Duschlbauer | Lanz | Hattmannsdorfer
Innovations
Guerill a
Midas Management verlag
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Duschlbauer | Lanz | Hattmannsdorfer
Innovations Guerilla Vom Querdenken zum Querhandeln
Midas Management Verlag St. Gallen • Zßrich
Innovations-Guerilla Vom Querdenken zum Querhandeln
Copyright © 2012 Midas Management Verlag
Deutsche Originalausgabe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de ISBN 978-3-907100-41-7 Printed in Germany Copyright © 2012 Midas Management Verlag AG Dunantstrasse 3, CH-8044 Zürich
Covergestaltung: Agentur 21 (Zürich) unter Verwendung einer Installation von Mauro Perucchetti (© Public Sounds) Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in Kursunterlagen und elektronischen Systemen. In diesem Buch werden eingetragene Warenzeichen, Handelsnamen und Gebrauchsnamen verwendet. Auch wenn diese nicht als solche ausgezeichnet sind, gelten jeweils die entsprechenden Schutzbestimmungen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.............................................................................. 11 Einleitung........................................................................... 13
1
Innovation erleben statt erleiden
Die Veränderungsökonomie................................................ Für das Neue brennen......................................................... Nur ja keine Fragen............................................................. Die Macht und ihr Wissen.................................................. Jeder Widerstand ist zweckdienlich..................................... Die 7 Merkmale des Innovationsguerilla.............................
22 25 27 29 30 34
2
Vom Dogma zum Stil
35
Wittgenstein als Innovationsguerilla.................................... Die Früchte vom Baum des Wissens................................... Stil als Ausnahmeerscheinung............................................. Das Regelparadoxon........................................................... Das Dogma mit menschlichem Antlitz............................... Jenseits von Logik und Erklärung........................................ Warum zusammenarbeiten?................................................
36 41 44 45 50 51 53
3
Widerspruch vs. Zeitgeist
61
Die Spielräume des Unbestimmten..................................... Die 5 Phasen von Guerilla.................................................. Die Intervention des Widersprüchlichen............................. Das Aufgeben der Sesshaftigkeit.......................................... Gegen die Macht der Gewohnheit......................................
64 67 69 71 73
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Inhaltsverzeichnis
4
Spielräume für unser Handeln
75
Null Fehler ist bereits ein Fehler.......................................... Vermeintliche Innovationsklimaerwärmung........................ Akteure und Autopiloten.................................................... Präsenz als Basis für Stil....................................................... Das Handeln in der Krise.................................................... Krisencheck........................................................................ Wie komme ich aus der Krise?............................................ Die Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit...................... Die Verortung des Neuen.................................................... Das Neue und seine Zeit..................................................... Innovation mit Stil..............................................................
77 81 82 87 88 89 89 90 91 91 93
5
Persönlichkeit und Charisma
95
Was macht Charisma aus ?.................................................. 98 Der Weg zu Persönlichkeit und Stil..................................... 100 Die Kunst der Weltklugheit................................................ 102 Trotz Weisheiten und guter Vorsätze................................... 117
6
Die Kunst der Strategeme
So lassen sich Strategeme interpretieren............................... 124 Wie durchschaut man eine List ?......................................... 126 Augenöffner für Listblinde.................................................. 127 Strategeme der Innovationsguerilla...................................... 128
7
Die Bergung verborgenen Wissens
Wertvolles Wissen tritt langsam zutage................................ 136 Welches unausgesprochene Wissen lähmt uns ?................... 138 Die Intuition als Wegweiser und treibende Kraft ?.............. 139 Der G-Punkt der Innovation............................................... 142 Wie berge ich implizites Wissen ?........................................ 144
121
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Inhaltsverzeichnis
Wissenskategorien............................................................... 144 Die drei Wissensarten......................................................... 147 Unterbrechungen des Wissensflusses................................... 148 Wann ist Wissensmanagement erfolgreich ?........................ 149 Ausgew채hlte Bergungstechniken......................................... 153
8
Helden der Innovationsguerilla
159
1. Fallbeispiel: James Dyson................................................ 160 2. Fallbeispiel: Hammerschmid Maschinenbau................... 166 3. Fallbeispiel: QUPIK........................................................ 172
Epilog
Nachruf f체r den unbekannten Innovationsguerilla.............. 180 Von der klaren Struktur hin zur offenen Kultur................... 181
Anmerkungen..................................................................... 183 Die Autoren........................................................................ 189 Weitere Fachb체cher............................................................. 190
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Mir kommen die Wege, auf denen die Menschen zur Erkenntnis gelangen, fast ebenso bewunderungsw端rdig vor, wie die Natur der Dinge selbst. Johannes Kepler
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Vorwort
„Erneuert die Veränderung! Verändert die Erneuerung!“ Dieses Motto ziert die Fahnen von Innovationsguerilla. Nur dadurch schaffen wir es, die Zukunft auch selbst zu gestalten und nicht jenen zu überlassen, die ihre Zukunft lediglich darin sehen, mit immer mehr Faktoren zu spekulieren, die für das Schicksal anderer bestimmend werden. Nur dadurch gelingt es uns, dass Veränderung eben nicht zur einzigen Konstanten im Leben wird. Innovationsguerilla kämpft gegen diese traurige „Gewissheit“ an und beginnt nicht bei den Kompetenzen zum Entwickeln eines neuen Werkstoffes, zur Berechnung einer Formel oder zur Definition einer Zielgruppe, sondern beim Menschen und dessen Einstellung zu seiner Umwelt und den Dingen, denen er auf den Grund geht. Innovationsguerilla stattet uns mit jenen Werkzeugen, Sensorien und Strategemen aus, die wir benötigen, um auf eigene Faust ein Terrain zurückzuerobern, das bei vielen vielleicht schon längst aufgegeben wurde: Die unbedingte Herrschaft über unser Talente und Fähigkeiten und generell über das, was uns als Individuen unverwechselbar und so wertvoll für wirkliche und sinnstiftende Innovation macht. Dieser Prozess der Selbsterkenntnis ist eine lebenslange und mühsame Aufgabe, jedoch bringt er eine Form des Wissens zu Tage, das bislang nicht in den Sprachspielen von Experten exklusiv gebunkert werden kann. So hat auch dieses Buch seine Zeit gebraucht, wurden Fragmente davon schon früher publiziert, der Kritik ausgesetzt, überarbeitet und letztlich in diese Form gebracht. Die Autoren bedanken sich in diesem Zusammenhang bei DI Bruno Lindorfer, TMG-Geschäftsführer und Mitglied der "High Level Expert Group" der EU-Kommission sowie bei Prof. Bruno Buchberger, Gründer des RISC und Softwareparks Hagenberg, für ihre fachlichen Anregungen. Prof. Michael Shamiyeh von der Linzer Kunstuniversität und jüngst Kurator der Ausstellung „Porsche: Mythos, Design, Innovation“ hat in vorangegangenen Diskussionen immer wieder Aspekte einge-
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Vorwort
bracht, wie auch Prof. Robert Bauer von der Johannes Kepler Universität Linz. Dank gilt auch Dr. Stephen Sokoloff für die Übersetzung des Dyson-Interviews. Die Formulierungen in diesem Buch richten sich an beide Geschlechter. Diversität in Organisationen ist ein Schlüssel für Innovation und Innovationsguerilla auch ein emanzipatorisches Unterfangen.
Linz, im Herbst 2012 Thomas Duschlbauer Walter Lanz Armin Hattmannsdorfer
Einleitung
Innovation ist zu einem Begriff geworden, der uns in seiner Monstrosität mehr und mehr erschaudern lässt. Sie ist etwas, was über uns hereinbricht oder wie ein Medikament verordnet werden muss. Sie wird in den Firmen oder in den Sonntagsreden der Politiker wie eine Monstranz vorangetragen und reimt sich noch dazu auf „Tradition“, weshalb sie angeblich in den meisten Fällen aus dieser heraus geschieht. So möchte niemand gerne der Spielverderber sein und mit einer solchen Tradition brechen.
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Einleitung
Als das Hinzunehmende teilt die Innovation daher, so wie die Begriffe „Kreativität“ und „Kommunikation“ jenes Schicksal, einerseits eine leere Hülle und andererseits etwas Unantastbares geworden zu sein. Ja, die Innovation ist vielerorts die heilige Kuh, die bloß um ihrer selbst Willen existiert. Ein gefräßiger Wiederkäuer, der von einer ausgesuchten Priesterkaste gemästet wird, um Ordnung zu repräsentieren und zu legitimieren. Sie symbolisiert die Veränderung an sich, den Wandel, den permanenten Ausnahmezustand, den man genauso zu fürchten hat wie den Verlust des Arbeitsplatzes, der dann droht, wenn man sich nicht schnell genug anpasst. Genau dadurch trägt Innovation dazu bei, dass wir jede Ordnung kritiklos hinnehmen und Systeme stabilisiert werden, die unter anderen Umständen gar nicht mehr lebensfähig wären. Die Innovation wird zunehmend zum Motor des Stillstandes und zur Waffe der Amokschläfer. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen, aber auch manche große Konzerne erkennen jedoch vermehrt, dass Innovation durchaus etwas Anderes sein kann. Dass sie beispielsweise nicht mehr bloß „Chefsache“ ist oder ausschließlich an Spezialisten einer F&E-Abteilung delegiert werden muss. Dies zeigt auch das wachsende Interesse an Open Innovation, das nicht nur alle Mitarbeiter, sondern sogar potenzielle Kunden miteinbezieht. Die Unternehmen erkennen auch, dass Innovation untrennbar mit ihrer Kultur verbunden ist. Denn gleichzeitig gibt es immer noch die ProblemstelDie Innovation wird lung, dass sich viele Mitarbeiter als „kleines Rädzunehmend zum Motor chen“ fühlen, das im Unternehmen ohnehin nichts bewirken kann. des Stillstandes und Innovationsguerilla stärkt die Rolle der Mitarzur Waffe der Amok beiter, motiviert und ermutigt Neues zu wagen. schläfer. Dieser Ansatz stattet sie mit jenen Kompetenzen aus, die es ihnen ermöglichen, vom „Rädchen“ zum internen „Berater“ zu werden und damit jene win-win-Situation herzustellen, die ihnen einerseits mehr Handlungsspielräume und Wertschätzung verschafft und andererseits ein Unternehmen von Grund auf mit jener Kultur versieht, die kontinuierlich Innovationen hervorbringt. Dieses Buch setzt insofern nicht dort an, wo versucht wird, etwas klassisch von oben nach unten zu verordnen und Entscheidungsträger Ideen sammeln und selektieren. Vielmehr geht es darum, einen Prozess
Einleitung
zu initiieren, der das Neue an sich als begehrenswert erscheinen lässt, weil es zur Entfaltung eigener Talente und zu einem Stück Selbstverwirklichung beiträgt. Generell ist es mit einem Geistesblitz bzw. einer guten Idee noch lange nicht getan. Denn jetzt geht es darum, das Umfeld vom Sinn und der Notwendigkeit des Neuen zu überzeugen und die Idee zur Marktreife zu bringen. Je radikaler eine Innovation ist, desto mehr Einsatz ist im sozialen Umfeld notwendig, um eine Idee in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern. Dafür gilt es auch Dogmen über Bord zu werfen und bewusst den Regelbruch in Kauf zu nehmen. Der Ansatz von „Innovationsguerilla“ als Praxis im Alltag von Unternehmen, basiert auf einer systematischen Analyse unserer Handlungsspielräume und versucht diese im Anschluss daran mit ausgewählten Strategemen auszudehnen und optimal zu nützen. Der Bildung von Allianzen, der Kommunikation und auch der Vermeidung unnötiger Konflikte kommen dabei besondere Bedeutungen zu. Theoretisch leitet sich Innovationsguerilla von der Sprachspieltheorie und vom Regelparadoxon Ludwig Wittgensteins ab, der in seinem Traktat und in seinen Philosophischen Untersuchungen auch einen Begriff von Dogma und Stil entwickelt hat, welcher von der Organisationstheorie bisher noch nicht erkannt wurde und in seinen Anwendungsmöglichkeiten weit über das Phänomen der Innovation hinausreicht. Wittgenstein bezieht sich dabei auch auf Quellen wie beispielsweise auf Goethes Morphologie der Pflanzen, die ebenfalls interessante erkenntnistheoretische Aufschlüsse darüber geben, wie implizites Wissen sichtbar gemacht werden kann und wie Stil als permanente Annäherung an eigene Erfahrungen gesehen werden kann. Aus diesem Grund wird in dem Buch auch dem Thema Persönlichkeit und Charisma ein Kapitel gewidmet, weil diese Faktoren nicht losgelöst von den Ideen, die Mitarbeiter verwirklichen möchten, gesehen werden können. Stil in diesem Sinn ist nichts Dekoratives und bloß nach außen Gerichtetes, sondern etwas, was untrennbar mit der individuellen Entwicklung zu tun hat. Genau hier treffen sich auch Goethe und Wittgenstein, die Stil als individuelle Errungenschaft ansehen, welche nicht immer in das Schema von „wahr“ und „falsch“ passen. So wendet sich dieses Buch generell gegen ein Denken in tradierten Kategorien. Es soll uns helfen, das Widersprüchliche nicht bloß auszuhalten, sondern darin auch Gelegenheiten zu erkennen und zu nützen, um daran zu wachsen.
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Einleitung
CHECKLIST
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An wen wendet sich „Innovationsguerilla“? An jene, die • die offen und zurückhaltend, • mutig und vorsichtig, • klug und aufrichtig, zugleich sind oder sein wollen. Offenheit bedeutet nicht nur Orientierung nach außen, nach Entwicklungen und Trends Ausschau zu halten und das Augenmerk auf Geschehnisse und kommunikative Abläufe zu legen, die Lust auf Wagnisse wecken. Innovationsguerilla ist ebenso offen für die inwendigen Dimensionen des Menschlichen: Das Credo lautet, im eigenen Potenzial zu schürfen, dort Schätze zu entdecken, seine Talente und Fähigkeiten achtsam zu hegen und zu pflegen. Dieses Buch soll uns „leeren“, soll uns von allem Unnützen befreien und uns so wieder empfänglich für das Neue machen. Für wen ist diese Lektüre nicht empfehlenswert? Für diejenigen, • die das Neue nur als Jobgarant, Wettbewerbsfaktor und Goldesel sehen. • die sich davon eine Reparaturmethode erhoffen, um uns weiterhin mit Produkten zu überhäufen, die niemand braucht und nur unseren Planeten zumüllen. • die ihr Heil bloß in immer kürzeren Produktzyklen suchen.
KAPITEL 1
Innovation erleben statt erleiden Unsere Ökonomie lebt von Veränderung. Innovation ist daher das Buzzword unserer Zeit. Aber wie weit sind wir tatsächlich bereit, uns dafür selbst zu verändern? Ist Veränderung für uns lediglich mit Anpassung verbunden oder ist sie sogar ein Schritt zur Selbstverwirklichung?
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Kapitel 1
In vielen Unternehmen wird erst dann mit Innovation begonnen, wenn Bestehendes langsam keine Abnehmer mehr findet, sich bereits Frustration breit macht und der Leidensdruck zu wachsen beginnt. Meist wird dann auch an der Verbesserung des Bestehenden gearbeitet – was immerhin schon ein wichtiger Fortschritt ist. So hält sich die Freude an radikalen Innovationen in Grenzen, zumal sie ein eventuell schon überholtes Geschäftsmodell ernsthaft in Frage stellen könnten. Im Gegensatz zur Innovation aus einem Leidensdruck heraus führt die leidenschaftliche Innovation dazu, dass mit vertrauten Routinen gebrochen wird und auf Manager völlig neue Herausforderungen zukommen. So schrieb etwa ein früherer Konzernchef in seinem Buch „Die Sowjets hatten Recht“, dass sein „Erfolgsrezept“ darin bestünde, dass er stets das Gleiche machen würde und bezeichnet sich dabei gleichzeitig als „Querdenker“. Nach seinem Scheitern machte er schließlich die Banken und die „nur nach extrem kurzfristig ausgerichteten Regeln tickenden Politiker" für den Untergang seines Imperiums verantwortlich. Anhand dieses Beispiels zeigt sich sehr deutlich, dass das Querdenkertum oft nur in der radikalen Forderung nach einem Mehr Desselben besteht und dabei fragwürdige Dogmen auch gefälligst von anderen übernommen werden sollen. (1) Völlig verstörend ist auch der Niedergang des Foto-Riesen Kodak, dem nachgesagt wird, dass er die Entwicklung der Digitalfotografie verschlafen hätte. Tatsächlich aber war es der Tüftler Steven Sasson, der bei Kodak jene Freiheit und jenes Umfeld gefunden hat, um dort die erste Digitalkamera zu bauen. Sasson wollte damals einen Taschenrechner haben, mit dem man fotografieren kann. Er wollte nicht bloß eine analoge Kamera mit allerhand elektronischen Features versehen, wie es ihm ursprünglich aufgetragen wurde. Er konnte sich durchsetzen und aus bereits vorhandenem Elektronikschrott nicht nur einen Prototypen entwickeln, sondern danach diese radikale Innovation über Jahre hinweg zur Marktreife bringen. Dennoch muss in der Organisation des Die Geschichte der Unternehmens irgendetwas passiert sein, das Veränderung ist eine letztlich dem Erfolg massiv im Weg stand. Denn sich selbst erfüllende einerseits gab es dank Sasson die Technologie und – wie leider ausgerechnet die Mitbewerber Prophezeiung. positiv erfahren konnten – auch einen gewaltigen Markt dafür.
Innovation erleben statt erleiden
Das Konzept von Innovationsguerilla setzt daher primär im engsten Umfeld einer Innovation an: In der Organisation. Das Buch handelt in diesem Sinne nicht von neuen Technologien. Denn das Verständnis von Technologien ist nicht der Mangel der Guerilla, sondern sehr oft gerade ein Fluch für sie. Das Buch handelt auch nicht von aufkommenden Märkten, Konsumententrends und Early Adopters etc. Denn Innovationsguerilla versetzt uns in die Lage, uns nicht nur von solchen Entwicklungen abzukoppeln, sondern mit unseren Ideen sogar noch völlig unbekannte Bedürfnisse zu wecken und selbst die Trends zu setzen. Es steht daher zunächst Innovation im Zentrum, die uns intuitiv erreicht. Zudem ist Innovationsguerilla auch geeignet für Innovation, die aus Veränderungen innerhalb oder im Umfeld einer Organisation, z. B. durch eine neue Wettbewerbssituation, resultiert. Weniger geeignet ist Innovationsguerilla für die vom Kunden beauftragte oder in einem Unternehmen systematisch betriebene und rein an Kennzahlen orientierte Innovation. Die wirkliche Bedrohung für das Neue orten wir als Autoren in jenen Organisationen, über die entweder direkt der Transfer einer Technologie hin zum Markt geschieht oder die einen solchen Transfer zumindest fördern oder begünstigen könnten. Genau an diesen Schnittstellen, die auch im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder Verwundungen hervorrufen, setzen wir als Autoren an.
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Kapitel 1
FACTS
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Es bleibt alles beim Neuen Wir leben in einer schnelllebigen Gesellschaft des permanenten Vergessens. Angesichts der Meldungen über wissenschaftliche Durchbrüche, Zukunftstechnologien etc. fällt es sehr leicht, zu glauben, wir würden in einer Welt leben, in der sich der Fortschritt ständig beschleunigt. Tatsächlich sprechen aber auch einige Indizien dafür, dass sich das Tempo allmählich verlangsamt bzw. Wandel doch länger dauert als prognostiziert. 1. Der Medienhype Vieles ist bereits da gewesen, jedoch wird es durch den Hype der Medien lediglich neu in Szene gesetzt. Ein Paradebeispiel ist dabei sicherlich derzeit die E-Mobilität. Denn bereits vor hundert Jahren hat es Fahrzeuge mit Elektromotoren gegeben. Das erste Auto, das von Ferdinand Porsche entwickelt wurde, war beispielsweise ein Elektroauto mit Radnabenmotor, und es hat sich vor allem bei den Bergfahrten hervorragend bewährt. Schon damals gab es Stimmen, die behauptet haben, dass dieser Antriebsform die Zukunft gehören würde. Wir leben in einer Gesellschaft der Geschichtsvergessenheit, in der das Neue eine extrem kurze Halbwertszeit hat und oft lediglich der Moment ist, an dem bloß die Wiederkehr des Alten laut- und bildstark zelebriert wird.
2. Die Blender im weißen Kittel Seit Jahrzehnten wird uns erzählt, welche großen Durchbrüche wohl durch die Gentherapie zu erwarten sind und welche Krankheiten dann der Geschichte angehören würden. Tatsächlich ist die Zahl der erfolgreich behandelten Ratten und Mäuse weitaus größer als die der Menschen, die mit dieser Therapie gesundet sind. An diesem Beispiel zeigt sich auch, wie schwierig es für die Wissenschaft ist, in manchen Disziplinen den letzten Geheimnissen auf die Spur zu kommen, und dass Forschung und Entwicklung wirklich mehr mit Transpiration zu tun hat als mit Inspiration. Zudem gilt es auch, laufend Forschungsmittel zu akquirieren, weshalb bei den Ergebnissen mitunter getrickst wird, um die Hoffnung zuletzt doch nicht sterben zu lassen. Wirklich große Erfolge lassen sich zudem heute meistens nur noch an den Schnittstellen mehrerer Disziplinen erzielen.
Innovation erleben statt erleiden
3. Erdrückende Faktenlage Renommierte Forscher weisen nach, dass die Anzahl der wirklich bahnbrechenden Errungenschaften ehr ab- und nicht zunimmt. Zu ihnen gehört auch der US-Physiker Jonathan Huebner, der sogar behauptet, dass dies bereits seit den 20er-Jahren der Fall ist. Wenn man die Anzahl der Innovationen auch in ein Verhältnis zur ständig wachsenden Weltbevölkerung stellt, dann ist der Befund ebenfalls ernüchternd und die Tendenz weist nach unten.
4. Lebensstil schlägt Technologie Die letzten 100 Jahre im Rückspiegel gesehen, zeigen uns, dass es die wirklichen Leittechnologien schon sehr früh gegeben hat. Elektrizität, das Automobil, ja sogar das Flugzeug hat es bereits gegeben. Auch die Technologien der Informationsübertragung sind an sich nicht so neu, sondern wurden lediglich in unzähligen Schritten immer wieder und wieder verbessert. Was sich in den letzten Jahren allerdings tatsächlich spür- und sichtbar verändert hat, das ist unser Lebensstil, der Umgang miteinander und mit den Technologien, die uns bereits länger zur Verfügung stehen.
5. Die breite Phalanx der Bremser Für Europa attestiert der Zukunftsforscher Christian Hehenberger, dass in den Unternehmen rund 90 Prozent der Mitarbeiter zu den Bewahrern und Bremsern gehören. Nur eine Minderheit ist in Wirklichkeit Neuem gegenüber aufgeschlossen. Innovatoren brauchen daher auch heute noch ein starkes Nervenkostüm und Durchhaltevermögen, um das zu schaffen, woran sich künftige Generationen von Bremsern später klammern können. (2) Unter den Bremsern sind natürlich auch solche, die aus kommerziellen Gründen Neues absichtlich an die kurze Leine nehmen, um damit so lange zu warten, bis eine alte Technologie tatsächlich ausgedient und sich amortisiert hat. Erst dann, wenn die veraltete Technologie nicht mehr zum Einsatz kommen kann, wird das Neue aus der Schublade geholt.
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Kapitel 1
Die Veränderungsökonomie Natürlich werden wir keine unternehmerische Organisation finden, die ernsthaft von sich behaupten würde, dass sie sich dem Neuen verschließt oder gegen Innovation wäre. Innovation und insbesondere Veränderungsprozesse gehören heute zum Common Sense. Fragt man etwa Manager nach ihren beliebtesten Leitsätzen für das Leben, so werden wir sehr oft hören, dass die einzige Konstante die Veränderung wäre. Und diese Veränderungen sind zu einem einträglichen Geschäft für Trendforscher und andere Dienstleister geworden. Sie reden uns auch ein, dass wir uns vor Veränderungen keinesfalls fürchten müssen, so lange wir fit genug bleiben, um uns diesen Veränderungen permanent anzupassen. Für all jene, die in der Lage sind, Veränderung zu managen, zu domestizieren oder sogar Profit daraus zu schlagen stellt sie kein Problem, sondern eine willkommene Herausforderung dar. Gegenwärtig wird Veränderung wie eine Ressource be- und gehandelt, wobei – im Gegensatz zu anderen Ressourcen – ihre künftige Verwendung noch ungewiss ist. Genau das macht Veränderung so wertvoll, denn ihr wahrer Wert erweist sich erst dann, wenn sie einmal stattgefunden hat. Sofern sich später herausstellen sollte, dass diese Form der Veränderung nicht notwendig oder gar kontraproduktiv war, so ist es erst recht an der Zeit weitere Veränderungen zu initiieren und die vorher durchgeführten Veränderungen waren wahrscheinlich einfach ihrer Zeit zu weit voraus (3). Veränderung ist eine immaterielle Ressource, der narrative Plot der Zukunft oder eine Art Storytelling, das es stets schafft, die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter auf sich zu ziehen. Veränderung ist etwas, dem wir uns nur schwer entziehen können, zumal der Menschheit immer wieder gesagt wird, dass sie sich in einem Zeitalter dramatischer Veränderungen befindet. Wir müssen uns Nichts kann heute daher auch selbst ständig verändern, um diesen das System einer Veränderungen gewachsen zu sein, weshalb wir Organisation stärker auch für uns ständig ein neues Storytelling erfinden. Daraus ergeben sich tatsächlich neue Bedürfstabilisieren als der nisse, weshalb neue Geschäftsmodelle, Produkte Ruf nach ihrer etc. entstehen. Die Geschichte der Veränderung ist Erneuerung. eine sich-selbst-erfüllende Prophezeiung. Solange wir in der Lage sind, an Veränderungen teilzuha-
Innovation erleben statt erleiden
ben, beizutragen, ihre Früchte zu konsumieren, so lange brauchen wir uns vor ihr auch nicht zu fürchten. Veränderung ist dadurch auch so etwas wie ein post-kapitalistischer Fetisch geworden. Einerseits können wir uns ihr unmöglich entziehen, andererseits ruft sie in uns auch ein gewisses Unbehagen gegenüber den eigenen vermeintlichen Unzulänglichkeiten hervor, weshalb wir uns immer stärker nach Sicherheiten sehnen. „Because change happenz“ lautet auch der Slogan der Zürich Versicherung, die in einem ihrer TV-Spots die Frage stellt, was wir denn tun würden, wenn sich alle vier Stunden unser Geschäftsmodell ändern würde (4). Seit 2005 gibt es diesen Slogan der Agentur Publicis, die Veränderung hier in einer für den Konsumenten weniger beängstigenden Form mit einem Unfall gleichsetzt. Veränderung ist also etwas, was die Versicherung auf ihrer Website selbst auch als eine Art unausweichlicher Realität darstellt (5). Genau dieses Unbehagen und dieses Gefühl von Ohnmacht und vermeintlicher Unfähigkeit wirft uns aber in eine Art kindliche Regression. Sie lässt uns in unserer Komfortzone verharren und oft darauf warten, dass andere die wichtigen Entscheidungen für uns treffen. Sie führt auch dazu, dass wir glauben, wir müssten uns noch mehr anstrengen, bloß um so sein zu dürfen, wie wir sind (6). Dieses Unbehagen stellt uns ruhig und lässt uns in einem System agieren, welches das Neue zu einem Selbstzweck erklärt hat, um lediglich ein Mehr des Selben zu produzieren. Wir scheuen den Blick hinter die Kulissen, weil er auch zu einem Spiegel unseres Selbst geworden ist. Daher haben Begriffe wie „Change Management“, „Innovation“ oder gar „Reform“ etwas vom Charakter einer Verschwörung angenommen. Nicht umsonst meinen die Mitarbeiter in großen Konzernen bei solchen „Reformen“, dass eben halt wieder eine „neue Sau durch das Dorf getrieben“ wird. Sie verhalten sich möglichst ruhig und unauffällig und warten, bis sie wieder weg ist oder in Rundschreiben und internen Newslettern die Ankunft der nächsten „Sau“ angekündigt wird. Nichts kann heute das System einer Organisation stärker stabilisieren als der Ruf nach ihrer Erneuerung. Niemand kann sich diesem Ruf offen entziehen, er ereilt alle und jeder, der ihn in Frage stellt, wäre ein Abtrünniger, ein Verdammter, ein von allen guten Geistern Verlassener. Der Philosoph Jacques Derrida stellt daher einmal die ungewöhnliche Frage, was denn Ökonomie überhaupt ist. Er fragt nicht, wie Ökonomie
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Kapitel 1
funktioniert, wer von ihr profitieren würde und er enthält sich auch einer Bewertung. Derrida ist direkt und fragt „Was ist Ökonomie?“ Man könnte jetzt einwenden, dass dies wieder einmal so eine philosophische Spitzfindigkeit wäre, ein Trick also, um sich mit einer gekonnten Fragestellung den erwarteten Antworten zu entziehen. Diese Frage, die Derrida aufwirft, betrifft jedoch eine Meta-Ebene, die für einen angehenden Innovationsguerillero von existenzieller Bedeutung ist. Denn sehr oft wissen wir, wie profitabel die Arbeit in einem System ist und wir kennen auch dessen Regeln. Jedoch bleibt uns dagegen verborgen, was für ein System das ist, wofür wir uns engagieren. Wir können immer perfektere Dinge herstellen, die eventuell aber längst überholt sind und dem Neuen nur den Platz wegnehmen, den es vielleicht schon dringend braucht. Der Perfektionismus eines Systems, das sich nur immer noch besser reproduzieren möchte, ist es, der uns der wichtigsten Grundlage für Innovation beraubt: Die Bereitschaft zu empfangen. Wenn alle wollen, dass alle alles für das System geben, dann ist niemand mehr bereit, das Neue zu empfangen. Dann wird das Neue als solches nicht einmal erkannt. In einer derartigen Situation werden alle zu Maulwürfen, die in ihrer Blindheit unbewusst ihre eigene Organisation untergraben. Eines der Paradoxa der Innovation – und wir werden noch andere kennen lernen – besteht daher auch darin, dass gerade dort, wo die „Veränderung“ und die „Reform“ zur Entfaltung des Selbsterhaltungstriebs gehört, dass das wirklich Neue keinen Wert hat und es oft „nicht einmal ignoriert“ wird. Im Sinne von Boris Groys bezeichnet das Neue dort nichts. Es bezeichnet erst später das Andere, das Unbewusste und Unaussprechbare – was für ihn eigentlich schon einer Profanisierung gleichkommt (7). Die heutigen Diskurse rund um Veränderung sind zutiefst dogmatische Diskurse, die auch ähnlich wie die Religion immer eine Erlösung versprechen, die jenen in Aussicht gestellt wird, die an den Veränderungsprozessen teilhaben. Trotz – oder gerade aufgrund der Unsicherheiten unserer Zeit – ist die Veränderung nicht nur eine Konstante in den Augen ihrer Manager, sondern eine allgegenwärtige und für alle verbindliche Wahrheit. Die Veränderung ist der kleinste gemeinsame Nenner unseres Erkenntnisstandes. Sie ist somit eine eindeutige und unbestreitbare Grundlage unseres Lebens und unserer Handlungen. Sie raubt uns zwar nicht den Verstand, aber sie stemmt sich gegen das „Sa-
Innovation erleben statt erleiden
pere aude“ des römischen Dichters Horaz und nimmt uns also den Mut, uns unseres Verstandes zu bedienen. Die Veränderung repräsentiert das Gute und das Notwendige und ist somit zu etwas geworden, das stets unbefleckt bleiben will. Was nicht sein darf, das kann eben nicht sein. So stellt die Veränderung das einzig Verbindliche in einer immer mehr von Unverbindlichkeit geprägten Welt dar. „Die einzige Konstante ist die Veränderung“ ist genau genommen der reinste Ausdruck von Resignation, der zum vielzitierten Lebensmotto einer ganzen Generation von Führungskräften wurde. Wenn bereits in den oberen Etagen dieses Denken um sich gegriffen hat, wie ist es dann erst um die Mitarbeiter weiter unten bestellt? Im Zentrum dieses Buches steht daher eine Betrachtung von Dogma und Stil, weshalb wir uns auf die Suche nach Lösungen in der Philosophie machten. Fündig wurden wir insbesondere bei Ludwig Wittgenstein, dessen klar definierte Begriffswelt wir aufgegriffen und zu einem praktikablen Modell der Organisation weiterentwickelt haben. Wittgenstein liefert uns mit seiner Sprachphilosophie und der Idee der Sprachviele auch jene Grundlagen, die wir für die Durchsetzung des Neuen benötigen. Sprache an sich birgt bereits jene beiden Aspekte, die über Sein oder Nicht-Sein des Neuen entscheiden. Denn Sprache dient einerseits der Repräsentation und andererseits der Legitimation. So drehen sich auch die ersten Fragen beim Auftauchen des Neuen genau um diese beiden Dimensionen: Was ist das? Wozu brauchen wir das?
Für das Neue brennen Geleitet wurden wir dabei von jener Frage, wie man erfolgreich mit Traditionen und Regeln brechen und einen eigenen Stil kreieren und permanent fortentwickeln kann, um einen innovatorischen Fluss zu gewährleisten. Stil ist in diesem Fall weniger etwas Schillerndes mit Blendwirkung, sondern eine zutiefst persönliche Eigenschaft. Bei den Überlegungen dazu sind wir einmal davon ausgegangen, dass das Neue im Prinzip nicht am Willen und an der Kreativität des Einzelnen scheitert, sondern am Umfeld, das Neues nicht zulässt oder als solches gar nicht erst erkennt. Dies Bedeutet, dass es um spezielle Fähigkeiten geht, die den Menschen eventuell fehlen, um tatsächlich zu
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Kapitel 1
Innovatoren zu werden. Veränderung braucht nicht nur den Willen zur Veränderung, sondern auch den Mut und die Kraft, die eigene Komfortzone zu verlassen, um dort für das Neue zu brennen. Aus der Perspektive der Erkenntnistheorie betrachtet neigen gerade dogmatisch geführte Unternehmen dazu, in Schubladen zu denken, neue Erkenntnisse lediglich so anzuwenden, dass sie dem bestehenden Dogma unterworfen werden können und es stützen, während stilistisch orientierte Firmen diese Erkenntnisse als Gelegenheit erkennen, um den eigenen Stil weiter zu entwickeln. Allgemein tun Dogmatiker alles, um den Zufall und widersprüchliche Situationen auszuschließen, während die Arbeit am Stil das Ziel verfolgt, möglichst viele Zufälle herbeizuführen, um daraus Gelegenheiten zu schaffen und schließlich den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Im Fall des Dogmas geht es bei neuer Erkenntnis auch um die Integration in ein System von etablierten Regeln, während es im Fall des Stils um den bewussten Bruch mit Regeln geht, um so etwas wie Neusinn zu schaffen. Solche Beispiele für „Neusinn“ kennen wir aus der Werbung mit der lila Kuh von Milka oder mit dem sechsbeinigen Hund von Eni. Beide Tiere würden aus der Sicht der Evolution wahrscheinlich nicht gerade zu den Fittesten gehören, aber aus der Perspektive des Brandings stellen sie sehr pragmatisch zwei perfekte Gelegenheiten dar, um etwas in unserem Gedächtnis abzuspeichern – interessanter Weise gerade, weil es von uns nicht als plausibel erachtet wird, weil es sich um eine reine „Erfindung“ handelt. Vieles geschieht bei diesen Prozessen unbewusst und nicht strukturiert, so dass man auch nicht unbedingt von Rollen wie „Opfer“ und „Täter“ sprechen kann – und selbst die schlimmsten Dogmatiker bzw. Bremser agieren mit der Überzeugung, etwas Gutes für ihr Unternehmen zu tun. Gerade daher ist es auch so wichtig, sich eingehend mit diesen verborgenen Strategemen zu befassen, um Neuerungen gezielt vorantreiben zu können. Wer als Anhänger von „Innovationsguerilla“ also mit Regeln brechen möchte, muss sich zunächst mühevoll mit diesen auseinandersetzen. Er versetzt sich dabei am besten in die Perspektive der anderen, lernt dabei sein Umfeld besser kennen, kann die Stärken und Schwächen sowie die Ressourcen der einzelnen Player genau einschätzen und lotet auch seine eigenen Grenzen aus. Erst in einem weiteren Schritt helfen dann gewisse Strategeme aufreibende Konflikte zum richtigen Zeitpunkt auszutra-
Innovation erleben statt erleiden
Das Neue und die Innovation Der Neuigkeitsgrad ist auf zwei Ebenen relevant: Einerseits auf der Ebene jener Kunden, die neuen Produkten gegenüber aufgeschlossen sind, andererseits aus der Sicht des Unternehmens, das sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil verspricht. Was für ein Unternehmen einen hohen Neuigkeitsgrad hat, muss aber für den Kunden schon längst nicht mehr neu sein. Ein Nachahmer- oder MeToo-Produkt stellt vielleicht das produzierende Unternehmen vor neue Herausforderungen, für den Kunden stellt es lediglich eine weitere Bereicherung des Angebotes dar.
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gen und die sinnlosen Konflikte überhaupt zu vermeiden, um das Umfeld von seiner Idee einzunehmen und dafür auch die richtigen Partner für Allianzen zu finden.
Der Innovationsgrad dagegen ist hauptsächlich für das Unternehmen wesentlich, denn auf dem Weg der Umsetzung von Neuem hin zu einer marktreifen Innovation müssen sich Unternehmen oft Veränderungen stellen, die beispielsweise die Einführung branchenfremder Technologien, neue Vertriebswege, Schulungen des Personals, andere Entsorgungs- und Recyclingprozesse etc. bedingen. Auch wenn dies Aufgaben sind, die primär vom Unternehmen oder von diversen Beratungsunternehmen zu lösen sind, so kann bereits der Lösungsweg an sich so spannend sein, dass sich Kunden eventuell schon im Vorfeld für das Produkt interessieren. Mit der geschickten Arbeit am Innovationsgrad könnte theoretisch auch eine Ergänzung zum Neuigkeitsgrad stattfinden. Dies ist ein typisches Betätigungsfeld von Innovationsguerilla.
Nur ja keine Fragen Das, was wir im Sinn von „Innovationsguerilla“ als Innovation bezeichnen, beginnt bei uns selbst. Denn das Phänomen Stil ist untrennbar mit „Persönlichkeit“ und „Individualität“ verbunden. Wir sind Innovation. Wir begegnen in unserem Alltag Problemen und wir stellen die Fragen. Daher ist dieses Buch auch nur insofern als Ratgeberliteratur geeignet
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Kapitel 1
als lediglich versucht wird, jene kindliche Naivität zurück zu erlangen, wie sie uns in der Schule mühsam über die Jahre hinweg abtrainiert wurde. Bis zum Schulbeginn sind es Kinder gewohnt Fragen zu stellen. Danach werden sie darauf getrimmt Antworten zu geben und sind als Innovationsguerilla mit zunehmendem Alter unbrauchbar. Es heißt zwar, dass man erst mit dem Alter und der Lebenserfahrung zu seinem Stil findet, jedoch bedeutet dies nur, dass wir erst später wieder in jene Situation gelangen, in der uns nicht andauernd eine Legitimation für unser Handeln abverlangt wird. Wer sich einmal etabliert hat, muss nicht über alles Rechenschaft ablegen und darf auch Konventionen in Frage stellen. Es ist allerdings schade, dass wir viele Jahre unseres Lebens darum kämpfen müssen, wenigstens annähernd einen Grad an Freiheit zurück zu erobern, wie wir ihn als Kinder noch hatten. Dies ist nicht nur schade für das Individuum, sondern auch für alle Organisationen, in denen wir als Individuen tätig sind. Denn dort wird gewöhnlich unentwegt nach Antworten und Problemlösungen gesucht – unabhängig davon, ob überhaupt noch die richtigen Fragen gestellt werden und ob nicht gar das Geschäftsmodell als solches Teil des Problems ist. Wer um Antworten verlegen ist, hat in solchen Organisationen bald keinen Platz mehr und muss sich den Antworten anderer anschließen. Wer schon keine Antwort weiß, sollte zumindest „ja“ sagen können, um sich innerhalb einer Organisation Legitimität zu verschaffen. Innovation endet zwangsläufig dort, wo Antworten gegeben und Wissen bzw. Gewissheit geschaffen wird. Und Antworten tragen dazu bei, Spannung abzubauen. „Innovationsguerilla“ dagegen erzeugen Spannung und sogar Konflikte. Denn das Stellen von Fragen schafft unweigerlich Spannung. Das Fragen ist nicht nur der erste Akt der Befreiung, es macht uns überhaupt zu Akteuren. Es verschafft uns auch jenen Vorsprung, der allgemein mit dem Begriff von Innovation verbunden ist. Dafür macht uns das Stellen von Fragen gegenüber jenen verwundbar, die sich auf die Produktion von Antworten und das Schaffen von Gewissheit spezialisiert haben. Der Fragende ist die nackte Bedrohung für alle, die an der Ungewissheit verzweifeln.
Innovation erleben statt erleiden
Die Macht und ihr Wissen „Wissen ist Macht“ heißt es bei Francis Bacon. Diese Auffassung wird heute noch geteilt und dient als Ansporn, um beispielsweise Wissen in Bildungseinrichtungen zu erlangen. Wer nach dem Wissen greift, der greift auch nach der Macht und schafft sich ein Stück Autorität. Wissen ermöglicht so den Aufstieg in Organisationen und das, was wir als Karriere bezeichnen. Kaum jemand fragt allerdings danach, woher denn dieses Wissen stammt bzw. wie dieses Wissen, das uns Legitimität verschafft, selbst zu Legitimität gelangt. Wir sehen Wissen bloß als eine Ansammlung von Antworten, welche den Körper der Macht konstituieren. Natürlich erscheinen uns in diesem Zusammenhang Fragen als suspekt und anarchistisch. Der Philosoph Michel Foucault hat in diesem Zusammenhang einen kreativen und spannenden Perspektivenwechsel unternommen und die Aussage Bacons de facto auf den Kopf gestellt: Jede Macht bringe ihr eigenes Wissen hervor, lautet der Kern seiner These, die das Wissen plötzlich in die Sphäre des Willkürlichen und Beliebigen verbannt (8). Wissen ist demnach nicht Macht im Sinne des Ermöglichens, sondern es ist etwas, das bereits möglich gemacht, gewollt und oft auch nur zugelassen wurde. Es ist daher innerhalb einer Organisation ein Trugschluss zu glauben, dass man sich zunächst immer mehr Wissen und Kompetenzen aneignen müsse, um über die stets richtigen Antworten zu jener Autorität zu gelangen, die es schließlich einmal ermöglicht, etwas Neues durchzusetzen. Ist man erst einmal an diesem Punkt angelangt, wird man wahrscheinlich gar nicht mehr den Willen und die Kraft aufbringen, etwas zu verändern – oder die Organisation hat sich bereits selbst überholt. Vielmehr geht es darum, durch wirklich spannende Fragen jener Macht die Gewissheit zu nehmen, die es ihr erlaubt, das Alte zu bewahren. Auch dabei sind natürlich Wissen und Kompetenz gefragt. Die Frage ist nur, auf welches Spiel man sich einlässt bzw. ob man in der Lage ist, selbst die Regeln dafür zu definieren. Wer bloß Antworten gibt, der hat bereits verloren und mit ihm auch die Organisation. Bei Innovationsguerilla geht es daher nicht um das Individuum, das gegen eine mächtige Organisation ankämpft, um eigene Ideen durchzusetzen. Wäre dem so, so wäre das Individuum ohnehin am falschen Platz tätig. Innovationsguerilla stattet den Einzelnen jedoch mit jenen
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Kompetenzen aus, die es ihm ermöglichen, jene Fragen zu stellen, welche für den Fortbestand der Organisation durchaus relevant sind. Und Innovationsguerilla dient auch dazu, einen Standpunkt einzunehmen und diesen couragiert zu vertreten. Es geht darum, jenes Gleichgewicht der Kräfte zu schaffen, das verhindert, dass Mitarbeiter zu Antwortproduzenten oder Ja-Sagern werden und innerhalb der Organisation der Weg des geringsten Widerstandes gegangen wird.
Jeder Widerstand ist zweckdienlich Nicht der Konflikt und auch nicht der Klassenkampf sind das Ziel von Innovationsguerilla, aber auch nicht der Kompromiss, der in der Mitte gefunden wird. Für die radikale Innovation gibt es in den meisten Fällen keine „Goldene Mitte“. Radikale Innovation setzt an beiden Enden eines Spektrums an und lebt von der Spannung, die daraus erzeugt wird. In diesem Sinne gelten auch die Argumente der Bewahrer. Jeder Widerstand ist zweckdienlich im Ringen um die beste Lösung. Erst wenn wirklich alle Argumente auf dem Tisch liegen und der Schlagabtausch mit voller Konsequenz erfolgt ist, kann über den Kompromiss nachgedacht werden. Innovationsguerilla sucht für den Konflikt sowohl den besten Zeitpunkt als auch die würdigsten Gegner, um ihm und der daraus resultierenden Lösung ein höheres Niveau zu geben. Ohne Zweifel profitieren davon auch die Organisationen. Ein großer Teil von ihnen hält sich zwar lieber eine Bande von Ja-Sagern und scheut prinzipiell solche Auseinandersetzungen. Andere Organisationen zeigen sich durchaus offen für das Neue und versuchen dies von oben zu verordnen. Dieser Weg funktioniert aber nur bedingt, weil eine gewisse Denkhaltung oder gar Stil sich eben nicht verordnen lässt. Ein Stil entfaltet sich durch ihre Akteure, während Mitarbeiter, die zu mehr Kreativität, Spontanität etc. aufgerufen werden, dabei automatisch in die Rolle von Reagierenden gedrängt werden, die wieder einmal gewisse Zielvorgaben zu erfüllen haben. Eine Organisation kann und soll nicht mehr tun, als ein Feld zu eröffnen, worauf die Differenzen rund um das Neue ohne Rücksicht auf Hierarchien und eingespielte Rituale konsequent ausgetragen werden können. Es geht in erster Linie darum, eine Kultur zu etablieren, die
Innovation erleben statt erleiden
Widerstände oder noch besser Widersprüche verzweckdienlicht und auch das Scheitern verkraften kann. Das Zulassen ermöglicht viel mehr als das Verordnen, denn das Verordnen wird oft zu Recht nicht als glaubwürdig erachtet. Das Zugelassene entsteht um der Sache willen und ist vorerst nicht eine Sache des Wollens, welches das Feld der Möglichkeiten einschränkt. Das Zugelassene entspricht dem Authentischen und damit auch dem Stil, während das Verordnete nur mit den Ausprägungen der Kommunikation funktioniert. Und es „funktioniert“ auch nur deshalb, weil es beim Verordneten bloß um eine Ordnung von Meinungen geht, die sich um das kümmern, was ist und das, was noch im Werden ist, was sich also organisiert, ausblendet. Alles, was verordnet wird, verhindert, dass sich Organisation als solche überhaupt ereignen kann. In ihrem berühmten Buch „Was ist Philosophie“ schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari, dass Formen der Kommunikation wie Werbung und PR potenziell nur Meinungen bearbeiten, um „Konsens“ und nicht „Begriffe“ zu schaffen. Deleuze und Guattari misstrauen der Idee des demokratischen Gesprächs zwischen Freunden, weil es kein Ringen um Begrifflichkeiten ist. Jede Schöpfung ist zunächst jedoch etwas Singuläres und benötigt daher einen Begriff, und laut Nietzsche können wir nichts durch Begriffe erkennen, solange wir sie nicht zunächst erschaffen und ihnen eine autonome Existenz verliehen haben. Dies geschieht in einer ihnen eigentümlichen Anschauung, die auch die Keime und die Personen, die sie pflegen, in sich birgt. Statt der Debatte präferieren Deleuze und Guattari die platonische Sicht einer notwendigen Rivalität. Diese Rivalität ist bereits im griechischen Stadtstaatentum begründet. Im Gegensatz zu den Imperien führt die Idee der Polis zum Agon, einem Wettstreit freier Männer. Jeder, der Anspruch auf etwas erhebt, begegnet notwendigerweise einem Rivalen. Über die Begründetheit der Ansprüche entscheiden letztlich die Begriffe als höchste Instanz, indem sie uns erhören oder sich doch lieber einem Rivalen zugetan fühlen. Die Begriffe der Philosophie unterliegen dabei einem spezifischen Geschmack, der beispielsweise radikal oder einschmeichelnd sein kann. Die Sprache der Begrifflichkeiten bildet kein bloßes Vokabular, sondern auch eine Syntax aus, die an das Erhabene und an die Ästhetik anknüpft. Die Begriffe haben zwar ihre eigene Art des Unsterblichen, jedoch sind auch sie den Zwängen der Erneuerung unterworfen, denn eine neue
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Einleitung
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STORY
Zeit erfordert neues Nach-Denken. Das „Sein“ lässt sich nicht vorhersehen, es muss immer in Zweifel gezogen und wieder neu geschaffen werden (9). Die Fort-Entwicklung dieser Sprache der Begriffe kann auch als die Pflege eines Stils bezeichnet werden. Stil ist daher nicht etwas schillernd nach außen Getragenes, sondern der bereits zeitlos gewordene Ausdruck unserer Verinnerlichung des Werdens. Innovationsguerilla an sich ist daher bereits etwas Innovatorisches, weil es auf der Ebene der Protagonisten und der Methoden stets das Element des Wandels, des Bruches und der „Aufhebung“ im Sinne von Hegel hat. „Aufheben“ erschließt ein weites Feld an Möglichkeiten, weil es das Aufgreifen und Erhalten des Bestehenden, dessen radikale Überholung und die Anhebung auf ein höheres Niveau impliziert. Innovationsguerilla befasst sich daher nicht mit der Schaffung von speziellen Produkten, Dienstleistungen und generell der Produktion von Antworten etc., sondern mit der ständigen Innovation im Prozess der Innovation. Der Kampf um das Neue muss stets neu überdacht und mit neuen Mitteln ausgetragen werden.
„Probier's einfach!“ Der folgende Auszug aus dem SZ-Interview mit Steven Sasson, dem Erfinder der Digitalkamera, gibt einen ersten Einblick in den Idealfall jener Kultur, für die Innovationsguerilla kämpft (10): SZ Wissen: Sie hatten also viele künstlerische Freiheiten? Sasson: Ich fing in der Forschungsabteilung an. Dort waren Chemiker, Physiker und Ingenieure beschäftigt. Und es gab eine Elektronik-Gruppe. Denn bei den konventionellen Kameras ging man mehr und mehr dazu über, etwa beim Auslöser oder bei der Blende mit elektronischen Bauteilen zu arbeiten. Also brauchten sie mehr Ingenieure. Mein Chef war damals Gareth Lloyd, und der sagte mir, dass wir den CCD-Chip (Charged-coupled Device) für Kameras verbessern wollten. Fairchild hatte gerade diesen lichtempfindlichen Chip mit sage und schreibe 10.000 Pixel zur Serienreife gebracht. Wir sprachen etwa eine Minute über das Projekt.
Innovation erleben statt erleiden
SZ Wissen: Das war der Ausgangspunkt für die Digitalkamera? Sasson: Ja, es war eine sehr vage definierte Aufgabe. SZ Wissen: Unternehmen wie Kodak leben von Innovation. War diese neue Kamera Ihre Idee, oder wollte Kodak sie haben? Sasson: Es war schon meine Idee. Ich wollte diese neue Art Kamera bauen - ich sagte Ihnen ja, dass ich schon immer gern Sachen zusammengebastelt habe. Hier musste ich mir zuerst eine Linse beschaffen. Dann überlegte ich: Wäre es nicht toll, wenn man ein Bild digital festhalten könnte? Ich wusste nämlich nicht, wie man ein mechanisches Aufzeichnungsgerät bauen sollte. Also kam ich auf den Gedanken, eine Kamera ohne einen einzigen beweglichen Bestandteil zu bauen. SZ Wissen: Reine Elektronik? Sasson: Ja. Ich hatte allerdings zunächst überhaupt keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Für den digitalen Prozess entschied ich mich, weil ich mich damit ein wenig auskannte. Es sollte eine digitale Aufnahme werden, die man anschließend auf dem Bildschirm anschauen konnte - ohne Film, ohne Entwicklung, ohne Drucker. Ich habe mehrfach mit Gareth darüber gesprochen, der fand es interessant und sagte nur: „Probier's einfach!“ Damit hatte ich alle Freiheit, die ich brauchte, vielleicht sogar zu viel. Ich hatte Glück mit meiner Umgebung und noch mehr Glück, weil sich niemand um mich kümmerte. Mein Labor befand sich irgendwo weit hinten auf dem Betriebsgelände, und niemand interessierte sich dafür. Niemand stellte Fragen, was mir nur recht war, weil ich so viel vermurkste. Ich dachte also nach, baute es aus Teilen zusammen, mit Technikern, die mir halfen, und kam auf die ausgesprochen sinnvolle Anordnung, die Sie da sehen. Mit dem Bau des ersten Prototyps, der hier im Zentrum des Interviews stand, war es natürlich noch lange nicht getan. Erst eine jahrelange Phase der kontinuierlichen Weiterentwicklung brachte dieser neuen Technologie den Durchbruch bzw. die Marktreife.
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Kapitel 1
CHECKLIST
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Die 7 wesentlichen Merkmale zu Innovationsguerilla im Überblick: 1. Innovation benötigt „künstlerische Freiheiten“ bzw. einen gewissen Grad an Unabhängigkeit im Unternehmen. 2. Innovation nimmt ihren Ausgangspunkt beim Individuum. 3. Innovation ist mehr als das Bewältigen eines Auftrages und daher immer eine vage Aufgabe. 4. Innovation ist auch eine Geschichte der Irrtümer und des Scheiterns und benötigt als Nährboden oft sogar ein chaotisches Umfeld. 5. Die Risiken werden überschaubar, wenn wir in der Lage sind, möglichst mit bestehenden Ressourcen auszukommen und innerhalb einer schlanken Organisationstruktur zu operieren. 6. Dafür dürfen wir den Fundus des Wissens, das wir anzapfen, keinesfalls einengen. Sympathie gegenüber den Kollegen und Interesse an deren Aufgaben eröffnen neue Perspektiven. 7. „Probier's einfach!“