Leseprobe zum Buch »Die großen Epidemien«

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Letizia Gabaglio 170mm

DIE GR0SSEN

EPIDEMIEN Geschichte – Gegenmittel – Impfstoffe Illustrationen von Maddalena Carrai

MIDAS


1. Auflage 2021 ISBN 978-3-03876-541-7 © 2021 Midas Sachbuch Übersetzung: Dr. Friederike Römhild Lektorat: Claudia Koch Layout: Ulrich Borstelmann Projektleitung: Gregory C. Zäch Text: Letizia Gabaglio Illustrationen: Maddalena Carrai Die Originalausgabe ist unter dem Titel »Epidemie, Vaccini e Novax« bei Centauria, Milano erschienen. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in Seminarunterlagen und elektronischen Systemen. Midas Verlag AG, Dunantstrasse 3, CH 8044 Zürich kontakt@midas.ch, www.midas.ch, socialmedia: follow »midasverlag«


Letizia Gabaglio

DIE GROSSEN

EPIDEMIEN Geschichte – Gegenmittel – Impfstoffe Illustrationen von Maddalena Carrai

MIDAS


INHALT Einführung

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Kapitel 1 Ein sehr spezielles soziales Netzwerk

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Kapitel 2 Die Geschichte der Pest, erzählt von einem Zahn

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Kapitel 3 Manzoni und Social Distancing

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Kapitel 4 Die Weiße Pest macht Angst

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Kapitel 5 Die Geburt der Impfung, zwischen Impfstoff und Aktivismus

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Kapitel 6 Zu viel Hygiene und das Virus wird zur Gefahr

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Kapitel 7 1918, der Feind ist die Grippe

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Kapitel 8 Neapel und die Cholera

57

Kapitel 9 Die Epidemie hat ihr Gesicht verändert

63

Kapitel 10 Was im Wald geschieht

69


Kapitel 11 Schuld sind die Fledermäuse

75

Kapitel 12 Wenn das Virus eine Corona hat

81

Kapitel 13 Ein Platz unter dem Schirm

87

Kapitel 14 Der Erfolg von Impfstoffen ist ihr Untergang

93

Kapitel 15 Ist der Impfstoff ein Medikament?

99

Kapitel 16 Das Megaphon der Impfgegner

105

Kapitel 17 Das Virus, das uns überrascht: SARS-CoV-2

111

Kapitel 18 Der zukünftige Impfstoff

117

Glossar

122

Literatur

126

Dank

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EINFÜHRUNG

Das Jahr 2020 war für uns alle eine Zäsur: Wir werden es nicht so schnell vergessen, und wir werden unseren Kindern und all jenen davon erzählen, die noch geboren werden. Wir mussten unsere Gewohnheiten ändern, selbstverständliche Aktivitäten aufgeben, wir hatten Angst, fühlten uns einsam und trauerten um Millionen von Menschen überall auf der Welt. Kaum jemand hatte damit gerechnet, ein solches Jahr zu erleben. Seit mehr als 50 Jahren haben wir hier in Europa keine Erfahrungen mehr mit derart verheerenden Krankheiten gemacht, mit Ausnahme einiger Epidemien, die sich relativ kurz und räumlich begrenzt ereigneten wie zum Beispiel das SARS-Virus oder Ebola. Doch zu Beginn des Jahres 2020, als die Ankunft des neuen Coronavirus die Menschheit in die Knie zwang, staunten wir: »Wie konnte das passieren?« Durch die Erfolge in Wissenschaft und Medizin wissen wir immer mehr über Keime, und wir konnten Impfstoffe entwickeln, die uns vor pathogenen Mikroorganismen schützen. Vor 2020 waren wir ein wenig wie verwöhnte Kinder, sich ihres Glückes nicht bewusst, in einer Zeit zu leben, in der die Wissenschaft Instrumente bereitstellt, die uns nicht erkranken lassen oder uns heilen können. Ein solches Glück hatten unsere Großeltern nicht: Sie wurden in den 1950er-Jahren von Polio, 1918 von der Spanischen Grippe herausgefordert, ebenso wie man im 19. Jahrhundert gegen Tuberkulose oder im 18. Jahrhundert gegen Pocken ankämpfte.

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Ganz zu schweigen von unseren Vorfahren, als im Mittelalter die Pest von Ost nach West wütete, zyklisch wiederkehrend mit einer Vielzahl von Toten. Bereits die Römer und Griechen der Antike mussten mit großen Plagen fertig werden, gegen die sie keine wirksamen Mittel besaßen. Epidemien gab es schon immer. Viren und Bakterien koexistieren mit den Menschen seit Anbeginn der Zeit und führen immer wieder zu Katastrophen. In diesem Buch finden Sie daher die Geschichte einiger der wichtigsten Epidemien von der griechischen Antike bis heute. Die einzelnen Kapitel zeigen, wie es die Wissenschaft ermöglicht hat, diesen Infektionen entgegenzutreten, ihre Ursprünge zu verstehen, wirksame Arzneimittel und Impfstoffe zu entwickeln, die uns schützen können. Die ist kein Buch über Medizin, zumindest nicht nur. Dieses Buch erzählt von der Geschichte und von sozialen Verhaltensweisen, davon, wie Epidemien Gesellschaften geprägt haben, davon, wie die Menschen von den vergangenen Erfahrungen gelernt haben oder hätten gelernt haben müssen. Die Wissenschaft allein reicht nicht; Impfungen sind notwendig, aber nicht ausreichend. Um das Grassieren dieser spezifischen Infektionen zu verlangsamen, ist ein angemessenes Verhalten unabdingbar, einerseits, um das Risiko abzusenken, mit einem Erreger in Kontakt zu kommen, und andererseits, um die verfügbaren Abwehrmechanismen maximal zu stärken.

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E I N FÜ H RU N G

Genau hierzu waren wir Anfang März 2020 aufgerufen, als es noch keinen Impfstoff oder ein Arzneimittel gab. Wir waren gefordert, Abstandsregeln sowie Regeln zur Hygiene und Sicherheit zu respektieren und einzuhalten. Regeln, die bereits einige Jahrhunderte zuvor erfunden wurden, als die Wissenschaft zum Beispiel noch keine Mittel gegen die Pest gefunden hatte. In den nächsten Jahren müssen wir versuchen, den globalen Kurs der Entwaldung und wilden Urbanisierung umzukehren: Die zu größten Verwüstungen fähigen Krankheitserreger sind jene, die von Tieren stammen und die von einer Art auf die andere »springen«, wie SARSCoV-2. In den letzten Jahrzehnten wurden mehrere solcher Erreger ausgemacht, am häufigsten dort, wo ein wildes Milieu zerstört wurde, um Platz für menschliche Aktivitäten zu schaffen. Die Epidemien, heute wissen wir das sicher, sind keine göttlichen Geißeln oder Zufälle, sondern die Konsequenzen unseres Handelns.

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»ES GIBT EINE KORRELATION ZWISCHEN DIESEN KRANKHEITEN, DIE EINE NACH DER ANDEREN AUFTAUCHEN, UND ES HANDELT SICH NICHT UM BLOSSE UNFÄLLE, SONDERN UM NICHT GEWOLLTE FOLGEN UNSERES TUNS.«

DAVID QUAMMEN, SPILLOVER: DER TIERISCHE URSPRUNG WELTWEITER SEUCHEN


»WIE ALLE PANDEMIEN IST COVID-19 KEIN UNVORHERSEHBARES ODER ZUFÄLLIGES EREIGNIS. DIE EPIDEMIEN PLAGEN GESELLSCHAFTEN, INDEM SIE IHRE VERLETZBARKEIT AUSNUTZEN, DIE DURCH DIE BEZIEHUNGEN DER MENSCHEN ZU IHRER UMGEBUNG UND ZU ANDEREN ARTEN ENTSTEHT.« FRANK M. SNOWDEN, SEUCHEN UND GESELLSCHAFT



KAPITEL 1

EIN SEHR SPEZIELLES

SOZIALES

NETZWERK


DAS VIRUS IN IHREM NETZWERK Viren sind sozial, genau wie Menschen. Aber im Unterschied zu uns können sie nicht unabhängig überleben, sie benötigen einen Wirt, eine Zelle. Ihr Wirt muss gesund und gut vernetzt sein, damit sich das Virus am besten vermehren und maximal verbreiten kann. Der Wissenschaft ist der soziale Geist von Viren seit langer Zeit bestens bekannt. Alle anderen – die breite Bevölkerung – haben ihn in den letzten Monaten gegen ihren Willen kennengelernt. Zwischen Ende 2019 und Anfang 2020 hat ein bis dato unbekanntes Virus einen Weg gefunden, es sich im menschlichen Körper bequem zu machen, und ihn zu seinem Transportmittel in die Gemeinschaft verwandelt, um mit anderen in Kontakt treten und über den ganzen Globus reisen zu können. Kurzum, das Ansteckungsnetz, über das sich ein Virus

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ausbreitet, vor allem, wenn es sich über die Luft verbreitet, ist in jeder Hinsicht ein schnell wachsendes soziales Netzwerk, dem immer mehr Nutzer beitreten, ein Facebook, bei dem jede Freundschaftsanfrage der Weitergabe eines Virus entspricht. Warum also nicht die Wissenschaft nutzen, mit der man soziale Netzwerke untersucht, um die Verbreitung einer Epidemie nachzuverfolgen? Und warum nicht mit sehr verbreiteten virtuellen Instrumenten arbeiten, auch wenn sie für etwas anderes entwickelt wurden? Genau das leistet die digitale Epidemiologie, eine noch junge Forschung, die erst vor weniger als einem Jahrzehnt geboren wurde. Sie untersucht die digitalen Spuren, die Menschen auf Webplattformen aller Art beim Interagieren hinterlassen – in sozialen Netzwerken oder Suchmaschinen –, um zu verstehen, wie sich eine Krankheit ausbreitet. Eines der ersten Beispiele dieser neuartigen Sichtweise auf digital generierte Daten war Google Flu Trend: 2009 analysierte Mountain View, ein gigantischer Provider von Fonds- und Finanzdaten, Wörter im Zusammenhang mit Grippesymptomen aus seiner Suchmaschine. Er versuchte so herauszufinden, wo die saisonale Grippe am heftigsten verlaufen wird. Und es hat funktioniert: Die Kurve der bei Google gesuchten Wörter lag zwei bis drei Wochen vor der Kurve der von den Gesundheitsbehörden registrierten Influenza-Fälle. »Die Grippe ist der Typus Störung, der sich am besten für diese Art der informellen Kontrolle eignet«, erklärt Daniela Paolotti, Forscherin am Institute for Scientific Interchange (ISI Foundation) in Turin und Expertin für digitale Epidemiologie. »Die Symptome sind für gewöhnlich ziemlich mild und es wird nicht auf den behandelnden Arzt zurückgegriffen. Wiederum verlassen wir uns gern auf

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das Internet, um Heilmittel zu finden.« So hinterlassen wir Spuren, die gesammelt und analysiert werden können. Die Forscher aus Turin sowie viele andere aus der ganzen Welt haben sich entschieden, einen Schritt weiterzugehen und um die Teilnahme aktiver Nutzer zu bitten. So ist weitere 13 Jahre später Influweb (www.influweb.it) entstanden, das einzige bekannte Überwachungssystem des Istituto Superiore di Sanità (ISS) in Italien. Damit können Symptome von Erkrankten untersucht werden, die sich nicht an das Gesundheitssystem wenden. Wie funktioniert das? Jede Woche füllen Tausende von Freiwilligen einen Fragebogen aus, in dem sie angeben, ob es ihnen gut geht oder ob sie grippeähnliche Symptome haben. So kann das System eine Landkarte zur Verbreitung der Grippe aufzeichnen. Das italienische System ist in ein größeres europäisches Projekt eingebettet, an das die Plattformen vieler Länder angebunden sind. Besonders in den letzten Monaten der SARS-CoV-2-Pandemie ist die Nachverfolgung eines Virus über das Internet wieder hochaktuell geworden. Es geht weniger um die Identifizierung des Virus als darum, das soziale Verhalten und die Stimmungen der Bürger angesichts der in der Notlage auferlegten Regeln zu erfassen. »Im Falle von Covid-19 ist die informelle Überwachung der Infektion weniger relevant, weil alle Symptome sofort an die Gesundheitsbehörde gemeldet werden, aber das Internet kann genutzt werden, um soziale Verhaltensweisen nachzuverfolgen, von denen die Verbreitung des Virus in besonderer Weise abhängt«, erklärt Paolotti weiter. Was denken die Bürger über die Abstandsregeln, den Gebrauch der Masken, über die Hygiene? »Durch die Überwachung sozialer Medien und die Verwaltung digitaler Fragebögen können Informationen, die Behörden nur schwer erfassen können, und zahlreiche Indizien gewonnen werden, wie sich die Infektion ausbreiten wird«, schlussfolgert Paolotti. 18


E I N S E H R S PE ZI E LLES SOZI A LES N E TZ W E RK

INFODEMIE, EPIDEMIE DER INFORMATIONEN Ein Sturm, vor dem man sich nicht schützen kann. Es gibt zu viele Informationen über die Pandemie SARS-CoV-2, die nicht zuletzt durch die Feingliedrigkeit des Internets unsere Aufmerksamkeit erlangt haben. Die Informationsflut ist so stark, dass von einer Epidemie der Informationen, eine Infodemie, die Rede ist. Warum sollte uns das kümmern? Weil in einer Situation wie wir sie Ende 2020 erlebt haben, in der es noch keinen Impfstoff oder ein wirksames Heilmittel gibt, die wirksamsten Abwehrmechanismen Verhaltensmaßnahmen sind. Diese werden nur respektiert, wenn sie angemessen kommuniziert werden. Die Flut falscher oder kunstvoll erfundener abschreckender Nachrichten oder ungenaue Informationen haben dazu geführt, dass die Infodemie sehr ernst genommen wurde. Expertenkommissionen haben sich gebildet, verschiedene wissenschaftliche Gesellschaften haben ihre Stimmen erhoben und Leitfäden sowie Papiere zur Aufklärung verbreitet. Dass dies ein Problem ist, zeigt auch die Untersuchung von Niccolò Gozzi von der Universität Greenwich in London. Sie erschien im »Journal of Medical Internet Research« und erforscht die Nutzung von Reddit, einer Plattform für soziale Nachrichten. Des Weiteren geben Forschungen von Wikipedia Italien, Großbritannien, USA und Kanada Aufschluss. Die Aufmerksamkeit im Netz wächst zunehmend mit dem Eintreffen von Nachrichten über den Ausbruch der Epidemie, bis die Informationen zwar weiter zirkulieren, die Nutzer sie aber nicht mehr suchen. Es gibt folglich zwei Lücken im System, in denen sich Ammenmärchen einnisten können: zu Beginn, wenn die Informationslage unsicher ist und die Nachrichten erst in Gang kommen, und wenn eine Sättigung erreicht ist und die Risikowahrnehmung sowie die Aufmerksamkeit gegenüber den Verhaltensweisen deshalb nachgelassen haben.

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KAPITEL 2

DIE GESCHICHTE DER

PEST,

ERZÄHLT VON EINEM ZAHN


DIE JAGD NACH DEM TÄTER Die Ausbreitung von Epidemien ist eine Konstante in der Geschichte der Menschheit. Als erstes Zeugnis, das als »wissenschaftlich« betrachtet werden kann, beschreibt Thukydides in Der Peleponnesische Krieg die Ausbreitung der Pest in Athen, als die Stadt gegen Sparta kämpfte. Thukydides lebte im 5. Jahrhundert vor Christus in der Epoche des Hippokrates, der als der Vater der Medizin betrachtet wird, weil er für Krankheiten ausschließlich natürliche Ursachen verantwortlich machte. Auch die Pest in Athen ist ohne Rückgriff auf Gottheiten von Thukydides beschrieben worden. Seine Schriften sind bis heute Untersuchungsgegenstand nicht nur für Medizinhistoriker, sondern auch für Epidemiologen und Mikrobiologen. Wie Ermittler begaben sie sich auf die Spur eines Mikroorganismus, der

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den Tod von mindestens 75.000 Menschen verursachte, die Bevölkerung von Athen um 25% reduzierte und so in die Knie zwang. Thukydides berichtet sehr detailliert von Symptomen wie Husten, hohem Fieber, Erbrechen, Krämpfen, Geschwüren und Hautausschlägen. Seine erklärte Absicht war, anderen zu ermöglichen, die Krankheit zu erkennen, falls sie jemals zurückkehren sollte –, Zeichen, die uns jedoch noch nichts über den Übeltäter, den für die Infektion verantwortlichen Mikroorganismus, sagen können. Es hat Jahrtausende gedauert, aber heute stehen der Wissenschaft die Instrumente zur Verfügung, um das Rätsel zu lösen, jenes aus Athen aus dem Jahre 430 v. Chr. so wie jenes, das man den »Schwarzen Tod« des Mittelalters nannte. Dank der Mikrobiologie und der Genetik können wir die DNA aus den Überresten der Menschen aus jenen fernen Zeiten extrahieren und wie in einer Folge von CSI oder Bones den Täter ausfindig machen. Im Besonderen ist es der Zahnnerv, das Mark des Zahns der Skelette und Mumien, über das so viele nützliche Informationen gewonnen werden können. Wie Zahnärzte zogen die forensischen Mikrobiologen die Zähne, analysierten sie und fanden darin Spuren von Yersinia pestis, dem Bakterium, das die Pest verursacht. In Wirklichkeit sind die Dinge nicht ganz so einfach, zumindest für die Epidemie, von der Thukydides erzählt: Einige Analysen haben die DNA des Pestbakteriums markiert, während andere das Augenmerk auf das typhuserregende Bakterium, nämlich Salmonella enterica, gelegt haben. Weniger umstritten ist die Zuschreibung der sogenannten »Justinianischen Pest«, benannt nach dem byzantinischen Kaiser Justinian I., die ausgehend vom Nildelta Asien und

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Europa von 541 n. Chr. bis 750 n. Chr. erreichte und zwischen 20 und 50 Millio­nen Menschen tötete. Das Studium ihrer Verbreitung nimmt einige wichtige Konzepte in den Blick: Der Höhepunkt der Ansteckung wird meist zu Beginn registriert, wenn die Infektion eine begrenzte Anzahl an Personen betrifft. Wenn sich immer mehr Menschen anstecken und die Infektion ein immer größeres geografisches Gebiet umfasst, spricht man von einer Epidemie. Wenn sich die Epidemien wiederholen und verschiedene Regionen auf der ganzen Welt betreffen, handelt es sich um eine Pandemie. Jene Justinianische Pest wird von den Historikern als die erste Beulenpest-Pandemie betrachtet, verursacht von Yersinia pestis. Auch bei der Schwarzen Pest sind wir uns heute sicher, wer der Verursacher ist. Das Bakterium wurde tatsächlich in verschiedenen menschlichen Überresten überall auf der Welt nachgewiesen, was beweist, dass es sich auch dort um diese Infektion handelte, wo Ratten – die Überträger durch Flöhe – nicht weit verbreitet waren und Millionen Menschen zwischen 1330 und 1830 starben. Die Wissenschaftler haben so erkennen können, dass es von der Pest mindestens drei verschiedene Arten gibt, abhängig davon, wie Yersinia pestis in den Organismus eindringt und ihn besiedelt. In Nordeuropa zum Beispiel, wo Ratten weniger verbreitet und Flöhe weniger aktiv waren, muss die Übertragung über die Luft und von Mensch zu Mensch stattgefunden haben. Die dritte und letzte Pestpandemie war diejenige, die zwischen 1855 und 1925 vor allem Asien heimsuchte und in Europa um 1899 in Neapel, Porto und Glasgow ausbrach. Zwischen 2010 und 2015 hat die WHO weitere 3.200 Fälle der Pest registriert, die meisten in Afrika, Asien und Südamerika, obgleich in den letzten Jahren auch die Fälle in den USA angestiegen sind. 24


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… WIE DIE PEST! In vielerlei Hinsicht stellt die Pest die schlimmste Katastrophe dar, die man sich vorstellen kann, ein Maßstab für die Bewertung der Bedeutung einer Epidemie. Der Name stammt vom Lateinischen pestis, das »Zerstörung, Verderb« bedeutet, ein Begriff, mit dem im Mittelalter Epidemien angezeigt wurden, ohne wissenschaftliche Kenntnisse über die Auslöser zu haben. Und auch heute noch ist Pest ein Synonym für Epidemie. Die Verwendung dieses Begriffs in der Alltagssprache bestätigt, dass Menschen seit Jahrtausenden mit Epidemien koexistieren. Etwas »wie die Pest hassen« ist eine Redensart, die Vorstellung von Abscheu und Angst aufgrund des Einhergangs mit hoher Sterblichkeit transportiert. Wir bestimmen einen Gestank als »pestartig«, nicht nur um seine Unerträglichkeit auszudrücken, sondern auch seine Schädlichkeit für die Gesundheit.

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KAPITEL 3

MANZONI UND SOCIAL

DISTANCING


ANTIKE REGELN FÜR MODERNE PROBLEME Eine lange Prozession durch ganz Mailand: die sterblichen Überreste von San Carlo Borromeo, ihnen voraus und nachfolgend gehen Hunderte von Menschen, unter ihnen Beamte, Adelige, Prälaten und gewöhnliche Leute. Alessandro Manzoni beschreibt diese Szene in seinem Roman Die Verlobten und bezieht sich auf die Ereignisse vom 11. Juni 1630, als Mailand gegen eine der schlimmsten Wellen der Schwarzen Pest ankämpfte. Die Organisatoren beabsichtigten, mit der Prozession die Pest abzuwehren, aber in Wirklichkeit provozierten sie eine noch größere Ausbreitung. Eine Frage des Social Distancing, der sozialen Distanzierung, würden wir heute sagen. Doch schon damals gab es in Mailand ein Gesundheitstribunal, eine Art Behörde, die eigens eingerichtet wurde, um die Verhaltensregeln zu

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kontrollieren, mit denen versucht werden sollte, die Epidemie einzudämmen. Und tatsächlich waren in dem von Manzoni beschriebenen Fall die Behörden anfangs dagegen. Sie gaben dann aber doch dem Volkswillen nach, in der Religion einen Ausweg aus der Tragödie zu finden, deren Ursachen sie nicht kannten. Dass es gefährlich ist, mit Erkrankten in Kontakt zu stehen, war schon zu jener Zeit bekannt. Deshalb wurden Lazarette eröffnet, wo die Infizierten bleiben mussten, bis sie wieder – leider selten – gesund waren. Dank eines Stocks, den die Ärzte immer bei sich trugen und den sie gebrauchten, wenn sie die Erkrankten besuchten, wurden diese auf Distanz behandelt. Das Social Distancing haben wir also nicht erst 2020 im Zusammenhang mit dem Corona-Virus erfunden. Ebenso die Notwendigkeit, eine Maske zu tragen. Auch wenn man nicht richtig verstand, wie die Krankheit von einem Menschen auf den anderen überging, schlug die Theorie der Miasmen (»Pesthauttheorie«) vor, dass die Ansteckung durch die Verbreitung von giftigen Partikeln in der Luft erfolgte, die von Miasmen stammten, die durch stehendes Wasser, Exkremente und verwesendes Material, wie die Körper von Pestopfern, erzeugt wurden. Darum trugen die Ärzte, die mit den Infizierten zu tun hatten, die charakteristische Maske mit einer Hakennase, in die sie stark riechende Kräuter (Knoblauch, Rosmarin) einlegten, um die von den Pestkranken aufsteigenden Gifte abschirmen zu können. Es ist außerdem Gesundheitsrichtern zu verdanken, dass das Konzept der Quarantäne entstand: Obwohl ein Dokument aus dem Jahr 1377 die erste Form der sanitären Isolierung bezeugt, die für Schiffe, die im Hafen von Ragusa, dem heutigen Dubrovnik in Kroatien, ankamen, obligatorisch war, war es der venezianische Senat,

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der 1468 diese Zeit der »Prävention« auf 40 Tage verlängerte. Die ankommenden Schiffe und ihre Besatzung mussten im Neuen Lazarett bleiben, eine Felsinsel auf offenem Meer in der Lagune. Während der Quarantäne wurden die Schiffe ausgeräuchert und gelüftet und die Seemänner unter Beobachtung gestellt. Die Zahl 40 bezieht sich auf die christliche Tradition – auf die 40 Tage und 40 Nächte der Sintflut in der Genesis, auf die 40 Jahre, die das Volk Israel in der Wüste verbrachte, bevor es im Land Kanaan ankam, auf die Tage, an denen Jesus den Versuchungen des Satans widerstehen musste – und hat nichts mit der Wissenschaft zu tun. Glücklicherweise erwies sich das als eine wirksame Maßnahme, denn 40 Tage waren genug Zeit, dass sich bei den Infizierten Symptome entwickelten und um die Flöhe zu beseitigen, die mit ihren Bissen die Krankheit auf die Menschen übertrugen. Auch einschränkende Maßnahmen wie der Lockdown entstanden vor einigen Jahrhunderten, um die Schäden durch die Pest einzugrenzen. Immer in Mailand, aber dieses Mal bei der ersten Welle der Schwarzen Pest, schloss 1399 der Herzog Gian Galeazzo Visconti die Stadttore für Handelsware und Menschen und rettete so Tausende von Leben. Zur gleichen Zeit sperrte Kasimir III. drastisch die Grenzen seines Landes Polen, das eigentlich zu den am wenigsten von den tödlichen Bakterien geplagten Nationen gehörte. Selbst während der Spanischen Grippe, der Influenza-Pandemie, die die ganze Welt heimsuchte und zwischen 1918 und 1920 zig Millionen Tote forderte, gab es Städte, die die Bewegungsfreiheit der Bürger stark einschränkten, wie ­Seattle, oder wie Philadelphia, die die Pandemie laufen ließen. Forscher verglichen die Ansteckungskurven beider Städte und ermittelten so schwarz auf weiß die Effizienz der Maßnahmen zur Eindämmung: In Seattle wurde die Sterblichkeit stark reduziert. 30


M A NZO N I U N D SOC I A L D IS TA N C I N G

DIE GUTE SEITE DER EPIDEMIE: DIE GEBURT DES GESUNDHEITSSYSTEMS Vor dem Schwarzen Tod war die Vorstellung, dass die Gesundheit des Einzelnen auch von der Gesundheit seiner Mitmenschen abhängt, nicht weit verbreitet. Auch die Idee, dass die Sorge um die Gesundheit der Gemeinschaft nicht nur eine Geste des Mitleids ist, sondern eine konkrete Handlung, um die Wahrscheinlichkeit des Sterbens zu verringern. Medizinhistoriker sehen daher die Geburt des Konzepts einer öffentlichen Gesundheit, also eines Gesundheitssystems für die Gemeinschaft, in dem Gesetzes- und Besteuerungsrahmen, den die ärztlichen Richter als unmittelbare Antwort auf die Schwarze Pest zu schreiben begannen; in diesen Zeiten wurde ihnen die Macht der Legislative, Judikative und Exekutive zugestanden, die bis dahin den Herrschern vorbehalten gewesen war. Vorschriften auf der einen Seite, Behandlung auf der anderen: Auf diesen beiden Säulen begann sich das Konzept der öffentlichen Gesundheit zu organisieren. Zunächst waren es die religiösen Bruderschaften, die sich um die Bedürftigen kümmerten, die älteste ist die Bruderschaft der Barmherzigkeit in Florenz, die während der Pest, die 1348 die Toskana heimsuchte, an vorderster Front versuchte, den Pestopfern Trost zu spenden. Die Lazarette, der Begriff Hospital existierte noch nicht, waren also vor allem Orte der Nächstenliebe, an denen in den Jahrhunderten, in denen die Yersinia pestis Europa geißelte, mit allen verfügbaren – wenn auch begrenzten – medizinischen Kenntnissen versucht wurde, die Leiden der Kranken zu lindern.

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KAPITEL 4

DIE WEISSE

PEST

MACHT ANGST


WIR DÜRFEN NICHT NACHL ASSEN

Die Tuberkulose ist eine der ältesten Krankheiten, die die Menschheit erfasst haben: Einige Funde lassen darauf schließen, dass sie sogar schon im Neolithikum – 10.000 v. Chr. bis 5000 v. Chr. – verbreitet war. Sicher nachgewiesen ist sie zur Zeit des antiken Ägypten. Aber erst im 18. Jahrhundert wurde die Tuberkulose zur Epidemie, zumindest im Abendland. Die Industrielle Revolution veränderte das städtische Gefüge: Es entstanden Schlafstadtviertel, Trabantenstädte, in denen die Arbeiter zusammengepfercht wurden, eine ideale Umgebung für die Verbreitung von Atemwegsinfektionen. Auf ihrem Höhepunkt hatte die Tuberkulose 90% der Bevölkerung der europäischen Länder erfasst, wo der Einfluss der Industrialisie-

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rung am größten war: in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Eine Katastrophe solchen Ausmaßes verdiente den Namen Weiße Pest, in Erinnerung an jene Schwarze, die von 1330 bis 1830 in mehreren Wellen die ganze Welt überrollt hatte. Eine Geißel, die im 19. Jahrhundert von zahlreichen Schriftstellern als »romantische Krankheit« beschrieben wurde, die die sensiblen Seelen befiel und die die Reinheit des Geistes der Erkrankten darstellte, vor allem weil es unter den Aristokraten dieser Zeit modern wurde, das Gesicht zu bleichen, um einem Tuberkulosekranken ähnlich zu sehen. 1882 entdeckte Robert Koch den Erreger dieser Krankheit – das Mycobacterium tubercolosis –, das sie weniger romantisch und stattdessen sehr greifbar machte Seine Entdeckung löste keine große Begeisterung aus, zumal sie nicht zur Entwicklung einer effizienten Lösung zu führen schien. Erst mit der Entdeckung der Antibiotika nach dem Zweiten Weltkrieg rächte sich Koch, und die Welt wurde aus den Fängen der ­Tuberkulose befreit, vor allem durch Streptomycin, das 1943 an der Rutgers University von Selman Waksmann entdeckt wurde, der dafür 1952 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Vorher noch hatte die Identifikation des Bakteriums zur Entwicklung des Impfstoffs auf der Basis von Bacillus Calmette-Guérin (BCG) geführt, ein Derivat aus dem Mikroorganismus der Rindertuberkulose, die der ähnlich ist, die den Menschen befällt. Der Impfstoff wurde 1921 das erste Mal einem Menschen verabreicht. Flächendeckend wurde er allerdings nur von 1945 bis 1948 eingesetzt, als die International Tuberculosis Campaign – die erste große internationale Allianz zur Immunisierung – zahlreiche Impfkampagnen in Europa organisierte. Die Kom-

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bination von Impfstoff und Antibiotika begeisterte nach dem Zweiten Weltkrieg die Regierungen und Gesundheitsbehörden sehr, die davon überzeugt waren, die Krankheit nun besiegen zu können. Neben Streptomycin entstanden weitere, immer wirksamere Antibiotika: In den USA, zum Beispiel, sanken die Fälle pro Jahr von 80.000 im Jahr 1954 auf 20.000 im Jahr 1985. Doch in den 1980er-Jahren begannen die Waffen abzustumpfen und die Ansteckungsrate stieg erneut soweit an, dass wir bis heute nicht behaupten können, vom Schreckgespenst der Weißen Pest befreit zu sein. Was war passiert? Es gibt zwei Hauptgründe. In diesen Jahren tauchte eine weitere Epidemie auf, HIV/Aids, die eng mit der Tuberkulose verbunden ist, da Menschen, die von ersterer betroffen sind, aufgrund ihres geschwächten Immunsystems ein höheres ­Risiko haben, an letzterer zu erkranken. Darüber hinaus begann sich das Phänomen der »Antibiotikaresistenz« abzuzeichnen: Unter dem selektiven Druck der Evolution schaffte es das Mycobacterium tubercolosis, eine Resistenz gegen die Medikamente zu entwickeln, die es eigentlich beseitigen sollten. Das Ergebnis: Die Antibiotika wirkten immer weniger, bis sich ihre abtötende Wirkung gegenüber dem Bakterium ganz erschöpfte. Auch heute noch gehört Tuberkulose zu den zehn häufigsten Todesursachen weltweit: 2017 wurden 10 Millionen Neuerkrankungen und 1,6 Millionen Todesfälle verzeichnet. Seit den 1950er-Jahren hat sich in Italien die Zahl der Infizierten kontinuierlich verringert, dennoch verzeichnet man noch immer jährlich 4.000 neue Tuberkulosefälle.

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SUPERRESISTENTE BAKTERIEN Die Weltgesundheitsorganisation wiederholt es seit einiger Zeit: Wenn wir unsere Gewohnheiten nicht ändern, wird 2050 die häufigste Todesursache sein, dass Bakterien auf Antibiotika nicht mehr reagieren. Mit anderen Worten, die meisten Todesfälle treten aufgrund von Infektionen auf, gegen die Antibiotika nicht mehr wirken werden. Wenn die Arzneimittel nicht mehr helfen, die die Geschichte der Medizin verändert haben – nehmen wir nur den Erfolg von Penicillin –, werden die Menschen gegenüber Infektionen »nackt« und ungeschützt bleiben. Was können wir also tun? Die internationalen Gesundheitsorganisationen sind an verschiedenen Fronten tätig. Erstens informieren sie über den richtigen Gebrauch von Antibiotika und klären auf. Gerade der Missbrauch dieser Medikamente in den letzten Jahrzehnten hat die Selektion resistenter Stämme ermöglicht: Diese Medikamente sollten nur im Falle einer bakteriellen Infektion und auf selektive Weise eingesetzt werden, indem das wirksamste Medikament gegen den spezifischen Mikroorganismus, der die Krankheit verursacht, gewählt wird. Hat der Arzt es erst einmal verschrieben, muss es für die gesamte Dauer der Behandlung eingenommen werden. Die Verwendung muss auch bei Nutztieren begrenzt werden, weil wir die gleiche Umgebung teilen: Die resistenten Bakterien schaden uns allen. Schließlich muss die Forschung gestärkt werden: Nach den ersten sehr wirksamen Molekülen wurden keine ebenso wirksamen mehr entwickelt, und die Ärzte haben jetzt kaum noch Behandlungsmöglichkeiten. Deshalb wurden internationale Förderprogramme aufgelegt, um neue Wirkstoffe zu finden, die selbst superresistente Bakterien angreifen und besiegen können.

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KAPITEL 5

DIE GEBURT DER

IMPFUNG, ZWISCHEN IMPFSTOFF UND

AKTIVISMUS


ES FUNKTIONIERT! Der letzte Fall der Pocken wurde 1977 in Somalia diagnostiziert. Drei Jahre später verkündete die Weltgesundheitsorganisation offiziell den Sieg über diese Krankheit: die erste und bis heute einzige, die wir auf unserem Planeten ausrotten konnten. Zuvor hatten die Pocken die Menschheit schon seit der Zeit des Pharaos Ramses V. geplagt und allein im 20. Jahrhundert zwischen 300 und 500 Millionen Menschen getötet. Über Jahrhunderte wurden die Pocken vor allem bei Kindern als »normal« betrachtet: Man konnte nicht viel dagegen machen, außer auf einem milden Verlauf ohne Entstellungen und neurologische Folgen zu hoffen. Betrachtet man die Verbreitung der Pocken innerhalb der Gesellschaft, versteht man einige Konzepte der Epidemiologie besser. Jemand, der die Pockenkrankheit überlebt, erkrankt kein zweites Mal an ihr und entwickelt folglich Immunität.

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D I E G E BU RT D E R IMPFU N G, Z W ISC H E N IMPFS TO FF U N D A K T I V ISMUS

Dieser Schutz verbreitet sich innerhalb einer Gemeinschaft, bis es der gesamten Gruppe möglich ist, gegen die Infektion standzuhalten und sie das ausbildet, was man heute »Herdenimmunität« oder besser »Immunität der Gemeinschaft« nennt. Es ist offensichtlich eine Frage der Anzahl. Die geschützten Individuen müssen ausreichen, um die Zirkulation des Virus zu reduzieren, das die Krankheit auslöst, sodass der empfindliche Teil der Bevölkerung nicht mit ihm in Berührung kommt. Tatsächlich kann auch jemand, der nicht schwer an diesem Virus erkrankt, im Laufe seines Lebens einen nur schwachen Kontakt mit ihm haben und ist zumindest teilweise geschützt. Deshalb sind die »neuen« Mitglieder einer Gemeinschaft immer am meisten gefährdet: die Neugeborenen. Da aber nicht alle Kleinen erkrankten, erreichte die erwachsene Bevölkerung ohne Schutz zyklisch eine kritische Zahl und Pockenepidemien brachen aus. Zum Glück kann das heute nicht mehr passieren. Wie war das möglich? Dank der Erfindung von Edward Jenner, einem Arzt, der um 1800 lebte: dem Impfstoff. Aber eins nach dem anderen. Die Krankheit wird durch ein Virus verursacht, das Variola virus, der vom Orthopoxvirus abstammt. Dies hat zwei Varianten: major löst schwere Symptome aus, minor hingegen ist eine leichte Form. Seine Schwachstelle ist, dass dieses Virus nur unter Menschen zirkuliert und folglich nicht in anderen Tierarten leben kann. Um diese Schwachstelle zu verstehen, muss man wissen, was ein Virus genau ist: Ein Stück genetisches Material – RNA oder DNA –, das in einer Proteinhülle verschlossen ist. Die Wissenschaftler sind sich nicht einig, ob das Virus ein Lebewesen ist. Wenn es stimmt, dass es sein eigenes Genom hat, stimmt

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D I E G ROS S E N E PI D EMI E N

es auch, dass es inaktiv bleibt, wenn es nicht in eine Zelle eindringt. Das heißt, von sich aus kann es die Anweisungen seiner Gene nicht lesen und Proteine produzieren oder sich fortpflanzen; das kann es nur, wenn es eine Zelle als Geisel nimmt und in eine Virenfabrik verwandelt. Das Variola virus stirbt also aus, wenn es nicht mehr unter Menschen zirkulieren kann. Genau das wurde erreicht. (Tatsächlich wurden Proben zu Studienzwecken in zwei Laboren in den USA und in Russland aufbewahrt.) Wie war das möglich? Jenner nutzte ein Orthopoxvirus, das Rinder befällt, aber keine Menschen. Der Wissenschaftler entdeckte, dass an Kuhpocken erkrankte Viehzüchter nicht die menschliche ­Variante bekamen. Laut seiner Hypothese hatten sie auch gegen das V ­ ariola virus Abwehrmechanismen entwickelt. Um diese zu beweisen, ließ er den Sohn seines Gärtners mit Kuhpocken infizieren – ein Experiment, das heute unvorstellbar wäre – und versuchte dann, ihn mit der menschlichen Variante zu infizieren. Der Junge erkrankte leicht an Kuhpocken, nicht aber an menschlichen Pocken, was Jenners Hypothese bestätigte. Das Verfahren wurde »Impfung« genannt, von vaccinus, was im Lateinischen »von der Kuh« bedeutete, in Anlehnung an die Herkunft des verwendeten Materials. Nach zwei Jahren wiederholte der englische Arzt sein Experiment, dieses Mal mit 15 Probanden. Seine Überzeugung wuchs, das Virus mit einem Impfstoff besiegen zu können – mit dem ersten überhaupt. Jenner widmete sein ganzes Leben dem Kampf gegen Pocken und überzeugte die Großen der Welt von der Bedeutung der Impfung für die Volksgesundheit. Papst Pius VII., Napoleon und Thomas Jefferson stellten sich an seine Seite.

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D I E G E BU RT D E R IMPFU N G, Z W ISC H E N IMPFS TO FF U N D A K T I V ISMUS

DIE GEBURT DER IMPFUNG: VON DEN ERSTEN IMPFUNGEN ZU EINER WISSENSCHAFTLICHEN METHODE Kann das Auslösen einer leichten Form der Pocken ein Schutzschild gegen eine schwerere Form sein? Diese Idee tauchte in verschiedenen Kulturen in Asien und im Mittleren Osten unter verschiedenen Namen auf: Inokulation oder Variolation. In der Praxis wurde Flüssigkeit aus den infizierten Pusteln eines Erkrankten entnommen und damit eine kleine oberflächliche Wunde infiziert, die meistens in den Arm einer gesunden Person geritzt wurde. Auf diese Weise wurde eine Krankheit mit geringen Symptomen herbeigeführt, die die Person ohne besondere Folgen und mit der Gewissheit bewältigen konnte, nicht wieder zu erkranken. Eine riskante und langwierige Prozedur – der nur leicht erkrankte Patient und der Empfänger von guter Gesundheit mussten genau ausgewählt werden. Die Krankheit entwickelte sich im Laufe eines Monats, an den ein weiterer Monat für die Genesung anschloss. Es waren also hauptsächlich die Reichen und Adligen, die es sich leisten konnten. Obwohl sie in einigen Teilen der Welt weit verbreitet war, blieb sie im Westen praktisch unbekannt, bis 1721 Lady Mary Wortley Montagu, die Ehefrau des britischen Botschafters in der Türkei, nach England zurückkehrte und die englische Aristokratie davon überzeugen konnte, sich einer Variolation zu unterziehen. Lady Montagu war eine sehr effektive Fürsprecherin und die Praxis verbreitete sich in ganz Europa – bis zur Verfügbarkeit von Jenners viel effektiverem und demokratischerem Impfstoff ein paar Jahrzehnte später.

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GLOSSAR

Ansteckung: Übertragung einer Infektion auf einen gesunden Organismus durch direkten oder indirekten Kontakt. Antigene: Fremdsubstanzen, die beim Eintritt in den Körper durch die Produktion von Proteinen, »Antikörpern«, eine Verteidigungsreaktion, eine »Immunantwort«, auslösen. Bakterien: Organismen, die nur aus einer Zelle bestehen und keinen Zellkern haben. Bakterien bevölkern den menschlichen Organismus, in dem schätzungsweise mindestens 5.000 verschiedenen Bakterienarten leben. Einige Bakterien rufen Krankheiten hervor. DNA: Abkürzung für desoxyribonucleic acid, Desoxyribonukleinsäure. Es handelt sich um ein großes Molekül aus zwei aneinandergereihten Ketten von Elementareinheiten – stickstoffhaltigen Basen. Die beiden Stränge sind übereinander aufgerollt und enthalten die genetische Information, das Alphabet, mit dem die Zelle ihre Eigenschaften beschreibt. Epidemie: Plötzlicher Ausbruch einer Infektion, die sich sehr schnell unter den Menschen in einem bestimmten Gebiet ausbreitet. Wenn die Epidemie große Teile der Welt umfasst, spricht man von einer Pandemie.

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Epidemiologie: Die Wissenschaft, die untersucht, mit welcher Häufigkeit Krankheiten auftreten, wie sie sich geografisch und in sozialen Gruppen ausbreiten und welche Faktoren ihre Verbreitung verlangsamen oder beschleunigen können. Herdenimmunität: Fähigkeit einer Gruppe von Individuen, dem Angriff einer Infektion Widerstand zu leisten, weil ein großer Teil der Bevölkerung gegen diese Infektion immun ist. Dank dieser Fähigkeit wird auch der geschützt, der nicht immun ist. Immungedächtnis: Fähigkeit des Immunsystems, sich an Begegnungen mit fremden Elementen zu erinnern. Das Gedächtnis ermöglicht es, bei einer zweiten Begegnung mit dem gleichen Element eine schnellere und effektivere Immunantwort zu organisieren. Dies ist der Mechanismus, auf dem Impfstoffe beruhen, denn gerade das Immungedächtnis ermöglicht einen Schutz gegen Infektionen für eine lange Zeit. Immunität: Die Fähigkeit des menschlichen Organismus, Krankheitserreger wiederzuerkennen und zu neutralisieren. Eine »natürliche« Immunität liegt bei einer ersten und schnellen Immunantwort vor, sobald ein fremdes Element in den Organismus eindringt. Eine »adaptiven« Immunität ist erst im zweiten Schritt aktiv, aber mit einer viel größeren Kraft und auf eine ganz bestimmte Art und Weise.

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Immunsystem: Komplex aus Organen und Zellen, der den Organismus gegen äußere Stoffe schützt und damit die von ihnen verursachten Infektionen abwehrt. Impfstoff: Biologisches Präparat, das im Labor auf der Basis abgetöteter oder stark abgeschwächter Krankheitserreger oder aus den Determinanten ihrer Antigene entwickelt wurde, Substanzen, gegen die das Immunsystem seine Reaktion organisiert. Infektion: Das Eindringen von Krankheitserregern in einen Organismus. RNA: Akronym für Ribonukleinsäure. Es ist ein sehr großes Molekül, das der DNA ähnelt, aber aus einem einzigen Strang, einer einzelnen Kette von elementaren Basen, besteht. Seine Aufgabe ist es, die in der DNA enthaltenen genetischen Anweisungen vom Zellkern in das Zytoplasma zu übertragen, wo sich die Ribosomen befinden. Im Inneren des Zellkerns werden die Anweisungen ausgeführt und Proteine produziert. Spillover: Der Übergang eines Virus von einer Spezies zu einer anderen. Der Erfolg oder Misserfolg des Sprungs hängt von den Schwierigkeiten ab, die das Virus beim Eindringen in die Zellen des neuen Wirts und bei der korrekten Nutzung der Mechanismen hat,

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die seine Replikation ermöglichen. Je mehr Schwierigkeiten es gibt, desto mehr muss der Erreger mutieren, um den Sprung zu schaffen. Virenstämme: Gruppe von Viren, die zwar von gemeinsamen Vorfahren abstammen und folglich zu einer bestimmten Art gehören, sich vom Rest aber durch genetische, physiologische oder morphologische Eigenschaften unterscheiden. Die Änderung auch nur eines einzelnen Fragments eines genetischen Codes erzeugt einen neuen Stamm. Virus: Mikroskopisches Teilchen, das sich nur innerhalb einer Zelle vermehren kann. Es besteht nur aus den genetischen Anweisungen – DNA oder RNA –, die in eine Hülle aus Proteinen und Fetten eingepackt sind. Um zu überleben, muss es eine Zelle als Geisel nehmen und deren Stoffwechsel- und Transkriptionssysteme nutzen. Viren können sowohl komplexe als auch einzellige Organismen, wie z. B. Bakterien, befallen und infizieren. Zoonose: Eine Krankheit, die von Tieren – außer Menschen – auf den Menschen übertragen werden kann, entweder direkt, z. B. durch Kontakt, oder indirekt, z. B. durch andere Organismen, die als Vektoren fungieren. Krankheiten, die vom Menschen auf andere Tiere übertragen werden, werden als Anthroponose bezeichnet.

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LITERATUR

Zum Thema Epidemien und Impfstoffe gibt es eine Menge zu lesen. Nicht nur Bücher: Das Internet ist eine Fundgrube für gute Informationen (natürlich unter der Voraussetzung diese von den schlechten oder falschen Informationen unterscheiden zu können). Nachfolgend eine Liste, notwendigerweise eine Auswahl (ich habe internationale, für alle zugängliche Referenzen gewählt) für eine gute Lektüre. Im historischen Bereich Epidemics and Society von Frank N. Snowden, ein wahres Kompendium der Sozialgeschichte von Epidemien. Eine erhellende Lektüre. Eine aktuellere Geschichte erzählt David Quammen, Journalist bei National Geographic, in Spillover. Im Jahr 2012 erschienen, ist es 2020 wieder ein Text von brisanter Aktualität. Um sich über aktuelle Epidemien zu informieren gibt es hingegen die Webseiten der Weltgesundheitsorganisation (who.int), des ECDC (ecdc.europe.eu), Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, oder des CDC (cdc.gov), dem amerikanischen Pendant. Gavi – The Vaccine Alliance hat eine Webseite (gavi.org) voller Informationen über Impfkampagnen in aller Welt. Wenn Sie verstehen möchten, wie viel Forschung und internationale Kräfte hinter dem Vorhaben und der Entwicklung eines Impfstoffs stecken, empfehle ich die Seite der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (Cepi – cepi.net).

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Um die Diskreditierung von Impfstoffen zu verstehen, schauen Sie sich die Seite des Projekts »Vaccine Confidence Project« (vaccineconfidence.org) an und lesen Sie das neueste Buch der Projektleiterin Heidi J. Larson, Stuck: How Vaccine Rumors Start and Why They Don‘t Go Away. In Deutschland bieten sich die Webseiten von Paul-Ehrlich-Institut (www.pei.de) und Robert-Koch-Institut (www.rki.de) als Sekundärliteratur an.

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DANK

Das Schreiben eines Buches erfordert Leidenschaft und Zeit. Das erste, vor allem gegenüber der Wissenschaft und der Möglichkeit, sie leicht verständlich zu machen, hat mir nie gefehlt. Von der zweiten habe ich nie genug. Das Buch, das Sie in den Händen halten ist das Ergebnis meiner Leidenschaft und meiner Zeit. Mein Dank gilt all jenen, die es mir ermöglicht haben, sie zu kultivieren: Federico, ­Simone und Mattia, die meine Abwesenheit und meinen Bammel ertragen haben; Elisa, Elisabetta und Benedetta, die mir geholfen haben, nicht aufzugeben; Tiziana, die einige Kastanien für mich aus dem Feuer geholt hat. Ein Dank an alle Forscher, die ich zu Rate gezogen habe: Die richtigen Informationen, die Sie auf diesen Seiten finden, sind ihnen zu verdanken, die Fehler sind selbstverständlich alle mir zuzuschreiben.

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ist Journalistin und schreibt für La Repubblica, Le Scienze und Galileo. Sie leitet den medizinisch-wissenschaftlichen Kommunikationsbereich der Firma Galileo Servizi Editoriali, die sie 2004 gegründet hat. Sie besitzt einen Hochschulabschluss in Philosophie an der Università La Sapienza in Rom und ist Gastdozentin für Wissenschaft in Triest. LETIZIA GABAGLIO

ist Illustratorin und Grafikdesignerin. Sie arbeitet als freiberufliche Illustratorin in den Bereichen Mode, Wissenschaft und Editorial. Seit 2016 ist sie als redaktionelle Illustratorin für das Cancer World Magazine tätig. MADDALENA CARRAI


»VON ALLEN THEMEN, DIE COVID-19 AUFWIRFT, IST DAS WICHTIGSTE DIE VORBEREITUNG. DER NOBELPREISTRÄGER JOSHUA LEDERBERG HAT ARGUMENTIERT, DASS IM WETTSTREIT ZWISCHEN MENSCHEN UND MIKROBEN DER VERSTAND DIE EINZIGE VERTEIDIGUNG IST, DIE MENSCHEN BESITZEN.« FRANK M. SNOWDEN, EPIDEMICS AND SOCIETY

DIESES BUCH LIEFERT EINEN HISTORISCHEN SCHLÜSSEL, UM DIE GEGENWART UND DIE ZUKUNFT BESSER ZU VERSTEHEN. ANGEFANGEN VON DER GESCHICHTE DER EPIDEMIEN, ÜBER DIE ENTWICKLUNG VON IMPFSTOFFEN BIS HIN ZUM CORONAVIRUS UND WIE WIR UNS DAGEGEN WEHREN KÖNNEN.

www.midas.ch | € 14.90 ISBN: 978-3-03876-541-7

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