Kunstmagazin 2017

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kunst graubĂźnden und liechtenstein

ausgabe 9




INDERMAUR PEOPLE’S PARK EXTENSION

Begleitprogramm FÜHRUNGEN jeweils donnerstags von 18.30 bis 19.30 Uhr, CHF 8.Daten 28. September, 26. Oktober, 23. November, 21. Dezember 2017, 18. Januar, 15. Februar 2018 THEMATISCHE FÜHRUNGEN jeweils sonntags von 14 bis 15 Uhr, CHF 10.22. Oktober 2017 Lebens(t)räume: Leben ist Räume durchschreiten.

7.4.2017 – 18.2.2018

28. Januar 2018 Das kleine Welttheater oder die Protagonisten des Alltags. SONDERVERANSTALTUNGEN Für alle Sonderveranstaltungen ist eine Anmeldung erforderlich. Mail an chur@forum-wuerth.ch. Samstag, 9. oder 16. September, 13 – 17 Uhr Ein Besuch in Indermaurs Atelier in Paspels, CHF 40.Donnerstag, 14. Dezember, 18.30 – 19.30 Uhr Im Gespräch mit Robert Indermaur gehen wir durch die Ausstellung, CHF 10.WORKSHOPS FÜR ERWACHSENE MENSCHEN bilden Der Mensch und dessen figurative Gestaltung nehmen im Werk Indermaurs einen zentralen Platz ein. Die Menschenbilder und -plastiken hinterfragen unser persönliches Dasein und geben uns gestalterisch Mut selbst Menschen zu bilden. Nebst einem Rundgang durch die Ausstellung werden wir im Atelier kleine figurative Plastiken mit unterschiedlichen Materialien wie beispielsweise Ton, Gips oder Wachs gestalten. Für den Workshop sind keine Vorkenntnisse erforderlich. Teilnehmer: max. 12 Personen pro Workshop Kosten: CHF 150.- (inkl. Material) Zeit: 10 – 16 Uhr (individuelle Mittagspause) Anmeldung: chur@forum-wuerth.ch Daten Daten mit freien Plätzen 5. oder 26. November 2017 Alle Veranstaltungen finden unter der Leitung von Remo A. Alig, Fabiola Casanova (FC) oder Ariella Sonder (AS) statt.

Forum Würth Chur Aspermontstrasse 1 7000 Chur ●

Tel. 081 558 0 558 www.forum-wuerth.ch Mo - So 11 - 17 Uhr ●

Alle Aktivitäten des Forum Würth Chur sind Projekte der Würth International AG.


Editorial Liebe Leserinnen und Leser Auch in diesem Jahr waren wir viel und oft unterwegs in der Kulturlandschaft Graubündens und Liechtensteins. Und das Schöne dabei: Inzwischen sind wir bei unserer 9. Ausgabe angelangt und sehen uns noch immer mit neuen und spannenden künstlerischen Welten konfrontiert. Aber auch das Bekannte überrascht uns wieder: Der Bündner Altmeister Robert Indermaur feiert seinen 70. Geburtstag. Mit ihm feiert das Forum Würth in Chur mit einer fulminanten Ausstellung über das frühe, aber auch das aktuelle Schaffen Robert Indermaurs, das mehr denn je zu berühren vermag. Filigrane, kluge und wunderschöne Installationen aus Wachs haben wir bei Ernestina Abbühl gefunden. Der Bündner Luis Coray verzaubert mit seinen malerisch herausragenden Landschaften, während mit Notta Caf lisch und Dominik Zehnder die junge Generation unsere Aufmerksamtkeit erregt. In Liechtenstein haben wir Barbara Gehr, Karin Ospelt und Luigi Olivadoti besucht. Mehr sei hier aber nicht verraten. Ausser vielleicht, dass ein Ausflug ins schöne Münstertal mit seinem kleinen, aber feinen Talmuseum stets ein lohnendes Unterfangen ist. Nun aber wünschen wir Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!

Marc Gantenbein Herausgeber

Andrin Schütz Redaktion


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Camera obscura, Foto: Georg Vith


Barbara geyer Anatomy of everyday life

Barbara Geyers künstlerisches Werk umfasst Objekte, Plastiken, Zeichnungen, Fotografie, Druckgrafiken, Installationen und Videos. Auf dieser breit angelegten Gattungspalette entfaltet sie ihr kreatives Wirken «hautnah» – immer explizit und eng an ihrem subjektiven Erleben ausgerichtet. Mit sensibler Beobachtung des Vertrauten wie des Fremden, der Natur wie der Zivilisation, des alltäglichen Handelns ebenso wie ritueller Vorgänge stellt sie die transformatorischen Prozesse alles Lebendigen ins Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit. Dabei spielen ungewöhnliche Materialien wie zum Beispiel Wursthaut, Schlauchgummi, Draht, Brot, Haar u.v.m. eine wesentliche Rolle, vor allem, wenn sie geeignet sind, die subjektive Wahrnehmung der Realität in einer sehr individuellen Formensprache anschaulich zu machen.


Massarbeit, Fotos: Robert Fessler

Gleichmass und Wiederholung alltäglicher Handlungen oder Rituale werden als wesentliche Elemente des Daseins und der menschlichen Kommunikation begriffen, Elemente, die das Leben einerseits ordnen und strukturieren, andererseits über das Alltägliche hinaus auf andere, auch metaphysische Sinnebenen verweisen. Sie bilden häufig den Ausgangspunkt von Barbara Geyers künstlerischen Untersuchungen und manifestieren sich in zahlreichen seriell angelegten Werkgruppen. So bildet die Künstlerin Gegenstände des täglichen Gebrauchs durch das Knüpfen von Draht in Rastelbinder-Manier nach und erinnert damit an die einst vorwiegend von Roma ausgeführten kunstvollen Reparaturen wertvoller Alltagskeramik mithilfe von Drahtgeflechten, ein im modernen Leben verschwundenes Handwerk einer gesellschaftlichen Randgruppe.

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Massarbeit, Fotos: Robert Fessler


Leibesübung, Foto: Rupert Steiner

Unmittelbar verbunden mit dem individuellen Erleben, auch mit der Beobachtung des eigenen Körpers in Abhängigkeit von äusseren Faktoren wie Lebensraum und Zeit, sind die Arbeiten aus Brot. Während eines Aufenthalts in New York kulminiert ihre Wahrnehmung der Andersartigkeit des täglichen Lebens im Mangel von und der Sehnsucht nach gehaltvollem Brot. Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Fremdheitsgefühl mischen sich in die Sehnsucht nach diesem Grundnahrungsmittel Reflexionen über Verwurzelung und Herkunft, über bestehende Werte und neue Orientierungen. Der Akt des Brotkauens an sich vermittelt Innigkeit und Intimität; mit ihm verbinden sich Gedanken und Empfindungen, die um urmythische Werte kreisen, um die Schaffung von Behausung, um Schutz Leibesübung, Foto: Robert Fessler


für Leib und Seele, um Lebenserhaltung und Authentizität; der Begrif f der Einverleibung bzw. «Einverlaibung» drängt sich auf. Die Brothäuser, deren Produktion an den Nestbau der Schwalben und deren Form an einfache Lehmbauten erinnern, bilden das Gefäss für subjektive Befindlichkeiten. Ein Video, fokussiert auf den Mund der Künstlerin, dokumentiert überdimensional und ausschnitthaft den Vorgang des Kauens. Damit öffnet sich das Subjektive für den Betrachter, und das Private wird öffentlich, bietet sich an zur (An-)Teilnahme. Zustände des Äusseren und Inneren werden in ein Spannungsfeld gebracht. Die Künstlerin thematisiert mit dieser Arbeit ein Paradoxon: das Beheimatet-Sein in der Heimatlosigkeit. Leibesübung, Foto: Robert Fessler

Leibesübung, Foto: Rupert Steiner

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So wie sich hier das Werk sehr unmittelbar mit dem Leiblichen der Künstlerin verknüpft, hat auch die Haararbeit eine biografische und gewissermassen biomorphe Konnotation: Für Barbara Geyer bedeutete ihr Haar, das sie über siebeneinhalb Jahre lang wachsen liess und in «Rasta-Manier» verfilzte, Schutz und Abgrenzung, die sie aus sich selbst hervorbrachte wie die Seidenraupe den Faden für ihren Kokon. Zu einem 51 Meter langen Seil zusammengefilzt, das auf unterschiedlichste Art in Installationen oder A kt ionen, zum Beispiel a ls Sprungseil, zum Einsatz kommt, veranschaulicht das Haar Lebens-Zeit-Raum: Wachstumsintervalle – und damit Zeit – sind an der unterschiedlichen Farbigkeit der Haarabschnitte ablesbar.1 In einem individuellen und rituellen Vorgang hatte die Künstlerin während eines Aufenthalts in Kirgisien, an einem sorgfältig gewählten Ort in der Natur, ihr Haar geschnitten. Hier deutete sich bereits etwas an, was in jüngerer Zeit mehr Raum erhält: das Interesse an der Aura eines «heiligen» Ortes, eines allgemeingültigen und zugleich individuellen mystischen oder spirituellen Kraftortes und daran, was die Aura eines solchen Ortes im Menschen bewirkt.

Mein Haar 1998–2006, Videoinstallation, Foto: Robert Fessler

Scannen Sie den qr-code und gelangen Sie zum Film «Haare» von Barbara Geyer

Mein Haar 1998–2006, Videoinstallation, Foto: Robert Fessler

Camille Claudel stellte eine der drei Moiren, nämlich jene Clotho, die den Lebensfaden spinnt, mit dickem, tuch- oder seilartigem «Haar» dar. Auf welche Quelle sich die Bildhauerin bezieht, ist mir nicht bekannt und möglicherweise entspringt diese Art der Darstellung auch nur der schöpferischen Fantasie der Künstlerin.

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El hierro, Foto: Barbara Geyer

El hierro stadium I-III, Foto: Martin Walch

Das Werk El Hierro speist sich in diesem Sinne auch aus dem Zauber des Topos: Vier Tage und vier Nächte verbringt die Künstlerin fastend im Angesicht eines unter der Wasseroberfläche tätigen Vulkans auf der kleinen kanarischen Insel. Sich selbst wie auch der Natur ausgesetzt, spürt sie inneren und äusseren Vorstellungsbildern nach, folgt dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren: Der Vulkan selbst bleibt unsichtbar, nichts ist zu hören, dass er tätig ist, zeigt nur die gelbliche Verfärbung des Wassers. El Hierro kann als Metapher für verborgene Vorgänge im Grossen wie im Kleinen, im Weltganzen wie in der menschlichen Seele stehen: Die äusseren Anzeichen sind nur ein unvollständiger Widerschein eines umfassenderen Geschehens. In Barbara Geyers Installation tritt der Dampf einer Nebelmaschine durch ein feines Loch in der Landkarte genau an jenem Ort aus, an dem der Vulkan auf El Hierro seine unterirdische Tätigkeit wieder aufgenommen hatte. Diffus, undefinierbar steigt er in der Vitrine auf und überlässt die Betrachter ihren Gedanken und Empfindungen, der Suche nach ihrer je eigenen Vision.

w w w.barbarageyer .net te x t: cornelia kolb -wieczorek fotos: Barbar a Geyer , georg vith, Robert Fessler , martin walch, Günter König und Rupert Steiner El hierro, Foto: Günter König

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Porträt, 2015


HOME rai / sclav

Notta Caflisch Eine Illustratorin des Zeitgeschehens

Seien wir ehrlich. Die täglich über uns hereinbrechende Medienf lut, die uns mit Schreckensszenarien, Gräueltaten und Hiobsbotschaften aus allen Ecken der Welt konfrontiert, überreizt unsere Wahrnehmung. Diese schockieren zwar kurzfristig, berühren, machen Angst, erzeugen Wut. Schon bald jedoch wird die tiefe Bestürzung – ein Gefühl des Unheilvollen – zusammen mit der Zeitung zum Altpapier gelegt. Weil man es schlicht nicht aushält, nichts an den Gegebenheiten ändern zu können, und eigentlich ein jeder genug mit sich selbst zu tun hat. Das Bewusstsein des stetigen Flusses dieser Schreckensmeldungen trägt dazu bei, eine Art kühle Distanz zu den Geschehnissen zu entwickeln. Für die Churer Künstlerin Notta (*1979) sind genau diese Nachrichten Nährboden ihres künstlerischen Schaffens. Sie filtert Mitteilungen aus der Tagespresse, die sie in ihrem «ruhigen und geregelten Alltag erreichen» (Notta). Durch die jeweilige Veranschaulichung sozialer, konf liktreicher Ungleichheit verleiht sie einem weltumspannenden, teils anonymen Gespenst in Form von eigenwilliger Objektkunst eine Kontur. Sie sieht sich selbst eher als eine Illustratorin des Zeitgeschehens, denn als eine politische Künstlerin.

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Stock The Visit

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Dennoch sind ihre Arbeiten stark politisch motiviert. «Illustration» bedeutet eigentlich «Erleuchtung». In diesem Sinne durchleuchtet die Künstlerin einen Text, der allzu sehr vom Vergessen bedroht ist, mit dem Ziel, aus ihm einen Gegenstand herauszuschälen, der wiederum für sich stehend dem Geschehen eine symbolische Form verleiht. Mehrschichtige Aussage Notta arbeitet parallel an verschiedenen Werkgruppen, die sich mit dem globalen – oft undurchschaubaren – Ineinandergreifen und Überlagern von Politik und Wirtschaft und den daraus resultierenden sozialen Ungleichheiten auseinandersetzen: Kriege, Hungersnöte, Umweltzerstörung, Börsencrashs sind Schauplätze ihrer Arbeit. Meist entstammt ihr künstlerisches Vokabular der Konsumkultur. Sie verwendet global relevante Güter aus Handel und Konsumgesellschaft und stellt den Gegenstand als Kunstobjekt ins Zentrum. Mittels Neubesetzung und Verfremdung, dazu einem prägnanten Titel, versucht sie sodann zu einer mehrschichtigen, kritischen Aussage zu gelangen. In der Serie «Stock» wird der Betrachter beispielsweise mit Konsumgütern, die vor allem für den Handel an der Börse relevant sind, konfrontiert. Exemplarisch soll hierfür die Arbeit «Parachutist» (Fallschirmjäger) aus dem Jahre 2014 stehen: Im Begriff auf dem Boden zu landen, umkreisen kleine, bemannte Fallschirme den Betrachter. Die kleinen Kerle entpuppen sich als eine Invasion aus Jägern, die mit ihrem Fallschirm in Form einer einfachen Plastiktüte – Transportmittel und Waffe zugleich – das Land okkupieren. «Die Truppen sind wir, die Verbraucher», äussert sich Notta dazu. Das aus unserer Wegwerfgesellschaft nicht mehr wegzudenkende, überwiegend aus Rohöl erzeugte synthetische Material ist einerseits ein signifi-

Home The Secret


SURRENDER Parachutist

kanter Wirtschaftsfaktor, denn es existiert kaum ein Industriezweig, der nicht auf Kunststoff angewiesen ist. Andererseits zeichnet der masslose Verbrauch des sich nicht zersetzenden Stoffs für gravierende Umweltprobleme und die Zerstörung unseres Planeten verantwortlich. Die Themen von Gewalt und Krieg beleuchtet Notta im Werkzyklus «Surrender» (Kapitulation). Während «AK 47» (2015), eine aus durchsichtiger Glyzerinseife hergestellte Kalaschnikow, subtil die latent vorhandene Gewalt im Alltag in den Mittelpunkt rückt, widmet sich die Künstlerin in ihrer Arbeit «Fait accompli» (vollendete Tatsache) von 2015 explizit der Verschleppung, Schändung und Ermordung afrikanischer Mädchen und Frauen durch die nigerianisch-islamistische Terrormiliz Boko Haram. Anmutig, stark und mahnend steht eine in farbenprächtige, afrikanische Stoffe verhüllte Büste im Raum. Notta nimmt mit ihrem mit exotischen Pf lanzen, Maschendrahtzaun, Dollarscheinen, Handgranaten und Maschinengewehren bedruckten Stoff Bezug zum sogenannten nonverbalen, gesellschaftlichen Austausch afrikanischer Frauen in ihrem sozialen Umfeld, die ihre Befindlichkeiten durch das Tragen unterschiedlich bedruckter Gewänder zum Ausdruck bringen. In ihrer noch am Anfang stehenden Serie «Refuge» bezieht sich die Künstlerin auf die Flüchtlingsproblematik. Im Rahmen der Weltfilmtage in Thusis Ende 2015 schuf Notta ein aus alten, zerrissenen Kleidern zusammengefügtes Zelt. Das Zelt ist Schutzhütte, Zuf luchtsort und Rückzugsraum Abertausender Menschen auf der Flucht. Durch eine feine, fast unsichtbare Konstruktion wird die Behausung SURRENDER AK47

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Surrender Fait accompli

Refuge Tent


SURRENDER Freedom Fighter


Stock White Gold

STOCK Bomba de Gasolina

von Notta aufrechterhalten und symbolisiert so die fragile und schwer fassbare tragische Situation der Flüchtlinge. Diese Werkserie möchte die Künstlerin zu einer grossf lächigen Intervention in der Öffentlichkeit ausdehnen, indem sie an Verkehrsinseln ihre als Mahnmale zu verstehenden Refugien anbringt. Fruchtende Irritation Auch wenn Notta mit ihrer Arbeit unsere Distanz zu den ewig auf uns einstürmenden Schreckensmeldungen nicht gänzlich aufzuheben imstande ist, so erzeugt sie doch eine fruchtende Irritation. Sie hält den Horror gewissermassen im Kunstobjekt an, fokussiert wesentliche Aspekte durch Überhöhung und einen neuen, konzentrierten Kontext. So können wir in der Anschauung innehalten und unsere zumeist ohnehin anwe-

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sende Kritik am Weltmonster mit in die Kunst von Notta einf liessen lassen. Die «künstlerische» Ruhe schafft zudem eine Atmosphäre der Ernsthaftigkeit, die angesichts der Weltlage und aufgrund unserer eigenen Befindlichkeit der Ohnmacht in der Lage ist, als wesentliches Instrument einer gerichteten Kritik zu fungieren.

www. notta.ch te x t: Ginia Holdener aus: Bündner Jahrbuch 2017, S. 63-68 fotos: Thomas Stöckli (Portr ät ) & zVg


Luis im Atelier - Foto: Peter de Jong, churer magazin


Luis Coray «Kunst will erprobt werden. Als stetes Kreisen.»

Mit der Malerei setzt sich Luis Coray, der sich auch als Performer, Musiker und Liedermacher einen Namen gemacht hat, seit Jahrzehnten voller Empathie und mit passionierter Empfindsamkeit auseinander. Dabei vertraut er ganz ihren wesenhaften Mitteln: der schillernden Farbe in ihrer pastosen oder lasierenden Materialität und der damit evozierten Räumlichkeit, dem spannungsvollen Wechselspiel von Licht und Schatten sowie dem Dialog von Chromatik und Form.

In jüngster Zeit hat Luis Coray (1954 in Laax geboren, lebt und arbeitet in Chur) mit zwei fulminanten Auftritten auf sich aufmerksam gemacht. Zum einen mit seinem Projekt in Zusammenarbeit mit dem Ensemble ö!, bei dem seine interaktive Auseinandersetzung mit der Musik in ein kolossales Triptychon mündete, das auf der Bühne des Theaters Chur im Dezember 2015 als Beitrag zur Uraufführung Bilder von David Sontòn Caf lisch zur Wirkung gelangte. Zum anderen mit einer Ausstellung in der Stadtgalerie Chur im Herbst 2016 (gemeinsam mit Katharina Vonow), zu der eine umfassende Buchpublikation erschien. Die Monografie Munds/ Welten stellt den Künstler, seinen Werdegang, seine Aktivitäten und vor allem sein malerisches Œuvre der letzten rund 20 Jahre mit seinen Charakteristika, Intentionen und Hintergründen in repräsentativer Breite vor.


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Variaziun, 2016

Wenn sich Luis Coray motivisch auf das Naheliegende seines Umfeldes und seiner Herkunft bezieht – mit Vorliebe auf den Lag Tiert und den Lag digl Oberst, auf die Tumas bei Domat/Ems oder auf das Wäldchen Ratenna bei Tamins –, sind die Sujets in erster Linie Axiome für das Bewältigen genuin malerischer Probleme. Alle Bilder von Luis Coray sind eigentlich Biotope – nicht nur wenn es um das Spiel von Wasser und Spiegelung, von Teich und Geäst, von Farn und Wald oder von Stein und Landschaft geht –, sondern auch im metaphorischen Sinne: um das vielschichtige Leben schlechthin.

Luis Coray arbeitet als Maler mit denselben Prämissen, wie sie für die Musik grundlegend sind: Rhythmus, Komposition, Syntaktik und Motivik. Er hat sich zwar von der früheren, exorbitanten Werkgruppe längst losgesagt, als er sich mit obsessiver Eindringlichkeit mit den Tümpeln bei Laax und Flims beschäftigte und diese in ausschnitthafter Nahsichtigkeit in schier unzähligen Varianten auf die Leinwand bannte. Er ist im wahrsten Sinne zu neuen Ufern aufgebrochen, indem er die landschaftlichen Motive mit der Zeit aufgab. Auch ohne erkennbare Gegenständlichkeit ist

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das darauf folgende, gesamte Schaffen stets geprägt von einer metaphorischen Tiefgründigkeit. Denn bei den figurativen und vertrauten Sujets, die sich auf das Naheliegende des eigenen Umfeldes und der eigenen Herkunft beziehen, handelte es sich stets weniger um konkrete Impressionen und topografische Abbilder als vielmehr um vordergründige Sujets für das Bewältigen und Ausformulieren primär malerischer Probleme. Luis Coray kann man getrost als malenden Berserker bezeichnen, wenn man damit den ekstatischen Kampf um das


Luis am Malen – Foto: Elisabeth Coray


Ensemble ö! bei der Uraufführung «Bilder», Dezember 2015, Theater Chur


gültige Bild ohne Rücksicht auf Verluste konnotiert. Gemeint ist die unablässige Auseinandersetzung mit der Malerei und ihren Möglichkeiten zwischen Tradition und Gegenwärtigkeit. Allerdings korrespondieren bei Coray das spontane, gestische Malen und das permanente Im-Bilde-Sein stets mit einem hinterfragenden, selbstkritischen Blick. Das Ringen um das verbindliche malerische Resultat geht mit einem Arbeitsprozess parallel, bei dem Bildschicht um Bildschicht aufgetragen und dann wieder abgekratzt oder abgewaschen werden, um das bislang Errungene stets infrage zu stellen und um in neuen Ansätzen zu bislang Verborgenem vorzustossen. Mit der rasanten Entwicklung der letzten Jahre ging das dezidierte Forcieren der Ungegenständlichkeit parallel. Dabei trieb Luis Coray das Spiel mit der vom Gegenstand vollends losgelösten Farbf läche unermüdlich weiter. Diese entfaltet ihre Wirkung in vielerlei wechselnden Farbnuancen, und die pure Peinture laviert spannungsreich zwischen kompakter, unmittelbarer Präsenz und lasierender Transparenz. Solche Gemälde appellieren nicht zuletzt an die Wahrnehmung der Betrachtenden oder: Je näher man an das Bild herantritt, umso malerischer erscheint das Ganze. Wenn man bei den neueren Gemälden von Luis Coray durchaus Landschaftliches, Vegetabiles oder Abstraktes wie Musik assoziieren kann, bleibt dies eigentlich sekundär, denn es handelt sich um grundsätzliche malerische Probleme, die den Künstler zur Bewältigung herausfordern. Es geht um Transparenz und Opazität, um eine strahlende, f lackernde, aber auch verschattete Chromatik mit unterschiedlichsten Intensitäten, um evozierte Räumlichkeit zwischen Oberfläche und unauslotbarer Tiefe, um Rhythmik als abstraktes Element von Intervallen und Sequenzen, um die Interaktion von Linie und Fläche, von Fülle und Leere, von Bewegung und Ruhe sowie um das Wechselspiel von Farben und Formen.

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Auras, 2014

Rastlos ergründet Luis Coray stets neue malerische Möglichkeiten und Wege und lässt sich gerne auch auf waghalsige Experimente ein, indem er ungewohnte malerische Techniken erprobt.

Der Horizont von Luis Coray weist indes weit über seine Verwurzelung in der rätoromanischen Herkunft und Kultur hinaus. Er ist enorm belesen, kennt sich in der Kunstgeschichte und in der Literatur ebenso aus wie in der Kunsttheorie und

Musik, in der Philosophie oder in naturkundlichen Bereichen, ist offen für mannigfache Anregungen, die er zum Beispiel während seinen Aufenthalten im Ausland, vor allem 2013 in Berlin, aufgenommen hat. Er misst sich an der Kunst


der Vergangenheit ebenso wie an zeitgenössischen Künstlern wie zum Beispiel an Gerhard Richter oder Peter Doig. Luis Coray, der zyklisch in Werkgruppen arbeitet, setzt sich malerisch neben gegenständlichen Vorgaben wie etwa Kräutern und Pflanzen, auch interdisziplinär mit der Musik und der Lyrik oder mit Atmosphärischem auseinander – beispielsweise mit dem Wetter, worauf die Werkgruppe Auras gründet. «Aura» ist ein komplexer Begriff, den der Philosoph und Literat Walter Benjamin im 1935 erschienenen Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» für die Natur und die Kunst neu «als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag», definierte.

w w w.luiscoray.com te x t: Beat Stutzer fotos: stefan schenk

Lag digl Oberst, 2013

Luis Coray – Munds/Welten Monografie Beiträge: Arthur Godel, Beat Stutzer, Erwin Ardüser Rumantsch sursilvan/Deutsch 23 x 27cm, gebunden, 128 S. 46.00 CHF Chasa Editura Rumantscha, Cuira/Chur

Cover Buchmonografie

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Ausstellung Indermaur

People’s Park • Extension Robert Indermaur

Noch bis zum 18. Februar 2018 zeigt das Forum Würth in Chur eine umfassende Retrospektive mit den faszinierenden Werken des 1947 in Chur geborenen Malers, Zeichners und Bühnenbildners Robert Indermaur. Der Maler als grosser Erzähler Verweist das eingangs gesetzte Wort des Künstlers auf die verwegen traumverlorenen Fantasien, die aus der scheinbar endlosen Bühne der Nacht emporsteigen, so zeigt sich Indermaurs Schaffen seit jeher nicht nur als nächtliche Traumlandschaft, sondern vielmehr auch als ein lebendiges Reich des ins Werk gesetzten Tagtraumes. Dieses «ins Werk setzen» wiederum präsentiert sich bei Robert Indermaur als eine stets philosophisch pointierte und zugleich oft heitere Erzählung des an sich Alltäglichen.

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«So wie die Nacht voller Sterne ist, ist die Dunkelheit für mich voller Träume» Robert Indermaur

Blick auf die Atlanten


Blick in die Ausstellung

Fences / 9 Personen, 2016, Ă–l auf Baumwolle, 150x440cm


Skulpturenpark Indermaur


Dialog «Der Handschlag» im Skulpturenpark

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So findet und erkennt sich sein häufigstes Motiv – der Mensch – in den Geschichten des Künstlers denn auch immer selbst in allen Facetten seines Daseins wieder: sei es als Liebender, sei es als Bangender, Sinnierender, Überraschter, verschwiegen und heimlich vor sich hin Träumender, als Weinender oder natürlich hie und da auch als verschmitzt Lachender. Robert Indermaur, der selbst die Bühne und das Theater über alles liebt, eröffnet dem Menschen in seinen Tag- und Nachtträumen seine eigene Bühne und verleitet ihn dazu, selbst Teil des Schauspiels zu werden, das uns der Maler in Gestalt des gewitzten Geschichtenerzählers vorsetzt. Denn so sehr den Arbeiten Robert Indermaurs auch der Schalk innewohnt, so sehr sind sie auch eine charmante, kluge und zugleich scharfe Analyse des Menschen, seiner Gesellschaft und seiner tradierten Verhaltensmuster. Eines dieser Verhaltensmuster macht sich der Künstler gekonnt zunutze und verführt den Betrachter sogleich zum heiter-ernsten Spiel mit sich selbst. Poesie des Humanen Und so zieht es den neugierigen Betrachter in der aktuellen Ausstellung sofort hinein in die wundersame Black Box, die den Raum mittig beherrscht, auf dass er unversehens selbst bereits Teil bzw. Extension des Indermaur’schen «People’s Park» wird.

In der Black Box stösst der Betrachter auf sein mögliches Ebenbild, dessen Kopf wiederum in einer weiteren Black Box steckt. Aus deren Dunkelheit entsteigen Traumbilder und scheinen Phantasmen gleich auf den schwarzen Wänden des Raumes umherzutanzen.

Skulpturenpark Indermaur

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Die installativ gefasste Parabel nächtlicher Träumerei und Introspektion entwickelt sich so zur von nahezu zahllosen Charakteren rege bespielten Bühne der Erinnerung, der Hoffnung, der Zukunft und der Vergangenheit eines jeden Besuchers. Verlässt man das nächtige Schattenspiel, findet man sich beinahe froh, wieder auf der Bühne des Tagtraumes zu erscheinen, wo einem eine stämmige, aber freundlich wirkende ältere Dame aus der Serie der «Zeitzeiger» begegnet und der Puppenspieler skeptisch aus seinem Laden äugt. Tiefsinnig heiter auch der «Dialog», dessen wahres Gesicht sich hinter zwei Masken verbirgt, während wiederum ein anderer Zeitgenosse ein Bad in einer alten, zerbeulten Blechdose geniesst.

«NUT» Eingang zum Skulpturenpark

Das ausserordentliche zeichnerische Talent Indermaurs kommt in den vielen, liebevoll ausgewählten Zeichnungen und Skizzenbüchern zum Tragen, die in der rund 40 Schaffensjahre umfassenden Ausstellung ebenso präsent sind wie die grossformatige Malerei und die skulpturalen Werke. Wer sich also anschickt, die von Indermaurs mächtigen Atlanten gestützte Halle des Forums zu verlassen, auf den warten hinter dem Gebäude weitere poetische Trouvaillen aus der Hand des Künstlers: Es gilt, ein Tor in Form eines kopfstehenden Harlekins zu durchschreiten, den gen Himmel weisenden Positionslichtern zu folgen oder aber dem fragil in luftiger Höhe balancierenden Schornsteinfeger Glück zu wünschen. Die Frage, ob die beiden Liebenden, die im Park hinter dem Forum Würth einander harren, je auch zueinander finden, mag allerdings unbeantwortet bleiben.

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w w w.forum-wuerth.ch/chur te x t: Andrin Schütz fotos: Würth international ag , Robert Indermaur , Stefan Schlumpf


Robert Indermaur Das Forum Würth Chur gewährt mit dieser Ausstellung einen Einblick in das Gesamtwerk des bedeutenden Bündner Künstlers Robert Indermaur. Die bisher grösste Ausstellung Indermaurs würdigt sein beeindruckendes Lebenswerk und feiert gleichzeitig den 70. Geburtstag des Künstlers. Mit dieser repräsentativen Schau zeigt das Forum Würth Chur bereits die fünfte Ausstellung mit Werken ausserhalb der Sammlung Würth und feiert zeitgleich 15-jähriges Bestehen. Die Ausstellung wird durch das Buch «People´s Park· Extension» ergänzt, welches Werke von 2001 bis 2017 dokumentiert und zur Ausstellungseröffnung erschien. Zudem finden regelmässig Führungen und spannende Begleitveranstaltungen statt, unter anderem auch Anlässe in Anwesenheit des Künstlers. Eigens für die Ausstellung und zu seinem runden Geburtstag hat Robert Indermaur eine limitierte Grafik gestaltet, die exklusiv im Forum Würth erhältlich ist.

Robert Indermaur, 2013


Portrait von Karin Ospelt


Karin Ospelt Das lyrische Moment in der Installation

Homeless Rainbows – Vertrautes in der Fremde Scheinbar verloren und als bloss noch für wenige Augenblicke irisierendes poetisches Moment wahrnehmbar schweben regenbogenfarbene Lichtspiele über grauen Asphalt oder verflüchtigen sich entlang der leeren Wände trostloser Treppenhäuser. «Homeless Rainbow», so der Titel der 2016/17 realisierten Lichtinstallation der 1989 geborenen Liechtensteiner Künstlerin und Musikerin Karin Ospelt. Einer Installation, die für Ospelts Schaffen nahezu paradigmatisch stehen mag: Intendiert die Titelgebung das analytische Moment des notwendigen Vorhandenseins eines Anfangs- und eines Endpunktes beim Phänomen des Regenbogens – seine Verortung und somit seine Heimat –, transformiert der Titel selbst bereits das analytische Moment in ein lyrisches.


Homeless Rainbow 1

Homeless Rainbow 2

So sehr ein jeder Regenbogen seine natürliche Heimat hat, so sehr kann er sie denn auch verlieren, ja muss er sie sogar beständig verlieren, zumal seine natürlichen klimatischen Existenzbedingungen am jeweiligen Ort stets der Vergängnis anheimgegeben sind. Verortet man den Regenbogen nun, wie Karin Ospelt es tut, in der Fremde und verwandelt die natürliche ortsgebundene Reflexion und Brechung von Licht und Wassertropfen in artifizielle Projektion, kreiert man nicht nur eine künstlerische Metaebene, sondern vielmehr auch das poetische Moment der «Heimat» – wo immer der jeweilige Betrachter gerade sein, auch herkommen möge. Denn Regenbogen gibt es überall. Trifft wiederum der Regenbogen auf eine ihm an sich feindliche Umgebung (Treppenhaus, Asphalt), so vermag er mehr als alles andere, den fremden und anonymen Ort mit einem Stück Vertrautheit zu durchweben. Als beispielhaft für Karin Ospelts Arbeit mag die hier andiskutierte Installation «Homeless Rainbows» nun insofern gelten, als sich in ihrem Schaffen häufig die Analyse der natürlichen, physikalischen oder auch zivilisatorischen Gegebenheiten mit kulturgeschichtlichen Implikationen sowie der Psychologie des Betrachters überwirft und sich jeweils in einer ausserordentlich poetischen künstlerischen Formulierung manifestiert.

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Homeless Rainbow 3


Leib 1


Leib 2

Die Poesie des Essenziellen Jener in der konzeptuellen Kunst so selten gewordene lyrische und nahezu malerische Aspekt im Werk der Liechtensteiner Künstlerin tritt auch in der Installation «Leib» aus dem Jahre 2016 auf eindrückliche Weise zutage. Bedeutungsschwanger schweben trockene Brotscheiben an transparenten Nylonfäden im Raum und vereinen sich zu einer filigranen durchlässigen Körperlichkeit, welche das Geteilte und Zerschnittene wieder zu einem zumindest vorübergehend Ganzen werden lässt. Die essenziellen Grundlagen menschlichen Daseins – Wasser, Mehl und Luft –, aber auch die grosse kulturgeschichtliche Thematik der Verletzlichkeit des menschlichen Leibes und der Brüchigkeit der metaphysischen Dimension der menschlichen Kultur in der Metapher des letzten Abendmahls werden von Ospelt in einfachen kompositorischen und bildsprachlichen Mitteln in ein sensibles künstlerisches Konstrukt gefasst.

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Gedanklichen Raum eröffnet die Künstlerin dem Betrachter auch mit «Du bist so weit», realisiert mit Hellraumprojektoren im Pfarrhaus im liechtensteinischen Balzers. Als Schriftträger und materialer Katalysator dienen auch in diesem Falle Wasser und Mehl auf der transparenten Fläche der Projektoren. Die simple Essenzialität der bildnerischen Materialien Wasser, Mehl, Licht, Mauerwerk und Raum lassen auch diese Installation zu einer ebenso tragenden wie minimalistisch konzipierten Metapher werden. Die Tatsache, dass Ospelts Installationen trotz ihrer anmutigen Schlichtheit eine weit über das Eigentliche hinausgehende poetische Kraft und eine beeindruckende gedankliche Prägnanz entwickeln, mag wohl daran liegen, dass sie nichts anderes tut, als «Momente zu sammeln, um Flüchtiges einzusammeln», so Ospelt. Sie macht damit jenes poetische Moment sichtbar und zugänglich, das uns ansonsten so oft verborgen bleibt. Das Vorgehen bleibt hierbei stets eines, das auch die lyrische Scheu vor der Welt noch kennt und versucht, sich ihr im permanenten Experiment mit einem Destillat aus Gesehenem und Gehörtem in bildnerischer Installation, Klang und Stimme anzunähern. Dass Karin Ospelt aber nicht nur die gewichtige Metapher, sondern durchaus auch die Leichtigkeit des Seins kennt, führt uns die heitere Poesie in «Kopfchaos» aus dem Jahre 2013, aber auch die aus der Performance «Ulknudel» hervorgegangene Fotoserie vor Augen.

www.karinospelt.li te x t: Andrin Schütz fotos: K arin Ospelt

Du bist so weit 1

und Tjefa Wegener

Ulknudel 1

Ulknudel 8


Du bist so weit 2

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Privatbank IHAG Zürich AG


Die I H AG Pr ivatba n k w u rde vor bald 70 Jahren vom Industriellen und Kunstsammler Emil Georg Bührle als seine Hausbank gegründet. Über die Jahrzehnte hinweg entwickelte sie sich zu einer kleinen Universalbank mit der Hauptstossrichtung Private Banking, einem starken Kreditgeschäft und einem aktiven Wertschriften- und Devisenhandel. Auch heute noch ist die Herkunft der Bank gut erkennbar. Die Einbettung in eine finanzstarke Holdinggesellschaft zusammen mit einem familiären Touch fördern das Verständnis für die Fragestellungen unserer Kunden. Zufriedenheit ist der Koeffizient aus Erwartung und Realität, und an beiden muss gearbeitet werden. Wir schenken unseren Kunden «reinen Wein» ein. Wir lassen sie nicht im Glauben, wir könnten das Unmögliche möglich machen, aber wir zeigen ihnen auch auf, mit welchen Methoden und Überlegungen wir die Realität konkret beeinf lussen und individuell zugunsten eines überdurchschnittlichen Resultates verändern. Die hohe Identifikation der Kundenbetreuer mit «ihrer» Privatbank bewirken auch eine besondere Motivation und ein Interesse, die sich rasch ändernden Rahmenbedingungen der Finanzindustrie zu bewältigen. Die IHAG Privatbank ist über die Jahre weitgehend organisch gewachsen. Dies obwohl die Bereitschaft, Banken, einzelne Betriebsteile oder Vermögensverwalter zu übernehmen, seit Langem vorhanden war. Zu einer ersten Transaktion ist es im Jahr 2013 gekommen. Die Tochtergesellschaft der Kantonalbank Aargau, die AKB Privatbank Zürich, wurde gekauft und vollständig integriert. Auf die Bedürfnisse von Kunden und Mitarbeitenden wurde speziell und mit Erfolg Rücksicht genommen. Heute beschäftigt die Bank rund 110 Mitarbeitende, die gemeinsam eine breite Palette an Dienstleistungen in hoher Qualität anbieten. Sämtliche Prozesse und Produkte werden autonom am Standort «Bleicherhof» erstellt. Ein scheinbarer Anachronismus, könnte man meinen, der jedoch für unsere Kunden grosse Vorteile hat. Tag für Tag sind wir mit Begeisterung dabei, unseren Kunden zu beweisen, dass familiär und traditionell kein Gegensatz zu modern und innovativ ist. Bleicherhof


Bleicherhof: Schweizer Architekturdenkmal und IHAG-Firmensitz. Wahrzeichen der Moderne: Der Bleicherhof, heute ein Klassiker in der Zürcher Architekturlandschaft, war zu seiner Entstehungszeit ein Prototyp des «modernen» Geschäftshauses der Schweiz. Der Architekt Otto Rudolf Salvisberg (1882–1949) verband darin zeitgemässe Bautechnik mit dem mondänen Flair internationaler Metropolen. Der Bleicherhof wurde 1940 im Auftrag von Emil Bührle fertiggestellt und dient der IHAG Privatbank seit ihrer Gründung 1949 als Firmensitz. Voller innovativer Ideen: 1940 fertiggestellt, kombinierte der Bleicherhof modernes Gedankengut mit wegweisender Konstruktionsweise. So war der Bleicherhof eine der ersten Zürcher Geschäftsimmobilien, deren Innenräume sich jeweils bedürfnisgerecht umbauen liessen. Möglich wurde diese Flexibilität durch die innovative Stahlbeton-Konstruktion, die auf tragende Mauern im Gebäudeinneren verzichtete. Salvisbergs Meisterwerk: Otto Rudolf Salvisberg begann seine Laufbahn nach kurzer Ausbildung am Technikum Biel in Deutschland. Seit 1908 in Berlin tätig, kehrte er nach dem Ersten Weltkrieg dorthin zurück und schuf massgeblich moderne Siedlungen, Industriewerke und Verwaltungsgebäude. Ab 1930 lehrte Salvisberg als Professor an der ETH Zürich, wo er unter anderem das Fernheizkraftwerk und das Maschinenbaulaboratorium realisierte. Salvisbergs Bleicherhof aus den Vierzigerjahren wurde zum Prototyp für Geschäftshäuser in der Nachkriegszeit.


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Interview Dr. Heinz Stadler

Dr. Heinz Stadler

Die IHAG Privatbank ist vor rund 70 Jahren aus der engen Verknüpfung von grossem industriellem Unternehmertum und den Bedürfnissen der Finanzwelt entstanden. Inwiefern haben sich diese Wurzeln auf die Entwicklung der Bank und auf die Unternehmensstrategie ausgewirkt? Ein Familienunternehmen kann besser mit schwankenden Geschäftsergebnissen umgehen als ein von professionellen Investoren abhängiges Unternehmen. Ein Familienunternehmen plant über mehrere Konjunkturzyklen hinaus und ist deshalb unternehmerischer und konservativer zugleich. Das Management hat die Möglichkeit, das Richtige zu tun und muss nicht aus falschen Gründen «populäre» Entscheide treffen. Diesen Spielraum, den wir in der IHAG geniessen, nutzen wir tagtäglich. Unternehmerisch zu denken und zu handeln, ist auch für uns immer wieder eine Herausforderung. Leider kann man Unternehmertum nicht strukturell festlegen. Es gibt keine fixen Parameter und auch keine Unternehmensform, die den Unternehmergeist stärker beflügelt als eine andere. Unternehmertum muss gelebt werden. Dabei findet oft eine Verwechslung mit der Risikobereitschaft statt. Sie mag zwar in gewissen entscheidenden Momenten gross sein, und der gute Unternehmer rechnet jedoch mit dem Erfolg seiner Bemühungen, aber er weiss auch, was Scheitern bedeutet. Im schnelllebigen globalisierten Umfeld der Finanzwelt sind nicht nur alternative Strategien gefragt. Immer wichtiger wird auch die mit diesen Strategien verbundene Unternehmenskultur. Inwiefern grenzt sich die organisch gewachsene und über Jahrzehnte hin gepf legte Unternehmenskultur der IHAG von derjenigen der grossen Player ab? Ist die besondere Kultur für Kunden spürbar? Bei grossen Unternehmungen werden die Management-Teams ausgewechselt wie Fussballtrainer. Man ist mit dem Geschäftsverlauf unzufrieden und sucht die Kurskorrektur. Ein «Management-Footprint» muss in kurzer Zeit erkennbar werden, und die bisherige Kontinuität findet damit ihr Ende. Eine kohärente Kultur kann so kaum entstehen. Die Rahmenbedingungen für eine am Menschen orientierte Kultur sind in kleineren


Unternehmen deutlich besser gegeben und ermöglichen einen Umgang mit Kunden und Mitarbeitenden, der sich nicht alleine an ihrem ökonomischen Nutzen orientiert. Kunden sind mehr als nur «Assets under Management» und mehr als eine Einkommensquelle. Dies erfahren Kunden nicht zuletzt in Situationen, in denen man ihnen widerspricht. Einen Kunden ernst zu nehmen, heisst, ihm nicht recht zu geben, wenn man anderer Meinung ist – auch wenn dies noch so bequem wäre. Diese Freiheit zum Widerspruch, der in gewissen Instituten eine Kündigung zur Folge haben könnte, ist Teil unserer Kultur. Kultur war für Emil Georg Bührle bereits ein grosses Thema. Die Kunstsammlung des einstigen Patrons gilt als eine der umfangreichsten der Schweiz. Sehen Sie nach wie vor Parallelen zwischen der Kunstwelt und der Finanzwelt? Gibt es gemeinsame Werte bzw. Gemeinsamkeiten in den Strategien, nachhaltige Werte zu schaffen? Zwischen der Finanzwelt und der Welt eines Kunstsammlers oder Kunsthändlers – nicht unbedingt der Kunstwelt – gibt es beträchtliche Gemeinsamkeiten. Selbstverständlich lässt sich der Wunsch nach einer eigenen Kunstsammlung nur mit entsprechenden finanziellen Mitteln umsetzen. Beinahe jede Bank hat eine eigene Kunstsammlung. Beide, Bankier und Kunstsammler, müssen Entscheidungen treffen, Selektionen vornehmen, Alternativen prüfen und offene Augen für neue Entwicklungen haben. Sie müssen in der Lage sein, Trends von langfristigen Tendenzen und allgemeinen strukturellen Umbrüchen zu unterscheiden. Nein, ich denke, es ist kein Zufall, dass viele bedeutende Bankiers auch bedeutende Sammler sind. Lebt die Sammlungstätigkeit des Gründers in der heutigen IHAG Privatbank noch immer fort? Nicht im Sinne eines Sammelns von Kunstwerken. Die Sammlungstätigkeit konzentriert sich auf das Bankgeschäft. Banker sind in gewissem Sinn «Jäger und Sammler», wobei der Jäger den potenziellen Kunden allerdings nicht «erlegt», sondern ihn mit Argumenten und massgeschneiderten Dienstleistungen «überzeugt». Der Banker als Sammler wird oft zu Unrecht als behäbig und konservativ abqualifiziert. Seine Tätigkeit ist insbesondere für anspruchsvolle, vermögende Kunden von grossem Wert. Er entwickelt seine Dienstleistungen entsprechend den Bedürfnissen seines Kunden in Abhängigkeit von Lebensumständen und Alter. Dabei ist die Verwaltung von Vermögenswerten nur ein Teil. Was würden Sie einem jungen, aufstrebenden Kunstsammler raten, wenn es darum geht, bleibende Werte zu generieren und in Kunst zu investieren? Mit Erfolg sammeln kann man nur, was die Sammelleidenschaft weckt. Ob das Grafiken oder Weine sind, der Sammler muss sich für das Thema längerfristig begeistern können. Gerade bei Dingen mit überwiegend ideellem Wert wird klar, dass die Sammelleidenschaft durch die reine Lust am Besitz getrieben sein muss. Mein Ratschlag ist also, eine eigene Sammelleidenschaft zu kultivieren, statt zu kaufen, was gerade «läuft», um es dann mit Gewinn wieder zu veräussern. Denn auf diese Weise kann man möglicherweise ein Auskommen finden, jedoch wird man damit noch kein Ernst Beyeler! Was würden Sie einem jungen Künstler raten? Wie kann er sich auf dem immer schwieriger werdenden Kunstmarkt bewegen? Ehrlich sein zu sich selbst, authentisch bleiben bis zur Selbstaufgabe. Wer dazu nicht bereit ist, sollte besser eine Beamtenlauf bahn anstreben. Ob sich der Erfolg einstellt oder nicht, kann für den Künstler kein entscheidendes Kriterium sein – vom Broterwerb selbstverständlich abgesehen. Der Erfolg beim «Publikum» bedeutet finanziellen Gewinn, möglicherweise Reichtum, oft aber auch Häme und schlechte Kritiken von massgebenden Fachleuten. Erfolg bei den Fachleuten bedeutet zumeist, Erfolglosigkeit an der Verkaufsfront, ein paar Förderpreise und die «Befriedigung», nicht verstanden zu werden. Ehrlichkeit zu sich selbst, keine Überheblichkeit bei Erfolg, aber auch keine Selbstzerfleischung bei Misserfolg. bildbeschreibung

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Die Stiftung Sammlung E. G. Bührle, Zürich Die Kunstsammlung des in Zürich lebenden Industriellen Emil Georg Bührle (1890–1956) nimmt unter den im 20. Jahrhundert entstandenen privaten Sammlungen europäischer Kunst eine wichtige Stellung ein. In ihrem Zentrum steht die Malerei des französischen Impressionismus und Nachimpressionismus. Diese Werke sind eingebettet in ein Ensemble französischer Kunst des 19. Jahrhunderts, die den Impressionismus vorbereitet oder ihn begleitet. An den Kernbestand fügen sich Beispiele aus dem Schaffen der Nabis, der Fauves, der Kubisten und weiterer Vertreter der französischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert sow ie Abteilungen älterer Kunst vor allem mit holländischen Malern des 17. und italienischen Malern des 16. bis 18. Jahrhunderts. Der Sammlung gehört ausserdem eine Gruppe gotischer Holzplastiken an. Zentrales Thema der Sammlung ist die schrittweise Ausformung einer neuen künstlerischen Freiheit seit dem Impressionismus als Grundlage für die Malerei der Moderne im 20. Jahrhundert. Ihre Bedeutung verdankt die Sammlung der Konsequenz, mit der Emil Bührle Werkgruppen führender Künstler in einer Auswahl zusammenführte, welche diese Entwicklung beispielhaft belegen. Den grössten Teil seiner Bilder und Skulpturen erwarb Emil Bührle zwischen 1951 und 1956. In dieser Zeit reagierte er indirekt auch auf die Veränderung der aktuellen Kunstszene, indem er der Sammlung wichtige Beispiele der inzwischen historischen Avantgarde vom Anfang des 20. Jahrhunderts einfügte. 1960 brachte die Familie des Sammlers eine repräsentative Auswahl von rund 200 Bildern und Skulpturen in eine Stiftung ein und macht sie seither der Öffentlichkeit zugänglich. Das Museum der Stiftung befand sich bis 2015 in einer Villa neben dem ehemaligen Wohnhaus Emil Bührles. 2016 durfte die Stiftung dank einem Vermächtnis von Dr. Dieter Bührle, dem Sohn Emil Bührles, zusätzliche zehn hervorragende Werke der Sammlung entgegennehmen.

Vincent van Gogh, Blühende Kastanienzweige

Edgar Degas, Graf Lepic mit seinen Töchtern

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Claude Monet, Mohnblumen bei Vétheuil

Geplant ist die Überführung der Sammlung in den zurzeit entstehenden Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich ab 2020. Bis dahin wird die Sammlung in wechselnder Zusammensetzung an verschiedenen Orten zu sehen sein. Gegenwärtig sind 55 Werke in der Fondation de l'Hermitage in Lausanne ausgestellt, wo sie noch einmal in der Atmosphäre eines herrschaftlichen Wohnhauses aus dem 19. Jahrhundert erlebt werden können, die auch das Museum der Stiftung kennzeichnete. 2018 werden 64 Werke auf einer Tournee durch Japan reisen. Ausserdem tritt die Stiftung immer wieder als grosszügige Leihgeberin zu internationalen Ausstellungen in Erscheinung. So sind Bilder der Sammlung 2017 in Berlin, Madrid, Mailand und Paris zu sehen, und in Arles werden während des Sommers sechs Bilder van Goghs in der dortigen Fondation Vincent van Gogh gezeigt. Mit ihren weltberühmten Werken, darunter dem Knaben mit der roten Weste von Paul Cézanne, Vincent van Goghs Blühenden Kastanienzweigen, Edgar Degas΄ Graf Lepic und seinen Töchtern oder Claude Monets Mohnblumen bei Vétheuil wird die Sammlung dem Kunsthaus Zürich zu einer zusätzlichen internationalen Ausstrahlung verhelfen. Zwei von Emil Bührle dem Kunsthaus gestiftete Seerosenbilder von

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Claude Monet werden zusammen mit dem Bild der Stiftung in Zürich einen eigenen Seerosen-Raum entstehen lassen, der an die Seerosen-Säle der Pariser Orangerie des Tuileries erinnern wird.

w w w.pbihag.ch w w w.buehrle .ch te x t: IHAG Privatbank / andrin schütz / Dr . Luk as Gloor fotos: Michael Reinhard


Paul CĂŠzanne, Knabe mit der roten Weste


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Enrico Giacometti Künstler und Galerist

An der Via Maistra 10 in St. Moritz hat sich der Künstler Enrico Giacometti einen Traum erfüllt: seine eigene Galerie! 1952 in Lavin geboren, hat der Engadiner bereits in früher Jugend einen ausgeprägten Sinn für Gestaltung und Ästhetik entwickelt. Allerdings schlägt der junge Mann nicht den Weg des Künstlers ein, sondern erlernt das Handwerk des Metallbauschlossers und des Metallbauzeichners.

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Seit rund 49 Jahren geht er seinem Beruf mit Leidenschaft nach. Seine gestalterischen und kreativen Seiten verliert er aber nicht. Vielmehr entwickeln sie sich während seines Berufslebens sukzessive weiter, und der Wunsch nach dem eigenen, individuellen Ausdruck wächst in Giacometti heran. Und nun stehen sie vor uns: Stilisierte, in geometrischer Formensprache gehaltene Figurinen, die trotz ihrer filigranen Silhouetten den Raum zu beherrschen vermögen. Präsentieren sie sich das eine Mal als einzelne Allegorie des Helden aus der griechischen Mythologie oder der gegenwärtigen Olympioniken, treten uns Giacomettis Plastiken ein anderes Mal als in komplexe, ineinander verschränkte Geometrien gefasstes Paar oder gar als Menschengruppen entgegen. Strahlt der gewichtige in akribischer Perfektion verarbeitete Stahl eine konzentrierte, dichte und nahezu beherrschende Kraft aus, gelingt es dem Künstler gleichzeitig, seinen Kompositionen eine transparente Leichtigkeit sowie eine gekonnte Balance aus innerer Statik und Dynamik im Raum zu verleihen. Seine für den Innen- wie auch den Aussenraum gleichermassen konzipierten Werke stellt Enrico Giacometti nun – nebst Ausstellungen in anderen Galerien – in seiner eigenen Galerie in St. Moritz aus. Zu bewundern sind hier aber nicht nur die künstlerischen Arbeiten Giacomettis. Denn parallel zu seiner künstlerischen Arbeit widmet sich der passionierte Metallbauschlosser dem Malen von Ölbildern Farb in Farb und dem Design und der Herstellung von Stahlmöbeln. Letztere überzeugen durch ihre gekonnte Symbiose aus Ästhetik und praktischem Nutzen sowie durch ihre materielle Robustheit und ihre optische Eleganz.


In seiner kürzlich eröffneten Galerie möchte sich Enrico Giacometti aber nicht nur seinen eigenen Werken widmen. Vielmehr will er auch anderen Künstlern hie und da eine Plattform bieten und so aktiv an der Bereicherung des kulturellen Lebens im Oberengadin mitwirken.

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www.enricogiacometti.ch Galerie Enrico Giacomet ti Reduit Passage Via Maistr a 10, 750 0 St. Moritz Tel. +41 79 278 30 48 te x t: Andrin Schütz fotos: Gian Giovanoli


Unmarked festgelegt von luigiolivadoti

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Luigi Olivadoti Aussergewöhnlich gewöhnliche Geschichten

Alltagsmomente, Menschen, wie wir sie alle kennen und wie sie uns täglich während der Arbeit oder nach Feierabend begegnen: Die Motive des 1983 als Sohn einer italienischen Familie geborenen Illustrators und Künstlers Luigi Olivadoti sind aussergewöhnlich gewöhnlich: Da ist der wohlgenährte und passionierte Bocciaspieler, andernorts wiederum treffen wir auf eine Menschenmenge aus aller Herren Länder, die aus Gründen der politischen Verfolgung oder aus wirtschschaftlicher Not ihr Glück in Europa suchen.


Carabinieri

Aber auch die abendlich erleuchtete einsame Scheune im Nachbardorf, in der Antonio wohl noch werkelt, darf nicht fehlen. Sie hinterlässt einen ebenso melancholischen und verträumten Eindruck wie Luigi selbst, wenn er sich in seiner braunen Jacke und mit seiner roten Mütze selbstverloren und nachdenklich durch die geschäftige und anonyme Menge des Städtchens schlängelt. Das Geheimnis des Individuellen im Anonymen Anonym aber bleibt eben nichts und niemand, wenn es denn der Feder von Luigi Olivadoti begegnet. Mit dem wachen Auge des geübten Illustrators verleiht er den vermeintlichen Stereotypen mittels kleiner, aber ebenso scharfsinniger künstlerischer Interventionen Individualität und eine je eigene, für den Betrachter sogleich lesbare Geschichte des flüchtigen Augenblicks. Es sind Geschichten, die viel erzählen und zugleich so viel Raum für Gedankenspiele, biograf ische Vermutungen, aber auch Reflexion über das eigene Erscheinungsbild und die eigenen biografischen Geheimnisse eröffnen. Ausschnitt Skizzenbuch

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Menschen kommen. Plakat, Frankfurter Buchmesse 2016.


Buchserfest 2016, Plakat

Beobachtung, Recherche und künstlerische Spontanität Jenem so pointiert im Bild gefassten Augenblick und jenen grossen so konzentriert erzählten Geschichten geht stets eine umfassende Recherche- und Skizzenarbeit voraus: Stunden der Beobachtung, Tage der Recherche über die Gegebenheiten des Umfeldes in Büchern, Dokumentation und Filmen sowie Skizzen in Farbstift müssen erarbeitet werden, um letztlich die gekonnte, gut vorbereitete und dennoch spontane Fassung in Gouache zu erarbeiten. Das ausserordentliche Talent Olivadotis und die dafür notwendige menschliche und künstlerische Sensibilität, das Individuelle und Aussergewöhnliche im Allgemeinen zu sehen und zu destillieren, umschreibt die bekannte, in Lettland geborene Animationsfilmemacherin Anete Melece in folgenden Worten: «Olivadoti’s Werke sind ein Blickfang – Vibrierend, voller kraftvoller Farben und vol-

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Im Boccia Club. Reportage, Plakat/Flyer, Kunstverein Schichtwechsel, 2017

Im Boccia Club. Reportage, Publikation, Kunstverein Schichtwechsel, 2017


Lino il Vigile


Sommergeschichten, Yoga, Vice Alps, 2017

ler Leben. Er hat ein Talent, den Stil und kleine Details eines Charakters, den er sorgsam beobachtet hat, sofort zu erfassen. Ob er nun in Farbe malt oder in simplen Linien skizziert, er fasst die Charaktere in einem realistischen, zugleich manieristischen Stil. Seine Arbeit ist ebenso lebendig und inspirierend wie expressiv.» Derzeit arbeitet Luigi Olivadoti intensiv an der generationenübergreifenden Geschichte seiner eigenen Familie, die in seinem Projekt exemplarisch für die Thematik der Migration steht. Man darf sich zwar bereits darauf freuen, Luigi Olivadoti und seine Familie näher kennenzulernen, muss aber auf die Resultate noch ein wenig warten, so der Künstler selbst. Denn solche Projekte nehmen oft Monate oder gar Jahre in Anspruch. Aber Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude.

www.luigiolivadoti.li te x t: Andrin Schütz fotos: David Röthlisberger www.davidroethlisberger .ch Otto

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Mayo Bucher, Fotografie Letizia Bucher, 2017

Fallingwater Curuna Ardez 2017

Susanna Koeberle und Mayo Bucher im Dialog Der international mit Malerei und Architektur arbeitende Künstler Mayo Bucher hat diesen Sommer bereits zum dritten Mal die Türen seines Hauses «Curuna» in Ardez für einen Kunstanlass geöffnet. Diesmal auch als Kurator tätig, lud er insgesamt sieben herausragende Künstler zu einer sehr stimmigen und zugleich universell angelegten Themenausstellung ein. Die Ausstellung «Fallingwater» eröffnete Anfang August. Gleichzeitig wurden auch Werke von Mayo's Mutter, der legendären Schweizer Objekt- und Konzeptkünstlerin Heidi Bucher (1926–1993) in der benachbarten Fundaziun Not Vital, Ardez gezeigt. Weitere sieben Werke von Heidi Bucher sind übrigens auch an der aktuellen Biennale von Venedig, bis zum 26. November zu bewundern.

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Heidi Bucher's «Heute fliesst das Wasser aus dem Krug» 1986 vor Johann Feuerstein's «Wasserfälle» ca.1920 Ausstellungsansicht Fotografie Tiziana Bucher 2017


Susanna Koeberle hat mit Mayo Bucher gesprochen: Wie entstand die Idee zur Ausstellung «Fallingwater»? Ich trage die Idee schon seit Längerem mit mir herum. Das Thema Wasser ist quasi auch eine familiäre Geschichte. Meine Mutter, die Künstlerin Heidi Bucher, hat in den 80er-Jahren einen zentralen Werkkomplex zum Thema Wasser realisiert. So bildet denn auch die Skulptur «Heute f liesst das Wasser aus dem Krug» von 1986 den eigentlichen Ausgangspunkt der Ausstellung. Die Plastik hält den Moment des Wasserf lusses fest. Diese Dualität zwischen Fliessen und Festhalten, zwischen Zustand und Prozess ist auch zentral bei der Ausstellung. Mich interessiert daran auch der philosophische und gesellschaftliche Aspekt.

Frank Llyod Wright «Fallingwater» House Kaufmann, Pennsylvania USA 1935-39

Was hat es mit dem Titel «Fallingwater» auf sich? Gibt es einen Bezug zum berühmten Haus des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright? Lustigerweise habe ich zuerst gar nicht daran gedacht, als ich den Titel wählte. Der Name dieses Hauses war eher tief in meinem Unterbewusstsein verankert. Übrigens: Frank Lloyd Wright wurde genau vor 150 Jahren geboren. Er und sein Werk werden dieses Jahr mit einer grossen Schau im MoMA gefeiert. Das visionäre Zusammenkommen von Stabilität und Instabilität ist prägend für diesen epochalen Bau. Die Suche nach dem Visionären ist auch den Arbeiten der ausgewählten Künstler eigen. Es ist auch eine Suche nach dem magischen Verschmelzen der Gegensätze. Wasser ist ja ein universelles Thema. Spielte dieser allgemeingültige Aspekt auch eine Rolle? Ja, denn Wasser ist das Urelement, aus dem wir Lebewesen kommen. Wir Menschen bestehen ja bis zu 80% aus Wasser, wir sind quasi stehende und gehende Wassersäulen. Wasser ist gleichbedeutend mit Leben, aber auch mit Vergänglichkeit. «Fallingwater» ist auch eine Hommage an diesen Lebensf luss, ein Appell, sich da hineinzubegeben und allenfalls auch lustvoll über die Klippe zu springen, wie dies der Wasserfall eben tut. Das Ganze hat auch eine erotische, sinnliche und letztendlich poetische Komponente.

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Barbara Hée, «Wasserfall» Fotografie 2015


Seraina Feuerstein «Wasser fällt auf nassen Stein» Malerei / Ausstellungsansicht Fotografie Tiziana Bucher 2017


Welche Rolle spielt dabei die Lokalität der Ausstellung? Das Haus, in dem die Ausstellung stattfindet, die Curuna Ardez, ist ein ehemaliges Bauerhaus aus dem 19. Jahrhundert, das später zum Gasthaus wurde. Ich konnte die Curuna vor vier Jahren erwerben und nutze das Haus seither auch als Ausstellungsort. Die Ausstellung fand in beiden Gebäudeteilen in verschiedenen Räumen statt. Natürlich spielte das Engadin auch bei der Auswahl der sieben Künstler eine entscheidende Rolle. Wie kam diese Auswahl zustande? Radikalität der Kunst und meine subjektive Begeisterung waren die Kriterien. Ich präsentierte Arbeiten von vier Künstlerinnen und drei Künstlern. Die meisten haben einen starken lokalen Bezug und sind gleichzeitig auch international tätig. Es sind sehr renommierte Namen darunter wie auch bisher weniger bekannte. Zudem ist es eine generationenübergreifende Auswahl. Von ihren Jahrgängen her liegen die Teilnehmenden bis zu 100 Jahre auseinander. Das macht auch das Verknüpfen der einzelnen Positionen sehr spannend.

Not Vital «Mountain» Marmor und Gips 2017


Grosser Dank gebührt zudem Not Vital, der u.a. auch mit seiner Fundaziun in Ardez einen sehr wichtigen Beitrag zur internationalen und romanischen Kultur im Speziellen leistet. Not Vital war dann in der Ausstellung auch mit zwei wunderbaren und aktuellen Skulpturen aus Marmor und Gips präsent. So wurde am Tag der gemeinsamen Eröffnung Heidi Buchers Werk, das 8 x 2.5m «Grosser Eingangsparkett/Ahnenhaus» von 1980-82 als fulminantes «Happening» an der Fassade seiner Fundaziun installiert. Das zahlreiche Kunst-Publikum war begeistert. Aber auch neu zu entdeckende, tolle Werke wie diejenige des Fotopioniers Johann Feuerstein (1871–1946) aus Scuol waren vertreten. Seine Urenkelin, die Malerin Seraina Feuerstein, die zwischen Ardez und Zürich pendelt, hat auch Werke beigesteuert. Ebenso die Künstlerin Barbara Heé, welche vor Kurzem das wunderbare Buch «Waters» herausgegeben hat. Ihre Arbeiten passten perfekt zum Thema. Ich selber gehörte auch zu den ausstellenden Künstlern. Die jüngste Position war die schwedische Künstlerin Josef in Arnell ( Jahrgang1984), die eine hypnotischpointierte Videoinstallation in den alten Stallräumen gezeigt hat.

w w w.curuna-ardez .com te x t: susanna koeberle Josefin Arnell, Squirting Bunnies/Waterfall, Videostill 2016 Rechts im Vordergrund CURUNA ARDEZ – Mitte links FUNDAZIUN NOT VITAL, Via Maistra, Ardez


grafik-auf-zeit.ch

«Ein Drittel? Nee, ich will mindestens ein Viertel.» Horst «Schimmi» Szymaniak, deutscher Fussballspieler (1934 – 2009)

Jedem sein Stück (Immobilien-) Glück Sie träumen von einer Luxusimmobilie in der Schweiz, möchten sich finanziell aber nicht gleich mit mehreren Millionen binden? Sie möchten von einer Luxusresidenz profitieren, ohne sich mit allerlei Unwägbarkeiten und Behörden herumzuschlagen? Sie wohnen in Saudi Arabien, Russland, China oder den USA oder anderen, sogenannten Drittstaaten und möchten sich den Traum vom (Immobilien-) Glück erfüllen, aber die Gesetzeslage in der Schweiz verwehrte ihnen dies bisher? Wenn Sie auch nur eine dieser Fragen mit «Ja» beantworten können, sind Sie bei uns absolut richtig. Château et DuMaison – Fractional DreamsTM vereinen das Beste aus der Welt der Sharing Economy und der Luxusimmobilien auf einzigartige Art. Wann fordern Sie beim Pionier der Fractional Ownership für exqusite Wohnträume in der Schweiz Ihre Unterlagen dazu an? Wer weiss... Damit könnte es tatsächlich sein, dass ein Viertel bald mehr wert ist, als ein Drittel. Tel: +41 81 302 74 10 oder +41 81 842 63 14, fractionals@chateauetdumaison.com, www.chateauetdumaison.com

Luxuriöse Wohntraumanteile als Investition Foto: KEYSTONE


Hidden Landscape IX, 2015, Digital Silver Gelatin Baryt Print, 80 x 100 cm


Stefan Schlumpf


Der Bündner gehört zu den bekanntesten und erfolgreichsten Fotografen der Schweiz. Auch international hat er sich, kommerziell und im künstlerischen Bereich, einen Namen gemacht. So konnte er im Mai diesen Jahres an der Verleihung des World Photo Award in London den 3. Preis für seine Werkserie «Hidden Landscape» in der Kategorie Landschaft entgegennehmen. Seine Bilder sind beseelt, sie berühren. Stets feinsinnig und respektvoll begegnet der Fotograf dem, was sich vor seiner Kamera abspielt. Genau das strahlt auch die preisgekrönte Serie aus. Die Entscheidung, diese Gletscherlandschaft schwarz-weiss zu fotografieren, reduziert die Bilder auf die Essenz der Aussage! Der Blick durch die Kamera beschönigt nichts, auch wenn den Bildern eine sanfte Ästhetik innewohnt. Die Schönheit trügt. Die Aufnahmen zeigen deutlich, wie klein der Mensch und wie hilflos seine Geste ist, einen Gletscher vor dem Schmelzen retten zu wollen. Auf den ersten Blick ist noch nicht klar, was zu sehen ist. Erst beim zweiten, genaueren Hinschauen wird offensichtlich, dass es sich um Tücher handelt, die sich an den Gletscherrücken schmiegen. Diese zweite, von Menschenhand ausgebreitete Haut reisst, wenn sich der Gletscher wie ein träges Tier bewegt und macht die klaffenden Wunden auf eine bizarre Art und Weise sichtbar.

Foto: Cindy Ortlieb

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Hidden Landscape I, 2015, Digital Silver Gelatin Baryt Print, 80 x 100 cm

«Hidden Landscape» Graues Schmelzwasser rinnt wie lautlose Tränen. Mürbes Ur-Eis knirscht. Müde vom Kampf gegen die Wärme ergreift der Gletscher die Flucht, fort von der menschlichen Ignoranz. Doch es gibt sie, die ihn überreden wollen zu bleiben, verzweifelt um eine Chance bitten. Ihn einhüllen in weiches Vlies, Geborgenheit und Ruhe schenken unter dem isolierenden Schutzschild. Sich auflehnen gegen die Ohnmacht vor den drohenden Auswirkungen einer globalen Erwärmung. Der Grundgedanke ängstigend, doch auf eine faszinierende Art sehr berührend. Eine ergreifende Symbiose für ein kurzes Stück der Reise, die der Gletscher zusammen mit dem Vlies zurücklegt. Der Stoff schmiegt sich an, fliesst mit – im Bild eine surreale Harmonie. Für einen kurzen Moment ist das Eis geschützt. Dann hält das Gewebe dem zerrenden Eis nicht mehr stand, es kann den Gletscher nicht aufhalten. Tiefe Risse, wie offene Wunden. Das Ende einer gemeinsamen Reise.

Hidden Landscape VI, 2015, Digital Silver Gelatin Baryt Print, 80 x 100 cm

Hidden Landscape IV, 2015, Digital Silver Gelatin Baryt Print, 80 x 100 cm


Orchester der Alpen – Schauplatz L02, 2017, Analogfotografie, C-Print, 100 x 125 cm

Stoisch steht das Orchester. Unbeirrt äusserer Umstände. Fremd auf der Bühne der Natur. Jeder auf seiner Position. Wartend auf den Einsatz. Sonne, Wolken, Schnee – kein Schnee.

Wir zögern nicht, rüsten unsere Waffen und schiessen mit Kanonen auf die ausgebeutete Natur, um nachzuhelfen. Um herbeizuführen, was wir ihr und uns erst genommen haben. Es ist eine Sonate mit zweifelhafter Harmonie – eine melancholische Melodie, die das Orchester der Alpen spielt.

Wie Piraten berauben wir uns selbst um den natürlichen Kreislauf der Natur, um die Kostbarkeiten der Jahreszeiten. Das winterliche weisse Gold – zu spät registrieren wir, dass wir es brauchen. Wir ignorieren Wetter und Temperatur. Auf den Augenblick genau, auf Saisonbeginn erzwingen wir die scheinbar optimalen Voraussetzungen für das kurzweilige Glück, für alpine Cliché-Träume.

The show must go on. Die Saison eröffnet die Tanzbühne. Ein Wink der Dirigenten genügt. Kraftvoll wirbeln die Trommeln. Sprudeln tosend. Plötzlich dann die leisen Töne. Sie bedecken die Landschaft. Im Duett, einsam irgendwo auch ein Solist. Weiss und lautlos flüstern sie, als dürfte es niemand hören. Als wollten wir es verheimlichen. Das künstliche KanonenOrchester wird zum Retter des Vergnügens. Die Show beginnt.

Orchester der Alpen

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Orchester der Alpen, Schauplatz G87, 2017, C-Print, 100 x 150 cm

Orchester der Alpen, Schauplatz L08, Analogfotografie, C-Print, 125 x 100 cm


Added I, 2014, C – Print, 80 x 100 cm

«Es gibt Leute, die manche Motive als glückliche Zufälle missverstehen. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist das Glück des Suchenden, der immer und immer wieder unterwegs ist, bis der Moment passt.» (Stefan Schlumpf) Seine Bilder sind das Ergebnis unaufhörlichen Suchens und Wartens, des Weggehens und Wiederkommens und viel Geduld. Bei all seinen Landschaftsaufnahmen ist der Bildaufbau durch den mittleren bis tiefen Kamera-Standort und die Wahl der Perspektive ähnlich. Der Fotograf überführt die dreidimensionale Landschaft subtil in eine zweidimensionale Szenerie, indem er den Vordergrund weg und den Mittel- und Hintergrund zusammenwachsen lässt. Wenn das Warten auf den richtigen Augenblick und die richtige Stimmung nichts bringt, wenn der gewünschte Standort nicht möglich ist, dann kehrt der Fotograf ohne ein einziges Bild nach Hause zurück. Dann war es eben nicht die Zeit, ein Bild zu machen. Steht man als Betrachter seinen Bildern in einer Ausstellung gegenüber, so findet man sich plötzlich in einem spannenden Spiel zwischen Nähertreten und Abstandhalten. Die meist grossformatigen, qualitativ sehr hochwertigen Bilder laden geradezu ein, dichter heranzugehen.

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Flueela II, 2014, Archival Pigment Print, 80 x 100 cm

Furka I, 2014, Archival Pigment Print, 80 x 100 cm

Im letzten Jahr ist sein Bildband «Silent» erschienen. Das Buch ist direkt über den Künstler in einer limitierten Auflage erhältlich. (photo@stefanschlumpf.com)

w w w.stefanschlumpf.com te x t: Barbar a keller WERKTEXTE: cindy ortlieb fotos: Stefan Schlumpf


Chasa Jaura, Valchava


Das Museum Chasa Jaura Ein Juwel im Val Müstair

Das Münstertal ist nicht nur seiner imposanten und herrlichen Landschaft wegen beliebtes Ziel für Gäste aus dem In- und Ausland. Wer Ruhe sucht und sich etwas abseits des Trubels im Engadin erholen möchte, kann im Tal hinter dem Ofenpass einiges an kulturellen Sehenswürdigkeiten entdecken. Nebst dem Benediktinerinnen-Kloster Son Jon mit seinen weltberühmten, zum Unesco-Welterbe gehörenden karolingischen und romanischen Fresken ist auch das Talmuseum, die Chasa Jaura in Valchava, stets einen Besuch wert. Das denkmalgeschützte Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert wurde 1973 auf die Initiative des berühmten Radiopioniers und Autors Tista Murk (1915–1992) hin zu einem Museum mit nationaler Ausstrahlung umgenutzt. Zu sehen sind in der Chasa Jaura Ausstellungen mit regionalem und historischem Kulturgut. Aber auch Künstler von nationaler und internationaler Ausstrahlung sind in der Chasa Jaura an der jährlichen Sommerausstellung präsent. Begleitet werden die Ausstellungen von einem reichhaltigen Kulturprogramm mit Musik, Lesungen und vielem mehr.


Aus dem Louvre in die Chasa Jaura Nach einer faszinierenden Ausstellung mit Werken der mexikanischen Fotografin Alejandra Figueroa, die nach grossen Ausstellungen im Louvre und im Musée d’Orsay in Paris sowie in den vatikanischen Museen im letzten Jahr den Weg ins kleine, aber feine Talmuseum gefunden hatte, zeigt die Chasa Jaura in diesem Jahr unter dem Titel «Char Buonder» (Liebe Neugier) eine umfassende Werkschau des berühmten Engadiner Sgraffito-Malers und Künstlers Steivan Liun Könz (1940– 1998). Die wundersame Welt des Steivan Liun Könz Nahezu märchenhaft schweben Schiffe und Dampfer den Wänden des Saales der Chasa Jaura entlang. In der alten, vom Russ der Jahrhunderte geschwärzten Küche lädt – wenn denn auch nur auf Papier – ein fürstliches Gastmahl den Besucher zum Staunen. Wir befinden uns im Erdgeschoss der Chasa Jaura und damit in der «muond müraviglius», der schönen, wundersamen Welt des Steivan Liun Könz. Erstmals seit seinem Tod ist das Werk des weit über die Kantonsgrenzen hinaus bekannten Künstlers einer breiten Öffentlichkeit in einer von Kuratorin und Autorin der Monografie «Steivan Liun Könz – Geschichtenmaler und Bildererzähler» Kathrin Siegfried in einer gekonnt inszenierten und umfassenden Werkschau. Autodidaktischer Dauerlehrling In Samedan geboren, wächst Könz in Guarda als Sohn des Architekten und Sgraffito-Künstlers Iachen Ulrich Könz und der von Alois Carigiets «SchellenUrsli» bekannten Autorin Selina Chönz auf. Schon früh aber packt Könz die Neug ier, und es zieht den jungen Engadiner in die grosse Welt: Er studiert in Zürich Fotografie, unterhält ein Atelier in Adliswil und unternimmt zahlreiche Reisen in nahe und ferne Länder. Stets jedoch bleibt der «autodidaktische Dauerlehrling», wie Steivan Liun Könz sich selbst gerne nannte, seiner kulturellen Heimat treu. Er tritt, wie auch sein Bruder

Fassadenmalerei, Wellnessoase Hotel Chesa Guardalej, Champfèr



Aus der Serie Tarot: 3 kolorierte Tuschzeichnungen, 1989

Constant, in die Fussstapfen seines Vaters und beschäftigt sich mit der Sgraffito-Kunst. Er realisiert zahlreiche Fassadenarbeiten im Engadin, aber auch in ganz Graubünden und im Unterland. Bereits in seinen Sgraffiti zeichnet sich Steivan Liun Könz’ einzigartige Bildsprache ab: Er schmückt die Wände mit Misch- und Fabelwesen und verschränkt die traditionelle Motivik der Sgraffiti mit mystischen und mythologischen Narrationen aus aller Welt und aus allen kulturhistorischen Epochen. Parallel zu seinem Sgraffito-Schaffen radiert, zeichnet, malt, skizziert und schreibt Könz unermüdlich. Ein Universum aus komplex verwobenen Narrationen Es entsteht ein in seiner Form einzigartiges künstlerisches Universum aus Zeichnung, Grafik, Malerei und Schrift, das sowohl der grossen Tradition der Kulturgeschichte und der Kunst, ebenso aber auch der Moderne verpf lichtet ist. In seinen komplex verwobenen Narrationen greift Könz die tragenden Motive alter heidnischer und christlicher Mythen auf. Seine Schiffe werden so zu Archen, auf denen der unermüdliche Sisyphos seine Steine an Bord holt, während der Turm zu Babel sich zum brechenden Mast wandelt. Himmel, Hölle, Welt und Mythologie vereinen sich im Schaffen des Künstlers auf engstem Bildraum. Nebst den in symbolistischer Manier gefassten Archen und den in zunehmender Abstraktion gehaltenen Dampfern gehört aber auch die Damenwelt zur «mund müraviglias» des Steivan Liun Könz. Ihr und ihrer erotischen Anziehungskraft ist denn in der Chasa Jaura auch ein ganzer Raum gewidmet. Dass der Weg eines Neugierigen und eines Reisenden nicht immer einfach ist, manifestiert sich unter anderem im «Weg des Narren», der nebst Könz’ intensiver Auseinandersetzung mit der Religion im oberen Stockwerk des

Schlafzimmer in der Chasa Jaura mit Werken von Steivan Liun Könz: V

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Vorstudie zur Christkatholischen Kirche Luzern: Modell Apsis, 1971 Aus der Serie Engel: Gouache, 1997

Kunst und die Geschichte des regionalen Handwerks treffen sich im Untergeschoss der Chasa Jaura.

Hauses Platz findet. Grossformatige fein ausgeführte kolorierte Tuschzeichnungen, die in der Beschäftigung mit dem Tarot entstanden sind, zieren hier die Wände. Ebenso sind ein in Ton modellierter und bemalter Entwurf für den Chor der Christkatholischen Kirche in Luzern sowie Arbeiten aus der Serie «Engel» zu sehen. Die Schwierigkeiten, die seelischen Abgründe und der Zweifel an Glaube und Religion, die den Maler Zeit seines Lebens begleiteten, zeigen sich im labyrinthischen Gewölbe des altehrwürdigen Hauses. Hier, in der «S-chürdüm», der Finsternis, herrschen die Monster und die höllischen Gestalten, welche Steivan Liun Könz Zeit seines Lebens in einsamen Stunden begleitet haben, während ihm einzig die Neugier blieb, um sein Leben und sein Schaffen voranzutreiben. So schliesst sich denn auch der Kreis der Ausstellung und des Universums von Steivan Liun Könz, das er selbst einst mit folgenden Worten umschrieb: «Liebe Neugier,
lass mich nicht allein mit meinen Zweifeln in dieser Nacht
ohne Hoffnung.»


Ausstellungen mit regionaler und nationaler Ausstrahlung Glücklich über die mehr als gelungene Ausstellung und den grossen Erfolg zeigt sich Andrea Könz, mit welcher der Künstler bis zu seinem Tode verheiratet war: «Viele Einheimische kennen Steivan Liun Könz als Sgraffiti-Künstler. Nun haben sie zum ersten Mal die Möglichkeit, neue und unbekannte Facetten seines Schaffens zu entdecken.» Erfreut ist auch Robert Grossmann, der Direktor des Kulturprogrammes der Chasa Jaura, auf dessen Initiative hin die Ausstellung überhaupt zustande gekommen ist: «Mit Steivan Liun Könz zeigt das Museum Chasa Jaura einen Künstler, der die Kunst- und Kulturlandschaft Graubündens, aber auch der ganzen Schweiz über seine Lebenszeit hinaus geprägt hat. Diese Ausstellung steht auch exemplarisch für die Ausrichtung der Chasa Jaura: Während der Sommermonate soll im traditionsreichen Haus jeweils eine Ausstellung stattfinden, die ebenso eine regionale als auch nationale Ausstrahlung entwickelt. Ziel ist es unter anderem, dass sich national wie auch international anerkannte Künstler im Rahmen der Ausstellung mit dem Münstertal, seiner Landschaft und seiner Kultur auseinandersetzen. Für eine zweite Ausstellungsphase im Herbst soll das Haus Kunstschaffenden offenstehen, die primär im Münstertal leben und arbeiten.»

w w w.chasajaura .ch Te x t: andrin schütz fotos: Ivo Illuminato Andri /

Aus der Serie Engel: kolorierte Bleistiftzeichnung, 1997

zur Verfügung gestellt

Ausstellungsdauer: 2. Juli bis 14. Oktober 2017 Finissage: 14. Oktober, 17.00 Uhr Öffnungszeiten 6. Juni bis 14. Oktober 2017 Dienstag bis Freitag: 10:00 – 12:00 Uhr und 15:00 – 18:00 Uhr Samstag und Sonntag: 15:00 – 18:00 Uhr Montag geschlossen Kontakt Chasa Jaura Val Müstair Museum-Art-Cultura Bauorcha 17 7535 Valchava/Val Müstair Tel. +41 (0) 81 858 53 17 info@chasajaura.ch Aus der Serie Engel: kolorierte Bleistiftzeichnung, 1997

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Dominik Zehnder Sublime Präsenz in Beton gegossen

Stillleben, Grabtücher, mit Brüchen und Rissen versehene Reliefs, Frottagen oder sogar Wassersäulen: Die Aufzählung dieser verschiedenen Objekte liest sich recht spektakulär, wenngleich ebenfalls ein wenig widersprüchlich, fragt man sich doch, in welchem Zusammenhang sie stehen könnten. Schöpfer der oben genannten Objekte ist der in Graubünden aufgewachsene Künstler Dominik Zehnder (*1973). In Cazis beheimatet, wirkt Zehnder in seinem grossräumigen Atelier, das sich über zwei Stockwerke erstreckt und ein beeindruckendes Sammelsurium seiner Arbeiten beherbergt. Kommt man mit Zehnder während eines Atelierbesuchs ins Gespräch, wird rasch ersichtlich, dass der Künstler sehr wohl eine klare wie auch besonnene Intention in seinem Kunstschaffen verfolgt: Subtil thematisiert er die vordergründig unscheinbare Einflussnahme des Menschen auf den Lauf der Zeit.



Wohlüberlegte Experimentierfreudigkeit Dominik Zehnder hat im Laufe der Zeit einen nahezu wissenschaftlich geprägten Zugang zur Kunst entwickelt. Nach abgeschlossener Lehre in Trimmis besuchte der gelernte Steinbildhauer die Accademia di Belle Arti di Brera Milano, wo er eine klassische Ausbildung in der Fachrichtung Bildhauerei erhielt. Betrachtet man nun sein Œuvre, das sich thematisch in verschiedene Werkgruppen gliedert, offenbart sich Zenders Abkehr von der Tradition des Modellierens sowie seine – durchaus wohlüberlegte – Experimentierfreudigkeit im Bereich der Thematik, Technik und Materialität. Risse, Brüche, Strömungen In seiner frühesten Werkgruppe «Risse und Brüche» – Betonreliefs bestehend aus tektonischen Verwerfungen – untersucht Zehnder Momente der Spannung respektive das Wechselspiel entgegengesetzter Kräfte auf planen Oberf lächen. Dafür errichtete er in seinem Atelier grosse Sandkästen, in die er manuell eingriff. Anhand von den «Negativformen» aus Gips konnte er die so hervorgegan-


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genen Risse und Brüche fixieren und in Betongüssen konservieren. Diese Arbeiten dienten ihm als Vorlage für eine Reihe von weiteren Werkgruppen. Exemplarisch sei hier auf die Gruppe «Strömung/Stromung » ver w iesen: Wuchtige Platten, Kuben sowie grazil wirkende Wassersäulen mit wellenförmigen Strukturen sind Produkte von Zehnders Feldarbeit auf unterhalb von Kraftwerken gelegenen Sandbänken. Durch die Stromversorgung wird eine künstliche Ebbe und Flut erzeugt, was auch eine periodische Formveränderung der Sandbänke zur Folge hat. Der Künstler hält einige dieser künstlich erzeugten Strukturen in seinen Arbeiten fest – Momentaufnahmen eines sich ständig in Bewegung befindenden Prozesses. Verschwendung In «Food Waste – verschwendetes Essen,

verlorene Formen» widmet sich Zender dem Thema der Lebensmittelverschwendung in Schweizer Privathaushalten. Laut einer Statistik werden monatlich pro Person durchschnittlich 9,6 Kilogramm an Lebensmitteln weggeworfen (Quelle: foodwaste.ch). Sowohl bestürzt als auch etwas beschämt von dieser immensen Menge besorgte er sich kurzerhand eben diese Menge an Lebensmitteln, um sie zu Kunstobjekten zu erheben. Im Zuge des Arbeitsprozesses wurde die «Negativform» zerstört und weggeworfen – eine verlorene Form. Daraus entstand jeweils ein einziges Stillleben aus Beton. In einer anderen Arbeit derselben Werkgruppe schuf der Künstler mit Spuren der Verwesung eingeschriebene Grabtücher. Für diese Arbeiten wickelte er Früchte in Baumwolltücher ein und vergrub sie für einige Zeit in seinem Garten. In den in barocker Opulenz

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gehaltenen Stillleben wie auch in den Grabtüchern, die an das sagenumwobene Turiner Grabtuch erinnern, tradiert Zehnder die Vanitas-Symbolik in einen aktuellen Kontext. Sublime Präsenz Dominik Zehnder geht mit offenen Augen durch die Welt und betrachtet diese auf eine eigenständige, besondere Weise. Er recherchiert, skizziert, experimentiert, leistet Feldarbeit und schafft in langwierigen Arbeitsschritten Werke, denen eine sublime Präsenz eines bestimmten Momentes innewohnt.

w w w.dominik zehnder .ch te x t: ginia holdener fotos: Daniel rohner




ernestina abbühl In Papier und Wachs gefasste Poesie

Ruhig und konzentriert beugt sich die 1967 im Engadin geborene Künstlerin Ernestina Abbühl über eines ihrer Werke, das gerade vor seiner Vollendung steht, und richtet hier und da noch ein letztes Detail. Der Umgang mit dem filigranen Material erfordert viel Geduld, ausserordentliches handwerkliches Geschick und viel ästhetisches Feingefühl.


Wachs, Papier, Weihwasser und respektvolles Gedankenspiel Entstanden ist ein faszinierendes Relief aus Wachs und Papier. In der Ordnung eines klassischen Schachbrettes gefasst, reihen sich 8 x 8 Felder in geringer Farbnuance aneinander und fügen sich zu einem beeindruckenden Ganzen. Das wahre Geheimnis des vordergründig schlicht in seiner Ästhetik und in seiner Materialisierung überzeugenden Werkes erschliesst sich allerdings erst auf den zweiten Blick. Das feingliedrige Relief-Mosaik setzt sich aus den Seiten einer um 1840 gedruckten Bibel zusammen. Stück für Stück hat Ernestina Abbühl die Blätter respektvoll mit Weihwasser aus dem antiken Buch herausgelöst, mit Paraffin überzogen, eingefärbt und in ihr Relief eingearbeitet. Bleibt dem rasch vorbeigehenden Betrachter der an sich bereits faszinierende Eindruck des Innehaltens des Fluidums Wachs in einer ästhetischen Ordnung, breitet sich vor all jenen, welche die Musse haben, auch selbst innezuhalten und sich in die Betrachtung des Mosaiks zu vertiefen, ein gedanklich-künstlerisches Gedankenspiel aus: Denn beide Materialien, sowohl das Wachs als auch das Papier, spielen in der Geschichte der Menschheit seit jeher eine grosse Rolle.

Inspiriert von den Schichten, Strukturen und Verwerfungen der alpinen Welt im Engadin oder andernorts, reisst, wachst, formt die Künstlerin Blatt um Blatt, wiederum Schicht um Schicht, in einem fast meditativ anmutenden Prozess die Teile zu einem Ganzen, zu einem Relief.


VergrĂśsserter Ausschnitt aus einem AbbĂźhl-Relief.


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Dient das Papier als Schriftträger der Bewahrung und der dauerhaften Fassung des Gedankens, wäre ebendieses Festhalten der Idee ohne das Wachs oft nicht möglich gewesen. Denn die Kerze spendet seit jeher das für das Schreiben und Lesen notwendige Licht. Das Wachs selbst wiederum leistete nicht selten gute Dienste in der Konservierung der Schriftstücke, denn es bietet unter anderem Schutz vor Feuchtigkeit, Schmutz und anderen dem Papier schädlichen Umwelteinflüssen. Nicht zuletzt auch wurde das Wachs stets als Siegel für besonders wichtige Schriften bzw. gewichtige Signaturen verwendet. So gelingt es der Engadinerin in ihrem Werk, das biblische Gedankengut zu konservieren und zugleich in eine neue ästhetische Ordnung und in eine umfassende Metapher über den Gedanken, sein Trägermaterial und die möglichen Varianten seiner Lesbarkeit zu transformieren.


Relief «Terra» 65 x 65 x 10 cm Kunst im Bau 2015: Zusammen mit der Galerie Crameri konnte Ernestina Abbühl für den bekannten Architekten Prof. Gion A. Caminada, Vrin und Zürich, für das Gasthaus am Brunnen in Valendas zwei Reliefs aus Papyrus und Paraffin als «Kunst im Bau» erarbeiten.

Relief «Spelm» 140 x 100 x 15 cm


Erfolgreiche Ausstellungen in der Galerie Crameri: Die Galerie Crameri am Regierungsplatz 40 in Chur, zeigt seit einigen Jahren regelmässig aktuelle Werke der Engadinerin Ernestina Abbühl in Einzel- und in Gruppenausstellungen, wie hier im Bild in der Galerie, oder auch im Schauraum Vazerol.

Die majestätische Stille steinerner Giganten und die intime Poesie des Wegrandes Ihre Bildsprache aber schöpft die Künstlerin nicht allein aus den antiquarischen Schätzen des menschlichen Gedankenguts – auch ganze Atlanten hat sie bereits in Reliefs eingearbeitet –, sondern vielmehr auch aus der heimischen Natur. Aufgewachsen in der bergigen und steinigen hochalpinen Landschaft Graubündens, liegt die eigentliche Wurzel der beeindruckenden Gebilde aus Wachs und Papyrus in der gewaltigen Tektonik der Engadiner Berge: Gleich wächsernen und papierenen Strukturen scheinen die Gesteinslagen in einem einzigen kurzen Augenblick der Erdgeschichte zu ewigen Giganten erstarrt zu sein, die zum einen als Zeugen ungeheuerlichen Drucks, gewaltiger Kraft und ohrenbetäubenden Lärms im Moment ihres Entstehens fungieren und zum anderen eine nahezu magische und majestätische Stille ausstrahlen. Ein zeitgeschichtliches und zugleich psychologisches Gedankenspiel, dem Abbühl in ihren Reliefarbeiten folgt. Gleich dem mächtigen Gestein erstarrt das Wachs in einem kurzen, vermeintlich zeitlosen Augenblick der Transformation und wird zum Träger von Erinnerung und Zeitlichkeit. Denn oft findet der Betrachter frische Blüten, Blumen oder gar auf einem Spaziergang durch die gebirgige Landschaft entdeckte Vogelfedern mit poetischem Feinsinn in die filigranen, akribisch über- und ineinander geschichteten Blätter eingearbeitet.

Das Flüchtige des Augenblicks, das Gewicht der Erinnerung und das IntimPoetische des persönlichen Momentes findet sich aber auch bereits in früheren Arbeiten der Künstlerin und bleibt eine Konstante in ihrem gesamten Schaffen: Am Beginn ihrer künstlerischen Arbeit stehen die «Ballerina sul glatsch» und die «Ballerina da chalanda marz»: die in Wachs gefasste und auf rohes Eisen montierte Erinnerung an unbeschwerte Augenblicke der Jugend.

www.ernestina-waxart.ch te x t: Andrin Schütz fotos: Fotos: Daniel Rohner / zur Verfügung gestellt

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Herausgeber Marc Gantenbein Redaktionelle beiträge Andrin Schütz Ginia Holdener IHAG Privatbank Dr . Luk as Gloor susanna koeberle Beat Stutzer Barbar a keller cornelia kolb -wieczorek Verlag printmedia company chur spundisstr asse 21, 7000 chur tel 081 286 68 03, www.p-m-c .ch Druck international media solutions AG Sonnenstr asse 8, 9434 Au www.imsag.ch Grafik eveline philipp, diebuendner .COM, Chur Erscheinungsweise jährlich Einzelverkaufspreis CHF 15.– / Euro 12.– (zzgl. versand­kostenanteil) Papier Umschl ag luxosamtOffset, hochweiss, gestrichen mat t, 250 gm 2 Inhalt luxosamt­Offset, hochweiss, gestrichen mat t, 170 gm 2 ISBN 978-3-9523366 -7- 0

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