kunst graub端nden und liechtenstein
ausgabe 6
cartier.com
Palace-Galerie - St. Moritz - 081 833 18 55
Neue Kollektion tank anglaise
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BEATE FROMMELT
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CATRINE BODUM
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DANIEL ROHNER
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GUIDO BASELGIA
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JULES SPINATSCH 48 LYDIA WILHELM 60 STEPHAN SCHENK
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WALTi ROTH 88
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WIEDEMANN/METTLER 96 VIDEO ARTE PALAZZO CASTELMUR 22
88 96 Herausgeber Marc Gantenbein | Verlag printmedia company chur, spundisstrasse 21, 7000 chur, tel 081 286 68 03, www.p-m-c .ch Druck international media solutions IMS AG, Harald Fessler, Sonnenstrasse 8, 9434 Au, www.imsag.ch | Grafik SARA HARTMANN, diebündner.COM, Chur | Auflage 15 000 ex. pro jahr | Erscheinen jährlich | Einzelverkaufspreis CHF 15.– / E u ro 12.– (zz g l. ve rsa ndko ste nant eil ) | Papier Umschlag luxosamtOffset, hochweiss, gestrichen matt, 250 g. | Inhalt luxosamt Offset, hochweiss, gestrichen matt, 170 g. | Lieferant PAPYRUS, 8800 thalwil ISBN 978-3-9523366-5-6
WÜRTH BEN WILLIKENS
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KUNSTR AUM SANDR A ROMER
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K & K BEAT STUTZER
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BANK FRICK
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Andrin Schütz Redaktion
Marc Gantenbein Herausgeber
Im Atelier und in der freien Natur: Tag für Tag entstehen in Graubünden und im benachbarten Liechtenstein Kunstwerke aller Facon. Die Region beherbergt zahlreiche Kunstschaffende, die in den Sparten Malerei, Plastik und Skulptur oder Fotografie tätig sind. Faszinierend sind immer wieder die Eigenständigkeit und die nationale, ja gar internationale Ausstrahlung der hiesigen Kunstszene. In der aktuellen Ausgabe setzten wir nebst der Auseinandersetzung mit Malerei, Installation und Plastik einen Akzent auf das fotografische Schaffen der Region. Wir wünschen Ihnen viel Spass und Gehalt beim Erlebnis Kunst.
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BEATE FROMMELT, z체ric h und be rlin
t e x t: Andrin Sch체tz
fotos: da ni el rohn er
Beate Frommelt: Die Kunst der Fuge Zwischen Tr채umen und Wachen, Musik und Raum: Beate Frommelts faszinierende Welt der Schattenfugen.
Werdenberg, Stimmen und Spuren, Ausstellungsansichten: in die Luft gezeichnet, Fadeninstallation im Innen- und Aussenraum, 2012, Schlossmediale, Werdenberg CH
«Kennt man den Begriff der Fuge gemeinhin als kompositorische, sich immer wieder neu erfindende Form in der Musik, bezeichnet «Fuge» im Bauwesen vielmehr einen entweder gewollten oder auch einfach toleranzbedingten Raum zwischen Bauteilen und Materialen», so die aus einer Liechtensteiner Musikerfamilie stammende Beate Frommelt. 1973 geboren, arbeitet die Installationskünstlerin und Malerin heute vorwiegend in Zürich und Berlin. Abenteuerlich faszinierende Fadengespinste und ein oszillierendes Spiel von Licht und Schatten Zentrum ihrer Ausstellungen bildet häufig ein faszinierend abenteuerliches Fadengespinst, ein komplexes Netz aus einem oszillierenden Spiel von Licht und Schatten. Der räumliche Verweis auf den beständigen Schwebezustand der menschlichen Existenz und der Wahrnehmung, Bewusstes und Unbewusstes, Wachen und Schlafen, Hell und Dunkel befinden sich in einem unaufhörlichen, oftmals übergangslosen Wechselspiel. Exemplarisch für die Auseinandersetzung mit dieser Thematik, aber auch für den musikalischen Hintergrund Frommelts sei hier die Ausstellung «Schattenfuge» genannt, welche die Künstlerin im Frühjahr 2013 in der Galerie S/Z in Uerikon realisiert hat.
Flutgraben, Eine Linie Wandernd, Ausstellungsansichten: Faden und Europaletten, 2011, Flutgraben e.V., Berlin, DE
Nairs, Trust to Chance, Ausstellungsansichten: Fadeninstallation, 2010, Curant d’ ajer, Kulturzentrum Nairs, Scuol, Engadin
Zwischen Raum und Malerei Mittels Material, Raum und Licht erfolgt eine klare kompositorische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Fuge. Dieser Verweis auf den steten Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlaf, «Sehen» und «nicht Sehen» sowie der damit verbundene permanente Übergang tritt in Diskurs mit den gross- und kleinformatigen Tuschzeichnungen aus dem 2008 begonnenen Zyklus From One to the Other. Frommelts zeichnerischer Duktus und ihre Formensprache folgen hier in Rhythmus und kompositorischer Strenge der musikalischen Tradition der Fuge: Form und Anordnung sind repetitiv, die einmal gewählten Parameter imitieren stets sich selbst, wenn auch in ständig variierenden Mustern, bis sie sich in sich selbst oder im Bildraum verlieren. Das beständig flüchtige Moment, das der Fuge eigen ist, findet sich auch in der Wahl der malerischen Technik wieder. Einmal den Pinsel mit Tusche gesättigt, repetiert die Künstlerin formale und kompositorische Parameter, bis die Farbe aufgebraucht ist und die Strukturen sich verlieren. Tusch- und Wasserf luss lösen die gestrengen Sätze der Partitur auf und lassen gewollte Komposition auf das Experiment des natürlichen, kaum kalkulierbaren Endes treffen, wo sich erneut ein Raum, ein Spalt oder eben eine Fuge auftut. Dem neu entstandenen Leerraum, diesem Schatten der eben gespielten Fuge wiederum, entnimmt Beate Frommelt die formalen Parameter für die jeweils darauffolgende Zeichnung, welche die endlosen Möglichkeiten der Variation fortsetzt. Die meditative, sich stets wiederholende Konzentration auf ähnliche, trotzdem aber variierende kompositorische Reihen lässt den Betrachter eintreten in Frommelts Welt: in die Versunkenheit in sich und in der Zeichnung.
Schuss und Faden, Ausstellungsansichten: Fadeninstallation, Papier auf Tusche, 2012, Alte Weberei, FL
Lokal-Int, Deep in the Forest, Ausstellungsansichten: Fadeninstallation, Inkjet-Prints, 2013, Lokal-Int, Biel CH
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Catrine Bodum , C inuos - C he l und London
t e x t: N ata li a H u s er
fotos: Adri a n F l端t sch
Catrine Bodum – Farbe ist Komposition Eine junge, experimentierfreudige Künstlerin unterwegs zwischen Dänemark, London und dem Bündnerischen Cinuos-Chel.
Chesa 2013, Cinuos-chel iii, Acryl, Sprühfarbe, und Pastel auf Leinen, 80 cm x 100 cm
Chesa 2013, chesa four steps, no. 3 von 4, Acryl, Sprühfarbe, und Pastel auf Leinen, 50 cm x 70 cm
Catrine Bodum setzt sich in ihrem noch jungen Werk mit Malerei auseinander. Was mit einer unbekümmerten Leichtigkeit daherzukommen scheint, bedarf in der künstlerischen Praxis der Berücksichtigung der weitreichenden Tradition der Malerei und in diesem Fall speziell der abstrakten Malerei. Einer ihrer Begründer, Wassily Kandinsky, fand um 1910 zu einer Sprache, die das figürliche Kunstverständnis massgeblich verändern sollte. Er befreite die Formen vom Gegenstand und verband sie mit bewusst gewählten Farben, sodass sie ein völlig neues harmonisches und zugleich spannungsreiches Ganzes ergaben. Mit dem Wissen, welche Blüten die Abstraktion seit ihrer Geburtsstunde hervorbrachte, gleicht die künstlerische Verortung in der Jetztzeit einem kühnen Balanceakt: Was war und was vermag die Malerei heute noch hervorzubringen? Alles, was in der Gegenwart geschieht, was geschaffen wird, ist Ref lektion der Vergangenheit und fortwährender Versuch, die kunsthistorischen Errungenschaften weiterzutreiben. Sich als Künstlerin vor diesem Hintergrund dennoch bewusst der abstrakten Malerei hinzugeben, ist als Geste zu lesen, die das Malen als Bedürfnis versteht, neue Formen zu finden, um dadurch die
Sehnsucht nach aktuellen Bildern zu stillen. In Catrine Bodums Malerei spielt weniger das Motiv als vielmehr die Motivation zu malen, die tragende Rolle. Aus dem malerischen Akt heraus erwächst die Erfahrung für Bilder und damit einhergehend ein Wissen für die visuelle Kultur. Weitermalen, um zu sehen, was passiert. Die Malerei von Catrine Bodum besticht durch ein virtuoses Wechselspiel der Farben. Es ist das Kolorit, das den Inhalt vorgibt und lenkt und somit das Wesen jeder Arbeit prägt. Wenn sie ein Werk beginnt, besteht in den Anfängen zwar eine Ahnung, welche Richtung die Komposition einnehmen könnte, jedoch nicht zum konkreten Verlauf und endgültigen Aussehen. Und so erinnert die Entstehung an einen additiven Findungsprozess. Intuitiv lässt sie sich auf den Werkprozess ein, ohne einen genauen Zielpunkt vor Augen zu haben.
Chesa 2013, chesa four step, no. 1 von 4, Acryl, Sprühfarbe, und Pastel auf Leinen, 50 cm x 70 cm
oben: o.T. (blue frame), 2011, Acryl auf Leinwand, 140 cm x 120 cm unten: Glas Zeichnung (orange), 2011, Aquarell auf Glas und Holz, 51 cm x 42 cm
Im Moment, wo die Farbe die Leinwand berührt, wird sie lebendig. Die Ideen entwickeln sich während der Arbeit unmittelbar auf dem Bildträger – Acrylglas oder Holz gehören ebenso zum Repertoire – als abstrakte Formulierungen von expressiv, kraftvoll und malerisch bis hin zu zart und lasierend. Flüssige Farbfelder treffen auf gestische Zeichen. Die Bewegung der Materie geht so weit, dass sogar die sich ändernde Position der Leinwand Teil des Entstehungsprozesses wird, um dadurch Farbverläufe zu beeinflussen und kompositorisch unerwartete Reaktionen zu evozieren. Das Prozesshafte und damit die Bereitschaft, ein Risiko auf der Leinwand einzugehen, zeichnet die Malerei von Catrine Bodum ebenso aus wie die geplanten und somit konstruierten Stellen. Es sind die polarisierenden Kräfte von Zufall und Kalkül, die als wiederkehrendes Spannungsfeld zwischen Kontrollverlust, Manipulation und Konstruiertheit unerwartete Momente kreieren. Taucht man in ihren Bilderkosmos ein, übertragen sich in der Wahrnehmung sowohl Gefühle der Kontemplation als auch der Erregung. Der Blick folgt der Farbe, hält inne, um die Oberfläche visuell abzutasten, zu begreifen, wie die Partien entstanden sind, um alsbald wieder über die sinnlich orchestrierte Leinwand zu gleiten. Die Farbe gibt den Rhythmus vor, sie ist Bewegung, spielt mit Leere, Stille und Opulenz, verkörpert Strenge und Verspieltheit und oszilliert zwischen Verdichtung und Offenheit. Catrine Bodum erforscht das Wesen der Farben und somit die Möglichkeiten der Malerei. Obschon die Bilder abstraktes Gedankengut reflektieren, bleiben sie nicht bloss gemalte Leinwand. Von eigenen Assoziationen angeregt, werden Erinnerungen an musikalische Bildwelten, Landschaften und Himmelsformationen hervorgerufen – Malerei zwischen Impulsgeber und aufregendem Seherlebnis.
oben: Glas Zeichnung (grün), 2011, Aquarell auf Glas und Holz, 43 cm x 39 cm Mitte: White Snow, White Spots, 2010, Tinte und Öl auf Leinen, 152 cm x 152 cm
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VIDEO ARTE PALAZZO CASTELMUR , STAMPA- COLTURA
t e x t: C ร L I N E GA I L L A R D
Video Arte Palazzo Castelmur Zeitgenรถssische Videokunst auf den Spuren des Pal a zzo Castelmur
Palazzo Castelmur, Stampa-Coltura
fotos: R a lph F ein er
Judith Albert, Reisende, 2013, HD-Video, 16:9, Farbe, kein Ton
Nach «Arte Hotel Bregaglia» wartet ein zweites, von Luciano Fasciati konzipiertes Ausstellungsprojekt im hochalpinen Bergell auf: Die Ausstellung «Video Arte Palazzo Castelmur» ermöglicht den Besucherinnen und Besuchern des Palazzo Castelmur im Sommer 2013 Begegnungen mit der zeitgenössischen Videokunst, welche die Geschichte des Palazzo auf vielfältige Weise erfahrbar machen und mitunter eigene überraschende Akzente setzen. Das Bergell hat sich in den letzten Jahren als lebendigen Ort des künstlerischen Geschehens ausgezeichnet. Nach dem 2008 von Patrizia Guggenheim und Angelika A f fentranger durchgeführten Kunstparcours «Arte Bregaglia» initiierte der Churer Kurator Luciano Fasciati die Ausstellung «Arte Hotel Bregaglia» im gleichnamigen Hotel. Als einmaliges Projekt für den Sommer 2010 angedacht, erfreute es sich eines grossen Echos und ist diesem folgend mittlerweile in eine vierte Runde gegangen. Nun macht eine neue Ausstellung auf sich aufmerksam: Video Arte Palazzo Castelmur präsentiert, wie es der Name verrät, Videokunst im Palazzo Castelmur in Stampa-Coltura. Der Palazzo Castelmur, heute als Museum öffentlich zugänglich, wurde 1723 von der Familie Redolf i erbaut und im
19. Jahrhundert durch den Baron Giovanni Castelmur erweitert. Neben den historischen Räumen mit ihrer üppigen Ausstattung und den eindrücklichen Wandmalereien bietet er seiner Besucherschaft eine Dauerausstellung über die Geschichte der bündnerischen Auswanderung und beherbergt das historische Archiv. Den Spuren der verschiedenen Epochen, seiner Bewohner und des Tals folgten zehn Künstlerpositionen und konzipierten, auf diese Bezug nehmend, vielfältige ortsspezifische Werke. Noch in den 1970er-Jahren hatte der Museumsraum des Palazzo gleichzeitig auch als Wohn- und Lebensraum funktioniert. Den Lebenszeichen aus dieser Zeit spürte Karin Bühler (*1974) nach, machte d ie fr üheren Bewohner innen und Bewohner ausfindig und befragte diese. Im Schlafzimmer, dem Reich der Träume, werden die von ihr in einem sensiblen Zugang gesammelten und übersetzten Erinnerungen Tagträumen gleich in digitalen Bilderrahmen abgespielt. Von einem schriftlichen Zeugnis geht währenddessen das Werk von Sissa Micheli (*1975) aus. Die Wienerin setzte die brieflichen Erzählungen einer Bergellerin aus den Jahren 1699 – 1710 fiktiv um und lässt verschiedene Zeiten ineinander verschmelzen.
Gabriela Gerber & Lukas Bardill, Zuckerberg, 2013, 1-Kanal-Videoinstallation, HD-Videoprojektion, s/w, kein Ton
Im 18. und 19. Jahrhundert wanderten viele Bergeller aus und versuchten ihr Glück als Zuckerbäcker im Ausland. Judith Albert (*1969) produzierte einen Video, in welchem sich eine Porzellanfigur mit Ziffernblatt auf einer Reise auf einem Fluss durch verschiedene Landschaften und Wetterbedingungen bewegt. Gabriela Gerber (*1970) & Lukas Bardill (*1968) haben indessen ein Video realisiert, in welchem sich kontinuierlich ein weisses Gebirge – ein Zuckerberg – abbaut, das geologisch an Winderosion sowie an wirtschaftliche Aspekte zum Zucker denken lässt. Um die Vorstellung der Einsamkeit, in welcher die kinderlose Baronessa de Castelmur leben musste, war ihr Mann doch häufig im Ausland unterwegs und verstarb fast 20 Jahre früher als sie, kreisten Zilla Leuteneggers (*1968) Gedanken. So haucht sie dem Palast mit ihren drei eigenständigen Videoprojektionen Lebensgeist ein.
Karin Bühler, Ich sehe (was war), 2013, Digitale Bilderrahmen
frölicher / bietenhader, Gegenbild Grundriss, 2013, Video, Ton
Auch Evelina Cajacob (*1961) macht in ihrer Intervention, in welcher sie in präziser und geduldvoller Aufmerksamkeit während 83 Minuten einen Wollknäuel aufwickelt, auf die lange Zeit, in welcher die «Zuckerbäckersfrauen» allein waren, nachfühlbar. Während Christoph Rütimann (*1955) in einer aufwendigen Aktion einen Handlauf vom Piz Duansee bis ins Dorf StampaColtura realisierte, lässt die Bernerin Simone Zaugg (*1968), die den Betrachter mit ihrem Schaffen für undef inierte Zwischenzonen sensibilisiert, die Staumauer der Albigna durch ihr Hinzutreten erlebbar werden.
Evelina Cajacob, Incrésiar – Lange Zeit, 2013, HD-Videoinstallation, 16:9, Farbe, Bild: Margarit Lehmann, Ton: Martin Hofstetter
Unerkenntliche Landschaft wird indessen durch die Strukturen und Bewegungsabläufe von Eric Lanz’ (*1962) Videoarbeit assoziiert: Der Bieler folgte ohne direkten Eingriff, doch mit den videotechnischen M itteln der Zeitmanipulation dem Verhalten von Farbe auf Papier. Die architektonische Landschaft des Palazzo wurde mit einem ferngesteuerten Auto von frölicher | bietenhader (beide *1985) abgefahren. Ihre Aufnahmen setzt das junge
Künstlerduo in raumillusionistischen Werken um, die die Raum-Form-Wahrnehmung auf beträchtliche und faszinierende Weise verändern. Die Ausstellung «Video Arte Palazzo Castelmur» präsentiert zeitgenössische Kunst, welche sich durch ihr starkes Gespür für Historizität auszeichnet. Dieses erreicht die Videokunst in einer unvergleichlichen Weise, vermag sie doch wie kaum ein anderes Medium ein Raum-ZeitKontinuum zu schaffen. «Video Arte Palazzo Castelmur» lädt dazu ein, sich der Beschleunigung unserer Zeit zu entziehen und in gemütlicher Langsamkeit, welche dem idyllischen Bergeller Tal zugeschrieben wird, in die künstlerischen Video-Interventionen einzutauchen und sich auf die Spuren vergangener Geschichte sowie aktueller Überlegungen zu begeben.
Video Arte Palazzo Castelmur 7605 Stampa-Coltura 2. Juni bis 20. Oktober 2013 www.palazzo-castelmur.ch
www.passugger.ch
In der gepflegten Gastronomie und bei Ihrem Getr채nkeh채ndler
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Danie l rohne r , CHUR
t e x tE : A N D R I N SC H Ü T Z , Andr e s Pa rd e y ( V I ZED I R EK TO R T I N Q UELY M USEU M BASEL)
P ortrÄt: F lor enc e c a don au
Daniel rohner «DIALOG MIT MI FU» «Landschaft ist immer Vorstellung und Projektion in einem, ist immer definiert von den Vorstellungen der betr achtenden Person ebenso wie von denjenigen des Künstlers oder der Künstlerin.»
Diptychon aus dem Zyklus vers le ciel
Ein Jahr nach dem gross angelegten Werkzyklus vers le ciel 2009 – 2010 sucht Daniel Rohner erneut die Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur. In seinen neuesten Arbeiten bleibt der Churer Künstler seiner sensiblen, beinahe sanften Auffassung der Umgebung treu. Im Mittelpunkt steht nun aber nicht mehr die malerische Interpretation des Details, vielmehr wurde der Blick der letzten Jahre dahingehend invertiert, dass Daniel Rohner nun vom Grossen ins Kleine arbeitet.
Die Ausschnitte sind wesentlich grösser gewählt, die malerische Auffassung ist der zeichnerischen gewichen, die Welt ist nicht mehr frei von menschlichen Spuren. Die harmonischen Kompositionen zitieren aus der Tradition antiker fernöstlicher Tuschmalereien, suchen – wenn auch in fotografischer Technik – den feinen Zeichenstrich der Asiaten, welcher sich – so scheint es zuweilen – selbst kaum traut, das Blatt überhaupt zu berühren. Andrin Schütz
alle folgenden Bilder: Dialog mit Mi Fu
Mi Fu, Daniel Rohner: Zur Landschaft Von Mi Fu sind viele Anekdoten überliefert. Wie es offenbar auch die chinesische Tradition will, ist auch hier der grosse Künstler ein Exzentriker, einer, der zu viel trinkt, der unstet ist und seltsam gekleidet, mit der einen oder anderen Marotte ausgestattet ist (Mi Fu war ein Reinlichkeitsfanatiker) – das erinnert alles an die Künstlerbeschreibungen, die wir seit Vasari im westlichen Kulturkreis kennen. Und doch scheint uns einer wie Mi Fu, der im China des ersten Jahrhunderts des zweiten Jahrtausends nach Christus gelebt hat, speziell, skurril, weit entfernt. Er ist mehr eine Vorstellung als eine menschliche Gestalt, nimmt anders als die uns vertrauteren Künstlergenies (und Genies sind sie ja alle, diese schrägen Typen!) wie Vincent van Gogh oder Salvator Dalì nie den Status einer Persönlichkeit an, sondern bleibt reine Anekdote, Geschichte, vielleicht sogar Fiktion. Das auf jeden Fall gilt für uns Westler, für diejenigen, die die chinesische Kultur mit ihrer so reichen Vergangenheit vielleicht bewundern, mit ihr aber nicht wirklich vertraut sind.
Mi Fu also gilt als einer der Väter der chinesischen Tusche- und Aquarell-Malerei, als derjenige, der die Landschaften mit ihren vernebelten Tälern und den spitzen, hintereinandergeschichteten Hügelzügen als einer der Ersten so dargestellt hat, wie sie uns vertraut sind aus den chinesischen Bildern. Daneben aber, und wahrscheinlich wichtiger noch, war Mi Fu ein grosser Kalligraf und ein Autor über Kunst, Malerei und Kalligrafie. Sein Buch über die Geschichte der Malerei war ebenso bedeutend wie seine Kalligrafien, in denen er seine Gedichte niederschrieb. Er bekleidete verschiedene Posten am Hof der Song-Dynastie und betrieb das Malen nebst vielem anderen. Bedeutend wurde er zu Lebzeiten vor allem auch mit seiner Sammlung alter Kalligrafien und Bilder, die er zu Studienzwecken angelegt hatte und die er Besuchern, die teils von weit her anreisten, zugänglich machte. Zu Mi Fus Zeiten wurde ein beachtlicher Diskurs über Malerei geführt, Theoretiker formulierten Massstäbe und Richtlinien, Praktiker erteilten Ratschläge, wie gute Malerei auszuführen sei und wie sie erhaben und edel werde.
Das Aufbauen auf Traditionen, die genaue Kenntnis der Vorgänger, der Respekt, der diesen entgegenzubringen sei, dies waren die Grundlagen, auf denen sich Künstlerpersönlichkeiten wie Mi Fu definierten. Daher seine Sammeltätigkeit und die Wichtigkeit der Malereien und Kalligrafien für die vielen Besucher. Landschaft ist – und dies gilt natürlich nicht nur für die Malerei eines Mi Fu oder seiner Künstlerfreunde der chinesichen Song-Dynastie – Landschaft ist dargestellt immer eine Vorstellung. «Realistisch», so wie sie «tatsächlich» ist, genau so wird sie nie gezeigt. Sie ist – wie jede gegenständliche Darstellung – immer eine Umsetzung einer Drei- in eine Zweidimensionale – und ist deshalb von Vornherein ein riesiger, sehender Gedankensprung. Landschaft ist immer Vorstellung und Projektion in einem, ist immer definiert von den Vorstellungen der betrachtenden Person ebenso wie von denjenigen des Künstlers oder der Künstlerin. Eigene Erfahrungen paaren sich mit Bildern, aus der Kindheit etwa oder aus dem letzten Abenteuerfilm, mit Erzählungen und Fantasien, tropische Wälder werden zu Grünzelten mit kreisrotem Sonnenuntergang, Berge zu Kulissen für heroische Kämpfe um Ehre oder das Leben von Kameraden, Wüsten zu Jagdgründen um verlorene Schätze oder militärische Abenteuer. Landschaft dient als Projektionsfläche für vieles, und sehr selten nur, vielleicht sogar nie darf sie sich selbst genug sein. Landschaft ist, was wir in ihr sehen. Was Daniel Rohner uns mit seinen Landschaftsbildern anbietet, fusst gerade hier, auf den Malereien Mi Fus und auf der Erkenntnis, dass Landschaft immer (auch) Vorstellung ist. Ästhetisch, kompositorisch sind die Fotografien, die zum grossen Teil im Churer Rheintal entstanden sind (nur zwei Bilder zeigen das Tiefland, das enge Baselbieter Laufental), ganz nah bei Mi Fu und seinen Zeitgenossen. Es ist Langschaft fast ohne Horizont, ohne Weite, es ist räumliche Tiefe, die gern auch spontan in die Fläche kippen und die Distanz gänzlich verlieren kann, es ist Landschaft, die ganz Bild wird. Mi Fu schafft Bildtiefe, indem er spitz aufragende Bergspitzen hintereinander aus einer wattigen Nebelsuppe herausragen lässt. Die Überschneidung lässt ein Vorn und Hinten und damit eine Raumtiefe entstehen, die den einzelnen Berspitzen nur wenig immanent ist. Manchmal kann durch eine einseitige Schneebezuckerung der Eindruck einer Körperlichkeit entstehen, gleichzeitig wird das aber immer auch wieder zurückgenommen zugunsten einer dreieckigen Fläche, die die Raumkonstruktion ganz dem erkennenden, quasi rekonstruierenden Sehen überlässt. Landschaft ist Andeutung, die Darstellung ist Anstoss zum Erinnern, dass sie so sein könnte. Dass im Vordergrund ein Hügel mit einem Baum und im Mittelgrund eine Hütte Einstieg und Vermittlung ins Bild übernehmen, widerspricht dieser Einsicht nicht, sondern bestärkt sie im Gegenteil. Erst diese Elemente geben der Vorstellung Raum und Rahmen und vermitteln zwischen der Bildf läche und dem imaginierten Raum. Die Stempel, die die Landschaft wie ein Passepartout umgeben und durchaus auch Bildelemente überdecken können, verschärfen diese Vermittlung. Das Bild wird immer auf seinen Träger zurückgesetzt und baut gleichzeitig immer auf diesem auf. Es ist wie ein stetes Flimmern
der Dimensionalitäten, das einsetzt und das aus der Landschaft Bild und aus dem Bild Landschaft macht. Daniel Rohner legt Wege in seinen Bildern an, die in die Tiefe vermitteln und die gleichzeitig immer auch Striche, Kratzer, Notate in der Fläche bleiben. Die Brandmauer am Calanda, nach oben oder unten führende Felsformationen, zwei Wagenspuren, ein Zaun. Sie alle sind auch Strich und Fläche, sind Komposition ebenso, wie sie Gegenstand und Repräsentation sind. Diese vermittelnden Elemente im Bild sind die Verbindungslinien zwischen Abbild und Nachbild, zwischen Sehen/Erkennen und Sehen/Erleben. Sie vermitteln zwischen der Vorstellung, im Bild zu sein und durch den Schnee zu stapfen und der Komposition, die ausgeglichen aufgebaut von tiefer Ruhe und Genügsamkeit kündet. Es ist dies einer der schönen Momente in der Betrachtung: Wenn das Bild die Macht ergreift und die betrachtende Person in seine
Gefühlswelt entführt, hier also: wenn Ruhe einkehrt, Stille und Ausgleich. Und wenn gleichzeitig dieser magische Austausch stattfindet, in dem beide von sich selbst lassen und sich vereinen zu diesem einen, vereinten Punkt in der Zeit. Und da ist er auch wirksam, der Dialog zwischen Daniel Rohner und Mi Fu, diesem Giotto der chinesischen Kunst (wobei es ja wahrscheinlich dort viele Giottos gegeben hat, in diesem riesigen Land). Es ist der Dialog beider und miteinander mit der Natur. Der Dialog also, der spielt, weil er auf der gleichen Prämisse der Landschaft als Vorstellung und des Bildes als Vorschlag zur Imagination beruht. Und weil aus den Bildern des einen wie des anderen das spricht, was den chinesischen Exzentriker mit seinem Schweizer Partner aufs Sicherste verbindet: eine Bildsprache, die der Darstellung die Kraft gibt, um der Realität ein starkes Gegenüber zu sein. Andres Pardey
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be n willike ns , stut tgart
t e x t: A N D R I N SC H Ü T Z
fotos: T hom a s h a b lützel
Ben Willikens: Eine Metaphysik des unbelebten Raumes Das Forum Würth Chur zeigt die faszinierende und geheimnisvolle Metaphysik der leeren R äume Ben Willikens’
Der Künstler Ben Willikens
Während des Sommers und Herbsts 2013 zeigt das Forum Würth Chur eine gross angelegte Schau des 1939 in Leipzig geborenen Malers Ben Willikens. Die beeindruckenden Arbeiten des heute in Stuttgart lebenden Künstlers sind in zahlreichen namhaften privaten und öffentlichen Sammlungen rund um den Globus vertreten. Die in Chur gezeigten Arbeiten ermöglichen einen umfassenden Einblick in Willikens Auseinandersetzung mit Raum, Architektur und Bildraum. Im unwiderstehlichen Sog der absoluten Verlassenheit Verlassenheit und eine beinahe erdrückende Leere schlägt dem Betrachter aus Ben Willikens’ Werken entgegen. Da ist viel Raum. Und trotzdem einfach nichts. Ein Nichts, das den Betrachter, gleich einem kraftvollen Sog, hinüberzuziehen scheint. Hinüber in die Verlorenheit und die scheinbar unendliche Leere des Raumes, der sich, einem Abgrund gleich, vor dem Betrachter im Bildraum auftut. Hat man sich erst einmal gesammelt und gewinnt angesichts der Urgewalt schlichter Unräumlichkeit wieder ein wenig Boden unter den Füssen, erkennt man die endlose Expansion des Gegenübers. Ist man anfangs ein wenig in Bedrängnis geraten, entdeckt man nun die Freiheit des Dort. Die menschenleeren, klinischen Architekturen verlieren ihre kühle Fremdheit; wollen, zumindest im Geiste, begangen und bevölkert werden und lassen den Besucher eintreten in ihr Labyrinth von Lufträumen, Gängen und Zimmern. Da und dort laden Kugeln, Stäbe, Quader und andere Gegenstände – Relikte derer, die einst hier waren? – zum Spiel mit der fremdartigen Umgebung. Stets räumliche Verweise auf das jeweilige Hinüber, führen sie tiefer und immer tiefer hinein in einen Bildraum, in eine Architektur, die letztendlich irgendwo und irgendwann im Nichts ihrer eigenen Konstruktion sich verlieren. Verblüfft und ein wenig wie aus einem Traum erwacht, findet man sich wieder. Im Hier oder auch im Dort und spürt: Bei Willikens gew innt der Beg r if f «Transzendenz» eine vollkommen neue Dimension. Der Kraft, mit welcher die idealen Räume in die Realität des
Betrachters eingreifen, lässt sich nicht entfliehen. Der Raum, in dem man steht, stürzt beim Anblick der Werke in sich zusammen. Gewinnt man Land, befindet man sich bereits mitten im Bild, wird sich selbst zum Gegenüber und hat sich schon längst auf eine Reise mit ungewissem Ziel begeben, wird sich selber fremd. Das eigene Ich und die vollkommene Präsenz einer Geschichte, die nur vielleicht geschrieben wurde. Ein angeschnittener Rundbogen eröffnet den Blick auf eine Rollbahre. Ist da Bewegung oder war da keine? Die kahle Lampenbirne, die über der Bahre hängt, vermag uns keinen Aufschluss darüber zu geben. Die Tafel, an der Jesus einst mit seinen zwölf Jüngern gespeist hat, erscheint uns leer und verlassen. Dennoch sind die NichtAnwesenden aus der biblischen Erzählung beinahe physisch zu präsent? Man vermeint ihren Gesprächen zuzuhören, Brot und Wein zu kosten. Dass sie nicht da sind, kann nicht sein, ist kaum mehr vorstellbar. Man sieht sich als Teil einer Szenerie, die zum reinen Gedanken wird und dennoch zum eigenen Erlebnis. Die Illusion als solche ist perfekt. Die Szene, die vielleicht einfach nur eine Narration, eine einst konstruierte Geschichte zum Zwecke der Verbreitung einer Ideologie war, entfaltet ihre volle, kulturbildende Kraft, greift ins Heute und in die Gegenwart des Einzelnen ein, scheint die eigene Personalität zu assimilieren. Und das verlassene Bett im Krankenzimmer, die weisse Wanduhr? Scheinbar steht sie still, lässt ihr monotones Ticken weit über Raum und Zeit hinaus ertönen. War da nicht auch noch das leise Wehklagen eines Kranken? Eines Sterbenden vielleicht? Oder ist hier einfach keiner mehr, weil er genesen ist und das Zimmer bereit für einen nächsten Patienten? Anderswo lässt der Blick aus dem Fenster hinaus in die weite Landschaft ein aufkommendes Gewitter erahnen. Oder fröhliches Kindergeschrei? Man weiss es nicht: Willikens eröffnet dem Betrachter den Raum für seine eigene
oben: Raum 902 – Melancholia, 2012, Acryl auf Leinwand unten: Zentrales Werk der Ben Willikens Ausstellung Black Last Supper – Raum 350, 2010, Acryl auf Leinwand
Geschichte, seine eigenen Erinnerungen, seine eigenen Hoffnungen. Der sich im Bild eröffnende Raum zieht uns beständig tiefer und tiefer hinein ins Labyrinth der Existenz und wirft uns immer wieder zurück zu uns selbst. Der Betrachter wird somit zum Teil des Bildwerkes, Teil von Willikens’ gekonnter Metaphysik von Sein und Raum.
Nähere Informationen zu Führungen, Podiumsgesprächen und weiteren Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Ausstellung finden Sie unter: www.forum-wuerth.ch/chur Öffnungszeiten Ausstellung Die Ausstellung dauert noch bis zum 3. November 2013 Montag – Sonntag 10 – 17 Uhr Donnerstag 10 – 20 Uhr Eintritt frei
oben: Flur Nr. 2, 1973, Acryl auf Leinwand unten: Raum 697 – Floss, 2011, Acryl, Print auf Leinwand
Der Raum des Erfinders, 1989, Acryl auf Holz
Die Dynamik der Idee, 1989, Acryl auf Holz
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Guido baselgia , mal ans
t e x t: b e at s t u tzer
P ortrÄt: Giorg io von Ar b
guido baselgia Mit seiner Arbeit betreibt Guido Baselgia Grundlagenforschung. Das betrifft sowohl seinen Umgang mit der Fotogr afie als Ph채nomen wie seine Intention, mit seinen Bildern unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit zu hinterfr agen. Aus den bildnerischen Ergr체ndungen von der Erscheinung der Erde an ihren Extremen und aus dem Abtasten von Oberfl채che und Kosmos ist ein faszinierendes fotogr afisches Werk entstanden, das einzigartig ist.
Grupin II, 2005, Analogfotografie, Silbergelatine Barytabzug
Marmorera I, 2005, Analogfotografie, Silbergelatine Barytabzug
Lej Nair II, 2005, Analogfotografie, Silbergelatine Barytabzug
Morteratsch II, 2011, Analogfotografie, Silbergelatine Barytabzug
Seit Mitte der 1990er-Jahre erkundete Guido Baselgia (*1953) während mehrerer Jahre mit der Grossbildkamera das Engadin. Seine Bilder heben sich markant von den tradierten und vertrauten Ansichten des weltberühmten Hochtales ab und zeigen Ansichten und Ausschnitte einer hochalpinen Landschaft an der Nahtstelle zwischen Erde und Himmel. Es sind Befragungen einer Landschaft der Extreme, wo der jähe Gegensatz der Materialität von Wasser und Fels, von Eis und Stein bildkonstituierend ist. Die Aufnahmen sind deshalb irritierend, weil sie die Urtümlichkeit und Unwirtlichkeit des Hochalpinen unverstellt und auf eine so noch nicht gesehene Art und Weise zeigen. Die rund 40 Aufnahmen wurden unter dem Titel hochland zusammengefasst und im Herbst 2001 im Bündner Kunstmuseum zum ersten Mal gezeigt. Ausstellung und die dazu erschienene Publikation markierten den Auftakt zu einem künstlerischen Œuvre, das sogleich eine konsequente Fortsetzung fand. Mit den Bildern, die Guido Baselgia danach am Polarkreis und an der Barentsee machte und damit eine ganz andere periphere Grenz- und Randzone fotografisch ergründete (Weltraum, 2004), und zum Dritten mit jenen Aufnahmen vom Altiplano im bolivianischen Hochland und von der chilenischen Atacama-Wüste (Silberschicht, 2008) fügte sich die konzeptuelle Arbeit zu einer eigentlichen Trilogie. Später wurden 15 ausgewählte Bilder aus den drei Werkkomplexen in der druckgrafischen Mappe Von der Erde (2007) zusammengefasst: Die Frage nach der Topografie wurde nun gänzlich obsolet, da die als Serie angelegten Bilder primär Strukturen, Elementares und Urtümlichkeit vermitteln und deshalb unverortet anmuten. Guido Baselgia verbildlicht nicht nur das Archaische und Unberührte der Erde sowie das stille So-Sein der Dinge mit der ihnen innewohnenden Potenz, sondern er lädt uns aufgrund seines sorgsam durchdachten Vorgehens in eine eigentliche «Schule des Sehens» ein. So widersprüchlich es anmutet: Baselgia geht es nicht in allererster Linie um die Fotografie, sondern viel mehr um die Wahrnehmung, um die faszinierenden Schnittstellen von Mikround Makrokosmischem, von Hell und Dunkel, von Moment und
Pers 2011, Triptychon, 4 x 5 inch, Analogfotografien
Unendlichkeit, von Starre und Bewegung. Es sind fundamentale Fragen und bildnerische Recherchen, die den Künstler umtreiben. Insofern ist für Baselgia der lange, prozesshafte Weg auf der Suche nach einem überzeugenden Resultat, der für ihn das Eigentliche der Kunst ausmacht, von massgebender Relevanz. Guido Baselgia tastet die Membran der Erdkugel ab (Von der Oberfläche der Erde) und lotet mit dem Blick zum Himmel den Kosmos aus (Lungo Guardo). Damit geht aber ebenso die Hinterfragung des Mediums der Fotografie parallel. Für Baselgia macht allein die klassische, analoge Fotografie eine Aufnahme zum gültigen Bild. Fotografie ist für ihn eigentlich und im Ursprung ihrer Technik ein Zeichnen mit Licht auf einer lichtempfindlichen Schicht. Was ist auf einer Fotografie weiss, was ist schwarz, und wann mutiert auf der breiten Skala zwischen den Polen Schwarz und Weiss das eine zum anderen? Vermittelt im Unterschied zum positiven Abzug letztlich doch das Negativ auf dem Leuchtpult das unverfälschte Bild? Allerdings kennt Baselgia keine Berührungsängste: So übersetzt er beispielsweise das analoge Bild durchaus auch ins Digitale und präsentiert es in einem Leuchtkasten, wenn es für die Präsenz und die Rezeption des Bildes adäquat erscheint – und er das Lichtbild gleichsam wörtlich nimmt. Wenn Guido Baselgia sozusagen am Ende der Geschichte der analogen Fotografie nochmals in langwierigen Prozessen mit den Reaktionen von Licht, Salz und Silber experimentiert, um dem Verfahren neue Erkenntnisse abzugewinnen, geht er ähnlich eindringlich vor, wenn er sein Metier mit anderen Techniken koppelt: etwa mit der Lithografie, bei dem der Träger des Bildes, die Steinplatte, mit dem Motiv, Steinlandschaft, deckungsgleich wird (Alv). Oder beim alten Edeldruckverfahren der Heliogravüre, bei der die Tiefdrucktechnik mit der Fotografie in Kongruenz gebracht werden: Das Licht (helios: die Sonne) «brennt» die zu druckenden Partien auf die Platte ein. Hier schliesst auch die Arbeit Terrenzlas an. Die Bilder zeigen nichts anderes als weite Schneefelder, auf denen die durch die Kraft der Sonne da und dort der
dunkle Grund freigelegt ist: zufällige, ephemere, aber fantastische «Zeichnungen» mit amorphen Formen, die auf dem harten Kontrast von Schnee und aperen Partien beziehungsweise auf dem abrupten Wechselspiel von Weiss und Schwarz basieren. Mit diesen Bildern überträgt Guido Baselgia ein Phänomen der Malerei ins Medium der Fotografie und in die zeitgenössische Kunst; schon Künstler wie Augusto Giacometti, Cuno Amiet oder Hans Emmenegger waren am Anfang des 20. Jahrhunderts hingerissen von den ornamentalen Naturformen, welche die schmelzenden Schneeflächen auf die Wiese zeichnen. Ob es motivisch um den Blick in das Innere eines Gletschers geht (Morteratsch, 2008), wiederholt auch um das Unentschiedene zwischen nah und fern, um die Faszination für unterschiedliche Aggregatszustände, um das formale Oszillieren zwischen haptischer Dinglichkeit und abstrakter Reduktion, um das Diametrale von Unverrückbarem und stets Fliessendem (39 Fälle), um das zwielich-
Ausschnitt aus 39 Fälle, 2007, 39 Analogfotografien, Silbergelatine Barytabzüge
tige Schattenlicht (2006) geht oder um den vom Zufall gelenkten und die Perspektive versetzenden Blick vom schwebenden Gasballon auf Alpengipfel (AlpenFalten, 2012): Immer geht es Guido Baselgia unabhängig eines jeweiligen Projektes um den Lauf der Dinge, um das Archaische und um das Rätselhafte konkreter Erscheinungen von Landschaft, wobei ihre Verortung in den Anden, am Eismeer oder am Äquator sekundär bleibt. Für das kommende Jahr ist eine monografische Buchpublikation geplant, welche die Arbeit von Guido Baselgia während vieler Jahre dokumentiert und vermittelt: die globale, sowohl auf der nördlichen wie südlichen Hemisphäre unternommene Erkundung der Himmelsmechanik – und zwar wie sie sich in der Dämmerung offenbart, in jenen Augenblicken, bevor alles zwischen Tag und Nacht in der Dunkelheit versinkt und sich die Formen im Schwarz verlieren.
Surlej II, 2007, Diptychon, Analogfotografie, Silbergelatine Barytabzug
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jules spinatsc h , züric h und wie n
t e x t: C hri s toph Dos wa ld
fotos: K ath a rin a Lütsch er
No moment, no decision, just a long journey! Über die Schönheit der Maschinenbilder von Jules Spinatsch
Der Wiener Opernball ist das gesellschaftliche Grossereignis der österreichischen Metropole, ein Stelldichein von Stars und Sternchen, von Politikern und Wirtschaftsführern, von Künstlern und Sportlern. Als selbsternannter Gastgeber amtet seit den 1990erJahren der Bauunternehmer Richard Lugner, alias «Mörtel». Seiner Einladung zum Walzer leisten jedes Jahr neue Protagonistinnen aus dem Showbusiness Folge. Sophia Loren gab sich schon die Ehre genauso wie Raquel Welch, Faye Dunaway, Grace Jones, Joan Collins und Paris Hilton.
Wien MMIX lautete schliesslich der Titel des 32 Meter langen Rundpanoramas, das aus dieser Flut von Einzelbildern zusammengestellt und am Karlsplatz im öffentlichen Raum der österreichischen Hauptstadt ausgestellt wurde. Es ist ein Monumentalbild, wie es bis ins frühe 20. Jahrhundert in der Kunst gang und gäbe war: Théodore Guericaults Floss der Medusa gehört genauso dazu wie das Bourbaki-Panorama in Luzern, das den dramatischen Grenzübertritt der französischen Bourbaki-Armee zeigt, die 1871 vor den deutschen Truppen in die Schweiz flüchtete.
Nur am 28. Februar 2009 war der Glamour-Faktor leicht geringer. Lugner führte Nicollette Sheridan, den Star der TV-Soap «Sex & the City» in seine Loge. An diesem Abend machte dafür der Davoser Fotokünstler Jules Spinatsch (*1964) dem Opernball seine Aufwartung. Er hatte in den Vortagen eine aufwendige Apparatur in der Mitte des Saals installiert, an der zwei Netzwerkkameras angebracht waren. Die beiden digitalen Fotoapparate, direkte Abkömmlinge der sogenannten Webcam, dokumentierten in klar vorgegebenen Horizontal-Vertikal-Rasterbahnen die Geschehnisse das Abends in seiner vollen Länge zwischen der Türöffnung um 20.32 Uhr und dem Ende des Balles morgens um 5.10 Uhr. In dieser Zeit drehten sich die Kameras zweimal um die eigene Achse und fertigen insgesamt 17 352 Bilder an – «ein spekulatives Gesellschaftsporträt», wie es Jules Spinatsch selber nennt.
Jules Spinatsch knüpft mit seinem Wiener Opernball-Panorama also an ein bekanntes Genre an: die künstlerische Überlieferung und Diskussion von historisch bzw. zeitgeschichtlich relevanten Anlässen und Geschehnissen. Dieses Interesse an zeitrelevanten Fragen hat auch einen biografischen Hintergrund; Jules Spinatsch begann seine Karriere als Pressefotograf. Im Zusammenhang mit dieser journalistischen Erfahrungen entwickelte er ein kritisches Verhältnis zum fotografischen Abbild der Wirklichkeit. Denn Spinatsch weiss, dass die Bilder meist nur die halbe Wahrheit erzählen, dass sie instrumentalisiert und verfremdet werden und nur einen Ausschnitt der Welt abzubilden in der Lage sind – genau jenen Ausschnitt, den der Autor der Öffentlichkeit zeigen will.
Wenn Jules Spinatsch also die Autorenschaft an eine Webcam, also an die Mechanik einer automatisch agierenden Bildmaschine delegiert, dann ist das auch ein Statement für eine Objektivierung von Bilddokumenten – eine Objektivierung, die alleine schon mit der Masse der produzierten Sujets herbeigeführt wird. Pro Minute entstanden in Wien mehr als 30 Einzelbilder. Sie zeigen das Gebäude, die Dekorationen, die Ballgäste, die Prominenten, die Adabeis, das Personal. Alles wird mit der identisch gleichen maschinellen Sachlichkeit dokumentiert, nichts bleibt verborgen. Und doch ist das Objektivierende ein Trugschluss. Denn die Betrachter sind ob der schieren Masse an Bildinformationen nicht in der Lage, die Gesamtheit all dieser unendlich vielen Details zu erfassen und zu verarbeiten. Big data lässt grüssen. Es gibt bei Jules Spinatsch keinen «moment décisif», keinen entscheidenen Augenblick, wie ihn Henri Cartier-Bresson einst als Paradigma für das gute fotografische Bild postulierte. Es gibt nur eine lange Reise mit der Kamera, eine Fahrt in genau determinierten horizontalen und vertikalen Bewegungsschritten. Das Resultat ist eine widersprüchliche Kombination von Planung und Zufall, Überraschung und Erwartungen. Diese Erfahrungen lassen sich auch beim Betrachten des ersten dieser sogenannten Überwachungs-Panoramas machen, das Spinatsch vor zehn Jahren vom World Economic Forum (WEF) in Davos angefertigt hat. Temporary Disconfort Chapter IV, Pulver Gut, zeigt die Alpenstadt am Nachmittag des 25. Januar 2003, kurz bevor das Gipfeltreffen von Wirtschaft und Politik beginnt. Es sind kaum Menschen auf dem aus 2176 Einzelfotos konstruierten Panorama zu sehen; nur einige Polizisten bereiten sich in der fahlen Sonne im Kurpark des Höhenkurorts auf ihren Einsatz vor – kein Zauberberg, kein Kirchner-Museum, keine Halfpipe, kein Spengler Cup, keine Chalet-Romantik, kein Après-Ski, kein Bush, kein Putin, kein Ackermann, kein Dougan, nur banales globales Sicherheitsdispositiv. Nicht nur beim WEF-Panorama fällt der Fokus von Spinatsch auf seine ursprüngliche Heimat. Snow Management befasst sich beispielsweise mit der Ökonomisierung der Natur im Zeichen des Wintersports und setzt jene fotografische Recherche über die Bündner Tourismusindustrie fort, die Albert Steiner bereits in den 1930er-Jahren mit seinem Buch «Schnee Winter Sonne» begründet hatte. Und genau in dieser paradoxen Balance von ursprünglicher Schönheit, zivilisatorischem Gestaltungswillen und ökonomischem Overkill situieren sich Jules Spinatschs fotokünstlerische Interventionen. Seine neuste Bildrecherche, die diesen Sommer in der Churer Galerie von Luciano Fasciati ausgestellt wird (www. luciano-fasciati.ch), trägt den Titel Tableaux d’Eclats. Gezeigt wird unter anderem eine Anordnung kreisrunder Schwarz-Weiss-Fotografien, die den Anschein erwecken, gewaltige Explosionen zu dokumentieren: Bombeneinschläge, Vulkanerruptionen oder die Kollision extraterrestrischer Energiefelder. Abstrakt und konkret zugleich, lassen die Abbildungen viele Spekulationen und Interpretationen zu – dies auch vor dem Hintergrund des Forschungsfeldes über Nukleartechnologie, das Jules Spinatsch zurzeit auch bearbeitet.
Die Wahrheit bef indet sich im Zwischenbereich all dieser Wahrnehmungspotenziale: Die Bilder sind in Island entstanden, wo vulkanische Energiefelder an die Erdoberf läche treten, gewaltige Naturspiele erzeugen und in schlammigen Teichen blubbernde, energiegeladene Transformationen produzieren. Um die paradoxe Qualität von Energie geht es schliesslich auch im Panoramabild Asynchron III, das Spinatsch im Innern des Atomkraftwerks Zwentendorf produziert hat. Das «Kernkraftwerk, das nie in Betrieb ging» ist einerseits ein einzigartiges Symbol für das Funktionieren der demokratischen Zivilgesellschaft, anderseits das Relikt einer kolossalen politischen Fehleinschätzung. Von der österreichischen Regierung unter Kanzler Bruno Kreisky zu Anfang der 1970er-Jahre vollkommen autokratisch entwickelt und fertig gebaut, wurde es buchstäblich in letzter Minute dem Referendum unterstellt und mit einer Volksabstimmung verhindert. Am 5. November 1978 legten 50.47 Prozent der österreichischen Bevölkerung ihre Stimme gegen das AKW in die Urne, sodass das bis zum letzten Brennstab fertig gebaute Kraftwerk nicht in Betrieb genommen werden konnte. Dort, genauer an jener Stelle, wo die Brennstäbe ins Wasser abgesenkt werden könnten, installierte Jules Spinatsch seine Netzwerkkamera und liess sie den jetzt
nutzlosen Kern des Reaktors dokumentieren. Das Bild vom symbolträchtigen Innern des Reaktors folgt dabei der absolut gleichen Bewegungsdynamik wie sie 35 Jahre zuvor bei der Inbetriebnahme vollzogen worden wäre. Darauf verweist auch der zweite Teil des Bildtitels: The missing 20 minutes. Durch die Analogisierung von Energieerzeugung, politischen Prozessen und Bildgenese verweist der Künstler auf einen wesentlichen und heute besonders akuten Zusammenhang: Wer die fotografischen Bilder kontrolliert, kontrolliert die Wahrnehmung der Welt.
Jules Spinatsch Halbautomat Galerie Luciano Fasciati, Chur 24. August bis 21. September 2013 Vernissage 23. August, 18 Uhr
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Kunstr aum sandr a romer , c hur
t e x t: Andrin schütz
fotos: M onic a Ur s in a J äg er
Kunstraum Sandra Romer in Chur «Experimentierfeld für junge Schweizer Künstler »
Seit bald sechs Jahren zeigt der Kunstraum Sandra Romer in anspruchsvollen Ausstellungen Positionen junger Schweizer Künstlerinnen und Künstler. Er ist, etwas versteckt in einem Hinterhof, zentral in der Churer Altstadt gelegen und nur wenige Gehminuten vom Bündner Kunstmuseum und dem Theater Chur entfernt. Viele Besucher, die zum ersten Mal die ehemalige Werkstatt betreten, sind von der Atmosphäre und der Qualität des Raumes als Ausstellungsort positiv überrascht.
Positionen in Einzel- und Gruppenschauen gut vertreten.
In der Tat ist der Kunstraum – mit seinen knapp 90 Quadratmetern grosszügig dimensioniert und doch überschaubar – ein ideales Experimentierfeld für junge Künstler, die hier oftmals erste Ausstellungserfahrungen sammeln können. Beinahe in jeder Einzelschau werden denn auch Werke auf die räumlichen Verhältnisse des Ortes hin konzipiert und umgesetzt. In den Frühlings- und Sommermonaten wird vielfach der dazugehörige Schopf in die Ausstellungskonzepte integriert.
Monica Ursina Jäger, die in London und Zürich lebt und arbeitet, hat für ihre Einzelausstellung im März 2013 eine grosse, raumübergreifende Skulptur für den Kunstraum Sandra Romer realisiert. Die gerüstartige Struktur mit dem Titel para/city, die vom Innen- in den Aussenraum wächst und im Schopf ihre Fortsetzung f indet, bezieht sich auf die visionären Architekturentwürfe der 60erJahre des deutschen Raumpioniers Eckhard Schulze-Fielitz. Die als Megastrukturen gedachten Elemente werden dabei in ihr Gegenteil verkehrt, indem die Raumstruktur die bestehenden Gebäude durchdringt.
Das Spektrum der fünf bis sechs Ausstellungen pro Jahr ist breit: Neben Malerei, Fotograf ie, Installationen und Videoarbeiten sind insbesondere zeichnerische
Regelmässig stellt der Kunstraum Sandra Romer vielversprechende junge Künstler aus der ganzen Schweiz vor. Gleichzeitig aber bildet die Förderung des einheimischen Schaffens einen Schwerpunkt: Mit Bianca Brunner und Monica Ursina Jäger vertritt der Kunstraum Sandra Romer in seinem Programm denn auch etablierte Künstlerinnen mit Bündner Wurzeln.
Mit ihren zeichnerischen Arbeiten lässt Monica Ursina Jäger den Betrachter in eine fantastische Welt eintauchen, die sowohl für visionäres Denken steht als auch für das Scheitern von Utopien. In der Serie terrain vague kombiniert Monica Ursina Jäger modernistische Architekturelemente mit Felsformationen und Baumbestand, die allesamt im leeren Raum zu schweben scheinen.
Kunstraum Sandra Romer Steinbruchstrasse 4A 7000 Chur 081 250 40 37 / 079 460 23 86 www.sandra-romer.ch Öffnungszeiten Freitag 14 bis 18 Uhr Samstag 12 bis 16 Uhr und nach telefonischer Vereinbarung
Die promovierte Historikerin Sandra Romer ist im Kanton Thurgau aufgewachsen. Nach dem Studium in Zürich hat sie während zweier Jahre für die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia in Berlin gearbeitet. Dort lernte sie ihren zukünftigen Mann, einen Churer Architekten, kennen. Nach dem Umzug in die Bündner Hauptstadt war die dreifache Mutter als Kulturbeauftragte der Stadt Chur tätig. Im Jahr 2007 machte sich Sandra Romer selbstständig und eröffnete den gleichnamigen Kunstraum.
Monica Ursina Jäger, terrain vague 14, Bleistift und Pigment Transfer auf Papier, 42 x 55 cm (Privatsammlung)
KUNST Wechselausstellungen aus der Sammlung Würth. Mo - So 10 -17 Uhr Do 10 - 20 Uhr Eintritt frei
EVENTS
KleinkunstVeranstaltungen
Forum Würth Chur Aspermontstrasse 1 7000 Chur Tel. 081 558 0 558 ●
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www.forum-wuerth.ch Mo - So 10 - 17 Uhr, Do 10 - 20 Uhr ●
Alle Aktivitäten des Forum Würth Chur sind Projekte der Würth International AG.
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Lydia Wilhe lm , winterthur
t e x t: N icol e S eeb erg er
fotos: M a rc A s ekh a m e , R a lph F ein er , C hri s ti a n K n ö rr , Ro b N i en b u rg
EINSCHNITT. EINSICHT. ZOOM Lydia Wilhelms künstlerische Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit von Strukturen
oben: Ansicht Kunstraum Sandra Romer, État physique, Ausstellung 2011, FLUX, 2011, 150 x 100 cm, Tusche auf Papier Mitte: Ansicht Kunstraum Sandra Romer, État physique, Ausstellung 2011, beide FLUX, 2011, 150 x 104 cm, Tusche auf Papier
Ansicht Kunstraum Sandra Romer, État physique Ausstellung 2011, KRISTALLIN, 1-3, 2010, 21 x 29.7 cm, Bleistift auf Papier + WUCHERUNG, 1+2, 2011, 21 x 29.7 cm, Tusche auf Papier
Ansicht im Atelier, Links: FLUX 2012, 148 x 100 cm, Tusche auf Papier, Rechts: EINSCHNITT 2012, 70 x 100 cm, Collage
Lydia Wilhelms Werktitel sind programmatisch für ihr künstlerisches Schaffen. Einschnitt, Einsicht, Zoom, Gewächs, Gefälle, Wucherung, Faltung, Raumerweiterung. Sie stehen für ihre Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit von Strukturen, welchen sie in der Natur, Landschaft und Architektur begegnet und welche sie in wissenschaftlichen Reproduktionen oder im Internet, aber auch in ihrem Archiv von selbst fotografiertem Material findet. Diese Fundstücke werden von der Künstlerin vielfältig verarbeitet, sei dies auf der zweidimensionalen Fläche oder im dreidimensionalen Raum in Zeichnungen und Installationen. Die in Disentis/ Mustér (GR) und Zürich aufgewachsene Künstlerin lebt und arbeitet heute in Winterthur. Doch der Bezug zu ihrer ursprünglichen Heimat wird von Wilhelm immer wieder hergestellt, sei das mit ihrem Ausstellungsprojekt Fernwärme, welches sie zusammen mit Gianin Conrad als «Begegnungsort für junge Kunstschaffende» vorantreibt, in Ausstellungen im Bündner Kunstmuseum Chur, im Kunstraum Sandra Romer oder mit ihrem Atelieraufenthalt in der Fundaziun Nairs, Scuol, im letzten Herbst.
Auf der Suche nach dem konstruktiven Prinzip beschäftigt sich Wilhelm erst einmal mit der eigenen visuellen Wahrnehmung. Was sehe ich? Wie lässt sich etwas darstellen? Allmählich beginnt sich die Künstlerin auf die Struktur zu fokussieren und diese herauszuschälen – dies passiert auch am Computer, wo sie ein Motiv bearbeitet, um es später wieder auf das Papier zu bringen. Dabei helfen ihr auch eigens gemachte Fotografien und wie zum Beispiel für die Arbeit Einschnitt wissenschaftliche Darstellungen von Kristallen. Wie lässt sich das Innenleben eines Kristalls darstellen? Wie kann seine Struktur mit der eigenen künstlerischen Sprache interpretiert werden? Die Künstlerin bricht die Kristalle in Dreiecke und Rhomben auf und erinnert mit diesen collagierten (Schnitt-)Formen an das regelmässige dreidimensionale Gitter des Kristalls. Der Blick wird dabei wie durch die Linse eines Mikroskops geschärft. Andere Elemente wie die verschiedenen Aggregatzustände des Wassers oder Vulkangestein bilden ebenso die Grundlage für ihre Arbeiten.
Ausstellungsansicht Faltung, Diplom-Ausstellung Master Fine Arts 2012, Kunsthalle Basel, ca. 300 x 500 cm, bedrucktes Fotopapier gefaltet
Ausstellungsansicht Mobile Struktur, Kunstplattform Akku Emmenbrücke, 2013, Draht, Magnete, Drahtseil, diverse Beschläge, ca. 400 x 690 x 200 cm
Wilhelms Interesse gilt jedoch nicht nur den Kleinstformen, sondern auch den Bausteinen von Landschaftsszenerien. In ihren Tuschezeichnungen wie Gewächs, Gefälle oder Wucherung setzt sie ihr Augenmerk auf die Landschaftsarchitektur, auf das polyperspektivische Zusammenspiel von organischen und geologischen Formelementen. Inspirieren lässt sich die Künstlerin auch von japanischen Landschaftsdarstellungen, die sich durch ihre Mehrfachperspektive auszeichnen. Ihre Faszination gilt insbesondere den stilisierten Landschaften von Hokusai (1760 – 1849), worin er verschiedene stilistische Elemente in unterschiedlichen Abstraktionsgraden vereint. Es sei eine Abstraktion, die lesbar ist, so die Künstlerin. Diese Aussage trifft auch auf ihr Werkschaffen zu, das je nach Wahrnehmung zwischen Fläche und Raum, Schärfe und Unschärfe, Gegenständlichkeit und Abstraktion hin und her pendelt und durch das teilweise grosse Format und das Allover noch zusätzlich an Wirkungskraft gewinnt. Arbeitete die Künstlerin anfangs vor allem Schwarz auf Weiss, lichtet sie nun zaghaft die Welt. Zum Einsatz kommen insbesondere die drei Grundfarben Gelb, Rot, Blau, welche in additiver Mischung weiter eingesetzt werden. Man darf gespannt sein, welchen Weg Wilhelm dabei einschlägt, entwickelt sie, wie sie sagt, im Moment eine kompatible Sprache, die Schwarz/Weiss und Farbe miteinander vereint.
Neben den zweidimensionalen Werken arbeitet Lydia Wilhelm auch installativ. Ihre raumgreifenden Installationen sind kraftvolle, selbstbewusste und gleichzeitig auch sehr filigrane Konstruktionen wie die Mobile Struktur aus Draht, kürzlich zu sehen in der AkkuKunstplattform, Emmenbrücke. Auch im Raum setzt Wilhelm Strukturen frei, wenn doch das Zusammenspiel mit der vorhandenen Architektur wie in der Installation Raumerweiterung in der Stalla Libra – Art Space in Sedrun oder in Faltung I/II eine wichtige Komponente ist. Besonders in letzterer Serie verwebt sie die Zweidimensionalität mit der Dreidimensionalität. Mit der fotografierten Parkettstruktur der Kunsthalle Basel bedruckte sie das Papier, welches sie wiederum zu einem Muster faltete, das sich jedoch von der Struktur des realen Parketts unterscheidet. Was ist nun Wirklichkeit ? Mit dieser Frage konfrontiert uns Lydia Wilhelm immer wieder, wenn man sich ihren Arbeiten nähert. Auf den ersten Blick hat man das Gefühl von Vertrautheit, welches dann doch korrumpiert wird. So hiess denn auch eine ortsspezifische Arbeit im Bündner Kunstmuseum Chur Compose & Collapse – Zusammenfügen und Auseinanderfallen, zwei gewichtige Begriffe für Lydia Wilhelm.
Detailansicht Mobile Struktur
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K &K Be at stutz e r , C hur
t e x t: K athl een Bühl er
fotos: DA N I EL RO H N ER
K & K Beat stutzer Seit seiner frühzeitigen Pensionierung im Herbst 2011 gehört Beat Stutzer auch zu denjenigen, welche nicht in den Ruh-, sondern in den Unruhestand getreten sind. Weiterhin engagiert er sich beruflich mit seinem Büro K & K, Kunst und Kommunik ation, an vielen Fronten, ohne diesmal jedoch eine Institution im Rücken zu wissen. Das hat Vor- und Nachteile.
Zu den Vorteilen gehören die Ungebundenheit und das Wegfallen von administrativen Pflichten, Sitzungen und anderen festen Terminen. Zu den Nachteilen zählt womöglich der Umstand, dass er jetzt wieder für alles alleine verantwortlich ist. Nachdem er 30 Jahre lang erfolgreich das Bündner Kunstmuseum geführt hat, jährlich mit seinem Team fünf bis sechs Ausstellungen realisierte, die wissenschaftliche Betreuung der Sammlung besorgte und zahlreiche Texte zur Kunst verfasste, geniesst er nun, dass er nicht jeden Tag im Büro erscheinen und für alle möglichen Anfragen zur Verfügung stehen muss. Die fachlichen Interessen sind jedoch dieselben geblieben. Es geht dem agilen 62-Jährigen nach wie vor um die intensive und tatkräftige Beschäftigung mit der Kunst. Er publiziert viel, gibt ganze Bücher heraus, organisiert Ausstellungen, hat während der letzten Mon ate d ie Ku n st s a m m lu ng der Graubündner Kantonalbank digital inventarisiert und dazu einen umfassenden Bericht verfasst – und er betreut als Kurator nach wie vor das Segantini-Museum in St. Moritz. Auch Künstler zählen regelmässig auf seinen Rat. So organisiert er für den Bildhauer Kurt Sigrist (geb. 1943) dessen kommende Retrospektive, welche vom 20. Oktober bis 24. November 2013 in Giswil (Kanton Obwalden) zu sehen sein und zu der auch ein wichtiges Podiumsgespräch stattfinden wird. Dazu erscheint im November dann die umfassende Publikation «Kurt Sigrist. Raum – Skulptur», im Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, in welcher Beat Stutzer auf über 350 Seiten einen gültigen Überblick über das künstlerische Œuvre Kurt Sigrists von den späten 1960er-Jahren bis heute gibt.
Überhaupt steht im Zentrum seiner Tätigkeit nach wie vor das Schreiben: «Schon während meiner Museumstätigkeit wusste ich, dass ich am nächsten an meiner Arbeit, Profession und Berufung bin, wenn ich schreibe. Nur musste man sich im Museum immer die Zeit dafür freischaufeln. Jetzt kann ich das besser ausleben. Der kunsthistorische Anteil meiner Arbeit – das Recherchieren, Künstler im Atelier besuchen und schreiben – ist in den letzten eineinhalb Jahren gestiegen und macht mir sehr viel Freude.» Ungeachtet dessen, ob ein Artikel in einer Tageszeitung oder in einer Fachpublikation erscheint, ist sein dringlichstes Anliegen, zwischen Kunst, Künstler und Publikum zu vermitteln. Beat Stutzer reizt es, der Kunst auf den Grund zu gehen und für ihre Anliegen Worte zu finden. Schreiben ist genauso eine kreative und damit unberechenbare Tätigkeit wie die Bildende Kunst. Dabei fühlt sich der Kunsthistoriker mitunter wie ein Künstler, der manchmal verzweifelt, weil es ihm nicht gelingt, auf den angestrebten Punkt zu kommen und der unverdrossen weitersuchen muss, bis er die Form findet, mit der er sich zufrieden geben kann. Doch dieser Herausforderung stellt er sich gerne, denn «mit jeder Aufgabe wird der Erfahrungsschatz grösser, was auch auf einen selbst zurückwirkt. Über Kunst gewinnt man Einsicht in sich selbst.» Nur in wenigen Fällen sind ihm die Worte schon weggeblieben, allerdings nicht bei besonders schlechter Kunst – dort gehen die Adjektive nicht aus – , sondern bei atemberaubender Kunst. Das käme immer seltener vor, weil sich in der Moderne vieles wiederhole. Das letzte Mal erging es Beat Stutzer in der Ausstellung «Alberto Giacometti. Die Spielfelder» in der Kunsthalle Hamburg (2013) so, als ihm das wohlvertraute Werk unter einem völlig neuen Gesichtspunkt präsentiert wurde, welcher schlagartig neue Zusammenhänge offenbarte. Solches sind seltene Sternstunden, die lange nachwirken. Beat Stutzer bekommt Anfragen aus aller Welt und verfertigt Texte zu vielen Künstlern, deren Werk er schon im Bündner Kunstmuseum Chur intensiv erforschte. So wurde er kürzlich von der Kunsthalle Hamburg und dem Bucerius Kunst For um Hamburg um einen
Katalogbeitrag über Alberto Giacometti und die Teilnahme an einem Symposium gebeten, schrieb einen Artikel zu Giovanni Segantini für das Art Institute Chicago und hat einen weiteren für eine Ausstellung in der Villa Stuck in München in Vorbereitung. Zugute kommt dem Unentwegten dabei sein nach wie vor legendäres Organisationsgeschick. Schon als Kunstmuseumsdirektor gab es keine unübersichtliche Stapellandschaft von Unerledigtem in seinem Büro, sondern nur klar ausgelegte Arbeitsfelder, die er mit Argusaugen überwachte. Kurzfristige Anfragen pf legte Beat Stutzer sofort auszuführen, Mittelfristiges erledigte er in zügigem Tempo noch vor Ablauffrist, und Langfristiges brachte er mit der Eleganz des geübten Marathon-Finishers ins Ziel.
Für das Bündner Kunstmuseum ist Beat Stutzer weiterhin, jedoch im Hintergrund tätig, zumindest solange bis der Erweiterungsbau steht. Der Kanton hat ihn in die Bau- und Planungskommission berufen, in der er seine lang jährige Erfahrung zur Verfügung stellt. Worin sieht er denn den Nutzen eines Kunstmuseums in heutiger Zeit? «Ein Kunstmuseum ist ein Ort der Authentizität, in dem Unikate praktisch ohne Schranken zur Verfügung stehen. Auch wenn mir nicht jedes Werk etwas sagen muss, kann ich aus einem reichen Angebot auswählen und erhalte im heute so komplexen Leben punktuelle Erkenntnisse, die mir in der Haltlosigkeit sinnlich und intellektuell Orientierungshilfe leisten.»
Veranstaltungshinweis Freitag, 8. November 2013, 19.00 Uhr, Podiumsgespräch «Raum – Skulptur, ein Dialog», moderiert von Beat Stutzer mit Stanislaus von Moos, Kunsthistoriker, Zürich, Peter Omachen, Denkmalpfleger des Kantons Obwalden, Martin Spühler, Architekt Stallikon, und Tilla Theus, Architektin Zürich, Turbinenhalle Unteraa, Giswil.
MIt engageMent und erfahrung Treuhand Unternehmensberatung Revision | Wirtschaftspr端fung Steuer- und Rechtsberatung Liegenschaftsverwaltung
Mitglied der Treuhand-Kammer
Riedi Ruffner Theus AG | Poststrasse 22 | CH 7002 Chur | Tel. +41 (0)81 258 46 46 www.rrt.ch | info@rrt.ch
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ste phan sc he nk , lüe n
t e x t: B e at St u tzer
P O RT R Ät: Da ni el rohn er
Stephan schenk Seit Ende der 1990er-Jahre bringt Stephan Schenk (*1962) ein fotogr afisches ナ置vre hervor, das auf pr テ、zis durchdachten Konzepten beruht und sich in akkur at definierten Serien offenbart: Ungekテシnstelte, mitunter dokumentarisch anmutende Bilder, die aber in einer bezwingend klaren Bildspr ache hinter der Oberflテ、che des Geschauten auf Fundamentales verweisen.
Bergwelten, Lai da Nalps, 1999, S/W-Fotografie auf Barytpapier, 54 x 43 cm, Auflage 5
Bergwelten, Bärentritt, 1999, S/W-Fotografie auf Barytpapier, 54 x 43 cm, Auflage 5
Horizonterweiterung, New York, 2007, Farbfotografie, 90 x 120 cm, Auflage 4
Die Arbeit Bergwelten aus dem Jahr 1999 umfasst zehn Schwarz-Weiss-Aufnahmen und steht am Anfang eines Schaffens, das sich kontinuierlich und beharrlich mit der Wahrnehmung von Landschaft auseinandersetzt. Stephan Schenk näherte sich damals, nachdem er aus Süddeutschland nach Lüen im Schanfigg gezogen war, der unvertrauten, schroffen Berglandschaft durch die künstlerische Auseinandersetzung – fasziniert von den Naturgewalten, von einem rundum eng begrenzten und extrem hoch situierten Horizont, von der wuchtigen und bedrohlichen Gegenwart der Elemente, von Fels, Schnee und Wasser, und von einer Existenzform, die sich auf ein Leben am Abgrund eingerichtet hat. Die zehn Aufnahmen, die eine Bergwirklichkeit jenseits von Postkartenidylle und hehrer Erhabenheit zeigen, unterliegen einer formal strikten Konzeption. Stets ist der Horizont derart hoch angesetzt, dass dem Himmel bloss noch ein schmaler Streifen Raum bleibt. Die Ansichten erschliessen nicht wie gewohnt kulissenhaft die Tiefe des Raumes, sondern offenbaren sich als grosse, in sich geschlossene Flächen: Felsfluh, Schneewand, Klamm, Geröllfeld. So wie Nah- und Fernsicht unvermittelt aufeinander-
prallen, so abrupt begegnen sich Natur und Zivilisation: die eng zusammengerückten Häuser des Bergdorfes an der obersten Kante des Schneefeldes, die Staumauer über der wildromantischen Schlucht mit Fels, Eis und Wasser, die Brücken über tiefen Abgründen oder die kleine Siedlung hart an der gefransten Kante zwischen beschaulicher Wiese und jähem Abbruch zur Tiefe. Nach den Bergwelten folgte die Arbeit Übergänge und schliesslich die drei grossen, langfristig angelegten Projekte Aussicht mit Zimmer, Wälderpanoramen und Horizonterweiterung. Bei den zahlreich festgehaltenen Aussichten auf Landschaften aus aller Welt – in Australien ebenso wie Arosa, in Paris wie auf Long Island – fügen sich die seitlich an den Bildrändern und stets exakt auf der Bildmittelhöhe situierten Punkte des sich dehnenden Horizonts zu einer «Horizonterweiterung», zumal wenn die einzelnen Bildtafeln sich zu einem weiten Bilderfries fügen. Als eine Hinterfragung unserer Wahrnehmung von «Welt» erweisen sich auch die 360°-Panoramen berühmter und bekannter Wälder, die sich aus segmentierten, überlappenden Einzelbildern
Horizonterweiterung, Paris, 2005, Farbfotografie, 90 x 120 cm, Auflage 4
zum Gesamtprospekt zusammensetzen. Mit den Wälderpanoramen fügt Schenk der langen Tradition des Bildmotivs aufgrund einer ungewöhnlichen, frappanten Perspektive neue, aufschlussreiche Facetten hinzu. Auch hier intendiert Schenk weit mehr als blosse, wenn auch innovative Mimesis: Konnotiert werden gleichzeitig soziokulturelle, ökologische, politische und kunstimmanente Aspekte, wenn prominente Forste, Wälder mit unrühmlicher Vergangenheit oder Haine mit einzigartiger Aura in neuer Sehweise uns vor Augen gestellt werden. Während die Bergwelten hohe gestalterische Anforderungen stellten und sich dementsprechend formal als komplex erweisen, wurde der bewusste gestalterische Akt beim Projekt Aussicht mit Zimmer ausdrücklich negiert. Die herausfordernde Frage war: Ergibt sich eine bildkünstlerische Aussage, wenn sowohl der Ort wie das Datum für eine Aufnahme dem Zufall überlassen werden und wenn sogar der Ausschnitt auf die «Welt» stets derselbe ist, nämlich der strikte, stets identisch gerichtete Blick aus beliebigen Hotelfenstern. Tatsächlich weisen die einzelnen, nicht inszenierten Bilder der
Serie Aussicht mit Zimmer eine unvergleichliche Spannung auf und legen in einer Parallelwelt vielschichtige Aspekte frei. Die 2001 begonnene und nach wie vor weitergetriebene Arbeit umfasst mittlerweile rund 250 Aufnahmen, von denen bislang die ersten 100 Bilder in zwei Publikationen (2006 und 2009) dokumentiert sind. Die Erfahrung, den Blick aus fremden, anonymen Zimmern in eine ungewohnte Umgebung in Erinnerung zu behalten, ist eine kollektive. Beim Bezug eines uns unvertrauten Raumes – sei es anlässlich von Ferien, Geschäftsreisen oder von Besuchen – vergewissert man sich zunächst und sogleich der Aussicht, die sich einem durch das Fenster auf das unmittelbare Umfeld öffnet. Diese Erinnerungen verblassen indes meistens bald und geraten gänzlich in Vergessenheit, zumal wenn sich der Ausblick als derart trivial präsentiert, dass sich das Gedächtnis zum Vorneherein gegen eine mentale Archivierung sträubt. Stephan Schenks Aussichten aus Zimmern auf banale Landschaften, auf Parkanlagen, auf Stadtgewimmel, auf triste Hinterhöfe oder auch auf atemberaubende, nächtliche Weltstädte sind zwar individuelle, erscheinen uns aber gleichwohl vertraut. Wir teilen zwar keineswegs oder
Aussicht mit Zimmer, Soglio, Schweiz, 23. – 26. 10. 2002, Farbfotografie, 19 x 50 cm, Auflage 4
Aussicht mit Zimmer, Tokio, Japan, 4. – 10. 4. 2003, Farbfotografie, 19 x 50 cm, Auflage 4
höchstens partiell des Künstlers eigene Erfahrungen im Erleben der Hotelzimmer mit ihren Ausblicken, und trotzdem teilen wir seine Episoden, weil wir Ähnliches auch schon gesehen, erlebt und erfahren haben. Stephan Schenks Arbeit, welche die «Welt» im rigorosen Ausschnitt von Hotelzimmerfenstern zeigt, mutet wie ein persönliches Tagebuch an, in das wir als Betrachter aber eigene, vielfältige Assoziationen einweben: Alles andere als eine Art topograf ischer Gesamtkatalog, sondern vielmehr ein willfähriges Surrogat mehr und minder zufällig sich kreuzender Reiserouten und Erfahrungen zwischen Erwartung und Enttäuschung, zwischen Alltag und Erlebnis, zwischen Vertrautem und Fremdem. Dabei haftet all diesen willfährigen Aussichten aus Zimmern etwas ungemein Tröstliches an: Es sind weit weniger
Sehnsuchtsbilder als vielmehr visuelle Botschaften, welche letztlich auch die Genugtuung vermitteln, dass an fremden Orten abseits des Geläufigen das Leben auch nicht anders abläuft. Zurzeit hat Stephan Schenk das höchst ambitiöse Projekt Kreuzweg in Arbeit: 14 Fotografien zeigen in extremer Nahsicht und in derart engem Ausschnitt den Blick auf Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges – vom Skagerrak bis Isonzo, von Verdun bis Tsingtau, von Gorlice-Tarnów bis Flandern –, dass die schier abstrakten Wiesen- und Seestücke einen Zugang zu den Erinnerungsorten des Leidens und Grauens eröffnen. Die Arbeit wird im August 2014 erscheinen.
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BANK FRICK , bal z e rs
t e x t: A N D R I N SC H Ü T Z
fotos: B enno B au m g a rtn er
bank frick – Monolithe des Menschlichen
Statisch und dennoch kraftvoll, geschlossen in sich selbst und still wachen die Holzskulpturen von Christian Bolt über die Eingangshalle der Bank Frick im liechtensteinischen Balzers: Drei übermannsgrosse Figurinen, gefasst in je zweiseitig offene Holzkuben mit kupferverspiegelter Innenf läche, lassen den Besucher innehalten, aus der Eile des geschäftigen Alltags heraustreten und zur Ruhe kommen. Vielleicht sogar vergisst man – in den Bann von Kraft und Zeitlosigkeit gezogen, den die mächtigen Skulpturen verströmen – für einige Augenblicke den eigentlichen Grund des Besuches.
«Und das ist es», so Jürgen Frick, «was uns die Arbeiten von Christian Bolt zeigen: den Reflex auf den Menschen in all seinen Vollkommenheiten, die Konfrontation mit der Wahrheit seiner Unvollkommenheit. Gleichzeitig verweisen sie auf den Leerraum, der noch vor uns liegt. Und damit auf unsere Chancen und Möglichkeiten.»
Und gerade dies – jene direkte, kompromisslose Kraft, die sich dem überraschten Betrachter entgegenstellt – ist der Grundstein der Zusammenarbeit zwischen der Bank Frick und Christian Bolt. «Wenn zu Anfang auch kritische Stimmen zum Projekt laut wurden, so war es eben genau das, was wir wollten», so Jürgen Frick, CEO der 1998 von dessen Vater gegründeten Privatbank. «Wir haben nicht nach gesichtsloser Dekoration für unseren Neubau gesucht, vielmehr wollten wir eine Zusammenarbeit, die auch die Philosophie und die persönliche Prägung unserer Bank repräsentiert.» Im Vorwort der von der Bank Frick herausgegebenen Publikation über die Zusammenarbeit mit dem in Klosters lebenden Künstler sind folgende Worte zu lesen: «Bewegen – begegnen – verbinden»: «Als grundlegende Tätigkeiten des menschlichen Seins». Ebendiese Worte stehen beispielhaft für die Philosophie des Familienunternehmens: Mittelpunkt ist stets der Mensch: Mit seinen Stärken, seinen Schwächen, seinem kreativen Potenzial und seinem Willen voranzuschreiten, ebenso wie dem Gedanken, sich mit anderen Menschen synergetisch zu verbinden. Dies auch über die Generationen hinweg. Das menschliche Sein ist hier die Grundlage für ein gemeinsames Voranschreiten, für ein gemeinsames Wachsen. Sei es in der Beziehung zwischen der Bank und ihren Kunden oder auch innerhalb des Betriebes unter den Mitarbeitern. Denn diese zwischenmenschliche Beziehung liefert die Basis, gemeinsam Erarbeitetes weiterzutragen und wachsen zu lassen.
Die Verarbeitung der basalen Thematik der menschlichen Existenz als singuläre, aber auch als Teil einer Gesellschaft, beschränkt sich jedoch nicht ausschliesslich auf die Eingangshalle. Begibt man sich in die Büroräume, wird klar: Der Gedanke durchwebt das ganze Gebäude. Tritt man beispielsweise vor Jürgen Fricks Schreibtisch, erhebt sich die Thematik in neuer Szenerie. Auf eine mächtige bronzene Platte sind Christian Bolts Bronzeplastiken aufgearbeitet: expressiv gehaltene Figuren: hier ein Mensch, einsam und isoliert. Dort wiederum scheinen sich die Körper gegen den Kopf hin aufzulösen und sich miteinander zu verbinden. Gemeinsam stehen sie vor einem Tor, das vermeintlich ins Nichts führt. Oder eben dahin, wo eine gemeinsame Zukunft liegt.
In der ersten Figurine noch augenlos und blind – rudimentär bloss ausgearbeitet – gewinnt der Mensch in der zweiten und der dritten Figurine an Gestalt, bekommt zuletzt Kontur, Gesicht und Augenlicht. Er schreitet nun – stets dem Bild seiner selbst ausgesetzt – in seiner Entwicklung voran.
Die druckgrafische Sammlung von Alberto Giacometti mit über 100 Exponaten. Das charmante und stilvoll gestaltete Berghotel im wunderschönen Dorf Sent im Unterengadin bietet seinen Gästen nicht nur eine gemütliche und warme Ambiance inmitten der Berge und in seiner intakten Natur, sondern auch ein hauseigenes Museum mit einer repräsentativen Ausstellung von Alberto Giacomettis druckgrafischem Werk (Lithographien und Radierungen). Diese weltweit einmalige Werkschau mit über 100 Exponaten ist begleitet von verschiedenen Kleinskulpturen des Bruders Diego Giacometti, sowie einer Fotosammlung von Ernst Scheidegger. Besuchen Sie uns und tauchen Sie in die Magie von Sent und seiner Pensiun Aldier ein. Wir freuen uns!
PENSIUN ALDIER, 7554 Sent Tel: 0 81 860 30 00, info@aldier.ch, www.aldier.ch www.alberto-giacometti-museum.ch
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walti roth , Triesen
t e x t: s eb a s ti a n fromm elt
fotos: B a r b a r a b ühl er
WALTI ROTH – Malerei als ästhetisches Projekt
Es gibt unzählige kulturelle Konditionen, unter denen Malereien entstanden sind, und daraus haben sich durch die Zeit die unterschiedlichen Stile und Genres in der Malerei entwickelt. Aber es gibt heutzutage eigentlich nur noch wenige prinzipielle Herangehensweisen, wie Malerei gedacht oder erhofft wird, bevor sie entsteht. Einerseits ist seit den Anfängen der Moderne der individuelle Ausdruck subjektiver Wahrnehmung in den Vordergrund gerückt, und andererseits haben sich dabei die bildnerischen Gestaltungsmittel stark ausdifferenziert. Sowohl das gestische, expressive, impulsive wie auch das projektierte, kontrollierte, konzipierte Erschaffen von Bildinhalten haben heute ein gleichberechtigtes Dasein in der Kunstwelt. Walti Roth ist dem Lager der projektierenden, planenden und konzipierenden Maler zuzuordnen. Denn es sind nicht etwa der spontane, malerische Gestus oder der direkte, emotionale Ausdruck, die seine Bilderwelten entstehen lassen. Seine Malereien sind vielmehr das Produkt einer überlegten, zielgerichteten Ausführung einer konkreten Idee. Und hier ringt der Künstler oft mit sich selbst, wenn das Resultat auf der Leinwand nicht hundertprozentig mit dem vor dem inneren Auge visualisierten Konzept des Bildes übereinstimmt, sei es auch nur in Nuancierungen. Das Gegenständliche als Mittel zur Anknüpfung an die Wahrnehmung des Betrachters dient Roth stets als Ausgangslage für seine Bildgestaltung. Dieses Prinzip ist in seinen Malereien mal vordergründiger zu lesen, mal verdeckter. Das Figürliche hat bei ihm eine erzählende Funktion, wobei das Genre der Erzählung variiert. Ob prosaisch beobachtend, surrealistisch verfremdend oder metaphorisch überhöhend: Auf seinen Bildern sind immer inszenierte Gestalten oder ästhetisierte Objekte in erdachten Räumen anzutreffen, in welchen sich der Drang zum Narrativen bemerkbar macht. Roths Werke hinterlassen beim Betrachter den Eindruck festgehaltener Erinnerungen an Szenerien, die der Künstler von imaginierten Reisen zurückbringt. In der Regel waren es bis anhin singuläre Einzelgänger. Neuerdings interessieren ihn serielle Versuche wie zum Beispiel die aktuell entstandene Werkgruppe. In dieser hat Roth das motivische Element stark reduziert, seinen Willen zur inhaltlichen Dramaturgie zurückgestellt. Es blieben ihm als Konsequenz klassische und doch anspruchsvolle Sujets zur Auswahl. Er entschied sich für das Gesicht – als Antlitz, als Haupt. Nicht als Porträt. Nur frontale, entrückte Geisterhaftigkeit. In Analogie zum Begriff des «Objet trouvé» könnte man hier vom «Sujet imaginé» sprechen. Denn Roths neue Malereien wirken wie glückliche Zufälle von Beobachtungen an einem Meeresstrand, wenn die Welle sich zurückzieht und für einen kurzen Moment Bildmotive im feuchten Sand erscheinen und wieder verschwinden lässt. Dieser Eindruck entsteht auch aufgrund der von Roth angewendeten Maltechnik: Mit Leim zeichnet er auf die Leinwand die bildgebende Trägerschicht, die er dann mit Sand bestreut und schlussendlich einfärbt und übermalt. So changieren seine neuesten Werke aus der Nähe betrachtet zwischen Malerei und skulpturalem
Relief. Aus der Distanz wirken sie in ihrer Schemenhaftigkeit wie verschüttet geglaubte Erinnerungen, die allmählich wieder an die Oberfläche zurückkehren und uns, aus einer zeitlosen Dimension zu uns herüber schauend, mit ihren Blicken mustern, als könnten sie nicht begreifen, warum wir auf unserer Seite geprägt sind von einem vom Verrinnen der Zeit bestimmten Denken und Handeln. Eine gespenstische Faszination für das Vergängliche – ohne jegliche Morbidität künstlerisch vermittelt. Der Künstler selbst versteht seine Malerei als rein ästhetisches Projekt und findet darum auch keinen Anstoss daran, wenn seine Bilder mitunter nur als «schön» oder «harmonisch» oder «dekorativ» wahrgenommen und nicht mit einer durch bildungsbürgerliche Furcht vor flapsigen Fehlinterpretationen erzeugten,
stummen und ratlosen Anerkennung bedacht werden. Auch handwerkliche Fertigkeit soll Kunst für sich in Anspruch nehmen dürfen, ohne dabei als Kunsthandwerk abgetan zu werden, ist Roth überzeugt. Dabei darf man nicht ausser Acht lassen, dass Walti Roth als «Autodidakt mit drei Jahren Kurserfahrung an der Schule für Gestaltung in Zürich» vor seinem künstlerischen Schaffen bereits eine längere Berufslaufbahn als Koch, Hotelleriefachmann und als Steward bei der damaligen Swissair vorzuweisen hatte. Bei der Schweizer Fluglinie hatte er die Gelegenheit, die grosse, weite Welt in kleinen Häppchen kennenzulernen. Als Künstler versucht er nun, in grossformatigen Bildern, einen kleinen Ausschnitt der Welt zu begreifen, die jeder Mensch unterschiedlich wahrnimmt.
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wie demannn/met tle r
t e x t: D eb or a h K ell er
Art D ir ection : C hri s ti a n e N ill
fotos: L ion el H enriod
Augenschmaus – Neue Werke von wiedemann/mettler
Handgestricktes und USM Haller – zwei «Werkstoffe», die in den letzten zehn Jahren zu wichtigen Merkmalen von wiedemann/ mettlers Kunst geworden sind. Wer in den so entstandenen Arbeiten verkürzt nur den Widerstreit von weiblichen und männlichen Eigenschaften liest, verpasst etwas. Das aus Chur stammende und in Zürich lebende Künstlerpaar Pascale Wiedemann und Daniel Mettler spannt den thematischen Bogen in seinen seit 2002 gemeinsam geschaffenen Fotografien und Installationen deutlich weiter. Verschiedene alltägliche Materialien und Objekte werden überraschend kombiniert, verfremdet und so neu konnotiert. Das traditionell weiblich besetzte Handwerk des Strickens überführten sie
in ungewohnte Dimensionen wie etwa die einer zweiköpfigen Riesenschlange, und die Flexibilität der Schweizer Design-Ikone USM Haller wurde auf spielerische Weise bis an die Grenzen ausgelotet. Seit Kurzem hat das Duo Porzellanfiguren und Javelwasser als künstlerisches Material entdeckt. Schauerlich ist der Anblick der in Reih und Glied und nach Grösse geordneten Porzellanfiguren, die uns alle aus grossen, schwarzen Augenhöhlen anstarren. 45 Stück an der Zahl wurden von wiedemann/mettler für die Arbeit Body Search «gelöchert» und auf einem Sockel, der dem Betrachter just bis zur Augenhöhe reicht,
«Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters», so lehrt eine bekannte Redewendung, «aus den Augen, aus dem Sinn», mahnt eine andere. Dinge können «ins Auge gehen» oder «wie die Faust aufs Auge passen», und die Augen gelten im Volksmund generell auch als «die Fenster zur Seele». Unser alltäglicher Sprachgebrauch veranschaulicht so vorzüglich die Bedeutung des Augenlichts, den es nicht nur bei der Orientierung, sondern auch auf gesellschaftlicher, kultureller und persönlicher Ebene spielt. Das Auge dient der Kommunikation, ermöglicht – wie alle Sinneswahrnehmung – Genuss, und ist nicht zuletzt manchmal Spiegel unserer intimsten inneren Regungen bzw. hilft uns umgekehrt, ein Gegenüber zu lesen. All diese verschiedenen Konnotationen werden von wiedemann/mettler in Body Search gleichsam mitgelöchert. Die zierlichen Gesichtchen der Porzellanfiguren werden zu grotesken Fratzen mit einem bedrohlichen Nichts anstelle des lieblichen Blicks. Natürlich wird damit auch das reizvoll glänzende Symbol von bürgerlich wohlgesitteter Harmonie und Unschuld, konfektioniert für den Beistelltisch im Wohnzimmer, gnadenlos ausgehöhlt und unterwandert. In ähnliche Richtung zielte schon 2010 die Arbeit Gegenfell, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen: Kunststoffmodelle, die für das Herstellen von Tierpräparaten verwendet werden, stehen hier für einen weiteren fragwürdigen Auswuchs der sogenannt «zivilisierten» Gesellschaft, für jenen des kultivierten und daher vielfach grotesken und ausbeuterischen Jagdverhaltens des Menschen. Diese evolutionäre Schieflage – schief wie der Boden der Installation – versuchen wiedemann/mettler in Gegenfell auszugleichen, indem die Tierkörper, anders als die Porzellanfiguren, nicht malträtiert, sondern liebevoll mit selbst gestrickten, pinkfarbenen Kleidchen eingepackt werden.
zu einem gespenstischen Ensemble kombiniert. Via Internet hat das Künstlerduo die Porzellanfiguren aller Art von Privatpersonen aus der ganzen Welt ersteigert: Ballerinen und Madonnen, beflügelte Putti und verzückte Liebespaare, spielende Kinder mit Bambi oder Blumenkörbchen – all diese nutzlosen Dekorfiguren, deren ehemalige Besitzer ihnen eine uns und dem Künstlerpaar unbekannte Bedeutung auf Zeit zumassen, wurden versammelt, um ihnen in einem Akt von diffiziler handwerklicher Präzision, welche allen Werken von wiedemann/mettler eigen ist, das Augenlicht durch stets gleich grosse Diamantbohrlöcher zu ersetzen. Was genau aber macht dieses Gesamtbild so erschreckend?
Body Search wiederum birgt noch eine zusätzliche Bedeutungsschicht durch die Art und Weise, wie wiedemann/mettler das «weisse Gold» beschafft haben: via Internet. Bereits 2011 hatte das Paar das Worldwide Web genutzt, um antike Masken verschiedener Kulturen zusammenzutragen. Diese De-Kontextualisierung wurde anschliessend auf die Spitze getrieben, indem die Künstler die Objekte mit Wollpompons «fütterten», sie so, wie bei Babble Brabble, mundtot machten und ihnen einen eigensinnig neuen, skulpturalen Wert verliehen. Im Falle von Body Search betonen eine rigid militärische Anordnung und der tote Blick der NippesFiguren die Anonymisierung, wie sie der verheissungsvollen globalen Vernetzung im Internet eigen ist: Ohne direkten persönlichen Kontakt mit den ehemaligen Besitzern haben wiedemann/ mettler eine Armee von nunmehr «ausdruckslosen» Dekorfigürchen vereint, deren Geschichte mit dem Aushöhlen ihrer Augen symbolisch getilgt wurde. Entsprechend lautet der Titel der Arbeit nicht Identity Search, sondern eben Body Search – wobei die Doppelbedeutung des englischen Wortes «Body», das sowohl «Körper» als auch «Leiche» meinen kann, dem Ganzen eine letzte makabre Note aufsetzt.
Aus einem anderen Blickwinkel, durch das Auge der Kamera, wird die unpersönliche und vereinheitlichende Tendenz der globalisierten Welt in der fortlaufenden Fotoserie One World vermittelt. Es handelt sich um ausschnitthafte Aufnahmen von Räumen, die meist von nüchtern künstlichem Licht beleuchtet und stets menschenleer sind. Architektonisch unspektakuläre Details werden so ins Visier genommen, dass geometrische Strukturen von hohem ästhetischem und abstrahierendem Grad anstelle von Ortscharakteristika zutage treten. Berlin, New York, Tokio, der Betrachter findet im Bild keinerlei Anhaltspunkt, um die Aufnahme einem bestimmten Erdteil zuzuordnen, jede Aufnahme könnte von (n)irgendwoher stammen.
Die in den genannten Werktiteln stets erkennbare Lust am sprachlichen Spiel haben wiedemann/mettler 2012 mit einer Bügelperlenarbeit zum Hauptthema gemacht. Bügelperlen, ein fast vergessenes Material aus dem Kindheitsalltag, mit dem das Duo seit 2009 operiert. Damit hat es unter anderem das hellrosa Wandobjekt Bright Silence kreiert, das bei Tageslicht nur vage eine Unregelmässigkeit im Bildzentrum erkennen lässt. Des Nachts dann lassen die dort eingelassenen, fluoreszierenden Perlen den Werktitel «bright shining» auf leuchten, womit «fröhlich» – oder doch als Warnsignal? – die «grosse Stille» proklamiert wird. In thematisch neue Gefilde führt uns Bazooka, eine Art «umgekehrter Malerei», wie die Künstler es nennen: Das ebenfalls zartrosa Wandobjekt mit der weissen Maserung ist Teil einer Serie, bei der ein Samtstoff mit einem in Javelwasser getauchten Pinsel in möglichst regelmässigen Abständen punktiert wird – eine wiederum höchst präzise ausgeführte Geduldsarbeit. Dennoch wird das weiche Textil an den «betupften» Stellen erstaunlicherweise in unterschiedlich grossen Punkten gebleicht, wodurch ein von den Künstlerhänden nur bedingt gesteuertes Muster entsteht. Wer näher an das Objekt herantritt, erkennt, dass die ätzende Lösung den Samt teilweise gar durchlöchert hat. Auch diesem zuckersüss flauschigen Objekt ist somit das Mal eines aggressiven Akts eingeschrieben. Dieses stete Changieren zwischen optischem Reiz und Irritation ist typisch für das gesamte Schaffen von wiedemann/mettler. «Handgemachter» Charme und Witz wechseln sich ab mit Nüchternheit oder gar Rohheit, und der Betrachter hat bei seinem Augenschmaus immer wieder an gesellschaftskritischen Beobachtungen zu kauen.
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