelsteins eröffnet wurde. Die Skulptur von Matias Spescha beim Eingang sowie die Leuchtskulpturen von Daniela Keiser und Arno Hassler schaffen hier zusammen mit der Architektur von Jon Domenig und Marcel Caminada eine Visitenkarte für Kundschaft, Wirtschaft und Kultur. Über 1700 Werke umfasst die Sammlung der Graubündner Kantonalbank inzwischen. Angekauft wird fast ausschliesslich Bündner Kunst, meistens von zeitgenössischen Künstlern und Künstlerinnen. Denn so wie früher Mäzene das Schaffen von Künstlern förderten, übernimmt heute die Bank diese wichtige kulturelle Aufgabe. Bei der Anschaffung arbeitet die Graubündner Kantonalbank eng mit Künstlern, Galeristen und dem Bündner Kunstmuseum zusammen. Der Wert der Sammlung liegt also auch darin begründet, dass sie Jahrgang für Jahrgang das bildnerische und skulpturale Schaffen des Kantons dokumentiert. Neben den Werken aus dem öffentlichen Raum zeigen die folgenden Seiten Werke von Künstlerinnen und Künstlern rund um den Geburtsjahrgang 1962 – ein spannender Ausschnitt dieser Sammlung, von der rund 95 Prozent öffentlich zugänglich sind. Auch zur Freude der Kunstgeniesser.
HANNES VOGEL (*1938), oben Stuhl, 1963, Öl auf Pavatex, 98 x 98 cm Zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit war der bekannte Videound Konzeptkünstler auch Maler. Seine frühen Bilder von 1963 arbeiten mit dem Zufall und zeigen das intellektuelle Denken Vogels. So ist der Stuhl mit den zwei Beinen und den grünen Socken ein Bild für das Alleinsein.
MARKUS CASANOVA (1962–2003), rechts Torso, 1999, Jurakalkstein, Höhe 80 cm Die Arbeit mit dem Stein, die der früh verstorbene Bildhauer Markus
Casanova Zeit seines Lebens unermüdlich anging, mutet unzeitgemäss an. Durch Heraushauen und Wegschlagen zwang er dem Stein in der «taille directe»-Technik Form und Struktur auf. Dieser Torso zeichnet sich durch eine höchst bewegte Oberflächenbehandlung aus. Die aggressiven wie nervösen Spuren der Bearbeitung bleiben willentlich sichtbar. Der Torso erscheint ungemein belebt, wobei die taktilen, emotional aufgeladenen Schichten in einem spannungsvollen Dialog mit dem hieratisch ruhenden Block stehen. Fern jeder Abbildhaftigkeit berührt der Torso durch seine archaische Präsenz: Er ist der Zeit merkwürdig entrückt, trifft aber den Kern menschlicher Existenz.
KURT CAVIEZEL (*1964), Seite 38, links Bus Stop 7, 2005, Fotografie / Bus Stop 3, 2004, Fotografie / Bus Stop 5, 2004, Fotografie / Bus Stop 6, 2004, Fotografie, alle 54 x 72 cm Wie ein herkömmlicher Fotograf durchforscht Kurt Caviezel die Welt – doch seine Erkundungsreisen sind virtuell und erfolgen am heimischen Bildschirm. Seine «Aufnahmen» des Bus Stop stammen von Webcams, welche Caviezel filtert, auswählt und für sich festhält. Mit dem vierteiligen Werk thematisiert der Künstler die Vermischung von virtueller und realer Welt. Das Zufällige und Alltägliche drückt die voyeuristische und narzisstische Welt aus, in der sich Öffentliches und Privates vermengen.
CHRISTOPH HAERLE (*1958), Seite 38/39, Mitte Die Tränen der Lucrezia, 2005, Rieselbrunnen Mit seinem Konzept – das sich gegen vier Konkurrenzprojekte durchsetzte – reagiert Christoph Haerle auf die räumliche Erweiterung des kleinen Platzes zwischen dem neuen Kundenhaus und dem «Alten Gebäu» und auf die Neigung der Platzfläche. Eine imposante, blau eingefärbte und mit roten Farbverläufen durchsetzte Betonschale, aus der das Wasser geräuschlos abfliesst, setzt einen «malerischen» Akzent und setzt die reiche Brunnentradition der Stadt Chur mit einem zeitgenössischen Beitrag fort. Die asymmetrisch gegossene Schale ist doppelt so stark geneigt wie der Platz, der horizontale Wasserspiegel steht dazu in einem spannungsvollen Verhältnis.
wurde. Dieser wunderbare Farbteppich wird im nächsten Moment vom Wind weggeblasen und von der Flut überspült.
MIGUEL A TAMÒ (*1962), Seite 40, oben
blu, 2005, Kohle auf Papier, 150 x 205 cm Bei «blu» von Miguela Tamò handelt es sich um eine eigentliche Bildhauerzeichnung, die aber – schon wegen ihres grossen Formates – eine autonome Qualität hat. Das amorphe, organische Objekt scheint schwerelos zu schweben wie ein fliessender, «atmender» Körper voll zarter, geradezu geheimnisvoller Poesie und zugleich sinnlicher Präsenz. In jüngerer Zeit wurde die Plastikerin mit ihren intensiv blauen, roten und gelben Kör per n aus Epox id harz, Polyurethan und Pigment bekannt.
ELISABETH ARPAGAUS (*1957), Seite 39, rechts Jacumà, 1999, 3-teilige Serie, Fotografie, je 60 x 90 cm Seit vielen Jahren widmet sich Elisabeth Arpagaus, deren Bilderfriese auch die neue Kundenhalle am Postplatz gestalten, dem unergründlichen Phänomen der Farbe und nutzt ihr Potenzial als gestalterisches Element. Mit den drei Fotografien hält sie ein riesiges Farbfeld aus gelben Pigmenten fest, welches im Sand eines Strandes ausgelegt
Quelle für die Texte zu den Künst lern und Künstlerinnen: «Architektur und Kunst», Eine Publikation der Graubündner Kantonalbank GKB, Chur 2006.
Im neuen Auditorium: Leuchtskulpturen von Daniela Keiser und Arno Hassler. Oben links: Kristall, unten links: Pyrit, rechts: Diamant.
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HANS RUDOLF WE BE R , E RLE NBAC H
T E X T: A N D R I N SC H Ü T Z
F OTOS: A N D R E A B A D RU T T
TOPOGRAFIEN DES WAHRSCHEINLICHEN «DAS MÖGLICHE IST BEINAHE UNENDLICH, DAS WIRKLICHE STRENG BEGRENZT, WEIL DOCH NUR EINE VON ALLEN MÖGLICHKEITEN ZUR WIRKLICHKEIT WERDEN KANN. DAS WIRKLICHE IST NUR EIN SONDERFALL DES MÖGLICHEN UND DESHALB AUCH ANDERS DENKBAR. DARAUS FOLGT, DASS WIR DAS WIRKLICHE UMZUDENKEN HABEN, UM INS MÖGLICHE VORZUSTOSSEN.» FRIEDRICH DÜRRENMATT
Ein frühmorgendlicher Besuch bei Hans Rudolf Weber, der erste Schritt bereits ins Erlenbacher Wohnatelier des 1935 in Chur geborenen Künstlers, erweist sich als Gang in ein Territorium des vordergründig Vagen. Man findet nicht sofort seine Balance, ist man doch unvermittelt umgeben von vielfach in der komplexen Glaskonstruktion reflektierten Objekten, Bildern, Möbeln. Die Welt ist das, was der Fall ist (Wittgenstein). Oder das, was möglicherweise der Fall sein kann? Es gelingt jedoch sogleich, sich in dieser Architektur des Daseins einzurichten: Der vagen Vielfalt der ungewohnten Umgebung liegt eine beinahe akribische Struktur zu Grunde. Ein erster Augenschein der Werke sorgt erneut für eine Schwebe. Ein Augenblick der Konzentration wiederum baut auch hier die Brücken: Hans Rudolf Weber ist ein Denker, sein Medium die Kunst. Nach einer ersten Auseinandersetzung mit der klassischen realistischen Landschaftsmalerei (1982 bis 1989) findet er den Weg in eine erste eigene Bildsprache. Vorerst zwar bleiben Landschaft, Natur und Stimmung inneres Motiv, gleichzeitig aber unternimmt der Künstler erste Schritte in die Abstraktion. Es entstehen formal strenge, dennoch musische und farbintensive Kompositionen. Eine erste Möglichkeit jenseits der Wirklichkeit ist in der Semantik des Traumhaften gefunden.
Das Traumhafte, jene Sprache, jene mögliche Topografie verinnerlichter Wirklichkeit soll Hans Rudolf Weber über die nächsten Jahre in der Basis in einem kontinuierlichen Prozess des Auf bruchs und der Reformulierung der Bildsprache erhalten bleiben. In den Vordergrund jedoch tritt das gedankliche Motiv. Die Kompositionen werden strenger, das Wort, die eigene Grammatik bekommt Gewicht, erste Kalligrafien halten Einzug in die Werke. Der Künstler erfindet sich in der Möglichkeit seiner Zeichen neu. Nach einer intensiven Erkundung des Inneren erfolgt 2005 erneut eine Wendung nach dem Aussen hin: Die Kombination von Fotografie, Datenstrukturanalyse und Malerei schliesst den Abgrund zwischen Innen und Aussen, Nähe und Distanz, Möglichkeit und Wirklichkeit. Es entstehen stilisierte Frauenporträts, Landschaften, verfremdet durch das Kaleidoskop ihrer Topografie, aber auch Porträts von Schriftstellern, Sängern und Künstlern. In dieser neuen Syntax der Verfremdung findet die Suche nach der eigenen Sprache ihr vorläufiges Sediment. Hans Rudolf Weber hat sich so seine Topografie der Wahr-Scheinlichkeit erdacht. Die Realität – umgedacht in die je eigene – lässt ihn ins strukturelle Spannungsfeld zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit vor stossen.
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GE RTRUD KOHLI , RUGGE LL /LIEC HTE NSTE IN
T E X T: F R I DO L I N J A KOB ER
F OTOS: A N D R E A B A D RU T T
WENDEZEITEN GERTRUD KOHLI 2005 ERSCHIEN UNTER DEM TITEL «MOMENTE» EINE R E TROS P E KTI V E 2 0 0 5 B I S 1975 M IT B I LD E R N VO N GERTRUD KOHLI UND TEXTEN VON DER UND ÜBER DIE LIECHTENSTEINER KÜNSTLERIN. DEUTLICH STEHT DIE NATUR IN DIESEM LEBENSWERK MODELL – VOM BL AU DER IRIS BIS ZUR FORM DES GR ASES. DOCH SOBALD DER BLICK BEI IHREN JÜNGSTEN ARBEITEN ZUPACKEN WILL , WIRD ER ZUR SCHWEIFENDEN ENTDECKUNGS REISE , DIE ZURÜCK ZUM ANFANG FÜHRT.
«wir sind natur, in beziehung mit ihr sein, heisst leben. teil sein im kreislauf ‹naturmensch› und aus diesem dauernden prozess der veränderung formen schöpfen – momente der wahrnehmung sichtbar machen, die nicht so einfach sichtbar sind.» So schreibt Gertrud Kohli über ihre Verbindung zur Natur, in der sie wurzelt und die ihr seit Jahrzehnten Inspirationsquelle ist und Modell steht. Gertrud Kohli wurde 1945 als drittes von neun Kindern in einer Bauernfamilie in Ruggell geboren; ihre Bodenständigkeit erscheint also gewissermassen genetisch. Tatsächlich aber führte sie ihre Reisen bis nach Amerika, Afrika und nach Australien zu den Aborigines – wo sie immer wieder auf die Ur-Verbindungen des künstlerischen Menschen mit der Natur traf. Schnitt in die Gegenwart, zum Auftritt im «Almanach 2008. Bildende Kunst in Liechtenstein»: Ein Fotoporträt zeigt Gertrud Kohli, wie sie nachdenklich ein «Wassertuch» betrachtet. Ein Leintuch, welches sie während eines Kunst-Events im «Riet», dem Moor von Ruggell, versenkte und nach Monaten wieder herausfischte. Die Natur, das Wasser, die darin gelösten Materialien, der Boden, das Sonnenlicht und die Umwelteinflüsse haben das Tuch gegerbt. Sein zerfallener, zersetzter Leib ist aufgeworfen zu Hügelzügen, in die der Rhein eingebettet liegt – als hätte die Natur selber ein Relief schaffen wollen. Die Moorlandschaft verändert alles und ist zugleich selbst komplexer Organismus. Gertrud Kohli dazu: «die natur gleicht einem grossen organ der verwandlung, alles ist teil dieser veränderung – auch der mensch. der natur entgeht nichts. begibt man sich auf die suche nach dem ‹wunder› natur, entdeckt man eine unendliche vielfalt. ein komplexes system, in dem sich jedes ding andauern verändert, sich bewegt. eine form, eine figuration, ein fragment scheint auf und erlischt, und doch ist die natur konstant, sie bleibt sich selbst. ein wunderbarer aspekt dieses prozesses ist eine erscheinung, die sich selbst offenbart: aus dem morast erblüht die iris.» Von Beginn weg drehte sich das künstlerische Schaffen Gertrud Kohlis um die Einflüsse der Landschaft auf unser Wahrnehmen. Dabei stellt sie beim modernen Menschen einen wachsenden Verlust des Bezugs zur Erde und zum Boden fest: «durch die industrialisierung und die technisierung der arbeitswelt, auch der landwirtschaft, ist das hineingehen und das berühren der erde verloren gegangen.» Und sie stellt provokativ die Frage: «wie ist die beziehung zur erde heute, wenn wir der zeit entsprechend dem diktat der materialisierung und intellektualisierung kritiklos folgen?» Gertrud Kohlis Werke nach 2002 lassen sich ausnahmslos als vielfältige und immer neue Antworten auf diese Frage lesen. Zu diesem Zeitpunkt überschreiten Kohlis Arbeiten eine Grenze, die ihr von einer Allergie auf Lösungsmittel gesetzt wird, welche die Künstlerin aber seither in ihrer Zeichenhaftigkeit für das Weiterleben fruchtbar macht. Damals schuf sie das Werk «Corpus». Sie separierte, so Johannes Inama, «in einem gleichsam rituellen Akt die Farbpigmente aus ihren Bildern, stellte sie in fünf Plexiglaswürfeln aus und arbeitete in der Folge radikal reduziert, meist nur mehr in Schwarz-Weiss.»
Schon im ersten Werk nach der «Wende» erscheinen Körperzeichen. Sie gleichen Zeichen der arabischen oder chinesischen Schrift und erinnern an eine Urschrift, wie sie einst die ersten Menschen gebraucht haben könnten. Dieses «alphabet des lebens», in Acryl auf Hart faserplatten geschrieben, entlehnt seine Formen aus den über tausend Aktzeichnungen, welche Gertrud Kohli zwischen 1975 und 1985 mit Tusche, Kohle, Rötel, Bleistift und Tinte geschaffen hat. Hier wird das «Paradies der Körper» zum Zeichen, das sich sowohl des realen Körpers wie auch seiner Bedeutung entledigt. Deutlich wird dieser Verschriftlichungsprozess an der Lithografie «figurationen» aus dem Jahr 2004, wo der Übergang von der Körperform zur Schriftform fassbar wird. Seither entstand eine überraschende Fülle von neuen Zeichen in einem Prozess, wie er einst bei der Erfindung der Alphabete Pate gestanden hat. Das «Schriftzeichen», welches von Bedeutung und Bild befreit ist, verdichtet in sich die Phasen seiner Entstehung, die Skizzen, die zu ihm geführt haben. Auch im Zyklus «das magische quadrat» verfolgt Kohli diese Verdichtung des Körpers im Schriftzeichen. 2003 ging Gertrud Kohli von der Zeichenhaftigkeit des Körpers aus. Ihre jüngsten Bilder verlagern den Fokus zurück in die Natur, wobei Natur und Mensch zusammen gefeiert werden – im Flüchtigen, das ihnen anhaftet. Gertrud Kohli stellt sich der Herausforderung dieses Schemenhaften. Organisch anmutende Grundformen erscheinen auf einer Fläche, die kupfern schillert. Verschlungen, untrennbar – manchmal als Kippfiguren, embryonal. Zu diesen Werken gehören neben «inkarnation» von 2006 und den 15 Bildern von «tanz der kreaturen» auch die Lithografie «nature-being» (2008). Als Materia lien kommen Asche und Erde ins Spiel, die – zusammen mit Acrylweiss – auf die liegende Leinwand aufgetragen werden. Den Formen und Gestalten in diesen Werken haftet oft etwas Zufälliges und doch gleichzeitig organisch Gewachsenes an. Sie sprechen von den Torftümpeln, die den Himmel spiegeln, von den letzten Schneeflächen, die in tanzenden Figuren sich auflösen, von Tauwasser auf dem Asphalt. Abstraktionen der Natur, die Bild werden durch Gertrud Kohli. Sie leistet in sich das Vorwärts der Perzeption und die Ausdehnung aufs Medium – die Leinwand, die Holzplatte – und damit das höchste dem Menschen Zugedachte: die Vereinigung des Geistes mit der Materie. www.gertrudkohli@powersurf.li
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RE MO ALBE RT ALIG , FLIMS
T E X T: B E AT S T U T ZER
F OTOS : A N D R E A B A D RU T T, M A R I O N N A F O N TA N A
REMO ALBERT ALIG VON EINEM VIELSEITIGEN KÜNSTLER ZU SPRECHEN, IST UNTERTRIEBEN. REMO ALBERT ALIG IST IN SEINER HALTUNG VIELMEHR MIT DEM UNIVERSALEN KÜNSTLER DER RENAISSANCE VERWANDT: ER VERBINDET MALEREI, LITER ATUR , PHILOSOPHIE , ALCHEMIE , MYSTIK UND VOLKSKUNDE ZU EINEM HERMETISCHEN KOSMOS, ZU EINEM FASZINIERENDEN, WEIL VIELSCHICHTIGEN UND HINTERSINNIGEN ŒUVRE.
Ein Blick in das Atelier eines Künstlers, den Ort der Werkgenese, ist nicht nur bezüglich der Arbeitsbedingungen aufschlussreich. Aligs Werkstatt in Flims ist bescheiden, aber praktikabel, zumal der Künstler oft auch im Freien arbeitet. Neben eigenen Arbeiten fällt der Blick auf manch anderes, das auf das genuine Interesse des schöpferisch Tätigen verweist: Hoch auf einem Gestell thront ein ausgestopfter Rabe: das Sinnbild für die Weisheit, aber auch das heilige Tier in der griechischen Mythologie und die aufgrund der mystischen Bedeutung böse Kreatur im Christentum. In einer Ecke hängt verschämt ein kleines Ölgemälde, wohl aus dem 18. Jahrhundert, das genrehaft einen Alchemisten beim Destillieren zeigt. Über dieser Darstellung hängt nicht zufällig ein älterer Druck mit der Darstellung des Todes als Knochenmann. Und was auffällt: Man sieht nicht die üblichen Farbtuben und Pinsel, sondern bemerkt ganze Sammlungen ungewöhnlicher Arbeitsmaterialien wie Harze und Pigmente, Schellack und Kupfer, Weinstein und Erdpech, Asche und Bienenwachs, Vogelfedern und Blütenstaub. Remo A. Alig bringt nicht nur sein breites Interesse für Literatur, Mythologie, Kosmologie, Alchemie oder Malerei in seine eigene Arbeit ein und verknüpft es miteinander, sondern er verfolgt zugleich die Strategie, sein Werk nicht linear, sondern auf mehreren parallelen Ebenen weiterzuentwickeln. Trotz der unterschiedlichen Ansätze und ungeachtet der unterschiedlichen Materialität zwischen Festgefügtem und Ephemerem zieht sich ein einziger roter Faden durch sein Schaffen: die Intention, komplexen Phänomenen einen bildnerisch adäquaten Ausdruck zu geben. Dabei wird ein breites Spektrum an Möglichkeiten ausgelotet. Es reicht von Interventionen im öffentlichen Raum bis zu Tafelbildern, von skulpturalen Installationen bis zu fast unscheinbaren Gesten. Wenn sich Remo A. Alig in den jüngsten Werken mit aufgefundenen Bruchstücken von Marmorplatten beschäftigt, diesen eine Schrift einmeisselt und damit einen inhaltlichen Sinn verleiht, bringt er manchen tief gründenden Aspekt zur Anschauung: Die lastende Schwere des festgefügten Steins dialogisiert mit seiner Oberfläche, wo sich durch das Schleifen der lichte Himmel mit seinen schlierigen Wolkenstreifen abbildet. Und schon sind die Verhältnisse von Oben und Unten, von Schweben und Tektonik ins Gegenteil gekehrt – und die Orientierung in der Welt gerät ähnlich ins Wanken wie bei Piero Manzonis «Socle du monde» von 1961. Diese Arbeiten gemahnen an ältere Werke, bei denen Ähnliches, aber in anderer Prägung, thematisiert wurde. Im Herbst und Winter 2005/06 schuf Alig im öffentlichen Raum der Stadt Paris poetische, vergängliche Arbeiten. Auf der Ile St. Louis befreite er ein Steinband am Ufer der Seine von Algen und Flechten, die sich als Patina der Zeit gebildet hatten, derart, dass er gleichsam einen akkuraten, aber vergänglichen Schrift zug inskribieren konnte: eine verbale, vertrackte Poesie im Dialog mit der Stadtlandschaft. Oder im künstlich angelegten Parc des Buttes Chaumont legte Alig in einer Grotte durch die rituell anmutende Reinigung des Steinbodens einen Text frei, der an ein Epitaph gemahnt. Fast programmatisch mutet retrospektiv der performative künstlerische Akt Aurea hora vom 21. Juni 2007 an, als er am längsten Tag, der Sommersonnenwende, die drei Chorfenster von St. Martin in Chur reinigte und vom abgelagerten
Schmutz befreite. Mit der Aktion wurde im wahrsten Sinn des Wortes Licht ins Dunkel gebracht, indem die eigentlich transparente Membran, die Scheidewand zwischen Aussen und Innen, zwischen Licht und Dunkelheit, wieder zur vollen Wirkung gebracht wurde – und als Nebeneffekt wieder zum Bewusstsein brachte, dass ein Glasfenster einzig dank des Lichtes überhaupt wahrnehmbar ist. Das Schmutzwasser wurde in zwei Phiolen abgefüllt, um es bis zum 1. November (Allerheiligen) ruhen, gären und durch die Kraft des Sonnenlichts reinigen zu lassen, um damit den Kreislauf wieder zu schliessen oder: Die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft, Erde wurden zur Quinta Essentia vereinigt. Mit der antiken Lehre der vier Elemente, die im späten Mittelalter zur Trinität reduziert wurde, und expliziter mit den drei Stufen der Alchemie hat sich Remo A. Alig bereits 2005 in einem umfangreichen Zyklus von Tafelbildern auseinandergesetzt und sich damit
gleichzeitig mit der Wirkung und Bedeutung der Farbe im Bild beschäftigt: mit dem Urzustand der Materie, dem Schwarz (nigredo), das von Fäulnis und Unreinheit gereinigt werden muss, bis es zur Sol niger mutiert, mit dem Weiss (albedo) als Metapher für Vergeistigung und Erleuchtung sowie mit dem Rot (rubedo), das die Gegensätze aufhebt und das Begrenzte mit dem Unbegrenzten vereint. Die Alchemie als Zweig der Natur philosophie fasziniert Alig deshalb, weil es keineswegs nur um die Suche nach dem Stein der Weisen geht als vielmehr unter Einbezug der Astrologie um chemische Prozesse, um Transmutationen der Elemente, um die prima materia. Wenn der Künstler fortan natürliche Materialien wie Blütenstaub, Russ, Asche, Kupfer, Schellack, Blei, Schwefel, Erdpech, Harz, Meerwasser, Salz, Sepia oder Bienenwachs in ebenso frappanten Kombinationen für das geduldige, obsessive und kontemplative Hervorbringen seiner Bildtafeln verwendete, so hat dies weniger mit blosser Experimentierlust zu tun als primär mit der Evokation inten-
dierter Stofflichkeit und schier haptischem Oberflächenreiz sowie mit inhaltlich definierten Prämissen. Alig arbeitet mit konzeptueller Schärfe mit Begriffspaaren, mit Gegensätzen. Das bei Alig charakteristische Sfumato verweist nicht nur auf die Malerei der Renaissance, sondern ebenso auf die abendländische Lichtmetaphorik. Es suggeriert gleichzeitig Licht und Dunkelheit, changiert zwischen spiegelndem Glanz und stumpfer Mattheit, scheint sich da aufzulösen und dort zu verdichten. Es sind – wie bei Aligs literarischen Texten – enorm verdichtete Destillate. Bei anderen neueren Werken arbeitet Remo A. Alig mit Kohlepapier. Mit einer Hermes 3000 – unvermittelt denkt man an Hermes Trismegistos, den vermeintlichen Verfasser der nach ihm benannten hermetischen Schriften – wird ebenso assoziativ vorgegangen. Die aufs Kohlepapier gebrachte Schrift erzeugt ausgestanzte Durchschläge, was auf dem weissen Hintergrund einen Sternenhimmel oder
das Luftbild einer nächtlichen Stadt suggeriert. Alig nimmt die «Correspondance» zum einen konkret, zum anderen im übertragenen Sinne als Beziehungen und Analogien. Da verwundert es nicht, wenn der Künstler diese nach bestimmter Ordnung gefalteten Blätter unvermittelt mit dem enigmatischen Gemälde «Flucht nach Ägypten» von Adam Elsheimer in Verbindung bringt (1609, Alte Pinakothek, München). Auch bei Remo A. Alig gilt, was die Qualität von Kunst ausmacht: ein optisches, sinnlich wahrnehmbares Ereignis, das indes hinter die reine Anschauung zielt und bei einer fortgesetzten Auseinandersetzung eine Schicht um die andere offenbart.
www.luciano-fasciati.ch www.alig-kunst.ch
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THOMAS Z INDE L , C HUR
T E X T: A N D R I N SC H Ü T Z
F OTOS : A N D R E A B A D R U T T
THOMAS ZINDEL DIE STETE FORM DES STÄNDIGEN WANDELS «OH MENSCH! GIB ACHT! WAS SPRICHT DIE TIEFE MITTERNACHT? ICH SCHLIEF, ICH SCHLIEF – AUS TIEFEM TR AUM BIN ICH ERWACHT: DIE WELT IST TIEF – UND TIEFER ALS DER TAG GEDACHT.» FRIEDRICH NIETZSCHE , ALSO SPR ACH Z AR ATHUSTR A , 1886
Es ist Samstag. Ein stiller, eisig kalter Novemberabend, den wir wie so oft bei Wein und Gespräch in der gemütlichen Bar des Hotels «Marsöl» in Chur verbracht haben, scheint sich mit dem letzten Glockenschlag der Martinskirche seinem Ende zuzuneigen. Es ist gerade Mitternacht vorbei. Den ganzen Abend über schon sitzt Thomas Zindel konzentriert und dennoch unruhig in seinem Polstersessel, hört zu, spricht wenig und leise. Unvermittelt, mit diesem letzten Glockenschlag, kommt Bewegung in den Künstler. Er ruft ein Taxi, verkündet, er wolle, ja er müsse uns nun etwas zeigen. Ein Bruch stehe an, eine Veränderung. Zu viert setzen wir uns ins Taxi, organisieren unterwegs noch eine Flasche Wein und fahren nach Felsberg ins Atelier des Bündner Malers. Voller Enthusiasmus, gleichzeitig voll unsicherer Erwartung, richtet Thomas Zindel im nun hell erleuchteten Atelier die Scheinwerfer auf seine neuesten Werke, zieht sich zurück, setzt sich an seinen Zeichentisch und wartet schweigend. Viel ist geschehen in diesen letzten Tagen einsamer Arbeit im Atelier. Farbtöpfe, Pinsel und Leinwände türmen sich; auf, unter und neben der grossen Staffelei, die wie immer mitten im Raum steht. Eigentlich ist alles wie immer. Trotzdem aber vieles verändert. Ein neuerlicher Aufbruch im Schaffen des Künstlers zeichnet sich ab: Wir sehen uns mit neuem Pinselduktus, mit neuen Farben, mit neu geordneten Zitaten von Kompositionen und Motiven der letzten zwanzig Jahre konfrontiert, trinken Wein, betrachten schweigend, was uns umgibt, im Wissen, dass: «Nur eines bleibt: Eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert.» Georg Büchner, Lenz, 1839 Das Zitat aus der Novelle des Dichters Georg Büchner, das Beat Stutzer, Direktor des Bündner Kunstmuseums, 1995 einer Publikation über das druckgrafische Werk Thomas Zindels vorangestellt hat, erweist sich heute – viele Jahre später – mehr denn je als die richtige Wahl, will man Werk und Werdegang des 1956 geborenen Bündner Künstlers Thomas Zindel in kurze, aber prägnante Worte fassen. So steht am Anfang des künstlerischen Schaffens – analog der Figur des Lenz, die letztendlich tragisch an der Grösse und Einsamkeit des Daseins in der Landschaft des Gebirgs zerbricht – die Frage nach sich selbst; die Frage nach der eigenen menschlichen und künstlerischen Existenz.
Zindels frühe Jahre sind ein Spiegel seiner Auseinandersetzung mit den Themen des Intim-Menschlichen und des Zwischenmenschlichen. Der behutsame Strich dieser frühen zeichnerischen und grafischen Arbeiten vermag es, uns die basalen Themata nackter Existenz voller Feingefühl und dennoch in unverblümter Radikalität vor Augen zu führen. Es entstehen Arbeiten und Arbeitszyklen wie «das Haus der Unruhe», «unruhige Nacht», «offene Tätowierung», «die Geste des Liebens», «der sterbende Gott» und andere. Es sind allerdings nicht allein archetypisch menschliche Begebenheiten, die den Künstler beschäftigen. Parallel beginnt seine Auseinandersetzung mit der Landschaft, die den Menschen in seinem Dasein umgibt. Es entstehen abstrakte Landschaften, die den Betrachter durch ihre Motivik, ihren vehementen Pinselduktus sowie die Zindel eigene Farbspannung in ihren Bann zu ziehen vermögen. Der Mensch sieht sich hier dem Dasein, der Landschaft, dem Gebirg («Lenz») ausgesetzt. Die Ahnung des Absoluten, das Verlangen nach jener «unendlichen Schönheit» wird spürbar. Anders als Büchners Lenz jedoch zerbricht Thomas Zindel weder an der Unbarmherzigkeit der Landschaft, die ihn umgibt, noch an den Schwierigkeiten seines Daseins als Mensch und Künstler. Er beginnt, eine neue Farb- und Formensprache zu entwickeln. Während Aufenthalten in Peyriac de mer und später in Paris entstehen erste Arbeiten, die sich mit der Frage nach dem Absoluten, der Schönheit und den Möglichkeiten des Daseins in neuer, veränderter Form auseinandersetzen. Thomas Zindel wählt die Formensprache so elementarer als auch ambivalenter Symbole wie Brunnen, Amphore, Fisch, Brot. Die Motive tragen vordergründig den Charakter menschlicher Grundbedürfnisse, sind aber nicht frei von transzendentaler Metaphorik. Der Schritt in die Sprache des Absoluten gelingt. Erkennt man in Pinselduktus und Farbspannung dieser Arbeiten noch die tiefe Verwandtschaft mit den vorangegangenen Landschaften Zindels, verändert sich Mitte der Neunzigerjahre die Farbund Formensprache des Malers evident. Eine Reise nach Padua und die damit verbundene Beschäftigung mit den Fresken Giottos im Besonderen und mittelalterlicher Kunst im Allgemeinen führt zu einem Bruch im Werk des Künstlers: Es entstehen abstrakte Ikonen, in denen die Stille, der Goldgrund, die Konzentration und die Mathematik der Komposition dominieren. Dasein und Landschaft sind in Form und Grund des Absoluten gebannt. Nach jahrelanger intensiver Arbeit an den Werkzyklen «noli me tangere» und «stations of the cross», die im Zeichen der Beschäftigung mit Giotto und der Metaphysik des Mittelalters stehen, wagt Zindel erneut den Schritt in die Veränderung, den Schritt zurück in die Landschaft.
Anders als in früheren Werken nimmt der Künstler nun die Landschaft nicht mehr nur als ein ihn Umgebendes wahr, sondern vielmehr als Territorium, als sein Territorium. Basierend auf einer Installation, die er im Jahre 2005 zusammen mit seinem Bruder Reto Zindel realisiert hat, wird der Begriff des Territoriums während dreier Jahre zum bestimmenden Moment im Schaffen des Bündners. Der Betrachter sieht sich komplex konstruierten Linienkompositionen gegenüber, die aber keineswegs die Konzentration und die Stringenz der vorangegangen Ikonen verlieren. Landschaft, Absolutes und die Suche nach Schönheit finden sich so als Territorium der Kunst. «Land’s End», der im Herbst 2009 begonnene, aktuelle Werkzyklus Thomas Zindels, blättert erneut die unendlichen Seiten begangener Landschaften und Territorien auf. Pinselduktus, Farb- und Formensprache greifen die Arbeitsweisen früher Landschaften und früher figurativer Motive auf. Die wieder auflebende Kraft des einst jungen Malers geht mit der Konzentration des gereiften Künstlers einher und lässt den Betrachter die Komplexität und das Gewicht der Komposition eines Werkes erfahren, das im Kern stets dieselbe Frage stellt und doch immer aus einer Form in die andre tritt. «Land’s End»; diese äusserste, geschichtsträchtige Landzunge im Westen Englands wird zur viel sagenden Metapher des «Darüberhinaus», des Willens zur Transzendenz und damit des Überschreitens bisheriger Territorien und Grenzen im schier unerschöpf lichen Repertoire von Thomas Zindel. Wir fahren zurück in die Stadt, an diesem Abend, unterhalten uns mit dem uns wohlbekannten Fahrer – es ist der gleiche wie vorhin – über seine Herkunft. Er kommt aus Uri und erzählt uns vom dort Erlebten. In der Bar brennt noch Licht. Eine kleine Gruppe sitzt noch immer dort versammelt. Thomas Zindel lässt sich in einen Sessel fallen, spricht nun viel: über die Liebe, über die Kunst, über die Liebe zur Kunst, um wenige Stunden später, frühmorgens, in seinem Atelier weiterzuarbeiten. Denn er ist sich nun sicher: Das Land ist nicht zu Ende, dort, in Land’s End. Andrin Schütz, im Januar 2010
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WE RNE R MAR XE R , LÜTISBURG STATION IM TOGGE NBURG
T E X T: A N D R I N SC H Ü T Z
F OTOS: W ER N ER M A R X ER , A N D R E A B A D RU T T
WERNER MARXER SOU O INTERVALO ENTRE O QUE SOU E O QUE NÃO SOU, ENTRE O QUE SONHO E O QUE A VIDA FEZ DE MIM, A MÉDIA ABSTR ACTA E CARNAL ENTRE COISAS QUE NÃO SÃO NADA , SENDO EU NADA TAMBÉM. QUE DESASSOSSEGO SE SINTO, QUE DESCONFORTO SE PENSO, QUE INUTILIDADE SE QUERO! ICH BIN DER ZWISCHENR AUM ZWISCHEN DEM, WAS ICH BIN, UND DEM, WAS ICH NICHT BIN, ZWISCHEN DEM, WAS ICH TRÄUME, UND DEM, WAS DAS LEBEN AUS MIR GEMACHT HAT, DER ABSTRAKTE UND LEIBLICHE MITTELWERT ZWISCHEN DINGEN, DIE NICHTS SIND, DA ICH EBENFALLS NICHTS BIN. WELCHE UNRUHE, WENN ICH FÜHLE, WELCH UNBEHAGEN, WENN ICH DENKE, WELCHE NUTZLOSIGKEIT, WENN ICH WILL! FERNANDO PESSOA , BUCH DER UNRUHE, 1930
Man bleibt gerne da und hört ihm zu, diesem eigentlich so stillen Mann, wenn er dasitzt, seine Pfeife raucht und spricht. Das eine Bein stets locker über die Lehne geschlagen, die Augen voll vom irgendwie doch ernsten Schalk. Dort, in Lütisburg Station in den ruhigen grünen Hügeln des Toggenburgs, wo er vorerst sein Refugium gefunden hat. Spricht er über Kunst, spricht er über Form und Farbe. Und damit vor allem über Wahr nehmung. Über die eigene Wahrnehmung und über die Wahrnehmung der anderen. Den 1950 in Nendeln geborenen Künstler interessiert hier der Diskurs. Seine Werke sind beständig unbeständiges Resultat seiner Auseinandersetzung mit einer Welt der Tatsachen – der Tatsachen so, wie er sie eben gerade vorfindet. Im Werk allerdings wird Werner Marxer zum Übersetzer, zum Mittler zwischen der ihm eigenen Welt und einer möglichen Welt des Betrachters seiner Werke. Denn im Werk stehen Spruch und Widerspruch, gebiert sich Konfrontation und Versöhnung: 2 m x 2 m Spanplatte, Dispersion, Draht getackert, Leder. Das Medium ist die Collage, oder vielmehr das Collagieren, der Prozess des Collagierens. Die Kompositionen aus den konkurrierenden Materialien sind bedacht, sind konzentriert. Der resolute Draht gibt sich als feiner, kaum noch wahrnehmbarer Strich ins Bild, die Materialität des Leders löst sich auf im Schwarz des Pinselduktus, eine Reliefierung in der Spanplatte vergilbt ins Braun der aufgetragenen Farbe.
Man ist leicht versucht, die Bilder anzufassen, die Dimensionen und die diversen Ebenen taktil zu erspüren, das kaum sichtbare Widerwort zu erfahren. So, wie Werner Marxer seine Bilder dem Betrachter aussetzt, setzt er auch die Betrachter seinen Bildern aus. Berührt man die Bilder, beginnt das Begreifen sogleich zu berühren. Mit dem Finger folgt man dem Weg der Komposition, erfindet sie so neu, erfindet sie in diesem Augenblick für sich. So werden Werner Marxers Arbeiten zu einer Suche nach einem Sediment der Erfahrung. Der je eigenen und der je anderen. Vielleicht aber vergilbt das alles. Die Bilder, die Erfahrung, die Differenzen. Irgendwann. Die weisse Dispersion zerfällt ins Braun, und der Draht vermag sich doch vom Grund zu lösen. Das kleine schwarze Quadrat inmitten all des Weiss, diese begrenzte Inversion von schwarzem Raum und schwarzer Farbe schluckt den unendlichen weissen Raum, in den es expandiert. Vielleicht korrodiert
auch sie einst: diese riesige Metallplatte, der Park der Unruhe: voller Orte, voller fein eingeritzter Zitate, voller Erfahrung, voll von seiner, voll von unserer Erfahrung. Aber: Werner Marxer will es so. Denn: A f inal deste dia f ica o que de ontem f icou e f icará de amanhã: a ânsia insaciável e inúmera de ser sempre o mesmo e outro. Letzten Endes bleibt von diesem Tage das, was vom gestrigen blieb und vom morgigen bleiben wird: die unersättliche und nicht zählbare Begierde, immer derselbe und ein anderer zu sein. Fernando Pessoa, «Buch der Unruhe», 1930
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BRIGITTE HASLE R , LIEC HTE NSTE IN
T E X T G ERT G SC H W EN DT N ER
STAUB AN STAUB BRIGITTE HASLER IST IN IHRER KÜNSTLERISCHEN ARBEIT EINE AUSNAHMEERSCHEINUNG JENSEITS ANEKDOTISCHER LEBENSLÄUFIGKEIT.
F OTOS A N D R E A B A D RU T T
Trotzdem sie keine Kunsttheorien bemüht, sind ihre Kunstobjekte aktuell, eigenständig und gedanklich intensiv. Obwohl sie sich in ihren Bildern keinen Illustrationen von Worten hingibt, verfolgt sie doch sprachliche Begriffsfelder. Neben ihren bildnerischen Formulierungen wachsen knappe Texte und Wortgehölze auf den Kunstwiesen. Neben den Bildpanoramen wachsen immer wieder Literaturen aus ihrem Schaffen. Diese literarischen Texturen bilden immer auch ein Netz für Bildvorstellungen und innere Abbildungen. Bilderfindungen wecken Bilder. Sie greift mitten in Bilder hinein und holt unter deren Haut Organisches heraus. Das fügt sie dann zu einem Folgebild und wiederholt das so lange, bis umfangreiche Konsequenzketten entstehen. Aus diesen Bildfolgen liest sie einzelne aus und zeichnet sie aus, um sie zu Bildgefügen zu ordnen. Parallel dazu erfindet sie Treppenwege aus Worten entlang an Vorsilben und Nachsilben entlang an Wortkernen und schwebenden Assoziationen. Brigitte Hasler betreibt ein archäologisches Vorgehen ohne Wissenschaftlichkeit. Sie gräbt Bedeutungen aus und macht sie durch Bilder sichtbar. Sie legt Wirklichkeiten frei und serviert sie auf Worten. Ablagerungen werden kenntlich gemacht und Duchamp hinter seinem grossen Glas begrüsst. Sie nimmt den Staub von den eigenen Augen und lässt ihn auf Papier, Leinwände, Steine und Radierplatten fallen. Staub als Zeitmetapher, Staub als Aufgabe für hausfrauliche Sisyphusse, Staub als Relief auf Farbflächen, Staub. Staub als Schichtenprotokoll, Staub als Ärgernis. Nicht abstauben. Akribisch werden Staubschichten auf Schädelflächen gebettet und Fotos davon mit zähen Farbpasten beschattet. Wieder und wieder wird Staub mit Bindemitteln vermengt, auf grosse Flächen aufgebracht und tritt uns monumental entgegen.
Riesige Köpfe und kräftige elliptische Pinselbahnen grenzen Staubbereiche ein und aus. Sie spiegeln unsere Gedankenbewegungen und zeigen Denkflüsse mit ihren Sedimenten und Ablagerungen. So ergeht sich Brigitte Hasler nicht in naturalistischem Abbilden von Staub, sondern nimmt ihn als Tatsache und arbeitet mit ihm. Staub ist damit sowohl Betrachtungsgegenstand als auch Werkmittel. Sowohl Reflexionsebene als auch Malmittel. Sowohl Metapher als auch konkretes Objekt. Folgerichtig kippt ihre Arbeit auch zwischen abstrahierenden Aktionsbildern und konkreten Bildern hin und her. Grossformatige Inszenierungen und Installationen wechseln ab mit intimen Kleinformaten. Staubfahnen werden bestimmt und zu sphärischen Tiefen gestapelt. Vorsichtig bewegt sie aus ihrem Berliner Aufenthalt Stäube nach Liechtenstein und bindet sie zu Büchern. Staubworte werden beigegeben. Ich hüte mich vor groben besitzergreifenden Worten, als präzise Analyse getarnt, denn sie wirbeln den kunstvollen Staub auf, und er entzieht sich dann unserem Kunstobjekt und bloss liegen seine Bestandteile vor uns. Der Staub von Brigitte Hasler schwebt aus Sägewerken und Krematorien. Aus Buchkonserven und aus Spitälern. Ihr Staub kommt aus ihrem Leben und lässt unseren eigenen Staub in Resonanzmustern oszillieren. Projektionen auf Kirchenböden und auf Bildschirmen lässt Bildstaub im Lichtkegel tanzen, und keine Hand kann sie fassen. Es bleibt nur das gedankliche Ergreifen der Bedeutungspartikel, um daraus einen eigenen Sinn zu streuen.
Die Kunst, Werte zu schaffen. Wir verbinden Kompetenz mit Konstanz. International bedeutende Künstler wie Alberto Giacometti liessen sich in und von Graubünden inspirieren. Auch unsere Arbeit ist geprägt von Weitsicht und fortwährender Innovation. Private Banking ist für uns keine Frage des Vermögens, sondern Ihrer Bedürfnisse. Nutzen Sie unser Wissen und unsere Erfahrung für Ihren finanziellen Erfolg. www.gkb.ch/privatebanking
BÜNDNER KUNSTMUSEUM ÖFFNUNGSZEITEN: DIENSTAG BIS SONNTAG 10 BIS 17 UHR / MONTAG GESCHLOSSEN
Mit seinen Landschaftsaufnahmen prägte Albert Steiner wie kein anderer das fotografische Bild von Graubünden. Nach wie vor spielen bei vielen Bündner Fotografen die technische Perfektion, das Dokumentarische und die Auseinandersetzung mit der Landschaft eine zentrale Rolle. Diese breit angelegte Ausstellung spürt den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, den Traditionslinien und neuen Tendenzen im aktuellen Fotoschaffen nach. Gezeigt werden neben etablierten Künstlern wie Hans Danuser, Gaudenz Signorell, Guido Baselgia, Jules Spinatsch oder Florio Puenter auch weniger bekann-
fotoszene.gr Albert Steiners Erben 19. Juni – 12. September 2010
te Positionen wie Gaudenz Metzger oder Ester Vonplon. «Fotoszene. gr» ist als Recherche angeleg t und stellt in einem diskursiven Rahmenprogramm die Frage, wo die Grenzen zwischen Kunst und Fotografie verlaufen, was eine künstlerische Szene ausmacht und ob überhaupt von einer Bündner Fotoszene die Rede sein kann.
Die 1974 in Chur geborene Fotografin Bianca Brunner lebt in London, wo sie 2007 ihren Master of Fine Art Photography am Royal College of Art abschloss. Nach verschiedenen Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland findet im Bündner Kunstmuseum anlässlich des Manor-Kunstpreises ihre erste Einzelausstellung statt. Brunner spürt in langwierigen Arbeits- und Denkprozessen der Wahrnehmung von Alltäglichem und von unbewussten Erinnerungsmomenten nach und setzt diese in eigenständige, tiefgründige Bildfindungen um. Mit den präzis eingesetzten Mitteln der klassischen Fotografie hinterfragt die Künstlerin den spannungsvollen Bereich zwischen objektiver Abbildhaftigkeit und inszeniertem Konstrukt, zwischen Authentizität und Fiktion sowie zwischen dem dargestellten Gegenstand und seinem assoziativen Potenzial.
Bianca Brunner Manor- Kunstpreis 8. Oktober – 21. November 2010
Vernissage: 7. Oktober, 18 Uhr
Nach zehn Jahren, als zum Anlass des 100-jährigen Bestehens des Bündner Kunstvereins die Ausstellung «Kunst, die wir lieben» gezeigt wurde (2000), wird die traditionelle Jahresausstellung wieder einmal ausgesetzt. Ausnahmsweise fällt nicht eine Jury die Entscheide und wählt unter den eingereichten Arbeiten aus, sondern der Direktor konzipiert in eigener Verantwortung eine Ausstellung aktueller Bündner Kunst und lädt dazu die Künstler und Künstlerinnen mit ausgewählten Arbeiten ein. Vernissage: 10. Dezember, 19 Uhr
Director‘s choice. Die andere Jahresausstellung 11. Dezember – 30. Januar 2011
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ST. MORITZ ART MASTE RS
T E X T: F R I DO L I N J A KOB ER
F OTOS: S T. M O R I T Z A RT M A S T ER S
KUNST ODER KULT? AUF 1400 M Ü.M. DAS ST. MORITZ ART MASTERS – AUCH EINPR ÄGSAM SAM BENANNT – GEHT BEREITS IN SEIN 3. JAHR UND WIRD DAS ENGADIN VOM 27. AUGUST BIS ZUM 5. SEPTEMBER ERNEUT IN EINEN BRENNPUNKT FÜR KUNST UND KULTUR VERWANDELN. UNTER DEM TITEL «KUNST ODER KU LT?» WIRD SAM 2010 GE ZIE LT PRO JEKTE REALISIEREN, UM SICH IM KREIS DER RENOMMIERTEN FESTIVALS ALS EINZIGARTIGER TREFFPUNKT VON KUNST-CONNAIS SEUREN IN EINER UNVERGLEICHLICHEN LAND SCHAFT MARKANT ZU ETABLIEREN.
Miquel Barceló «Ghinigheren Fleuve des Fleuves», 2009 (oben), Courtesy: Galerie Bruno Bischof berger, Zürich/St. Moritz, SAM 2010
In europäischen Metropolen wie London oder Berlin jagen sich kulturelle Veranstaltungen im Jahreslauf. Der Wettbewerb kleiner und grosser Städte um die Reputation einer Kulturstadt wird inzwischen weltweit ausgetragen und führt zu einem immer breiteren Angebot, welches Vertiefungen oft vermissen lässt. Die kulturellen Kräfte zersplittern – und in Erinnerung bleibt das sattsam bekannte Bild einer Beliebigkeit, wenn viele Städte Europas lediglich sich selber abfeiern.
Mike Kelley Installation «Bottles», 2000 (links), Courtesy: Galerie Jablonka, Berlin, SAM 2009
Einen gegenteiligen Ansatz verfolgt St. Moritz. Denn im Engadin – einer grandiosen Landschaft, deren Bewohner mit den kargen Ressourcen des alpinen Raumes wirtschaften lernen mussten – werden auch kulturelle Kräfte gebündelt: Galerien, Gemeinden, Hotellerie und Sponsoring-Partner arbeiten mit den Initianten des St. Moritz Art Masters Hand in Hand, um diesen Kulturraum vom 27. August bis zum 5. September 2010 in ein Arkadien für Kunstliebhaber zu verwandeln. Die beiden vergangenen Jahre konnten beweisen, wie SAM ein Profil entwickelt. Die Ausgabe 2010 wird dieses Profil weiter schärfen: St. Moritz Art Masters etabliert sich als unverwechselbares europäisches Festival, welches eine gezielte Auswahl von Werken der aussagekräftigsten und bekanntesten Kunstschaf fenden der Gegenwart sowohl Fachleuten wie Liebhabern mit kuratorischer Sorgfalt in einer einzigartigen Umgebung präsentiert.
Unter der Regie von Kurator Reiner Opoku verbinden sich die Energien hochkarätiger Partner: angesehene Galerien, traditionsbewusste Hoteliers, namhafte Sponsoren und prominente Kunstwissenschaftler – allen voran Bazon Brock. Seine Frage «Kunst oder Kult?» als Leitmotiv des St. Moritz Art Masters 2010 bietet im Rahmen eines öffentlichen Symposiums mit international anerkannten Fachleuten die hervorragende Gelegenheit, den persönlichen Zugang zur Kunst zu hinterfragen und zu entwickeln: Anbet ung des Schwarzen Quadrats und Musealisierung der Altarbilder alter Meister? Museen als Tempel und Kirchen als Diskotheken? Wird Kunst zum Kult und Kult zu Kunst? Höhepunkte des St. Moritz Art Masters 2010 markieren die Installationen des Künstlerpaares Ilya und Emilia Kabakov, Präsentationen von Stephan Balkenhol, Miquel Barceló, Wim Delvoye und Jannis Kounellis, sowie die von Amedeo M. Turello kuratierte Fotografie-Ausstellung «Dawning of a New Era: The Photographer’s Journey». SAM vernetzt Ausstellungen in den ehrwürdigen 5-Sterne-Hotels «Badrutt’s Palace», «Kempinski» Grand Hotel, «Kulm» Hotel und Hotel «Suvretta House», in der französischen und in der reformierten Kirche, im Engadiner Museum sowie im spannungsreichen Paracelsus-Gebäude: Der «Walk of Art» führt von St. Moritz Bad entlang der Seepromenade durch das Portal des Parkhauses Serletta in die St. Moritzer Fussgängerzone und erschliesst die gesamte Region über Roman Signers «Wasserspiel» beim Hotel «Castell» in Zuoz bis nach Sent im Unterengadin mit einem Besuch des Skulpturenparks von Not Vital. Wim Delvoye «Twisted Jesus», 2009, Courtesy: Wim Delvoye, SAM 2010
Stephan Balkenhol «Grosse Kopfsäule», 2008 (links), Courtesy: Galerie Monica de Cardenas, Mailand/Zuoz, SAM 2010
Aurèle «Giant Lost Dog», 2008 (rechts), Courtesy: Galerie Enrico Navarra, Paris, SAM 2008
George Condo «Miles Davis» (links) / «Gil Evans» (rechts), Courtesy: Galerie Andrea Caratsch, Zürich, SAM 2008
Neben den renommierten Engadiner Galerien – Bruno Bischofberger, Jean-David Cahn, Karsten Greve, Gmurzynska, Gian Enzo Sperone, Monica de Cardenas, Peter Vann, Tschudi, von Bartha – sind in diesem Jahr auch Clara Maria Sels aus Düsseldorf, Robilant+Voena aus London, Paolo Curti/Annamaria Gambuzzi aus Mailand sowie die Galerie Konzett aus Wien mit Arbeiten u.a. von Christian Eisenberger, Gino de Dominicis und Alessandro Mendini vertreten. St. Moritz Art Masters Kunst oder Kult? Kontakt und Tickets: Telefon +41 (0) 81 833 1028 info@stmoritzartmasters.com vom 27. August bis 5. September 2010.
Bemerkenswert am St. Moritz Art Masters ist die enge Zusammenarbeit mit den Sponsoring-Partnern Cartier, Daimler und Julius Bär. Diese Partner kreieren exzellente Bedingungen, um klangvolle Namen der Kunstwelt in St. Moritz präsentieren zu können. Und sie integrieren darüber hinaus eigene Ausstellungen in den Rahmen des St. Moritz Art Masters: Die Daimler-Kunstsammlung präsentiert in ihrem Pavillon ausgewählte Video-Installationen – u.a. von Ian Anüll, Sylvie Fleury und Dimitri Gutov – und die Bank Julius Bär realisiert ein neues Projekt mit der Schweizer Künstlerin Zilla Leutenegger.
Das gesamte Programm Ausstellungen, Künstlergespräche, Sy mposiu m, musi k a l ische Veranstaltungen – wird auf www.stmoritzartsmasters.com fortlaufend aktualisiert und veröffentlicht. Dieses Informationsportal bietet neben allen Informationen und den wichtigsten Kontakten auch verschiedene Amuse-Gueule: bis St. Moritz dann im Sommer – wieder von Festivalatmosphäre gepackt – zu einem einmaligen Erlebnis in hochalpiner Zauberwelt lädt, welche der Kunst einen Raum zum Atmen schenkt.
KUNST AM BAU Die Architektur steht mit seiner Umgebung in einem permanenten Dialog. Die Realisierung von Konzepten, welche zukunftsorientiert sind sowie umfassend positive Impulse geben, erfordern viel Zeit und Engagement. Hans H채nseler VR-Pr채sident H채nseler Immokonzept AG
Eine gelungene Architektur 체berrascht und regt zum Nachdenken an.
Mit einem Kunst-Weltrekord sind 315 Kinder die Erschaffer eines Generationenkunstwerks im neuen Zentrum Mittim Wallisellen.
PRINTMEDIA COMPANY CHUR, SPUNDISSTR ASSE 21, CH-7000 CHUR, WWW.P-M-C.CH