Amel Karboul
coffin corner Warum auch die besten Firmen abstĂźrzen kĂśnnen
ierte Unkorrig e Leseprob
Midas ManageMent verlag
ierte g i r r o k n U e Leseprob
Die tunesische Tourismusministerin Amel Karboul zeigt, wie man auch in turbulenten Zeiten mit Unsicherheitsfaktoren umgehen und überlegen agieren kann. Angesichts überraschender Unternehmenspleiten, plötzlich auftauchender Markttrends und wachsender Konkurrenz auf dem Weltmarkt können Manager schon mal in Panik geraten. Die instinktive Reaktion: mehr Controlling, bessere Planung, weitere Optimierung. Genau der falsche Weg, sagt Amel Karboul, international renommierte Unternehmensberaterin und neue tunesische Tourismusministerin. Denn Optimierung engt die Handlungsspielräume ein – so wie bei Flugzeugen, die hoch oben im sogenannten Coffin Corner (dt. Sargecke) fliegen, wo Mindest- und Maximalgeschwindigkeit nahe beieinander liegen. Hoch effizient und hoch gefährlich! Jedes unvorhergesehene Ereignis kann einen Highflyer zum Absturz bringen. Und da wir in einer Phase des Umbruchs zur digitalen Gesellschaft leben, nehmen unvorhersehbare Ereignisse und hochkomplexe, chaotische Wechselwirkungen sprunghaft zu. Was Sicherheit bringen sollte, verstärkt also die Unsicherheit. Ein Teufelskreis, aus dem Amel Karboul durch ihre interkulturelle Prägung ausbrechen kann.
AMEL KArbouL
Coffin Corner Warum auch die besten Firmen abstürzen können
Midas Management Verlag St. Gallen • Zürich
Coffin Corner Warum auch die besten Firmen abstürzen können
© 2015 Midas Management Verlag AG ISBN 978-3-907100-68-4
ierte Unkorrig e Leseprob
Amel Karboul Coffin Corner – Warum auch die besten Firmen abstürzen können Zürich: Midas Management Verlag AG
Lektorat: Dr. Marietheres Wagner Layout: Midas Verlag, Zürich Cover: Agentur 21, Zürich Druck- und Bindearbeiten: CPI - Clausen & Bosse Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in Seminarunterlagen und elektronischen Systemen. Midas Management Verlag AG, Dunantstrasse 3, CH 8044 Zürich Website: www.midas.ch / kontakt@midas.ch
Inhalt TEIL I: FLUg 7873 1
Optimieren, optimieren, Coffin Corner ........................ xxx
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John Wayne als CEO ..................................................... xxx
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gute Wunden .............................................................. xxx
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Das chronische Déja-vu ................................................xxx
TEIL II: LEARNINg JOURNEY 5
250‘000 Menschen vor dem Lincoln Memorial ............xxx
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Die perfektesten Krankenschwestern der Welt ............xxx
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Der Brandmanager und das Sandwich von Ouagadougou .......................................xxx
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Aristoteles hat sich geirrt ............................................ xxx
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Co-Pilot, you have the aircraft .................................... xxx
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Minimax ...................................................................... xxx
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Dienstgipfelhöhe ........................................................ xxx
KA PI TEL 1
Optimieren, optimieren, optimieren – Coffin Corner
Dort, wo ich aufgewachsen bin, konnte ich morgens nie sicher sein, ob wir mittags noch Strom haben, oder ob auch abends noch Wasser aus der Leitung fließt. Beides fiel immer wieder einfach aus. Ohne Vorwarnung. Aber gut, das war eine Kleinigkeit. Mehrmals im Monat stand ich früh auf, machte mich fertig, kämpfte mich zu Fuß durch den Verkehr, kam zur Schule und dort fiel dann der Strom aus. Ich hatte noch Glück, ich wohnte direkt in der Stadt. Andere Klassenkameraden kamen aus Vororten oder vom Land. Und um sich nicht zu verspäten, nahmen sie das sicherste aller Verkehrsmittel: Sie kamen zu Fuß. Auch wenn das Stunden dauerte. Verspätungen wären kein Problem gewesen. Ob der Bus überhaupt kam, war eine Frage des Glücks. Und hing davon ab, ob unterwegs ein Reifen platzte oder nicht, ob noch genügend Sprit im Tank war oder nicht, ob der Fahrer spontan bei Freunden anhielt oder nicht. Morgen? Wenn Gott will, werden wir morgen Schule haben. Dass heute nicht mehr gelten muss, was gestern noch vehement behauptet wurde, war im Tunesien meiner Kindheit das Normalste von der Welt. In allen Lebensbereichen. Es kommt immer anders, als du denkst. Und wenn die Ausnahme der Regelfall ist, dann ist das ja auch gar nicht schlimm. Mit dieser Haltung bin ich aufgewachsen, und diese Haltung bestimmt bis heute mein Denken und Handeln. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher: Ich gehe mit Unsicherheit anders um als Sie. Wer in Mitteleuropa oder Nordamerika oder Japan aufgewachsen ist, also in einem so genannten Industrieland, hat mit größter Wahrscheinlichkeit die Erfahrung gemacht, dass der Alltag nach bestimmten, ja eigentlich nach den immer gleichen Regeln funktioniert. Das wenige Unvorhergesehene, die Ausnahme von der Regel, die Überraschung, ist dann allerdings ein Großereignis und bringt alles durcheinander. Sie wissen, wovon ich spreche. In Bezug auf die Wirtschaft zum Beispiel spreche ich davon, dass eine ausgereifte, hoch entwickelte
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Technologie, mit der eigentlich alles „in Ordnung“ ist, plötzlich von der Geschichte untergepflügt wird – wie der Röhrenbildschirm, der seit Jahrzehnten in jedem Haushalt, jedem Büro präsent war. Plötzlich kam eine zunächst minderwertige Neuerfindung auf, nämlich der pixelige, kleine, langsame, teure Flachbildschirm. Die Röhre war qualitativ meilenweit überlegen. Keine ernsthafte Konkurrenz. Niemand wollte seinen schönen, bewährten Fernseher gegen so ein in jeder Hinsicht unterlegenes Produkt eintauschen. Die Marktforschung, die Zahlen konnten das belegen. Nicht jede neue Technologie ist eben automatisch besser als das bewährte, dachten die Manager stolz. Aber innerhalb von nur wenigen Jahren war die Röhre vom Markt gefegt. Denn die Tatsache, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit des Flachbildschirms viel schneller war als die der technisch ausgereizten Röhre, war aus den Zahlenwerken der Controller nicht ablesbar. Die Röhrenfernseher-Hersteller wussten nicht, dass sie bereits geschlagen waren, als sie noch auf der Siegesstraße fuhren. Gerade erleben wir, dass Tesla Motors aus Kalifornien, ein Startup eines scheinbar größenwahnsinnigen Dot.com-Miliardärs innerhalb von nur zehn Jahren zu einem milliardenschweren Unternehmen gewachsen ist und mit seinen Premium-Elektroautos große Namen wie Porsche, Audi oder BMW ins Schwitzen bringt. Womöglich ergeht es dem Benzinmotor wie der Bildröhre. Wer hätte das gedacht? Solch unvorhergesehene Ereignisse werfen nicht nur einzelne Unternehmen, sondern auch ganze Branchen aus der Bahn. Dass es in einem japanischen Kernkraftwerk nach einem Tsunami zur Kernschmelze kommt und ein Land wie Deutschland daraufhin quasi über Nacht den Ausstieg aus der Kernenergie beschließt, das hätte sich vor Fukushima kein Energiekonzern träumen lassen. Im Kleinen wie im Großen gilt: Solche Überraschungen bringen die gewohnte Ordnung durcheinander. Zum Beispiel die Ordnung, wer Marktführer, Platzhirsch und eine sichere Bank ist. Diese plötzlichen, überraschenden Ereignisse werden „disruptiv“ genannt, weil sie die bestehende Ordnung „auseinanderreißen“.
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Okay. Das alles wissen Sie so gut wie ich. Jetzt kommt aber der entscheidende Punkt: Disruptive Technologiepsrünge, überraschende Veränderungen, katastrophale Abweichungen von der Normalität – das ist nur eine bestimmte Sichtweise. Das können Sie nur dann so sehen, wenn Sie überhaupt an die „bestehende Ordnung“ glauben, also wenn Sie die Haltung haben, dass die Ordnung normal ist und das disruptive Ereignis die Ausnahme. Sie können es aber auch anders sehen ... Wie auch immer, Sie es sehen: Die Existenz solcher Überraschungen ist erst einmal nur ein Phänomen. Es gibt aber zwei Probleme damit: Erstens sterben dabei tatsächlich Unternehmen, manchmal sogar ganze Branchen. Zweitens und vor allem: Die Überraschungen werden häufiger.
Auf dem Sprung In den 1970er-Jahren waren die Weltmärkte weitgehend stabil und berechenbar: Neue Konkurrenten und neue Technologien entwickelten sich nur langsam und Knalleffekte kamen nur alle paar Jahre mal vor. Die einzelnen Weltmärkte wie die für Finanzen, die für Fachkräfte, die für Rohstoffe oder die für Produkte entwickelten sich im Vergleich zu heute relativ unabhängig voneinander und relativ langsam und kontinuierlich. Sie können auch sagen: Relativ berechenbar. Heutzutage brauche ich nur die Wirtschaftszeitung aufschlagen und ich finde garantiert ein Ereignis, ein Produkt, eine Firma – kurz: irgendetwas, das gerade den Markt umkrempelt. Die Welt dreht sich immer schneller und die Veränderungen werden immer heftiger. Die Zeit, die zum Beispiel eine Erfindung braucht, um sich durchzusetzen – und um wieder zu veralten – wird immer kürzer. Das sieht man an der Zeitspanne, die eine technische Innovation ab seiner Markteinführung braucht, bis sie 50 Millionen Nutzer hat. Beim Radio waren das 38 Jahre. Beim Fernseher 13. Beim Internet 4. Beim iPhone 3. Bei Facebook 2.
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Auch die Informationsmenge, die zur Verfügung steht, wächst ständig. Und das macht alles immer komplexer. Was heute in einer Woche in der New York Times steht, ist mehr Information, als im 18. Jahrhundert ein Mensch in seinem ganzen Leben zu verarbeiten hatte. Allein das technische Wissen verdoppelt sich alle zwei Jahre. Bei meinem Maschinenbau-Studium habe ich im dritten Jahr festgestellt, dass die Hälfte von dem, was ich im ersten Jahr gelernt hatte, schon wieder veraltet war. Und das ist jetzt auch schon wieder einige Jahre her ... Wie tiefgreifend sich die Wirtschaft gerade ändert, zeigt Dirk Baecker vom Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse in Friedrichshafen. Er vertritt die These, dass die kulturelle Entwicklung der Menschheit nicht gleichmäßig vor sich geht, sondern in plötzlichen Entwicklungssprüngen, gefolgt von Phasen sehr langsamer Entwicklung, auf die dann wieder ein Sprung folgt. Ein solcher Sprung war zum Beispiel die Erfindung der Schrift im vierten Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien. Ein anderer die Erfindung des Buchdrucks. Immer wenn es einen solchen Sprung in einer „Schlüsseltechnologie“ gibt, verändert sich nicht nur dieser Zweig der Wirtschaft, sondern gleich die ganze Gesellschaft, der komplette Alltag, das ganze Leben. Und zwar rasend schnell. Laut seiner Theorie stecken wir gerade mitten in einem solchen Entwicklungssprung: in der digitalen Revolution. Das World Wide Web wurde 1995 erfunden. Aber schon jetzt hat es unsere Alltagskultur, unsere Kommunikation, unser Selbstverständnis und unser Weltbild völlig verändert. Und das ist erst der Anfang. Die digital vernetzte, globale Gesellschaft ist erst im Entstehen und wir wissen noch überhaupt nicht, wie sie aussehen wird. Spannend an Baeckers Theorie finde ich drei Dinge: Der allgemeine Sprachgebrauch und die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass Wirtschaft und Gesellschaft sich im Laufe der Menschheitsgeschichte immer schneller verändern, sie sprechen oft vom Phänomen der „Dynaxity“ – der Kombination aus zunehmender Dynamik und zunehmender Komplexität. Aber laut Baecker stimmt das nicht kontinuierlich. Wir haben nur gerade den Übergang von
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einer ruhigen Phase in eine beschleunigte Phase der Veränderung erlebt. Von dieser kurzen Phase der extremen Beschleunigung auf die ganze Menschheitsgeschichte zu schließen, ist womöglich ein Kurzschluss. Zweitens bedeutet das, dass die Menschheit solche chaotischen Phasen extremer Veränderung schon öfter erlebt hat. Mit dem Blick auf‘s Ganze ist der gegenwärtige Schub an Innovation und Veränderung also ganz normal. Und drittens wird dann klar, dass ein Mensch, der eine Organisation oder eine Gesellschaft, die noch auf einen ruhigeren Geschichtsverlauf mit viel Ordnung und Sicherheit gepolt, geprägt, geeicht ist, derzeit ziemlich verwirrt ist – in etwa so, wie wenn Sie einen Menschen aus dem Tiefschlaf reißen und zur Hauptgeschäftszeit mitten in einen Souk in der Medina von Tunis stellen. Die Verwirrung ist berechtigt: Immer während eines Entwicklungssprungs verändern sich Gesellschaft und Wirtschaft nicht nur rasend schnell – sondern auch völlig unvorhersehbar. Da reichen kleinste Ereignisse, um die Welt aus den Angeln zu heben. Eine unscheinbare Erfindung, das Verhalten einer Einzelperson, ein einzelner Kommentar in einem gut vernetzten Forum kann Märkte, Meinungen, ja sogar politische Systeme verändern – oder auch nicht. Das weiß vorher niemand. Nehmen Sie den Arabischen Frühling: Der wurde nicht von einer politischen Gruppe ausgelöst, sondern von einem Gemüsehändler. Am 17. Dezember 2010 zündete sich in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt 200 Kilometer von Tunis entfernt, Mohamed Bouazizi aus Protest gegen behördliche Willkür an: Die Behörden hatten seine Ware beschlagnahmt. Eine individuelle Verzweiflungstat, die zunächst in Tunesien, in den nächsten Wochen und Monaten in ganz Nordafrika und dem Nahen Osten eine nicht zu stoppende Protestwelle gegen die autoritär herrschenden Regime auslöste. Das historische Ereignis war völlig ungeplant, völlig unorchestriert, völlig flächendeckend und völlig wirkungsvoll. Und niemand hatte es vorausgesehen. Über Twitter, Facebook und Mobiltelefon verbreitete sich die Nachricht über die Selbstverbrennung von Bouazizi in Sekunden-
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schnelle in der ganzen Welt. Über dieselben Kanäle verabredeten sich die sonst eher obrigkeitshörigen Tunesier im ganzen Land zu Protestdemos. Die Aufstände blieben keine Eintagsfliegen: Nach 28 Tagen Unruhen, Protesten und Ausschreitungen war es soweit, dass der tunesische Präsident Zine el Abidine Ben Ali das Land verließ. Kurze Zeit später waren auch der ägyptische Präsident Husni Mubarak und der jemenitische Präsident Ali Abdullah Salih nicht mehr im Amt. Der Lybische Diktator Muammar al-Gadaffi hielt sich noch einige Monate länger; er wurde nach einem brutalen Bürgerkrieg im Oktober 2011 umgebracht. Geplant war das alles nicht. Zwangsläufig auch nicht. Aber was war es dann? Zufall? Auch wieder nicht. Ich glaube, dass so etwas derzeit einfach passiert, ist aus einer bestimmten Perspektive betrachtet – ganz normal. Es sind bloß genügend Faktoren zusammengekommen, um eine Entwicklung über eine bestimmte Schwelle zu heben, die die bestehende Ordnung vom Chaos trennt. Jenseits der Schwelle ist die Entwicklung unvorhersehbar, unkontrollierbar, unbeeinflussbar. Anders als in der ruhigen, geordneten Zone, wo eine Ursache eine Wirkung nach sich zieht – oder umgekehrt ein Effekt eine bestimmte Ursache hat, ist es in den stürmischen Zeiten jenseits der Schwelle ganz anders: Viele Faktoren, viele Wirkungen, und alles ist mit allem vernetzt und mit wechselseitigen Auswirkungen miteinander verbunden. Ja, Sie könnten sagen: Das ist das Chaos. Wie furchtbar! Aber es ist viel angenehmer, einfacher und praktischer, zu sagen: Das ist die normale, komplexe Welt, mit ihrer zentralen Eigenschaft: Unvorhersehbarkeit. Das heißt: Wenn Sie ein Ereignis verstehen wollen, hilft Ihnen die Suche nach DER Ursache nicht weiter. Es gibt sie nicht. Und wenn Sie eine Wirkung erzielen wollen, hilft Ihnen DIE Maßnahme nicht weiter. Denn sie erzeugt mit großer Wahrscheinlichkeit eine ganz andere Wirkung als Sie planen – eine Intervention wirkt immer auf das ganze System, nicht nur auf einen Teil davon, und das Ganze wirkt dann wieder auf den Teil. Mit unvorhersehbaren Ergebnissen. Einfaktorielle Interventionen können Sie derzeit glatt vergessen.
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Die Welt, die Wirtschaft, die Gesellschaft verlaufen nicht mehr nach dem so praktischen Ursache-Wirkungs-Prinzip, sorry. Aber die Zeit der relativen Vorhersehbarkeit war ja auch nur ein Spezialfall der Geschichte, nur eine Phase. Das gegenwärtige Chaos ist die Normalität von heute. Kein Grund zur Aufregung, wir können es nicht ändern. So sehe ich es ... Ich weiß, also bin ich Wie Sie damit umgehen, kann ich natürlich nicht im Detail wissen. Die groben Strategien vermutlich aber schon, denn die beobachte ich immer wieder. Ich gehe deswegen jede Wette ein, dass Sie mit der Komplexität und Unsicherheit der modernen Welt im Prinzip genauso umgehen wie die Drogeriemarktkette Schlecker, der Versandhandel Quelle, der Fotoapparat- und Filmhersteller Kodak, das Einzelhandelsunternehmen Hertie, der Fernsehhersteller Loewe, der Autohersteller Saab. Diese Liste könnte ich beliebig verlängern. Das alles waren große Traditionsunternehmen mit professionellem Management, die ihr Business im Griff hatten, die aufgrund genauer Marktkenntnis planten und ihre Pläne konsequent umsetzten. Damit waren sie lange Zeit sehr erfolgreich – bis sie insolvent gegangen sind. Die Pleiten lösten quer durch die Wirtschaftswelt bei Führungskräften und Experten Verunsicherung und lebhafte Diskussionen aus. Was war da los? Haben diese doch eigentlich bestens aufgestellten Unternehmen irgend etwas falsch gemacht, und wenn ja was? Hatten sie die falsche Strategie, oder haben sie sie nicht konsequent genug angewendet? Ihr Reflex wird höchstwahrscheinlich sein: Die haben nicht gut genug geplant. Die Marktforschung war nicht detailliert genug. Die Management-Entscheidungen waren nicht gründlich genug vorbereitet, es hatten Informationen gefehlt. Ich verstehe das. Aus Ihrer Perspektive sieht das so aus. Schaue Sie sich mit mir gemeinsam die Strategie genauer an, mit der Unternehmen versuchen, die Unwägbarkeiten des Markts, des Kundenverhaltens, des Wettbewerbs in den Griff zu bekommen.
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Diese Strategie basiert auf einem Grundsatz, den jeder Mensch seit seiner Schulzeit tausendfach gehört hat und der lautet: Wissen ist Macht. Im BWL-Studium wird dieses Axiom für den Spezialfall Wirtschaft übersetzt und noch tiefer in die Köpfe gehämmert: Je genauer du Bescheid weißt über deine Kunden, deine Wettbewerber, über das Kräftespiel des Weltmarkts, desto fundierter und treffsicherer kannst du deine Strategie planen. Dann wird dich keine Veränderung im Kundenverhalten oder Markt mehr unvorbereitet treffen. Dann bist du sicher. „If you show us what you buy, we can tell you who you are, maybe even better than you know yourself.“ So zitierte die US-amerikanische Nachrichten-Webseite „The Daily Beast“ 2010 einen früheren CEO der kanadischen Supermarktkette Canadian Tire. Mit Hilfe einer riesigen Datensammlung erstellte das Unternehmen psychologische Profile seiner Kunden. Der Konzern ermittelte, dass Kunden, die sowohl Messgeräte für Kohlenmonoxid als auch Premium-Vogelfutter und Filzgleiter für Stuhlbeine kaufen, regelmäßig die Fristen ihrer Rechnung verpassen. Wer billiges Motorenöl kaufte und auch noch in Montreal die Bar „Sharx“ besuchte, bei dem war das Risiko, die Rechnung zu spät zu bezahlen, noch höher. Dieser Logik folgend, wurde allen Kunden, die diese Produktkombinationen kauften, der Kredit verweigert. Das Kreditkarten-Unternehmen Visa legte ebenfalls detaillierte Statistiken zum Kundenverhalten an und wertete sie konsequent aus. So konsequent, dass eines Tages ausgewählten, eigentlich guten Kunden jeweils ein Brief ins Haus flatterte: Visa bot ihnen darin 300 Dollar, wenn sie kündigten. Doch. That‘s real. Diese Kunden hatten ihre Rechnungen immer bezahlt und trotzdem wollte das Unternehmen sie loswerden. Denn Visa hatte aufgrund einer umfangreichen Datensammlung vorausberechnet, dass sie zu Risikokunden werden könnten. So funktioniert der Versuch, das Chaos zu kontrollieren. So funktioniert Big Data! Finden Sie das absurd? Aber wieso? Hier wurde das Prinzip „mehr Wissen = mehr Planungssicherheit“ doch nur konsequent
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angewendet. Das und nichts anderes ist die Konsequenz aus dem Denken, das in unserer Gesellschaft (fast) jeder akzeptiert und praktiziert, von der Kita bis zum Altenheim. Mehr Informationen über Kunden, mehr Informationen über Wettbewerber und vor allem mehr Informationen über das eigene Unternehmen sollen bei der noch detaillierteren Planung helfen. Um die internen Informationen zu sammeln und zu bündeln, gibt es die Controlling-Abteilungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten immens ausgebaut wurden. „Immer mehr Unternehmen setzen darauf, jemanden einzustellen, der diese Aufgabe übernimmt“, schrieb das deutsche Börsenportal Wallstreet-online im August 2013. Controller sammeln und analysieren alle Zahlen, die sie im und ums Unternehmen auftreiben können. Und sie werden darin immer besser. Diese Informationen kumulieren, analysieren und präsentieren sie dann der Unternehmensleitung. Und diese entscheidet auf dieser Grundlage, beschließt den Geschäftsplan fürs nächste Jahr und die einfaktorierellen Maßnahmen, mit denen die geplanten Ziele erreicht werden sollen. Ursache-Wirkungs-Ketten werden angestoßen, alles auf der Basis möglichst guter Zahlen. Exzellent. Dann überprüft das Controlling laufend, ob der Ist-Zustand noch mit dem Soll-Zustand übereinstimmt. So kann das Management bei der geringsten Planabweichung sofort einschreiten und eine einfaktorielle Intervention starten. Brillant. Das Unternehmen orientiert sich also strengstens und mit höchster Disziplin an – woran? Am Plan! Die Ressourcen des Unternehmens werden unter dieser Prämisse mithilfe von Enterprise-Resource-Planning-Software optimal eingesetzt, der Arbeitsalltag organisiert: sparsam und schnell, mit einem Wort: effizient. Denn darum geht es im Management: Die Effizienz zu steigern, die Kosten und den Zeitaufwand pro produzierter Einheit oder pro Dienstleistung zu senken, den Gewinn pro Einsatz zu erhöhen, jede Form der Verschwendung auszumerzen, das Optimum herauszuholen. Das Unternehmen als Formel-1-Bolide, an dem jeden Tag getüftelt wird. Der nächste Schritt ist, nicht nur die Ressourcenverwaltung, sondern die Prozesse an sich zu optimieren. Jeder Arbeitsschritt,
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jeder Zentimeter Weg, jede Aufgabenverteilung, jedes i-Tüpfelchen in der Kommunikation der Mitarbeiter soll perfekt aufeinander abgestimmt werden. Jedes organisatorische Detail, jedes unvorhergesehene Ereignis, das den reibungslosen Ablauf stören könnte, muss beseitigt werden, damit ein Rädchen reibungslos ins andere greift und die ganze Unternehmensmaschine schnurrt und summt wie ein riesiges, perfekt gewartetes und eingestelltes Uhrwerk. Dazu braucht es: Prozesshandbücher. Ausgefeilte Norm-Regelwerke. ISO 9001 (Mindestanforderungen ans Qualitätsmanagement). ISO 14001 (internationale Umweltmanagementnorm). Allein bis Ende 2009 wurden über eine Million Zertifikate basierend auf ISO 9001 und etwa 225 000 Zertifikate basierend auf ISO 14001 erteilt. Diese Regeln sind für Unternehmen wie ein ZwölfpunktSicherheitsgurt. Indem sie für jede nur denkbare Situation und Problemkonstellation Verfahrensweisen festlegen, geht das Management den (scheinbar) sichersten Weg, das riesige Uhrwerk präzise zu steuern. Und – das funktioniert hervorragend! Jedenfalls in einer vorhersehbaren Ursache-Wirkungs-Welt ... Aber diese Welt hat in Wahrheit noch nie existiert. Noch vor kurzem sah die Welt so aus, zumindest in den so genannten Industrieländern der so genannten „Ersten Welt“. Heute wird uns langsam klar, dass das gute Gefühl, durch Controlling, ERP, DIN-Normen und Prozessmanagement gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Komplexität der Welt gewappnet zu sein, nicht mehr und nicht weniger ist als – ein gutes Gefühl. Das Gefühl trügt. Auch Loewe und Kodak konnten Zertifizierungen nach ISO-Norm vorweisen. Auch sie hatten Marktforschung, Prozessmanagement und Rechenzentren. Es hat sie nicht vor der Pleite gerettet. Aber keine Sorge: Auch für die Insolvenzabwicklung gibt es eine ISO-Norm. Diese Strategie, mit all ihren Facetten, läuft auf eins hinaus: Komplexität anhand von möglichst viel Wissen, möglichst genauer Planung und möglichst enger Steuerung unter Kontrolle bringen. Das setzt aber eine Prämisse voraus: Dass Komplexität überhaupt kontrollierbar ist.
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Damit waren Unternehmen bisher sehr erfolgreich. Jedenfalls war es bisher leicht, das zu glauben. Überprüfen Sie die Prämisse! Zieh hoch! Zieh hoch! Optimieren als Erfolgsgarant? Ich denke genau das Gegenteil. Nämlich dass dieses Verhaltensmuster zum Scheitern von Kodak, Hertie, Schlecker und all jenen renommierten Unternehmen beigetragen hat. Und auch zum Scheitern von vielen unbekannteren Unternehmen, die schon vom Markt verschwunden sind – oder demnächst vom Markt verschwinden werden. Auf mehr Unsicherheit mit mehr Wissen, mehr Planung, mehr Kontrolle, mehr Optimieren reagieren, ist ein Reflex, der einmal nützlich war. Der aber heute absurd geworden ist: Kein Unternehmen, kein Führungsgremium kann sämtliche Fakten und Entwicklungen, die es irgendwo auf der Welt gibt, im Auge behalten. Aber jedes kleine Faktum irgendwo auf der Welt kann prinzipiell Einfluss nehmen auf das Unternehmen. Während Sie den Wettbewerber in Indien beobachten, wächst irgendein kleines Start-up in Indonesien rasend schnell auf Weltmarktgröße. Während Sie den indonesischen Markt im Auge behalten, bahnt sich auf dem brasilianischen Markt eine Revolution in einer andere Branche an, die Sie nicht auf dem Schirm haben, die Ihre Branche aber überflüssig macht, so wie iTunes die Tonträger überflüssig macht oder Amazon die Buchhandelsketten in den Ruin treibt. Je mehr Informationen Sie sammeln, desto schwieriger wird es zu bestimmen, welche davon relevant sind und welche wie miteinander zusammenhängen. Big Data ist eine große Einladung zu Fehlschlüssen. Allwissenheit ist ab einem bestimmten Grad von Komplexität weder machbar noch sinnvoll. – Und über diese Schwelle sind wir heute schon lange hinaus. Dasselbe lässt sich auch über Planen, Kontrolle und Optimierung sagen: In Perfektion sind sie weder machbar noch wünschenswert. Wie Sie sich auch anstrengen – Sie können unmöglich völlig vermeiden, dass es immer wieder Ereignisse gibt, die Sie unvorbereitet treffen.
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Entscheidend ist dann nicht, ob und wann unerwartete Ereignisse Ihre Situation komplett verändern, sondern wie Sie damit umgehen, wenn so etwas passiert. Wie rasch, wie kreativ Sie Lösungen dafür finden. Hierfür ist die alte Strategie kontraproduktiv. Wer zu genau plant und zu präzise kontrolliert, engt seinen Handlungsspielraum ein. Optimieren macht unflexibel. Wenn jeder Verfahrensschritt genauestens vorgeschrieben ist und dann doch mal eine Situation auftaucht, die nicht vorgesehen ist, sind die Beteiligten völlig ratlos. Ja mehr noch: Selbst wenn sie eine Idee haben, wie sie damit umgehen könnten – die Vorschriften lassen es nicht zu. Das Budget fürs nächste Jahr ist bis auf den letzten Cent verplant. Die Entscheidungswege sind so durchorganisiert, dass sie abzuschreiten mindestens drei Monate benötigt. Der Terminkalender von Führungskräften ist so durchgetaktet, dass zwei Vorstände auf absehbare Zeit kaum eine Viertelstunde finden, in der beide Zeit haben, um miteinander über Notfallmaßnahmen zu beraten. Jedenfalls, wenn sie an ihrem Terminplan festhalten. Das Regelwerk, die perfekte Organisation und Planung: Das alles kann von einem Moment zum nächsten vom Sicherheitsgurt zur Fessel werden. Gerade dann, wenn Sie glauben, alles im Griff und unter Kontrolle zu haben, weil Sie alles perfekt optimiert haben, sind Sie in höchster Gefahr. Flugkapitänen ist diese Situation bewusst und vertraut. Je höher ein Flugzeug fliegt, desto geringer ist die Luftdichte und damit der Reibungswiderstand und desto weniger Kerosin benötigt es. Möglichst hoch oben zu fliegen ist also effizient – das Controlling der Luftfahrtgesellschaft freut sich. Doch in großen Höhen unterwegs zu sein, birgt auch ein gewaltiges Risiko, denn je geringer die Luftdichte ist, desto schneller muss ein Flugzeug fliegen, um noch genügend Auftrieb zu bekommen. Wird es zu langsam, reißt die Luftströmung an den Flügeln ab und das Flugzeug stürzt ab wie ein Stein. Diese Mindestfluggeschwindigkeit steigt mit zunehmender Höhe. Je näher sich der Pilot an die maximale Flughöhe herantastet,
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desto schneller muss er fliegen, damit er überhaupt oben bleibt. 300 Meter über Grund beträgt die Mindestfluggeschwindigkeit einer Verkehrsmaschine etwa 200 km/h – die Landegeschwindigkeit einer Boeing 747-400 liegt bei etwa 250 km/h. In der normalen Verkehrsflughöhe von etwa 10 000 bis 11 000 Metern liegt die Mindestgeschwindigkeit schon bei über 800 km/h. Das Dumme ist nur, dass ein Flugzeug nicht beliebig schnell fliegen kann. Die Boeing 747-400 kann etwa 980 km/h schnell fliegen, ein Airbus A380 maximal etwa 1020 km/h. Oberhalb dieser Geschwindigkeiten werden die physikalischen Kräfte, die an der Maschine zerren, so groß, dass Bauteile abreißen oder sich verbiegen können. Im Extremfall wird das ganze Flugzeug in seine Einzelteile zerrissen. Mit zunehmender Flughöhe wird also automatisch die Spanne zwischen Mindestgeschwindigkeit, die das Flugzeug in der Luft hält, und typenbedingter Höchstgeschwindigkeit enger. Je effizienter das Flugzeug fliegt, desto mehr nähert es sich dem Punkt, an dem Mindest- und Maximalgeschwindigkeit gleich sind. Das ist der Punkt der maximalen Flughöhe. Gleichzeitig der Punkt der höchsten Effizienz, das betriebswirtschaftliche Optimum, weil dort mit Maximalgeschwindigkeit und minimalem Treibstoffverbrauch geflogen wird. Die Höhenzone direkt unterhalb dieses Punktes nennen die Piloten: Coffin Corner. Die Sargecke. Denn das ist die Ecke, aus der du, wenn du nicht aufpasst, nicht mehr lebend herauskommst. Bei einer durchschnittlich beladenen Boeing 737-800 beginnt die Coffin Corner bei etwa 12.200 Höhenmetern. Hier ist das Fliegen hoch effizient – und extrem gefährlich. Jede winzige Änderung der Geschwindigkeit, jede Kursänderung, jede kleinste Luftturbulenz kann dazu führen, dass das Flugzeug einen Tick zu hoch fliegt, die Strömung abreißt und das Flugzeug abstürzt. Da die Geschwindigkeit beim Absturz dann noch zunimmt, kann der Pilot die Maschine nicht mehr abfangen. Sie zerbricht in so einem Fall meistens noch in der Luft. Der Pilot in der Coffin Corner kann darum weder beschleunigen noch Kurven fliegen – denn das würde abbremsen –, ohne das Flugzeug, seine Passagiere und sich selbst extrem zu gefährden. Die Fle-
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xibilität, die Fähigkeit zu agieren oder zu reagieren ist in dieser Zone maximal eingeschränkt. Effizienz maximal – höchste Gefahr. Das ist die Logik, die Ihnen niemand beigebracht hat! Die Logik, die Sie neu lernen müssen! Die Arbeitsabläufe in einem Unternehmen immer mehr und noch mehr zu optimieren ist, als ob Sie ein Pilot wären, der sein Flugzeug, das bereits in der Coffin Corner fliegt, noch weiter an die absolute Grenze heranführt. So lange das Flugzeug noch fliegt, ist das zwar höchst profitabel, und deshalb denken die CEOs: Es läuft blendend, das Unternehmen ist sicher. Aber die Handlungsoptionen eines Geschäftsführers in einem optimierten Unternehmen sind überaus eng. Je effizienter er unterwegs ist, desto weniger Freiraum bleibt ihm, auf sich ändernde Bedingungen zu reagieren. Irgendwann, bei Auftreten einer geringen Turbulenz, wird sein Unternehmen abstürzen. So wie der Air-France-Flug 447. Am 1. Juni 2009 sah ich es geschockt in den Nachrichten: Das Linienflugzeug, das am 31. Mai spätabends in Rio de Janeiro mit Ziel Paris gestartet war, wurde vermisst. Höchstwahrscheinlich war es abgestürzt. Mit 228 Menschen an Bord. Am Tag darauf wurden erste Trümmerteile im Atlantik treibend entdeckt. In den nächsten Tagen und Wochen verfolgte ich die verzweifelte Suche nach dem restlichen Wrack und nach den Überresten der Insassen. Und die genauso verzweifelte Suche nach dem Grund des Unglücks. Das Flugzeug, ein Airbus A330-200, war frisch gewartet und technisch tiptop gewesen. Die drei Piloten waren gut ausgebildet, erfahren, ausgeruht und gesund. Warum um alles in der Welt war dieses Flugzeug abgestürzt? Erst knapp zwei Jahre später konnten das Speichermodul des Flugschreibers und der Stimmrekorder aus 4000 Meter Meerestiefe geborgen werden. Die Auswertung machte klar: Das Flugzeug war in der Coffin Corner geflogen. Hier durfte auf keinen Fall etwas Unerwartetes passieren. Aber es geschah: Das Höhenmessgerät vereiste und der Autopilot fiel aus. Zu diesem Zeitpunkt war gerade der Kapitän in Pause, der Kopilot Bonin steuerte.
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Marc Duboir, 58, Flugkapitän David Robert, 37, Kopilot Pierre Cedric Bonin, 32, Kopilot Bonin: „Putain! Ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug, ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug!“ Robert: „Die Steuerung nach links!“ Duboir: „Eh, was macht ihr da?“ Bonin: „Wir verlieren die Kontrolle über das Flugzeug!“ Robert: „Wir haben komplett die Kontrolle über das Flugzeug verloren. Ich verstehe das nicht ... wir haben alles versucht ... Was glaubst du? Was glaubst du? Was müssen wir tun?“ Duboir: „Nun, ich weiß es nicht!“ Robert: „Zieh hoch ... zieh hoch ... zieh hoch ... zieh hoch ...“ Bonin: „Aber ich ziehe doch die ganze Zeit über voll hoch!“ Duboir: „Nein, nein, nein ... zieh nicht hoch ... nein, nein.“ Robert: „Dann geh in den Sinkflug ... Also, gib mir die Steuerung ... Die Steuerung an mich! Putain, wir werden aufschlagen ... Merde! Das ist nicht wahr!“ Bonin: „Aber was passiert hier?“ Duboir: „Längsneigung 10 Grad ...“ Ende.
Zwischen den Welten Es klingt abstrus: Unternehmen streben höchstmögliche Sicherheit an, und genau dadurch landen sie am gefährlichsten Ort: in der Coffin Corner. Wie kann das sein? Meiner Erfahrung nach handelt es sich um eine besondere Form von Betriebsblindheit. Viele Unternehmen rennen ins Unheil, weil sie Scheuklappen tragen, die ihnen den Blink nach links und rechts versperren. Und zu allem Unglück wissen sie nicht einmal, dass ihr Blickfeld verengt ist! Sie folgen ganz selbstverständlich einem Denkmodell, das ihnen Sicherheit verspricht, sie aber gefährlich nahe an den Absturz bringt. Ihren Handlungsspielraum könnten sie
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nur erweitern, wenn sie sich darüber bewusst werden, dass es noch ganz andere Perspektiven gibt, aus denen sie das Problem betrachten können. Um das zu verstehen, müssen Sie sich etwas Grundlegendes bewusst machen: Unternehmen handeln niemals im luftleeren Raum, sondern innerhalb eines kulturell geprägten Rahmens. Denn wie ein Unternehmen handelt, wie es Erfolg definiert, welche Entscheidungen es trifft und wie es auf Probleme reagiert – das alles hängt von den Einstellungen und inneren Überzeugungen seiner Führungskräfte und Mitarbeiter ab. Und die sind immer auch von den jeweiligen Glaubens- und Denksystemen geprägt, in denen sie sozialisiert wurden und in denen sie sich bewegen. Unterschätzen Sie nicht die Auswirkungen dieser kulturellen Prägung! Dass ich in Tunesien geboren und aufgewachsen bin, hat mein gesamtes Denken sehr geprägt. Wie sehr, kann ich Ihnen am besten zeigen, wenn ich Sie mitnehme nach Tunis, in das Jahr 1987. Es war der 6. November. Wir saßen beim Abendessen in der Küche, mein Vater aß einen Granatapfel. Normalerweise vollzog er das allherbstliche Ritual mit Bedacht, brach die Frucht vorsichtig auseinander und löste die saftig roten Kerne geschickt heraus, ohne sie zu verletzen. An diesem Abend war etwas anders. Seine Hände zitterten, seine schlanken Finger bewegten sich fahrig. Mit Gewalt grub er die Kerne aus der Frucht und schaufelte sie hastig in seinen Mund. Der Saft lief über seine Finger und tropfte auf den Tisch. Er bemerkte es nicht. Auch nicht, als ich ihm einen Lappen holte, um den Saft aufzuwischen. Meine Mutter beobachtete ihn besorgt. So wie ich auch. Mein Vater schwieg. Von draußen drang der Verkehrslärm herein, Musik aus einem Café, Hundebellen, Gesprächsfetzen von Passanten. In unserer Küche war das Gespräch verstummt. Wie konnte ich von der Schule erzählen, wie konnte meine Schwester vom Nachmittag mit ihren Freunden erzählen, während mein Vater so abwesend und voller Anspannung am Tisch saß? Ich stellte die Teller vom Tisch zusammen und trug sie ihn die Küche. Mein Vater nickte mir zu und verließ das Haus. Als ich mit Aufräumen längst fertig war, war er immer noch nicht zurück.
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Mein Vater blieb die ganze Nacht verschwunden. Ich konnte nicht schlafen. Das ganze Haus war unruhig, das Licht meiner Nachttischlampe summte. Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein. Als ich aufstand, um nach meiner Mutter zu sehen, entdeckte ich sie am Küchenfenster. Sie knetete ihre Hände und blickte hinaus. Im Flur fehlten die Schuhe meines Vaters. Immer noch. Ich wusste, dass es nichts gab, was ich tun konnte, und kroch mit bleiernem Gefühl wieder ins Bett zurück. Erst später erfuhr ich, was in jener Nacht passiert war: Die Regierung wurde komplett entmachtet; ein Putsch, erstaunlicherweise ohne Blutvergießen. Der 84-jährige, autoritäre Präsident Habib Bourguiba wurde abgesetzt und Ben Ali kam als neuer Präsident an die Macht. Mein Vater war damals Chef der Polizei und maßgeblich an der Aktion beteiligt. Das alles ist passiert, während wir auf ihn warteten und keine Ahnung hatten, was da gerade vor sich geht. Vielleicht überrascht Sie das, aber ich habe dieses Ereignis nie hinterfragt. Hat mein Vater sein Leben riskiert? Hat er uns, seine Familie in Gefahr gebracht? Hat er für das Land das richtige getan? Das alles ist nicht so wichtig. Es ist passiert. Ich war vierzehn und damit noch ein wenig zu jung, um wirklich zu verstehen, was passierte. Aber ich wusste bereits, dass ich nichts tun konnte. Und wenn es nichts zu tun gab, gab es nichts zu fragen. Das hat sich mir tief eingeprägt: Es gibt Ereignisse, auf die ich einfach keinen Einfluss habe. Also bringt es auch nichts zu versuchen, mit Fragen und Bewertungen eine Art von Scheinkontrolle darüber zu gewinnen. Schon gar nicht im Nachhinein. Selbst als Erwachsene habe ich meinen Vater nicht danach gefragt, wo genau er in jener Nacht war, ob er Angst hatte, und was passiert wäre, wenn der Plan schiefgegangen wäre. Verstehen Sie das? Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der so etwas wie ein Putsch vorkommen konnte. In einer Welt, in der nichts stabil ist, in der man abhängig ist von der Gunst oder Missgunst des Schicksals. Eine Welt, in der jede Angelegenheit so oder so oder noch ganz anders ausgehen kann – man wird sehen. Eine Welt, in der Intuition und die Entscheidung eines Augenblicks manchmal wichtiger sind, als alles kontrollieren zu können.
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Eine Welt wie die, zu der Ihre alte Welt heute geworden ist! Meiner Erfahrung nach gibt es zwei grundverschiedene Haltungen, um mit Unsicherheit umzugehen. Die erste ist diejenige, die viele Unternehmen in den Industrienationen jahrzehntelang extrem erfolgreich gemacht hat – und die sie jetzt in Gefahr bringt. Es ist das lineare Denken: Ich setze mir ein Ziel und lege, möglichst detailliert, die einzelnen Schritte hin zu diesem Ziel fest. Mit sorgfältigsten Vorbereitungen versuche ich, jedes Hindernis im Voraus zu beseitigen. Meinen Plan setze ich dann möglichst genau um und kontrolliere bei jedem Schritt, ob ich noch „auf Spur“ bin. Diese Denkweise erinnert mich an eine Eisenbahnlinie: Auf der kürzesten und hindernisfreisten Strecke führt sie von A nach B. Stahlschienen sorgen dafür, dass die Reise auf dieser Strecke absolut glatt läuft – und dass keine Abweichung nach links oder rechts möglich ist. Der Fahrplan wird schon lange im Voraus minutengenau festgelegt. Es gibt nur ein Ziel, nur eine Strecke dorthin, sorgfältige Vorbereitung, praktisch null Abweichung. Deswegen nenne ich diese Art zu denken: Railway-Denken. Das Railway-Denken ist in Europa und den europäisch geprägten Ländern – Nordamerika, Japan und Südkorea, also was man im Allgemeinen „westliche“ Staaten nennt, obwohl sie über den ganzen Globus verteilt sind – entstanden und prägt sie noch heute stark. Aber natürlich sind in diesen Regionen nicht alle Menschen so drauf. Railway-Denken ist auch längst nicht mehr auf „den Westen“ beschränkt. Überall auf der Welt haben Menschen es sich angeeignet. Vor allem Manager, die an einer der großen Business-Schools gelernt haben, neigen zum Railway-Denken – egal ob sie aus Sri Lanka, Burkina Faso oder aus der Schweiz stammen. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass diese Denkweise in den europäisch geprägten Ländern besonders weit verbreitet ist. Mein Paradebeispiel für Railway-Denken ist Deutschland: Alles dreht sich hier um die Idee der Kontrolle. Dass man den Unwägbarkeiten des Lebens ausgeliefert sein könnte, ist für die meisten Deutschen ein schier unerträglicher Gedanke. Reisende der Deutschen Bahn werden hektisch, wenn der ICE zehn Minuten Verspätung hat – nur um dann in totale Panik auszubrechen, wenn kein Zugbegleiter zur
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Hand ist, der Auskunft geben kann, ob der Anschluss erreicht wird. Bloß nicht mit dieser Ungewissheit dasitzen! Das zu beobachten verwundert mich immer wieder. Ebenso staune ich über dieses ganze Trara ums Wetter. Die Tagesschau setzt ihre Wettervorhersage als dramaturgischen Schluss- und Höhepunkt ans Ende der Sendung und fährt ein ganzes Arsenal an animierten Schaubildern und Grafiken auf, um dem Zuschauer das Gefühl zu geben, möglichst genau Bescheid zu wissen. Du fühlst dich für alle Situationen gewappnet und nimmst, na klar, den Regenschirm mit, wenn schlechtes Wetter angesagt ist. Offenbar haben die Leute das gute Gefühl, sie hätten die Kontrolle, wenn sie die Vorschau gesehen haben. Erstaunlich, wie wichtig ihnen dieses Gefühl der Kontrolle offenbar ist. Für das Railway-Denken ist Kontrolle nicht nur ein absolut notwendiges Alltagsprinzip, sondern auch ein unermesslich wichtiger Maßstab für den Erfolg einer Person. Du hast alles im Griff – well done! Du wirst von einem unerwarteten Ereignis überrascht – shame on you! Ebenso werden Unternehmen bewertet: Ein Konkurrent bringt das eigene Produkt schneller auf den Markt als man selbst – peinlich! Ein Lieferengpass bringt den kompletten Zeitplan einer Produktionslinie durcheinander? Das hätte man doch voraussehen und rechtzeitig reagieren müssen! Diese Denkweise zwingt Unternehmen dazu, ihre Produkte, ihre Herstellungsprozesse und ihre Wertschöpfungsketten immer weiter zu optimieren: Schneller! Billiger! Kundenorientierter! Um das Gefühl zu haben, alles im Griff zu haben, wird sehr viel Zeit und Geld investiert: Daten sammeln, Statistiken auswerten, Regelung treffen, Normen definieren (kein Wunder übrigens, dass die Industrienorm eine deutsche Erfindung ist) – Das alles soll dafür sorgen, dass die Dinge in geordneten Bahnen laufen und dass unerwartete Situationen niemals eintreffen. Falls sie doch eintreffen, dann hat man dafür schon einen Regenschirm – pardon, einen Plan B in der Hinterhand. Du fixierst dich auf die Idee, alles kontrollieren zu können – obwohl es tatsächlich nicht so ist. Du verlässt dich auf die Aussagekraft von Graphen und Tabellen und vergisst dabei, dass sie lediglich ein Konstrukt sind. Ein Bild von der Realität, zwar unterfüttert mit
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Zahlen, aber dennoch nichts weiter als ein Bild. Du vergisst, dass dieses Bild ein Hilfsmittel ist, um der Realität nahe zu kommen – nicht die Realität selbst. Und die Realität ist letztlich unberechenbar, ganz besonders im hochtechnisierten und hochvernetzten 21. Jahrhundert.
Umdenken! Für mich besonders bezeichnend war der Börsencrash vom 6. Mai 2010. Mitten am Nachmittag stürzten an der New York Stock Exchange plötzlich die Aktienkurse ein, und zwar dramatisch. Der Dow-Jones-Index gab um knapp 1.000 Punkte nach – einen Kurssturz dieser Art hatte es in der Geschichte der Wall Street nie zuvor gegeben. Die Aktien des Konsumgüterkonzerns Procter & Gamble fielen von 62 auf 39 Dollar; das ist ein Verlust von mehr als einem Drittel. Der US-amerikanische Energieversorger Exelon verlor zeitweise 99 Prozent. Nach zwanzig Minuten war der Spuk vorbei, so schnell wie die Aktienwerte gefallen waren, erholten sie sich auch wieder – aber niemand wusste, warum. Die Nachrichtenbilder zeigten die Gesichter der Händler, an ihnen konnte man die gesamte Gefühlspalette ablesen, die sie in jenen Minuten durchlebten. Schock und Entsetzen. Der Versuch zu reagieren, hektisches Telefonieren. Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts der Tatsache, dass niemand so recht weiß, was gerade vor sich geht. „Es hat sich angefühlt, als hätten wir die Kontrolle verloren“, sagte Jack Ablin, CIO der Harris Private Bank, in einem Interview. Als ich das las, dachte ich mir: Welche Kontrolle? Ihr spielt ein riskantes, komplexes und chaotisches Spiel – und glaubt dennoch, dass ihr dieses Spiel kontrollieren könnt? In solchen Momenten steht mir die andere Denkweise viel näher. Die Denkweise, die in Vielem das Gegenteil ist von RailwayDenken. Ich nenne sie Granatapfel-Denken. So wie ein Granatapfel viele Kerne hat, die ohne Kerngehäuse gleichberechtigt nebeneinander liegen, kennt diese Denkweise viele Möglichkeiten, viele Realitäten, viele Perspektiven, viele Wege. Ja, meistens gibt es sogar
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mehrere Wege, mehrere Startpunkte, mehrere Ziele. Und jeder dieser Wege, jedes der Ziele ist auf seine Art lohnend, verlockend wie der süße aromatische Saft des Granatapfels. Zwischen diesen Wegen entscheidet man sich ganz spontan, ungeplant, und erst, wenn die Möglichkeiten offen vor einem liegen. Das ist eine ganz andere Herangehensweise als Railway-Denken. Hier gibt es kein Optimum mehr, und darum auch keine höchste Effizienz. Aber dafür ist mehr Raum für ein „Vielleicht“, für ein „Ich glaube schon“, für ein „Ich weiß es nicht“ oder ein „Probieren wir es einfach mal aus“. Widersprüche sind existent, überall, sie gehören zum Leben dazu – und deshalb müssen sie auch nicht eliminiert werden. Unsicherheiten und Unwägbarkeiten sind kein Problem, solange noch Spielraum zum Reagieren bleibt. Und nur, weil du gerade keinen Überblick hast, heißt das noch lange nicht, dass du dich dafür schämen müsstest. Die Wirklichkeit ist nun mal unlogisch und widersprüchlich. Wie sollte es auch anders sein? Die Dinge sind nie schwarz oder weiß oder blau oder rot, sondern meistens von allem ein bisschen. Das macht nicht nur das Alltagsleben, sondern auch Unternehmenskulturen sehr viel entspannter und beweglicher. Ein Wirbelsturm hat die Stromversorgung gekappt? Dann werfen wir die Notstromaggregate an und sehen mal, wie weit wir kommen. Die Regierung kürzt die Forschungsetats für die Raum- und Luftfahrt? Dann sollten wir ein anderes Erlösmodell versuchen. Das Granatapfel-Denken reagiert auf das, was in der realen Welt passiert – anstatt anzunehmen, dass es mit Plänen die reale Welt in den Griff kriegen könnte. Es orientiert sich nicht am Plan, sondern an der Welt. Bekanntestes Beispiel ist der Suchmaschinen-Marktführer Google: 20 Prozent ihrer Zeit können Mitarbeiter nutzen, um außerhalb des Solls neue Ideen zu entwickeln und eigenen Projekte zu verfolgen – auch, wenn sie vielleicht mit Google gar nichts zu tun haben oder nie umgesetzt werden. Das ist alles, nur nicht effizient! Das ist überhaupt nicht optimal! Es sieht sogar aus, wie eine grandiose Verschwendung. Aber: Google News ist so entstanden. Und Google Maps. Und Google Mail. Einfach mal ein Produkt auf den Markt
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werfen – und dann abwarten, ob es den Nerv der Zeit trifft. Wenn nein, dann eben nicht. Google Wave, Google Buzz? Gefloppt. So what? Wenn das Railway-Denken und das Granatapfel-Denken aufeinander prallen, gibt es oft Missverständnisse. Vielleicht haben Sie das auch schon mal erlebt. Sie wollen von Ihrem Geschäftspartner einfach nur wissen, wie Sie Ihre Rechnung stellen sollen – und bekommen drei verschiedene Antworten. Wie reagieren Sie? Vielleicht sind Sie beeindruckt, mit welcher Souveränität mit den Möglichkeiten jongliert wird. Mit höherer Wahrscheinlichkeit schütteln Sie den Kopf: Was für ein Chaos! Was für eine Umständlichkeit! Und was für phlegmatische Menschen! Und Ihre Geschäftspartner wundern sich möglicherweise genauso über Sie: Was für ein unflexibler Mensch, was für ein Bürokrat! Dabei ist keine der Denkweisen besser oder schlechter als die andere. Die Frage ist einfach: Welche Denkweise ist in der jeweiligen Situation geeigneter? Junge innovative Unternehmen versuchen in letzter Zeit, sich das Beste aus beiden Denkwelten zu holen. Insbesondere bei der Entwicklung neuer Produkte haben viele Unternehmen begriffen, dass sie einen gewissen Freiraum für ihre Mitarbeiter schaffen müssen. Denn Kreativität verläuft kaum nach linearen Mustern und lässt sich daher nur bedingt planen – und ohne Kreativität kein verbessertes Produkt. Doch auch hier schlägt der über Jahrzehnte antrainierte Kontroll-Reflex des Railway-Denkens wieder zu: Selbst für die Kreativität muss noch ein Kontrollprozessdefiniert werden. Wie lange darf ein Ingenieur brauchen, um an einer neuen Bremse zu tüfteln? An welchen Stellen können Kosten eingespart werden? Wie kann mit möglichst geringem Aufwand ein optimales KreativitätsErgebnis erzielt werden? Spätestens hier, wenn das Unplanbare geplant wird, beißt sich die Katze in den Schwanz. Um wirklich aus der Coffin Corner herauszufinden, ist es genau der verkehrte Ansatz, neue Regeln einzuführen. Neue Maßnahmen, neue Tools, neue Prozessoptimierungen – alles für die Katz. Eine echte Chance hast du nur, wenn du die Scheuklappen wahrnimmst, die dein Blickfeld verengen. Und sie abnimmst. Wenn du nach links
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und rechts siehst. Wenn du die Gefahr erkennst, in die du dich begeben hast, weil du so hoch fliegst. Ikarus wäre nicht abgestürzt, wenn er nur ein wenig mehr Abstand zur Sonne gehalten hätte. Ich will nicht, dass gute Unternehmen in die Coffin Corner fliegen! Mir geht es darum, dass durch Railway-Denken geprägte Unternehmen ein wenig Granatapfel-Denken lernen. Alles, was ich sagen will, ist: Fliegen Sie ein Stückchen tiefer! Reizen Sie die Optimierung nicht vollständig bis zum letzten Zentimeter aus, planen Sie nicht jedes Detail, sondern vielleicht nur die wichtigen Eckpunkte und entscheiden Sie über die Feinheiten dann, wenn sie anstehen. Gehen Sie runter aus der Coffin Corner in Bereiche, wo Sie noch Spielraum haben, um auf Unerwartetes zu reagieren. Das neue Ziel im 21 Jahrhundert heißt nicht mehr: Maximal Effizienz. Bitte umdenken! Das neue Ziel heißt: ausreichende Dynamikrobustheit. Nichts gegen das Railway-Denken, es war lange Zeit der Schlüssel zum Erfolg. Aber in der komplexen Welt des 21. Jahrhundert reicht es nicht mehr. Es wird Zeit für mehr Flexibilität. Denn auch wenn das Granatapfel-Denken vielleicht für Sie skurril oder unrealistisch wirken mag – es passt in unsere Gegenwart, deren Widersprüche wir nicht auflösen, sondern nur aushalten und im besten Falle für uns nutzen können.
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KA PI TEL 2
John Wayne als CEO
„I won’t be wronged. I won’t be insulted. I won’t be laid a-hand on. I don’t do these things to other people, and I require the same from them.“ Der Reiter mit dem eisenharten Gesicht hat sein Pferd zum Stehen gebracht. Er schiebt seinen Hut nach oben und blinzelt in die tief stehende Sonne. An seiner Weste blitzt ein Sheriffstern. Ein Mann. Eine Mission. Es folgt der Showdown. Alles ist ruhig. Der Sheriff steigt vom Pferd und gibt dem Tier einen gön-nerhaften Klaps auf den Hals. Dann zückt er das Gewehr. Es gibt etwas zu erledigen, dort drüben in der Schlucht. Der Schurke kann nirgendwo anders sein. Mit langsamen, vorsichtigen Schritten nähert er sich dem Eingang zu der Schlucht. Seine Stiefel knirschen im groben Sand. Ein lautes Geräusch! Er zuckt zusammen. Duckt sich. Irgendwo über ihm … Ach, nur ein paar Tauben, die ihn bemerkt haben und mit klatschenden Flügeln das Weite suchen. Er geht weiter, das Gewehr mit beiden Händen im Griff, bereit, es hochzureißen und den tödlichen Schuss abzufeuern. „Ich weiß, dass du hier bist“, knurrt er. „Komm raus, du Hund!“ Nichts rührt sich. Der Sheriff blickt sich um. Der Bösewicht muss ganz in der Nähe sein, es gibt … Da taucht vor ihm ein Schatten auf, ein Körper stürzt sich auf ihn, die beiden gehen zu Boden. Der Sheriff ist als erster wieder auf den Füßen, er reißt seinen Gegner mit einer Faust am Kragen in die Höhe. „Du willst kämpfen? Dann kämpfe wie ein Mann!“ Der andere wirft ihm eine Hand voll Staub in die Augen, der Sheriff taumelt zurück, ein Schuss löst sich. Der Angreifer stöhnt. „Aaah, Sheriff!“ Die Staubwolke legt sich, der Sheriff wischt sich blinzelnd die Augen frei. „… Sheriff! Du hast mich erwischt. Ich sterbe . Hilf mir …“
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Als der Sheriff wieder etwas sehen kann, wirft er dem blutenden Kerl am Boden einen verachtenden Blick zu. „Hilf dir selber, du erbärmliche Kreatur.“ Er wendet sich ab und verlässt die Schlucht. Als er den Ausgang fast er-reicht hat, will sich sein Gegner, der keineswegs tödlich getroffen, sondern offensichtlich nur leicht verwundet ist, von hinten auf ihn stürzen. Blitz-schnell dreht der Sheriff sich um und gibt einen weiteren Schuss ab. Den finalen Schuss. Uplifting music, der Job ist getan. Die Gerechtigkeit hat gesiegt. Der härtere Mann ist noch auf den Beinen, der andere liegt tot im Staub. Der Sheriff reitet in den Sonnenuntergang. Abspann.
Leadership happens on the top John Wayne – das ist der Schauspieler des 20. Jahrhunderts, der für mich den Typus des einsamen Helden am eindrücklichsten verkörpert hat. What a man! Ein solcher Mann ist eine Führungsfigur. Er steht immer im Feuer, es gibt immer einen Kampf zu bestehen. Und das heißt: Es gibt immer einen finste-ren Gegner, der besiegt werden muss. Und warum besiegt der Held den Schurken immer? Weil er härter ist, weil er zäher ist, weil er der bessere Mann ist. Auch wenn er mal einen Kratzer abbekommt oder eine Faust an den Kinnwinkel: Er ist unverwundbar. Sein Wille ist stärker, er bleibt im-mer aufrecht, hält immer durch, egal wie schwer die Prüfung ist. Und wenn es eine Entscheidung zu treffen gilt, wenn es hart auf hart kommt, wird er eiskalt. Emotionen? Spielen keine Rolle, denn die würden ihn nur behin-dern. Und noch etwas: Ein John-Wayne-Held ist immer einsam. Vor allem dann, wenn es um’s Ganze geht. Entscheidungen macht er mit sich selbst aus. Denn am Ende ist es ja doch er, der durch’s Feuer gehen muss. Wenn Sie einen solchen Helden nicht nur im Kino treffen wollen – ob von John Wayne, Clint Eastwood, Al Pacino, Russell Crowe, Gerard Butler oder Kiefer Sutherland verkörpert –, sondern im rea-
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len Leben, in echt, dann benötigen Sie lediglich Zugang zu den Chefetagen großer Unternehmen oder internationaler Konzerne. Dort bestreiten sie noch heute ihre Entschei-dungskämpfe, besiegen ihre Gegner, treffen einsam und eiskalt ihre Ent-scheidungen und geben ihren Mitarbeitern unter sich gönnerhaft einen Klaps. Irgendwie haben es die Helden aus dem letzten Jahrhundert geschafft, noch immer im Sattel zu bleiben. Das was sie dort hält, ist die starre hierarchische Pyramidenorganisation, in der jedem Chef eine Gruppe von Untergebenen zugeordnet ist, von denen jeder wiederum Chef einer weiteren Gruppe von Untergebenen ist – über mehrere Ebenen hinweg bis nach unten an die Basis der Pyramide. Dort arbeiten die die Geringsten. Die einfachen Sachbearbeiter, Verkäufer, Sek-retärinnen und Servicekräfte. Bezeichnenderweise sind genau diese Menschen diejenigen in der Pyramidenorganisation, die den meisten Kundenkontakt haben und die sich jeden Tag höchstpersönlich im Markt bewegen und mit der Welt da draußen kommunizieren. Je weiter oben einer in der Hierarchie sitzt, desto weniger hat er mit der Außenwelt zu tun. Dafür steigt seine Macht und die ihm entgegengebrachte Wertschätzung. Das Pyramidion, also die Spitze, die obersten Steine, waren bei der größten Pyramide der Welt, dem vor rund 4600 Jahren in Gizeh errichteten Grabmal des Pharaos Cheops die wertvollsten Steine. Während die Basis mit billigem Kalkstein ausgeführt war, wurde an der Spitze harter Basalt und Granit ver-wendet. Manche Pyramidenspitzen wurden außerdem mit einem Überzug aus Elektron versehen, einer Legierung aus Silber und Gold. – Ganz klar: Oben ist wertvoll, mächtig. Unten ist billig, ohnmächtig. Die pyramidale Ordnung ist uns ganz selbstverständlich: Natürlich entscheidet immer der Chef! So funktioniert Führung und Management des 20. Jahrhunderts. Eine strenge Hierarchie bestimmt alles. Oben wird gedacht, unten wird umgesetzt, was oben gedacht wurde. Alle Macht geht von der Spitze aus. Oben werden Planungen erstellt und Ziele vorgegeben. Von dort aus ergehen sowohl sämtliche Anweisungen als auch die
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Kontrolle, ob selbige auch ausgeführt werden. Ein striktes Command and Control. Und wenn die Pyramide auf moderne Weise wie ein gut geschmiertes Räderwerk funktionieren soll, dann wird mit klaren, fixen, quantifizierten, mesbaren Zielvorgaben von oben nach unten geführt: Management by objectives. Die Basis der Pyramide stellt die Peripherie des Unternehmens dar. Wer hier arbeitet, muss sich unterordnen. Eigenständiges Denken ist unerwünscht, sonst macht ja jeder was er will und das Chaos bricht aus. Es herrscht ein Höchstmaß an Abhängigkeit. Wer nicht spurt, hat über sich immer einen Chef, der die Macht hat, ihn rauszuwerfen. Die Zentrale behält den Überblick und sorgt dafür, dass alles irgendwie dem Unternehmens-zweck dienlich ist. Aber das heißt auch: Entscheidungen, und seien sie noch so unbedeutend, werden bereitwillig nach oben durchgereicht. Denn unten muss man sich absichern. Man will ja bloß keinen Fehler machen – auch wenn die Kundenanfrage, die eigentlich innerhalb von Minuten zu beantworten wäre, dann erst einmal wochenlang liegen bleibt. Überhaupt die Bürokratie: Was nützen Heerscharen von Sachbearbeitern, wenn jeder Einzelfall doch wieder mit dem Chef abgesprochen werden muss? Oder eine andere Abteilung ist zuständig. Die befindet sich zwar auf demselben Flur, Kontakt besteht aber trotzdem höchstens per E-Mail oder über die Hauspost. Projekte sind eigentlich eine moderne Form, temporären Herausforderungen auf flexible Weise zu begegnen. Doch strikt getrennte Abteilungen, wie sie in einer Pyramidenorganisation notwendig sind, sind der absolute Projekt-killer. Ihre Existenz sabotiert interdisziplinäre Arbeit, weil sie horizontale Kommunikation innerhalb der Peripherie verhindert. Die vertikale Linie und das horizontale Projekt verhaken sich ineinander – wer hat hier wem etwas zu sagen? In seinem Buch Die 12 neuen Gesetze der Führung stellt mein geschätzter Kollege Niels Pfläging die Art und Weise, wie Management im 20. Jahr-hundert funktioniert hat, ausführlich dar. Als „Management-Exorzist“ plädiert er dafür, auf Planung und Vorgaben zu verzichten, Abteilungen abzuschaffen und das Pyramidenprinzip zugunsten einer dynamischeren Netzwerkstruktur aufzugeben.
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Niels prangert an: Abhängigkeiten, Abteilungen, Management, Pflichterfül-lung, Maximierungswahn, Machtstau, Vorgaben, Anreizsysteme, Planung, Bürokratie, Statusgehabe und Anweisungen. Stattdessen setzt er auf Sinn-kopplung, Zellen, Leadership, Ergebniskultur, Passgenauigkeit, Intelligenz-fluss, relative Ziele, Teilhabe, Vorbereitung, Konsequenz, Zweckdienlich-keit und Marktdynamik. Und ich könnte hinzufügen: Statt Helden brauchen wir Menschen. Dass solche modernen, ins 21. Jahrhundert passende Unternehmen nicht nur existieren, sondern sogar außerordentlich erfolgreich sein können, das weist er gleich auch noch nach durch die Analyse von erstaunlichen Unterneh-men, die laut dem was an Hochschulen in Management und Betriebswirt-schaftslehre gepredigt wird, eigentlich gar nicht existieren könnten. Aber dennoch: Niels ist ein Vordenker, ein Pionier. Die Realität in der Wirtschaft sieht in der Breite noch völlig anders aus. Wie das Pyramidenprinzip Unternehmen ausbremst und lähmt, habe ich vor einigen Jahren als Beraterin in einem großen IT-Konzern miterlebt. Damals erlebte das Phänomen des Cloud Computings seine erste Blüte. Ein ameri-kanischer Anbieter von Web-Software für Unternehmen war dabei, den glo-balen Markt zu erobern. Die Idee dahinter: Du kaufst keine Software mehr, sondern mietest sie. Genutzt wird das Produkt über das Internet, direkt im Browser. Software as a service heißt das Zauberwort. Die Vorteile für den Kunden liegen auf der Hand – es entstehen keine Anschaffungs- und Be-triebskosten, da die gesamte IT-Infrastruktur beim Anbieter verbleibt, der auch die regulären Wartungsarbeiten übernimmt. Nun war ein Projektleiter des Unternehmens, das mich als Beraterin gebucht hatte, zufällig auf dem Laufenden, was die aktuellen Entwicklungen im Be-reich des Cloud Computings betraf. Er hatte die rapide Expansion des ame-rikanischen Wettbewerbers mitbekommen und ahnte, dass daraus eine Be-drohung des eigenen Geschäftsmodells erwachsen könnte. „Wenn wir nicht mitziehen, werden die uns über kurz oder lang überholen!“ Er beschloss, die Entscheidungsträger auf die neue und unerwartete Online-Konkurrenz aufmerksam zu machen. Also versuchte er,
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an den Konzernvor-stand heranzukommen. Wochenlang. Monatelang. Was glauben Sie, wie lange es dauerte, bis der Projektleiter endlich einen Termin bekam? So erschreckend es klingen mag: Er schaffte es überhaupt nicht! Erst als ich als Beraterin auftauchte und naturgemäß auch mit dem Vorstand arbeitete, erhielt die Unternehmensspitze durch mich die kritische Informa-tion! Also wurde ein großes Meeting mit allen Beteiligten einberaumt. Wollen wir doch mal sehen, was es mit diesem neumodischen Software as a service auf sich hat! Siegesgewiss ließ die Unternehmensführung zwei Gruppen gegegeneinander antreten. Eine Aufgabe aus dem Business-Alltag wurde gestellt. Die eine Gruppe sollte sie mit der wohlvertrauten hauseigenen Software lösen. Sie andere sollte das gleiche mit einem gemieteten Account des Wettbewerbers in der Cloud versuchen. Zum Erstaunen aller, inklusive des Vorstandsvertreters, war die zweite Gruppe innerhalb von zwanzig Minuten fertig und konnte Ergebnisse prä-sentieren. Die eigene Software dagegen machte Zicken, musste immer wie-der neu gestartet werden und stürzte schließlich ganz ab. Schock! Eigentlich hatte sich ja nichts geändert. Natürlich hatte das Unternehmen auch bisher schon Kenntnis von den Schwächen ihrer eigenen Produkte ge-habt. Und selbstverständlich kannte man alle Marktdaten des Wettbewer-bers. Keinerlei Fakten hatten sich durch diesen Test geändert. das einzige, was sich schlagartig gedreht hatte, war das Bewusstsein. Die Folge: Innerhalb von Stunden erfasste den ganzen Konzern eine Art Sense of urgency, der von der Spitze ausging und das Unternehmen bis in seine Grundfesten erschütterte. Angst ging um. Prozesse wurden umstrukturiert, Telefone liefen heiß, Projekte wurden gecancelt oder aufgesetzt und ganze Führungsetagen wurden ausgetauscht. Der Laden war endlich aufge-wacht – und versuchte nun mit allen Mitteln, den Vorsprung der überseei-schen Konkurrenz wettzumachen.
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Die Augen vor der Realität zu verschließen, nicht auf die Peripherie zu hö-ren und wenn überhaupt, dann nur von oben nach unten zu kommunizieren, ist typisch für all die Pyramidenunternehmen mit ihren John Waynes an der Spitze. Das Problem ist, dass du dir als John-Wayne-CEO im 21. Jahrhundert meis-tens erst dann über den bevorstehenden Absturz klar wirst, wenn es längst zu spät ist – so wie bei Kodak oder Loewe, die die Digitalfotografie und die Flachbildschirmtechnologie achselzuckend an sich abgleiten ließen, weil sie den Wettbewerb unterschätzten und sich selbst überschätzten. Es ist heute nicht mehr sehr intelligent, sich für unverwundbar zu halten, einsam zu ent-scheiden, kühl, rational und hierarchisch vorzugehen. Das ist die denkbar ungünstigste Haltung. Denn dafür ändern sich Marktbedingungen heute viel zu schnell. Die mit Elektron überzogene Machtzentrale sitzt heute noch immer hoch zu Ross, ist aber eigentlich blind, dumm, langsam und überfor-dert. Vielleicht liegt hier der Hund begraben: in der Haltung. Im Denken. Es fällt mir nicht ganz leicht, diese Haltungssache zu beschreiben. Aus meinem beruflichen Alltag als Management-Coach weiß ich, dass wir alle heute in einer Welt leben, die wir nicht mehr berechnen können. Ich muss gewis-sermaßen sportlich sein – wach, alert, und schnell mit meinen Entscheidun-gen. Lieber treffe ich sofort zehn Entscheidungen, von denen sich später drei als falsch erweisen, als dass ich eine Entscheidung auf den Hierarchie-weg bringe, der so lange dauert, bis sich die Bedingungen schon wieder geändert haben. Mit meiner Berufung als Ministerin in die tunesische Regierung ist mir noch deutlicher geworden, wie wenig kontrollierbar die Welt geworden ist. Ich glaube heute, die „normale“, gängige Haltung müsste sich ungefähr so beschreiben lassen: „Ich weiß nicht, ob es uns morgen noch gibt.“ Doch das ist eine sehr offene, allzu verwundbare Position. Für den Typus des John-Wayne-Managers ist das eine Position der Schwäche. Eine Hal-tung der Loser. Er ist schließlich abgebrüht. Der Held, der sich einsam auf den Weg macht und am Ende trotz allen Schwieirgkeiten den Laden rettet.
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Let’s face it: Im Grunde ist das eine Form von Arroganz. Und sie wirkt nicht nur innerhalb des Unternehmens – sondern auch nach außen.
Ich kenn dich doch gar nicht! Mir ist einmal Arroganz in einer gut nachvollziehbaren Form begegnet. Die deutsche Zweigstelle meiner Beratungsfirma verlagerte ihren Standort ins Ausland, das heißt: Wir verkleinerten das deutsche Büro und brauchten die große Telekommunikationslösung nicht mehr. Die meisten Telekommuni-kationsanbieter arbeiten aber mit Zweijahresverträgen. Auch wir hatten so einen Vertrag, der nun obsolet war. Als wir vorzeitig kündigen wollten, er-klärte man uns lapidar: „Gerne lösen wir Ihren Zweijahresvertrag vorzeitig auf. Die Gebühren für die Restlaufzeit in Höhe von X Euro werden Ihnen jedoch vertragsgemäß in Rechnung gestellt. Mit freundlichen Grüßen …“ Wir waren erst einmal verblüfft. Das war ganz schön unfreundlich. Wir hielten mit unserer Verwunderung nicht hinter dem Berg – schließlich hat-ten wir innerhalb der Firma noch mehrere Dutzend Mobilverträge mit die-sem Anbieter laufen, außerdem zahlten wir auch für die Internetanbindung einen schönen Batzen Geld – und das alles seit Jahren. Und wer weiß, was wir in der Zukunft noch alles brauchen würden. Alles, was wir wollten, war doch eigntlich trivial: Wir verlegten ein Büro und wollten unsere Infrastruk-tur den neuen Bedingungen anpassen. Sollte uns da ein Telekommunikati-onsanbieter nicht sachkundig begleiten und uns mit einer passenden Lösung unterstützen? Stattdessen wollte uns das Unternehmen irgendwie für unsere Veränderun-genswünsche bestrafen. Was folgte: Eine unfreundliche Korrespondenz in beide Richtungen und am Ende blieben sowohl auf der Rechnung als auch auf unserem Ärger sitzen. Vertrag ist Vertrag hörten wir. Ja, Vertrag ist Vertrag. Aber dieses Unternehmen brachte es tatsächlich fer-tig, wegen wenigen hundert Euro halsstarrig auf viele
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tausend Euro künfti-gen Umsatz zu verzichten. Sie verwandelten einen zufriedenen Kunden in einen Gegner. Sie verjagten uns zur Konkurrenz. So, nun geht es mir hier überhaupt nicht um das Thema Service oder Kundenorientierung. Sondern um das Thema Management beziehungsweise Organisation beziehungsweise Entscheidungsfähigkeit. Worauf es mir bei diesem Beispiel ankommt, ist die Tatsache, dass der Telekommunikations-anbieter uns nicht „ganzheitlich“ betrachtete. Dann hätte man nämlich be-merkt, dass wir als Geschäftskunden ohnehin lukrativ genug waren. Die Entscheidung war offensichtlich eine schlechte. Sie folgte den starren Re-geln einer starren pyramidalen John-Wayne-Organisation. Einer ganz oben hatte einmal kühl entschieden. Und das wurde nun unten an der Basis mit aler Folgsamkeit umgesetzt. Im Ergebnis ist das: Arroganz. Wenn ein solches Unternehmen aber kein monopolistischer Staatsbetrieb ist, sondern im globalen Wettbewerb steht, dann kann er mit einer unflexib-len und arroganten Haltung gegenüber dem Markt über kurz oder lang nur verlieren. Typischerweise äußert sich die Arroganz der John-Wayne-Unternehmen aber nicht nur gegenüber den Kunden, sondern auch in fast jedem anderen Bereich. So zum Beispiel in Bezug auf die Mitarbeiter. Wie über sie geredet wird, verursacht mir immer akute Bauchschmerzen: Human Resources. Human-kapital. Personal. Dass es sich um Menschen wie du und ich handelt, inte-ressiert das Management und das Personalwesen dabei nicht die Bohne. In unseren Coachings konfrontieren wir Führungskräfte und Mitarbeiter regelmäßig mit dem Menschen hinter der Arbeitskraft. Spannend! Bei der Übung Leading self darf jeder eine individuelle Lebenslinie zeichnen, die in verschiedene Kategorien aufgeteilt wird. So ergeben sich Erkenntnisse, die sich auf die jeweilige Persönlichkeit beziehen. Die anderen erhalten dabei beispielsweise einen Einblick, wo der Einzelne seine Stärken und Schwä-chen sieht, was er/sie im Leben erreichen will oder worin er den Sinn seines Daseins sieht. Das Resultat ist beachtlich: Manche Führungskräfte kommen
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aus dem Stau-nen nicht mehr heraus, dass sie seit zehn Jahren oder mehr mit Menschen zusammensitzen, über die sie wenig bis gar nichts wussten. Und glauben Sie mir – wenn Sie als Führungskraft einen Mitarbeiter auch als Menschen ken-nen, treffen Sie andere Entscheidungen. Umgekehrt gilt natürlich dasselbe. Das ist so einfach – sobald beiden Parteien erst einmal bewusst ist, welche Werte einen gemeinsamen Nenner darstellen! Es ist nunmal so: Niemand vertraut einer Arbeitskraft. Niemand vertraut einem Management. Niemand vertraut dem Personal oder dem Humankapi-tal. Aber Menschen vertrauen Sie! Sobald Sie sie kennen … Und Vertrauen ist der Anfang von allem. Der Erfolg von Leading self ergibt sich meines Erachtens daraus, dass Men-schen sich berührt fühlen, weil sie zum ersten Mal nicht nur als ausführende Organe, als Rädchen im Getriebe gesehen werden, sondern als beseelte In-dividuen. Ohne den Leuten ihre privatesten Geheimnisse zu entlocken, schafft das Wissen, wer dein Gegenüber ist, Berührungspunkte, die sinnbe-haftet sind, weil sie individuelle und gemeinsame Werte offenbaren. Wie willst du auch sonst den Sinn eines Unternehmens und den Sinn eines Menschen zusammenbringen, ohne vorher den Sinn des Menschen zu ken-nen? Nicht zu vergessen, dass es heutzutage schwer ist, gute Leute zu finden und auch zu halten. Gerade in Märkten, die sich stark verändern, verlieren Un-ternehmen ihre besten Mitarbeiter oftmals schon nach zwei Jahren. Da braucht es schon ein hohes Maß an Überzeugungskraft und Kreativität, um immer wieder neue Leute ainzubauen. Da gilt es: Schnell Vertrauen schaf-fen! Ich kann mich an einen Praktikanten erinnern, der Spitzenarbeit geleistet hat. Er war ohne jede Übertreibung einfach top. Kurz vor Ende seines Praktikums fragte ich ihn, ob er nicht gerne bei uns bleiben würde. Seine klare Antwort: „I don’t feel the urge to hire a boss.“ (Etwa: „Mich drängt es nicht dazu, einen Chef einzustellen.“) Das musste ich schlucken. Einerseits fand ich das furchtbar schade, anderer-seits freut ich mich für ihn. Inzwischen hat dieser ehemalige Praktikant mehrere Unternehmen gegründet und ist jetzt Angel Investor. Fantastisch!
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Der Punkt ist: Viele junge Leute stellen sich die Beziehung zwischen Chef und Mitarbeitern völlig anders vor als die vorherige Generation. Anweisungen entgegenzunehmen und den reinen Befehlsempfänger zu spielen, haben sie nicht nötig. Gerade die Vertreter der jüngeren Generation wollen als Menschen gesehen und akzeptiert werden. Sie erwarten, dass Führungskräf-te mit ihnen auf Augenhöhe kommunizieren. Sie sind viel empfänglicher für eine emotionale Verbindung zu ihren Chefs, als es ihre Kollegen zwanzig oder dreißig Jahre früher waren. Aber glaub mir eins: John Wayne hat damit ein Problem!
Lieber einsam als gemeinsam Ein anderer Bereich, in dem sich das arrogante Verhalten vieler Unterneh-men beobachten lässt, ist der Wettbewerb. Im Rahmen einer Learning jour-ney nach Indien fiel mir auf, dass die Mitarbeiter des französischen Stahl-konzerns, die ich als Beraterin begleitete, schier aus ihren Schuhen gekippt sind, als sie sahen, wie hocheffizient der indische Betrieb funktionierte. „Das ist ja tausendmal besser als das, was wir haben!“ „Die strafen unsere gesamte Prozessoptimierung Lügen!“ „Super organisiert – das hätte ich nie gedacht!“ Ihre Vorurteile zerbröselten innerhalb nur eines einzigen Tags – und übrig blieb die Angst, den Anschluss im Weltmarkt vielleicht schon längst verpasst zu haben. Die Konkurrenz zu unterschätzen, ist typisch für Unternehmen, die nach den Methoden des 20. Jahrhunderts geführt werden. Selbst wenn die Entschei-dungsträger Reisen ins Ausland unternehmen, um den Betriebsablauf ande-rer Unternehmen aus derselben Branche kennenzulernen, setzen sie sich meistens doch nur marginal mit den konkreten Arbeitsmodalitäten ausei-nander. Ich glaube, der durchschnittliche John Wayne an der Spitze einer Unter-nehmenspyramide hat es verlernt, Fragen zu stellen. Er glaubt es nicht nötig zu haben, Dinge hinzuzulernen, nach dem Motto: „Kenne ich alles, habe ich alles schon gesehen, brauche ich mir nicht
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zu geben.“ Er sieht seinen Be-trieb als ein abgeschottetes Ökosystem, das schon immer so funktioniert hat, wie es heute funktioniert. Fähigkeit und Interesse, sich für Neues zu öffnen und in bestimmten Märkten nicht auf reine Competition, sondern auf „Coopetition“ zu setzen, geht ihm komplett ab. Und zwar grundsätzlich. Coopetition, das bedeutet sinngemäß: Kooperationswettbewerb. Also mit den Wettbewerbern in bestimmten Feldern gemeinsame Sache zu machen. So könnten beispielswiese eine Volksbank und eine Sparkasse eine große Kreditvergabe eines lokal ansässigen Mittelständlers gemeinsam stemmen. Für eine Bank alleine wäre das Geschäft zu groß, aber gemeinsam mit ei-nem Konsortialkredit würde das gehen. – Das einzige Hindernis ist das Denken und die Haltung: Mit dem größten Wettbewerber gemeinsam an einen Tisch sitzen? Wo kämen wir denn da hin?! Fakt ist aber: Durch Coopetition lassen sich gemeinsam Produkte oder Standards entwickeln, die es sonst nicht finanzierbar wären oder die sich für einen Anbieter alleine nicht lohnen würden. Am Ende gewinnen alle. Und genau das ist das Problem: In der John-Wayne-Weltsicht muss es im-mer einen Gewinner und einen Verlierer geben. Ein Szenario mit mehreren Gewinnern fühlt sich da nicht wie ein Erfolg an … Dem typischen John-Wayne-Unternehmer fehlt in aller Regel der Open mind, den er bräuchte, um über seinen Schatten zu springen. Wenn er an so etwas wie Kooperationswettbewerb überhaupt denkt. Der letzte Bereich – in dem nach meiner Erfahrung mit das höchste Maß an Arroganz herrscht – ist der Umgang mit Lieferanten. Die wenigsten Unter-nehmen haben auch nur das geringste Interesse daran, das Potenzial zu nut-zen, welches ihm durch seine Lieferanten auf dem Silbertablett präsentiert wird. Dieses Potenzial besteht in der großen Nähe zum Markt, zu den Kun-den, zu der Welt da draußen. Lieferanten sind dieser Welt viel näher als beispielsweise der Vertrieb! Doch das interessiert den John Wayne an der Spitze der Pyramide nicht – vielleicht weil er Angst um seinen Status hat. Er könnte ja
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einen Teil seiner Macht einbüßen, wenn ihm jemand klarmacht, dass seine Planungen nicht das Geringste mit dem zu tun haben, was außerhalb seines Büros in der Welt passiert. Außerdem: Ganz automatisch sehen sich viele Führungskräfte unbewusst und unwillkürlich vom Selbverständnis her auf einer höheren Stufe als der Lieferant: Der Lieferant ist aus irgendeinem irrationalen Grund nicht auf Augenhöhe, sondern es wird vom Hochstatus aus auf ihn herabge-sehen – und so behandelt man ihn dann auch. Der Lieferant ist kein Partner, der offen empfangen wird, sondern einer, der eben im übertragenen Sinne den Lieferanteneingang nehmen muss. Das ist heute auch nicht anders als vor hundert Jahren. Lassen Sie mich die Bereiche, in denen die Arroganz besonders spürbar ist, noch einmal kurz zusammenfassen: • Kunden: Spüren einen Mangel an Flexibilität. • Mitarbeiter: Werden nicht als Menschen gesehen, sondern bloß als Human Resources. • Wettbewerber: Sorgen nur für lästige Competition, nicht aber für fruchtbare „Coopetition“. • Lieferanten: Bieten immenses Potenzial, das aber komplett ignoriert wird. Die alte Haltung, die Menschen als reine Ressourcen betrachtet und oft genug arrogant wirkt – nach innen wie nach außen –, ist aber nur die eine Sache. Das andere sind die Emotionen.
Bloß keine Emotionen! Wenn ich in einem Unternehmen bunte Aushänge sehe, auf denen in großen Lettern die Firmenwerte geschrieben stehen, dann beschleicht mich immer ein naheliegender Verdacht: Genau das, was ihr da für euch reklamiert, das lebt ihr nicht! Echte Werte sind selbstverständlich. Man muss sie nicht auf Tafeln schrei-ben oder in Werteworkshops propagieren. Was da an der Wand hängt, das sind wohl eher gut gemeinte Bestrebungen. Aspirations.
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Das ist ja auch ganz ok. Du kannst dir ja etwas vornehmen. Aber es ist eben ein Unterschied, ob da steht: Wir streben an, eines Tages so und so zu wer-den. der ob da steht: Wir sind so und so. Mit der Wirklichkeit im Unternehmensalltag haben diese Selbstzuschreibungen oft wenig bis gar nichts zu tun – geschweige denn mit den individuellen Werten der Mitarbeiter und Führungskräfte. Ich glaube, je dynamischer und komplexer die Welt ist, in der du lebst, des-to genauer musst du deine eigenen Werte kennen. Wenn du starke, leuch-tende Werte hast, kannst du jeden Tag wertebasierte Entscheidungen treffen. Dabei bleibst du dir selber immer treu. Werte ändern sich nicht so schnell wie Märkte, Produktionsprozesse und Technologien. Was dagegen von den großen bunten Wertetafeln verschwiegen wird, scheint mithin einer der wichtigsten Businesswerte zu sein: Emotionen ge-hören nicht ins Business! Vor ein paar Jahren hatte ich beim Coaching in einem großen deutschen Industriekonzern Grund zur Verärgerung. In der Folge habe ich in einem Meeting vergleichsweise emotional reagiert. Die Anwesenden waren ge-schockt. Eine Frau gab mir hinterher unter vorgehaltener Hand den Rat: „Sie dürfen nicht so, äh, weibliche Verhaltensmuster zeigen!“ Da blieb mir, ehrlich gesagt, die Spucke weg. Emotionalität unerwünscht? Und Unerwünschtes mit Weiblichkeit assoziiert? War ich aus Versehen in eine Zeitmaschine geraten, die mich ein paar Jahrzehnte zurückgeworfen hatte? Aber mit John Wayne an der Spitze der Pyramide sind solche Reaktionen eigentlich kaum verwunderlich. Selbst als weiblicher Executive musst du in den meisten Konzernen stark, hart, dominant und möglichst rational auftre-ten, um Anerkennung zu ernten. Alles andere wird als „weiblich“ und da-rum als uneffektiv empfunden. Aber eigentlich wird gerade heute doch so viel über Soft Skills und Emotio-nal Intelligence geredet! – Richtig. Eben weil wir beides nicht haben – sonst müssten wir gar nicht erst drüber reden! Der Bedarf beweist im Grunde nur mein Gefühl, dass Führungskräfte und Unternehmen vor allem in puncto Haltung und Denkweise im 20. Jahrhundert stecken geblieben sind.
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Sich dieser Tatsache bewusst zu werden, ist leider keine leichte Aufgabe. Es kostet Zeit und Geduld. Gerade an der Zeit mangelt es am meisten. Bestimmt haben auch Sie schon einmal eine Kundenanfrage gestellt und erst nach Wochen, wenn nicht gar Monaten eine Antwort erhalten. Wenn Sie mich fragen, ein weiteres Symp-tom der alten, überholten Haltung der John-Wayne-Unternehmen: Sie sind langsam und schwerfällig. Ihre Reaktionszeit gleicht der des Dreifinger-Faultiers. Da ist es kein Wunder, dass Kundenanfragen liegenbleiben, Headhunter Kompetenzmodelle erstellen und stundenlange Meetings abge-halten werden, bei denen man sich hinterher fragt: „Und was haben wir jetzt eigentlich beschlossen?“ Auch kein Wunder, dass „Coopetition“ so gut wie undenkbar ist. Partner und Wettbewerber zugleich sein, das erfordert ein hohes Maß an Flexibili-tät. Damit sind die allermeisten Unternehmen, die nach den Regeln des 20. Jahrhunderts funktionieren, schlicht überfordert. Sie verlassen sich lieber auf ihre Planungen – und auf ihre Rationalität. Wenn es hart auf hart kommt, gibt man sich eiskalt. Und unverwundbar. Genau wie John Wayne. Sich für unverwundbar zu halten, ist eine gefährliche Illusion. Einerseits. Auf der anderen Seite ist es eine nur allzu menschliche Eigenschaft, die ei-nem Paradoxon zu verdanken ist, nach dem wir gezwungenermaßen leben. Stellen Sie sich einen Autofahrer vor, der verkehrt herum in seinem Wagen sitzt. Er kann das Auto ganz normal steuern – mit dem einzigen Unter-schied, dass er nur zur Heckscheibe hinausblicken kann. Die Straße vor ihm kann er nicht sehen. Er muss sich mit dem begnügen, was hinter ihm liegt. Und er sieht es erst, wenn er daran vorbeigefahren ist. Eine absurde Vorstellung, ich weiß. Und doch repräsentiert der unglückselige Autofahrer ziemlich exakt das Problem: Als Mensch bist du gezwungen, dein Leben „vorwärts“ zu leben, in eine ungewisse Zukunft hinein. Was vor dir liegt, siehst du nicht. Reflektieren kannst du aber nur retrospektiv, das heißt in Richtung Vergangenheit. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn der Mensch nicht die Angewohnheit hätte, aus dem Erlebten und aus der bekannten Ge-
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schichte seiner Welt her-aus Muster zu stricken, mit denen er glaubt, seine Zukunft bewältigen zu können. Diese Muster sind immer unzureichend! Sie besitzen keinerlei Gül-tigkeit für das, was noch bevorsteht. Hinzu kommt, dass gerade Westeuropa und die USA in den letzten fünfzig bis hundert Jahren jede Menge Wachstum, Wohlstand und immer größere wirtschaftliche und politische Stabilität aufbauen konnten. Leider zeigt die Erfahrung: Je mehr Prosperity, desto mehr schottet man sich ab. Europa und die USA sind Clubs, geschlossene Gesellschaften. Und sie steuern mit dem Rücken zur Fahrbahn …
Mord im Office Zu glauben, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, ist ebenso ein Trugschluss, wie von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen. Oder darauf zu vertrauen, dass einen niemals eine Kugel treffen kann … Face it! Vor wenigen Jahren, kurz vor dem Arabischen Frühling, erhielt ich während eines Aufenthalts in Zürich den Anruf eines Human Resource Managers eines internationalen Konzerns. Ob ich nicht interessiert wäre, Leute aus dem Leadership-Team zu coachen – und zwar im Jemen, wo gerade ein großes Investment lief. Mir fiel auf, dass die Stimme des Anrufers unsicher wirkte, so als zweifelte er daran, dass ich den Auftrag annehmen würde. Ich wurde neugierig und fragte nach weiteren Details. „Ja, wissen Sie, das Problem ist … Letzten Monat hat ein Mitarbeiter einen unserer Top-Executives erschossen. In seinem Büro im Jemen. Die Lage ist also etwas angespannt …“ Ich hielt den Atem an – wie vermutlich Sie jetzt gerade. Als ich den Telefonhörer auflegte, hatte ich irgendwie nicht „nein“ gesagt. Schließlich spreche ich die Sprache, habe lange in der arabischen Welt ge-lebt und ich empfand Sympathie für den Kunden. Ich spürte, dass ich fähig war, im Leadership-Team kulturelle Brücken zu bauen. Außerdem wollte ich wohl unbewusst irgendwie beweisen,
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dass der Graben zwischen der westlichen Welt und der arabischen Welt sehr wohl überbrückbar ist. Es war wie ein innerer Ruf. Aber was war mit dem Mord? Den konnte ich nicht einfach ignorieren. Zu dem Zeitpunkt, als ich davon erfuhr, war noch alles unklar, auch wenn die Ermittlungen längst in vollem Gange waren. Zu den bekannten Fakten zählte die Tatsache, dass der CEO zum Zeitpunkt der Tat vor Ort und das Team auf dem Weg zu einem Meeting gewesen war. Eine Überwachungskamera hatte das Geschehen aufgezeichnet; einige der Kollegen hatten die Aufnah-men gesehen. Über das Motiv des Täters – ein Bodyguard – konnte man nur spekulieren. Bevor ich endgültig zusagte, besprach ich die Umstände nicht nur mit mei-ner Familie, sondern auch mit einem halben Dutzend Kolleginnen und Kol-legen. Die meisten rieten mir davon ab, den Auftrag anzunehmen, schließ-lich sei es gefährlich, in den Jemen zu reisen, und mit einem hohen persön-lichen Risiko verbunden. Ich ließ mich verrückt machen. Und bekam gleichzeitig immer mehr Lust auf den Auftrag. Das Leadership-Team im Jemen stand vor einer Motivationskrise. Ihre Familien wollten, dass sie so schnell wie möglich die Heimreise antraten. Es wurden Psychologen engagiert, um posttraumatischen Stress abzubauen – was manche in Anspruch nahmen, andere wiederum nicht. Für den Konzern ging es um viel. Das Investment war riesig und die Erträge daraus standen komplett auf dem Spiel. Außerdem wollten sie die guten Leute, die sie vor Ort beschäftigten, unbedingt halten. Die Mitglieder des Leadership-Teams wiederum benötigten jemanden, der Sie verstand – der vor allem ihre Situation verstand und ihnen darin helfen konnte. Andernfalls hätten sie nicht weitermachen können. Nach und nach wurden mir mehrere Dinge klar, noch bevor ich die Reise in den Jemen antrat. Zum einen, dass ich Angst vor dem Tod habe. So sehr, dass ich immer mehr in Panik geriet, je länger ich darüber nachdachte. Au-ßerdem hatte ich Zweifel, ob ich der Aufgabe gewachsen war, als Nicht-Psychologe ein solches Coaching zu handeln.
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Gleichzeitig dachte ich: Face it. Stell dich deiner Angst! Und überleg dir, wie du mit dem Leadership-Team am besten umgehst, ohne Gefühlsduselei zu betreiben, aber eben doch mit Raum für Emotionen. Zum anderen schlussfolgerte ich, dass für das Team vor Ort das Thema Si-cherheit erst durch den Mord wirklich real geworden war. Face it! Ihr seid im Jemen … Und damit traten Konflikte innerhalb des Teams zutage, die vorher verdeckt gewesen waren – Konflikte nicht nur fachlicher, sondern auch kultureller Art. Abgesehen von unterschiedlichen Auffassungen bezüglich des Business spielte die Zusammensetzung des Teams eine Rolle. Neben westlichen wa-ren auch arabische Expatriate managers im Team vertreten, dazu solche aus Indien, die durch die Kolonialzeit mit der englischen Kultur aufgewachsen waren. Alle sonstigen Mitarbeiter waren Locals, Jemeniten. Die Arbeit mit dem Team erwies sich als schwierig, aber durchaus fruchtbar. Von Anfang an konnte ich den Druck spüren, unter dem sie alle stan-den. Und im Zuge meiner Arbeit war ich ein Teil des Systems, was mich vieles, was die Manager und ihre Mitarbeiter beschäftigte, sehr gut nach-vollziehen ließ. Nach einigen Interviews hatte ich nach und nach genügend Informationen gesammelt, um mir ein eigenes Bild zu machen. Wesentlich dabei: die unzähligen verschiedenen Wahrheiten, die die Situation hervor-gebracht hatte: „Der Jemen ist sicher!“ versus „Der Jemen ist ein Kriegsgebiet – geh da bloß nicht hin!“ „Mit unserem Investment in Öl und Gas wollen wir etwas für die Community tun.“ versus „Wir holen raus, was geht – das Land ist uns egal!“ „Wir sind Helfer!“ versus „Wir sind Zerstörer.“ „Unsere Security ist hoch restriktiv.“ versus „Die Sicherheitsmaßnahmen sind zu lasch!“ „Jeder im Team ist gleich!“ versus „Aber manche sind gleicher als andere!“ Das letzte Thema war überhaupt ein heißes Eisen, und mit vielen Tabus belegt. Die Locals waren felsenfest davon überzeugt, dass sie als Jemeniten weniger wert waren als jeder arabische Expat, und
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in jedem Fall weniger als ein Europäer oder Amerikaner. Das begründeten sie mit der Höhe des Ge-halts, mit der Menge an Security oder auch einfach damit, wie viel über dich geredet würde, wenn dir was passiert. Geredet wurde auch über alles, was den Mord selbst anging. Auch hier gab es viele vermeintliche Wahrheiten und Gerüchte. „Der war halt zur falschen Zeit am falschen Ort!“ versus „AlQuaida steckt dahinter!“ Bis heute weiß man nicht genau, was zu der Tat geführt hat. Fakt ist: Der Bodyguard, der den Mord beging, war ein Local. Der getötete Manager war ein Expat. Beim Coaching haben wir das Team mit all diesen Erkenntnissen konfron-tiert. Wir brachen alle Tabus, die man nur brechen kann. Und dann sorgten wir dafür, dass jeder von seinem Ego-Trip herunterkam, indem wir die Teil-nehmer frühere traumatische Ereignisse haben aufarbeiten lassen. Ein magi-scher Moment, den ich nie vergessen werde: Der vergleichsweise kleine Jemenite und der große, breitgebaute westliche Expat, die sich bis zu die-sem Zeitpunkt gegenseitig nicht ausstehen konnten, umarmten einander mit Tränen in den Augen. Ich habe aus der ganzen Sache eine wichtige Lehre gezogen: Führungskräfte brauchen unbedingt Zugang zu ihren eigenen Emotionen, zu ihrer Geschich-te, zu ihren Werten. Denn wir leben nicht mehr im 20. Jahrhundert. Nicht Strategien und Prozesse sind die Tools, mit denen sich die komplexe Welt des 21 Jahrhunderts bewältigen lässt. Das geeignete Tool ist der Mensch. Du musst es also verstehen, wenn du es benutzen willst. Das heißt, du musst dich selber verstehen.
Totale Dunkelheit Ein tunesischer Fischer, der tagsüber auf das Meer hinausfährt, hat keine großen Probleme, sich zu orientieren. Die Sonne scheint, es ist hell, die Küstenlinie bleibt immer in Sichtweite.
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Nachts sieht alles ein bisschen anders aus. Ist der Himmel bewölkt, gibt es weder die Sterne als Orientierungshilfe noch den Mond als schwache Licht-quelle. Das einzige, was dem Fischer halbwegs helfen kann, den Weg zu-rück in den Hafen zu finden, ist der nächste Leuchtturm. Wenn es einen gibt. Auf dem Boot selbst gibt es keine Instrumente, ja oft nicht einmal Elektrizi-tät. Schlimmstenfalls herrscht also totale Dunkelheit. Genauso sieht die Welt des 21. Jahrhunderts aus – nicht nur was Wirtschaft und Politik betrifft. Diese Welt ist komplex, mitunter chaotisch. Die be-währten Instrumente, die aus dem letzten Jahrhundert stammen – strenge Hierarchien, vertikale Kommunikation, strikte Planung, Management by objectives – sie alle taugen nichts mehr. Für die komplexe, unberechenbare Welt des 21. Jahrhunderts hast du keine Instrumente zur Verfügung. Das einzige, worauf du dich verlassen können musst, ist deine Intuition und innere Kraft. Dann wirst du selber das Instrument – und kannst in der menschlichen Begegnung zu einem Kollektiv beitragen, das intuitiv entscheiden kann. Denn die Außenwelt ist nun mal unberechenbar, genau wie das Mittelmeer vor der Küste Nordafrikas. Und es gibt keinen John Wayne, keinen unver-wundbaren Retter in der Not, der die Dinge mal eben schnell ins Reine bringt. Im Gegenteil – wie der Fischer auf seinem Boot bist du auf dich gestellt, und dabei unendlich verletzbar …
Ende der e Leseprob
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