SURREALISMUS AMY DEMPSEY
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SURREALISMUS AMY DEMPSEY
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AMY DEMPSEY
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INHALT
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EINFÃœHRUNG
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WAS IST SURREALISMUS?
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WER WAREN DIE SURREALISTEN?
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SURREALISTISCHE KUNST SCHAFFEN
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SURREALE FORMEN
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DIE SURREALISTISCHE REVOLUTION
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Glossar Timeline Index der Surrealisten Index Bildnachweise
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EINFÜHRUNG
Der Surrealismus war eine der populärsten und allgegenwärtigen Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts, die sämtliche Kunstrichtungen beeinflusste und sich in alle Welt verbreitete. Er entstand in den Goldenen Zwanziger Jahren, als die Menschen versuchten, einen Sinn im Gemetzel des Ersten Weltkriegs und einen Weg in eine hellere, hoffnungsvollere Zukunft zu finden. Der Gründer der Bewegung, der französische Dichter und Autor André Breton, wollte die Denkweise der Menschen vollkommen verändern, indem sie das kreative Potenzial des Unbewussten nutzen. Das Ziel der surrealistischen Revolution war es, die Menschheit von den Fesseln der bewussten Logik und Vernunft zu befreien, die ohnehin nur zu Krieg und Herrschaft geführt hatten. Die Blütezeit des Surrealismus, in den 1920er- und 1930erJahren, war eine Zeit größerer sozialer und politischer Freiheit, gleichzeitig jedoch eine Periode politischen Extremismus, in die der Aufstieg des Faschismus, der wirtschaftliche Aufschwung und die große Depression fielen. Derselbe Wunsch nach Glamour und Weltflucht, der dem Art déco in den 1930er-Jahren zu großer Popularität verholfen hatte, lenkte das Licht der Öffentlichkeit auch auf den Surrealismus. 6
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Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Wesen des Surrealismus. Es erläutert die Ideen, die zur Entstehung und Entwicklung dieser Kunstbewegung führten. Und es stellt wichtige Surrealisten vor, zeigt, wie sich die Bewegung ausbreitete und bezieht auch Künstler mit ein, die im Windschatten des Surrealismus segelten. Ebenso betrachtet es die große Vielfalt der Methoden, mit denen surrealistische Kunstwerke geschaffen wurden, sowie die dabei verwendeten Mittel. Das letzte Kapitel widmet sich dem Niedergang des Surrealismus als organisierte Bewegung und untersucht sein Vermächtnis. Zwar wurden nicht alle utopischen Ziele des Surrealismus erreicht, dennoch hatte diese höchst intellektuelle, poetische und radikale literarische und künstlerische Bewegung einen so großen Einfluss auf die Kultur weltweit, dass sie noch heute in allen Disziplinen spürbar ist. So ist auch der Begriff »surreal« als Ausdruck für etwas Bizarres, Fantastisches in die Alltagssprache übernommen worden.
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WAS IST SURREALISMUS?
Sagen wir es frei heraus: Das Wunderbare ist immer schön; jegliches Wunderbare ist schön; schön ist überhaupt nur das Wunderbare ... André Breton 1924
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Man Ray André Breton, 1924 Fotografie Centre Pompidou, Paris Der amerikanische Fotograf Man Ray, eine Schlüsselfigur in Dada und Surrealismus, traf André Breton im Juli 1921 in Paris. Dieses Porträt des »Surrealismus-Papstes« wurde in jenem Jahr aufgenommen, in dem die Bewegung auf eine ahnungslose Welt losgelassen wurde.
Surrealismus bedeutet »Über-Realismus« oder »mehr als real«. Es handelt sich dabei um eine literarische und künstlerischintellektuelle Bewegung, die von dem französischen Autor und Dichter André Breton 1924 initiiert wurde. Zwar wurde der Begriff bereits seit 1917 verwendet, geprägt vom französischen Kritiker Guillaume Apollinaire, um etwas zu beschreiben, das die Realität übertraf, dennoch nutzte ihn Breton, um seiner eigenen Zukunftsvision einen Namen zu geben. Im Manifeste du surréalisme (Manifest des Surrealismus, 1924), das er mit französischen Dichtern und politischen Aktivisten, Louis Aragon und Philippe Soupault, verfasste, definierte Breton den Surrealismus »ein für allemal« so: SURREALISMUS, Substantiv, m., reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen. Breton führte weiter aus: Freuds Entdeckungen gebührt unser Dank … Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre Rechte einzutreten … Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen. Bretons Mission Mit dem Surrealismus wollte Breton eine Revolution ähnlich der ideologischer Vorgänger auslösen: des österreichischen Psychoanalytikers Sigmund Freud, des russischen Marxisten Leo Trotzki und der französischen Dichter aus dem 19. Jahrhundert, Arthur Rimbaud und Comte de Lautréamont (aka Isidore Ducasse). Bretons Modell des Künstlers als Visionär in einer Revolte gegen die Gesellschaft wurde von Rimbaud und Lautréamont gezeichnet. Von Rimbaud stammt die Forderung, Chaos in die Sinne zu bringen, um das Unbekannte zu erreichen und Neues zu finden – »sich zum Sehenden zu machen«. Ein Satz aus Lautréamonts poetischem Roman Les Chants de Maldoror (Die Gesänge des Maldoror, 1869) lieferte das Motto der Surrealisten: »So schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch.« 11
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Fotograf unbekannt Surrealisten bei einem Jahrmarkt am Montmartre, Anfang bis Mitte der 1920er-Jahre, Bibliothèque d’Art et d’Archéologie, Fondation Jacques Doucet, Paris Surrealisten posieren in einem Foto-Set. Louis Aragon sehen wir vorn auf dem Fahrrad und André Breton im Anhänger ganz rechts.
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Das Motto der Surrealisten formuliert kurz und bündig ihren Glauben, dass Schönheit, oder »das Wunderbare«, in glücklichen Zufällen zu finden ist. Abgesehen von seinen literarischen Unternehmungen studierte Breton Medizin und Psychiatrie, darunter Freuds Theorien. Im ersten Weltkrieg diente er als Krankenpfleger auf einer Station mit Patienten, die an Kriegsneurosen litten, und war von den fantastischen Monologen und Zeichnungen der Traumatisierten begeistert. Während des Kriegs war Breton auch aktiver Dadaist. Als internationales, multidisziplinäres Phänomen war Dada gleichermaßen Einstellung wie Kunstbewegung. Dada entwickelte sich im und nach dem Ersten Weltkrieg, als sich junge Künstler zusammenfanden, um ihre Wut auf den Konflikt zu äußern. Sie glaubten, die einzige Hoffnung für die Gesellschaft sei, die auf Zweck und Logik basierenden Systeme zu zerstören und durch Anarchie zu ersetzen, durch das Primitive und Irrationale. Durch die absurden Provokationen forderten sie den Status quo mit Satire, Ironie, Spielen und Wortspielen heraus. Wie konnte die von Dadas Abscheu freigesetzte Energie in etwas Positives, Lebensbejahendes und Poetisches verwandelt werden? -
Man Ray The Enigma of Isidore Ducasse, 1920/Replik 1971 Assemblage: Nähmaschine, Decke, Faden und Holzpodest, 41 x 54,3 x 22 cm Privatsammlung, Mailand Eine Nähmaschine wurde in eine Decke gewickelt, mit Bindfaden verschnürt und fotografiert. Das eingewickelte Objekt wurde absichtlich nicht genannt, sondern als Rätsel aus Titel und Erscheinungsbild gestellt … oder blieb unbekannt. Man Rays Foto erschien auf der Titelseite der Erstausgabe von La Révolution surréaliste im Dezember 1924.
Nach dem Krieg war Breton zunehmend unzufrieden mit Dada, seiner Anarchie und seinem Nihilismus, er suchte nach einer positiveren, aktiveren Rolle für die Kunst. Wenn Dada für die Negation der Kunst und des Status quo stand, wohin sollte dann die Reise gehen? Wie konnte die von Dadas Abscheu freigesetzte Energie in etwas Positives, Lebensbejahendes und Poetisches verwandelt werden? Bretons Antwort war der Surrealismus, gleichermaßen eine Fortsetzung von Dada wie eine Entwicklung in eine andere Richtung. Die Surrealisten wollten nicht weniger als eine völlige Änderung des Denkens der Menschen. Indem sie die Grenzen zwischen der inneren und äußeren Welt einer Person niederrissen und die Wahrnehmung der Realität änderten, wollten die Surrealisten das Unbewusste befreien und mit dem Bewussten verbinden. Das Ziel war nicht die Flucht vor der Realität und ein Leben in einer Traumwelt, sondern eine verbesserte Realität. Auf ihrer Mission wollten sie die Ernüchterung von der Welt hinter sich lassen und das Schöne wiederentdecken. Breton bezeichnete seinen Verbündeten, den Amerikaner Man Ray, als »Prä-Surrealisten« und beschrieb damit die Affinität des Künstlers für Bewegung, noch bevor sie eintrat. Man Ray bewegte 14
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sich – als Maler, Bildhauer, Objekt- und Filmkünstler, Fotograf und Dichter – zwischen den Disziplinen sowie zwischen den Welten des Kommerzes und der Kunst, in Europa und Amerika. So verhalf er dem Surrealismus zu viel Popularität. Er sagte: »Meine Werke sollen amüsieren, ärgern, verwirren, verschleiern und zum Nachdenken anregen …« Umseitig: Giorgio de Chirico Der Lohn des Wahrsagers, 1913 Öl auf Leinwand, 136 x 180 cm Philadelphia Museum of Modern Art, Philadelphia Für de Chiricos Gemälde ist die brütende klassische Statue typisch, ebenso die langen Schatten, der vorbeifahrende Zug und der leere Platz, die alle zum Gefühl der Einsamkeit beitragen und ein gewisses unruhiges Mysterium zurücklassen.
Einflüsse Dada blieb das große Vorbild des Surrealismus, zumindest was die Techniken und die Überschreitung alter Grenzen angeht. Wichtig waren zudem die traumähnlichen Gemälde des metaphysischen Malers Giorgio de Chirico. Im Dictionnaire abrégé du surréalisme (1938), herausgegeben von Breton und dem französischen Surrealisten Paul Éluard, wird de Chirico als »Prä-Surrealist« bezeichnet. Die metaphysischen Maler glaubten an die Kunst als Prophezeiung und den Künstler als Sehenden, der in »klaren Momenten« die Maske der Erscheinung lüften konnte, um die versteckte »wahre Realität« zu erkennen. Sie alle waren fasziniert von der Unheimlichkeit des Alltags und strebten nach einer Atmosphäre, die die Außergewöhnlichkeit des Gewöhnlichen betonte. Romantische und symbolistische Autoren und Künstler galten ebenso als Vorläufer der Surrealisten, obwohl diese 15
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glaubten, die Schönheit sei in glücklichen Zufällen auf der Straße ebenso zu finden wie in der Fantasie. Surrealisten bewunderten ebenso die Energie und Direktheit in Stammesartefakten sogenannter »primitiver Kulturen«, vor allem aus Nordamerika und Ozeanien, sowie die spontanen Visionen von Kindern, Hellsehern, Medien, ungelernten Künstlern und Wahnsinnigen. Diese untrainierten Künstler wurden für ihre Ehrlichkeit und Ausdauer bewundert und galten als verführerisches Modell des Künstlers, der zum Schaffen gezwungen ist – mit der Kunst als Lebensnotwendigkeit, nicht als Wahl. Den größten intellektuellen Einfluss auf die Surrealisten hatte zweifellos Sigmund Freud, der glaubte, dass die Analyse unserer Träume uns helfen würde, unser Unterbewusstsein zu verstehen und unterdrückte Erinnerungen und Wünsche freizulegen, um Neurosen zu kurieren. Während Freud das Unterbewusstsein und die Träume für therapeutische Zwecke erforschte, waren die Surrealisten vom Konzept des Unbewussten als Ursprung der Fantasie fasziniert und betrachteten Freudsche Techniken als Möglichkeit, nach Belieben auf verborgene Bilder zugreifen und sie reproduzieren zu können. Vor allem interessierten sie Freuds Ideen über Kastrationsängste, Fetisch und das Unheimliche, das sich symbolisch in den Träumen manifestierte.
Oscar Domínguez Freud. Mage de rêve – Etoile, 1941 Spielkarte aus »Le Jeu de Marseille«, 1940–1941 Bleistiftzeichnung, Tusche und Gouache, 27,1 x 17 cm Musée Cantini, Marseille 1940 gestalteten Breton und eine Gruppe seiner Surrealisten gemeinsam ein Spielkarten-Set, das ihren Glauben und ihre Helden widerspiegelte. Der spanische Künstler Domínguez entwarf die Freud-Karte (siehe Seite 95) .
Neben dieser dunklen, unbehaglichen Last stehen durchaus auch Spiel und Experimentierlust im Vordergrund. Die meisten surrealistischen Arbeiten thematisieren rastlose Triebkräfte wie Furcht, Begehren, zwanghafte Liebe, Gewalt, Tod und Erotisierung. Neben dieser dunklen, unbehaglichen Last stehen durchaus auch Spiel und Experimentierlust im Vordergrund, Ideen, was Erwachsene und Kinder tun, der Wunsch nach gemeinsamem Schaffen und die Bewunderung des Absurden. Häufig ist eine Kombination aus Anziehung und Ablehnung in den Bildern zu finden. Bretons Vision Breton glaubte, dass die Menschheit durch die Vereinigung von Traum und Wirklichkeit die Kräfte des Unbewussten bewältigen könne. Aber wie sollte man die bewusste Kontrolle unterbinden, um zum Unterbewusstsein vorzudringen? Frühe Experimente mit Drogen, Séancen und Hypnose wurden als zu gefährlich verworfen – physisch wie psychisch. Stattdessen wendeten sich die Surrealisten Freuds Traumanalyse auf der Suche nach versteckten Bildern zu 18
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und beschäftigten sich mit freien Assoziationen, da sie sich davon unerwartete Gegenüberstellungen versprachen. Freuds Theorie des Unheimlichen (1919) statuiert, dass, wenn jemand etwas als unheimlich bekannt erscheint, das Bekannte fremd wirkt, weil es unterdrückt wurde. Im selben Aufsatz schreibt Freud auch, dass »in Träumen, Fantasien und Mythen … die Furcht vor Erblindung häufig als Ersatz für die Angst vor Kastration gilt«. Freuds Konzept des Fetisch ist die Verweigerung sexueller Unterschiede. Die Surrealisten beanspruchten diese Ideen auf verschiedene Weise: in ihren Versuchen, das Bekannte unbekannt zu machen; in ihren Experimenten mit automatischem Schreiben und Zeichnen; in ihrem Einsatz von Glück und unpassenden Gegenüberstellungen; in ihrem Überschreiten von Grenzen – zwischen Geschlechtern, zwischen Mensch und Tier, zwischen Fantasie und Realität. Die Interpretation dieser Werke endet nicht an der Netzhaut des Auges – vielmehr wird die Körperlichkeit des Sehens betont, ebenso wie das Auge als Teil des Körpers rekultiviert wird und Triebkräften wie Angst, Verlangen und Erotisierung unterliegt.
Max Ernst The Blind Swimmer (Der blinde Schwimmer), 1934 Öl und Graphit auf Leinwand, 92,3 x 73,5 cm Museum of Modern Art (MoMA), New York Ernst, den Breton als Person mit dem »sagenhaftesten verfolgten Hirn« beschrieb, war einer der erfindungsreichsten und produktivsten Surrealisten. Er sagte: »Ich glaube, das Beste, was Sie tun können, ist, ein Auge zu schließen und in sich zu schauen, das ist das innere Auge. Mit dem anderen Auge fixieren Sie die Realität, was um Sie in der Welt geschieht.«
Aber während das Bild wie ein Auge im Strom aussieht, scheint es auch die Sexualorgane einer Frau darzustellen. Beim Betrachten eines Bildes des deutschen Künstlers Max Ernst, einem wichtigen Surrealisten, erkennen wir einige dieser Ideen und Techniken. The Blind Swimmer (Der blinde Schwimmer, 1934; rechts), eines seiner abstraktesten Gemälde, ist eine traumhafte Umsetzung des »Unheimlichen« von Rimbaud und Freud. Was ist zu sehen? Das lässt sich vielseitig interpretieren, wie ein Traum. Der Titel rüttelt auf, beschwört einen Albtraum der Hilflosigkeit. Aber während das Bild wie ein Auge im Strom aussieht, scheint es auch die Sexualorgane einer Frau darzustellen. Der Titel bringt Spermien, die auf das Ei zuschwimmen, ins Spiel. Doch das Bild könnte auch das männliche Sexualorgan zeigen. Oder vielleicht ist es doch ein Auge und reflektiert, was in der Pupille zu sehen ist: ein Insekt, eine Blume oder eine Vulva, die sich vor Kastration fürchtet. Diese Doppeldeutigkeit, das Spiel zwischen Titel und Bild, die Liebe zu visuellen und verbalen Spiele, ist für viele surrealistische Arbeiten typisch. Die Themen Zeugung, Keimung, Blindheit besprach Ernst 1936 in seinem Essay: »Den blinden Schwimmer, der ich war, machte ich sehend. Ich habe gesehen. Und überrascht entdeckte ich meine Liebe zu dem, was ich sah, den Willen, mich mit ihm gleichzu20
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setzen.« Diese Geschlechtswandlung und Konfusion sexueller Unterschiede durch die Kombination des Weiblichen und Männlichen in derselben Gestalt ist eine verbreitete Strategie in surrealen Bildern. Bretons Traum Im direkten Kontrast zum Chaos und der Spontaneität des Dada, aus dem er entsprang, wurde der Surrealismus unter Breton zu einer gut organisierten Bewegung mit doktrinären Theorien. Breton 21
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revolutionierte damit die Kunstkritik: Von jetzt an war der Kritiker als charismatischer Führer fortschrittlicher Gruppierungen allgegenwärtig. 1924 erschien Bretons Manifest des Surrealismus, vom französischen Dichter Antonin Artaud wurde ein Bureau of Surrealist Research eingerichtet, um Beispiele des Surrealismus zu diskutieren und zu sammeln, und eine Zeitschrift für die Surrealisten wurde gegründet – La Révolution surréaliste, deren erste Ausgabe eine »Neue Deklaration der Menschenrechte« forderte. Eine ganze Schar von Charakteren wurde im Laufe der Zeit in die Ruhmeshalle der Surrealisten aufgenommen. -
Sir John Tenniel Illustration für Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1856) in The Nursery Alice, 1890 British Library, London Carroll galt als einer der Förderer des Surrealismus und die britischen Surrealisten wurden entsprechend auch »the Children of Alice« (Kinder von Alice) genannt.
Bretons Hingabe für den Surrealismus umfasste alles. Er vertrat ein umfassendes, internationales Modell, mit einem Surrealismus als Gemeinschaft von Individuen ähnlicher Interessen aus Vergangenheit und Gegenwart. Eine ganze Schar von Charakteren wurde im Laufe der Zeit in die Ruhmeshalle der Surrealisten aufgenommen. Unter anderem Hélène Smith, im späten 19. Jahrhundert ein berühmtes Medium in der Schweiz, deren Trance-Visionen zu automatisiertem Schreiben und Gemälden von »Leben auf dem Mars« führten. Smith wurde von den Surrealisten verehrt, vor allem von Breton, die Hauptfigur in seinem Roman von 1928, Nadja, trägt ihre Züge. Breton nahm Smith auch in das Dictionnaire abrégé du surréalisme (1938) auf. Hélène Smith Paysage martienne (Marslandschaft), ca. 1900 Gouache auf Papier, 21,1 x 25,6 cm Bibliothèque de Genève, Genf Dies ist eines von Smiths Gemälden, das auf einer spiritistischen Vision basiert. Eine weitere Zeichnung vom Leben auf dem Mars, Interieur ultramartien (1899), wurde in der surrealistischen Ausgabe der belgischen Zeitschrift Variétés 1929 abgedruckt.
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Eine weitere wichtige Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts war der britische Schriftsteller Lewis Carroll. Die Surrealisten teilten mit ihm ihre Bewunderung für das Unerwartete, sein Interesse an Träumen, Wahnsinn und unbewusstem Denken sowie den Wunsch, eine alternative Realität zu schaffen. Carroll fand ebenso Eingang ins Dictionnaire abrégé du surréalisme wie seine fiktive Tierart, Snark, aus seiner Nonsensballade »The Hunting of the Snark« (1876). 23
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Giuseppe Arcimboldo Der Sommer, 1572 Öl auf Tafel, 67 x 50,8 cm Kunsthistorisches Museum, Wien 24
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Arcimboldos merkwürdige und wunderbare Bildkompositionen von aus Früchten, Gemüse, Bäumen, Fischen und Brot zusammengesetzten Menschen gefielen den Surrealisten.
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Hieronymus Bosch Baum-Mann, ca. 1505 Feder und braune Tinte auf Papier, 27,7 x 21,1 cm Albertina Museum, Wien
Boschs fiebrige, apokalyptische, traumähnliche Panoramen voller hybrider Kreaturen wurden von den Surrealisten bewundert. 25
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Zu den anderen von Surrealisten als wichtig erachteten Personen gehörten der italienische Künstler der Renaissance Giuseppe Arcimboldo und der niederländische Künstler des Mittelalters Hieronymus Bosch. Sie galten als »Proto-Surrealisten« und ihre Arbeiten tauchten in vielen surrealistischen Genealogien, Publikationen und Ausstellungen auf. Beide Künstler waren nach ihrem Tod aus der Mode gekommen, wurden jedoch durch die Bewunderung der Surrealisten für ihre verschrobenen, fantasievollen Werke wiederbelebt. Breton sah in Duchamp »den Geist, der am Ursprung jeder modernen Bewegung zu finden ist«. Zu den weiteren von den Surrealisten aufgenommenen Künstlern gehörten der amerikanische Filmemacher Buster Keaton und Le Facteur Cheval, ein französischer Postbote. Er schuf über einen Zeitraum von 33 Jahren skurrile monumentale Gebilde aus Türmchen, Höhlen, Gängen, Grotten, Wasserfällen und Wendeltreppen mit aufwendigen Verzierungen. Chevals Le Palais Idéal (umseitig) wurde von der Kunstwelt angenommen und in den 1930er-Jahren zum Pilgerort für viele Surrealisten. Als Breton 1931 Chevals Le Palais Idéal besuchte, würdigte er ihn als Vorreiter der surrealistischen
Buster Keaton Buster Keaton, der Filmreporter, 1928 Stummfilm Keaton war ein äußerst begabter amerikanischer Schauspieler und Regisseur, der für seine witzigen und erfindungsreichen absurden Komödien der Stummfilmära bekannt wurde, z. B. Trauung mit Hindernissen (1920), Steamboat Bill, Jr. (1928) und Buster Keaton, der Filmreporter (1928). Die Surrealisten erkannten ihn als verwandten Geist an.
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Architektur. Er widmete Cheval 1932 ein Gedicht und nahm ihn ins Dictionnaire abrégé du surréalisme auf. Ebenfalls wichtig für die Surrealisten war der französische Dadaist Marcel Duchamp, ob als Quelle der Inspiration, Künstler oder Ausstellungsdesigner und Kurator. Als Breton Duchamp 1921 in Paris traf, erkannte er in ihm »den Geist, der am Ursprung jeder modernen Bewegung zu finden ist«. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, bewarb Breton unermüdlich die Künstler, die er für Surrealisten hielt. Bis zu seinem Tod 1966 machte er den Surrealismus zu einer der populärsten Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts.
PERSONEN UND EINFLÜSSE ■
André Breton (1896–1966), Frankreich
■
Louis Aragon (1897–1982), Frankreich
■
Philippe Soupault (1897–1990), Frankreich
■
Sigmund Freud (1856–1939), Österreich
■
Leo Trotzki (1879–1940), Russland
■
Comte de Lautréamont (Isidore Ducasse, 1846–1880), Frankreich
■
Arthur Rimbaud (1854–1891), Frankreich
■
Hélène Smith (Catherine-Élise Müller, 1861–1929), Schweiz
■
Giorgio de Chirico (1888–1978), Italien
■
Marcel Duchamp (1887–1968), Frankreich–USA
■
Lewis Carroll (Charles Lutwidge Dodgson, 1832–1898), Großbritannien
■
Le Facteur Cheval (Ferdinand Cheval, 1836–1924), Frankreich
■
Giuseppe Arcimboldo (1526–1593), Italien
■
Hieronymus Bosch (1450–1516), Niederlande
■
Buster Keaton (Joseph Frank Keaton IV, 1895–1966), USA
IDEEN ■
Freuds »Das Unheimliche«
■
Freuds Fetischkonzept
■
Bewunderung des Fantastischen
■
Traumdeutung
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Automatismen
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Spiel
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Le Facteur Cheval Le Palais Idéal, 1879–1912 Hauterives, Frankreich Cheval sammelte merkwürdig geformte Steine, Fossilien und Muscheln auf seinen Gängen als Postbote. Nach der Arbeit erbaute er dieses riesige Gebilde mithilfe eines Drahtskeletts, das er mit einem Mix aus feuchtem Zement und Kalk abdeckte und in das er seine Schätze einfügte. Trotz des Spotts seiner Nachbarn (die ihn für einen »alten Idioten« hielten, aber weder für gefährlich noch ansteckend) wurde Chevals Palais Idéal noch zu seinen Lebzeiten zu einer Touristenattraktion.
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WER WAREN DIE SURREALISTEN?
Surrealismus gehรถrt nicht einer Nation, sondern der Menschheit selbst. Surrealistische Gruppe i n England 1936
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Der Surrealismus übte einen starken Reiz auf Künstler aus. Viele der ersten Surrealisten kamen vom Dada, wie Max Ernst, Man Ray und Jean (Hans) Arp. Neue Mitglieder waren Antonin Artaud, André Masson, Yves Tanguy und Pierre Roy sowie Joan Miró. Später, in den 1920ern und 30ern, traten der Bewegung weitere Künstler bei, darunter Tristan Tzara und Victor Brauner, Wolfgang Paalen, Salvador Dalí, Luis Buñuel und Oscar Domínguez, Alberto Giacometti, Roberto Matta, Wilfredo Lam und Hans Bellmer und Richard Oelze. Andere bewegten sich am Rand des Surrealismus, wie René Magritte. Manche wurden für Surrealisten gehalten, ob es ihnen passte oder nicht, wie Georgio de Chirico, Pablo Picasso, Marc Chagall, Paul Klee und Marcel Duchamp und Francis Picabia. Picasso witzelte, wenn ein Armreif mit Fell bedeckt werden könnte, dann vielleicht auch alles andere. Trotz der Misogynie, die in der Philosophie und den Werken des Surrealismus mitschwingt, gab es auch Künstlerinnen, namentlich die Argentinierin Leonor Fini, die Britinnen Leonora Carrington und Eileen Agar, die Französinnen Valentine Hugo, Jacqueline Lamba Breton, Dora Maar und Claude Cahun, die Amerikanerinnen Dorothea Tanning, Kay Sage und Lee Miller, die Spanierin Remedios Varo, die Tschechin Toyen und die Schweizerin Meret Oppenheim. Oppenheim kam 1932 zum Surrealismus. 1936, mit 22, erwähnte sie die Idee eines fellbedeckten Armreifs gegenüber der in Paris tätigen italienischen Modeschöpferin Elsa Schiaparelli. Diese griff die Idee für ihre Winterkollektion auf. Oppenheim trug den Armreif eines Tages zum Mittagessen im Café de Flore mit Pablo Picasso und Dora Maar. Picasso witzelte, wenn ein Armreif mit Fell bedeckt werden könnte, dann vielleicht auch alles andere. Oppenheim darauf: »Selbst diese Tasse und Untertasse. Kellner, mehr Fell bitte!« Sie kaufte prompt eine Tasse, eine Untertasse und einen Löffel, umhüllte sie mit braunem Fell und nannte das Ganze Object. Dieses Geplänkel war der Auslöser für eines der berühmtesten surrealistischen Kunstwerke. Das Stück war eine Sensation auf der »Exposition surréaliste d’objets« in der Galerie Charles Ratton in Paris im Mai 1936. Anschließend schockte und erfreute es das Publikum in London auf der »International Surrealist Exhibition« und in New York auf der gefeierten Ausstellung »Fantastic Art, Dada, Surrealism« des MoMA. Die Unwahrscheinlichkeit eines pelzigen Teeservice und das schreckliche Gefühl im Mund, wenn man sich
Vorherige Seite: Max Ernst Das Rendezvous der Freunde, 1922 Öl auf Leinwand, 130 x 193 cm Museum Ludwig, Köln André Breton (Nummer 13, mit dem roten Umhang) – der »Surrealismus-Papst« – segnet die Dichter und Künstler der entstehenden Bewegung, die sich vor einer seltsamen Berglandschaft versammelt haben. Vordere Reihe von links nach rechts: René Crevel, Max Ernst (Nummer 4, auf Dostojewskis Knie sitzend), Théodore Fraenkel, Jean Paulhan, Benjamin Péret, Johannes Theodor Baargeld, Robert Desnos. Hintere Reihe: Philippe Soupault, Hans Arp, Max Morise, Raffaele Sanzio, Paul Eluard, Louis Aragon (mit Lorbeerkranz um die Hüften), André Breton, Giorgio de Chirico und Gala Éluard.
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Meret Oppenheim Object (Das Frühstück im Pelz), 1936 Tasse 10,9 cm im Durchmesser, Untertasse 23,7 cm im Durchmesser, Löffel 20,2 cm lang, Gesamthöhe 7,3 cm Museum of Modern Art (MoMA), New York
Oppenheims mit Fell bedeckte Tasse, Untertasse und Löffel gehören mittlerweile zu den bekanntesten surrealistischen Objekten. Es war das erste Kunstwerk einer Künstlerin, das 1946 vom Museum of Modern Art in New York für seine Dauerausstellung erworben wurde.
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Paul Delvaux Le chemin de la ville (Der Weg zur Stadt), 1939 Öl auf Leinwand, 110,5 x 129,5 cm Yale University Art Gallery, New Haven Delvaux ist bekannt für seine Gemälde von Szenen, die mit schlafwandelnden Nackten bevölkert sind. Später bemerkte er: »Für mich repräsentiert der Surrealismus die Freiheit und war mir daher außerordentlich wichtig. Eines Tages wurde mir die Freiheit gewährt, gegen die rationalistische Logik zu verstoßen.«
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vorstellt, daraus zu trinken, beschäftigten die Fantasie des Publikums und machten Oppenheim bekannt. Breton propagierte seine Vorstellung vom Surrealismus und dessen Künstlern durch Manifeste, Magazine, Bücher, Vorträge, Ausstellungen und Festivals. 1925 gab es die erste surrealistische Ausstellung – »Exposition, la peinture surréaliste« – in der Galerie Pierre in Paris, mit Werken von Arp, Ernst, de Chirico, Masson, Miró, Picasso, Man Ray und Roy. Im selben Jahr besuchten Breton und Paul Éluard Brüssel, um die belgische Avantgarde zu treffen. Magrittes Techniken machen aus alltäglichen Objekten mysteriöse Bilder. 1926 bildete sich in Brüssel eine eigene Surrealistengruppe. Die Mitglieder Paul Delvaux und René Magritte galten als magische Realisten, weil sie eine realistische Bildwelt mit magischen Inhalten mischten. Wie die Surrealisten nutzten sie freie Assoziation, um in alltäglichen Motiven das Wunderbare zu erschaffen, allerdings lehnten sie Freudsche Traumbilder und Automatismus ab. Delvaux’ Gemälde zeigen oft nackte Frauen in seltsamen Szenerien, deren hypnotischer, trance-artiger Zustand die Fantasie von Träumen oder Märchen suggeriert und im Betrachter das voyeuristische Gefühl weckt, etwas Besonderes sehen zu dürfen (siehe vorherige Seite). Magritte, der berühmteste der magischen Realisten, ist bekannt für seine exakt realistischen »Fantasien des Normalen«. Seine Bilder stellen die Frage nach der Realität der Darstellung, bilden Widersprüche zwischen dem realen und dem fiktiven Raum und hinterfragen das Konzept des Gemäldes als Fenster zur Welt. Seine Techniken machen aus alltäglichen Objekten etwas Mysteriöses. Andere bekannte belgische Surrealisten waren die Fotografen Paul Nougé und Raoul Ubac sowie der Künstler und Galerist E. L. T. Mesens. 1926 wurde die Galerie Surréaliste in Paris mit Werken von Man Ray sowie ozeanischen Objekten eröffnet. 1928 veröffentlichte Breton das von Picasso illustrierte Buch Der Surrealismus und die Malerei. Im Juni 1929 gab es eine Sonderausgabe der belgischen Zeitschrift Variétés zum Zustand des Surrealismus. Das Heft zeigte auf dem Titel ein gefundenes Objekt und enthielt ein Essay von Freud über »Humor«, Gedichte und Essays von Pariser und belgischen Surrealisten, Illustrationen der »Cadavre Exquis«-Arbeiten (siehe S. 95) und surrealistische Bilder von Arp, Ernst, Tanguy und Man Ray, den Belgiern Mesens, Nougé und Magritte und anderen.
»Le Surréalisme en 1929«, Variétés, Brüssel, Juni 1929 Diese besondere surrealistische Ausgabe untersuchte den Zustand des Surrealismus im Jahre 1929. Das Objekt auf der Titelseite ist als »Das Tabernakel« bekannt. Angeblich fand Yves Tanguy es auf einem Flohmarkt. Später wurde es im Dictionnaire abrégé du surréalisme von 1938 als das vollkommene Beispiel für ein »gefundenes Objekt« wiedergegeben.
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Fundació Gala-Salvador Dalí, DACS 2019; 132 © 2019 Austrian Frederick und Lillian Kiesler Private Foundation; 133 Sammlung von Rowland Weinstein, Weinstein Gallery, San Francisco. Foto Nicholas Pishvanov. © ADAGP, Paris und DACS, London 2019; 135 Foto Robert Ziebell/robertziebell.com; 136, 147 Philadelphia Museum of Art. Schenkung von Ronnie L. und John E. Shore, 2010. © 2019 Austrian Frederick und Lillian Kiesler Private Foundation; 138 Privatsammlung. © DACS 2019; 140–141 Birmingham Museum and Art Gallery. Foto Birmingham Museums Trust. © Desmond Morris; 142 Privatsammlung. Foto Roza Czulowska. © CO Hultén/DACS 2019; 144–145 Antoni Tàpies Foundation, Barcelona. Foto VEGAP Image Bank. © Foundation Antoni Tàpies, Barcelona/VEGAP, Madrid und DACS, London 2019; 148 Foto Willy Maywald. © Association Willy Maywald/ADAGP, Paris und DACS, London 2019. Frederick Kiesler © 2019 Austrian Frederick und Lillian Kiesler Private Foundation; 149 Philadelphia Museum of Art. Schenkung von Adele Donati, 2011; 150 Centre Pompidou, Paris. Foto Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais/Philippe Migeat. © ADAGP, Paris und DACS, London 2019; 151 Centre Pompidou, Paris. Schenkung von Mme Jacqueline Victor Brauner, 1974. Foto Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais/Philippe Migeat. © ADAGP, Paris und DACS, London 2019; 153 Philadelphia Museum of Art. Kauf mit Unterstützung von Gertrud A. White Memorial Fund, 1995. © Association Marcel Duchamp/ADAGP, Paris und DACS, London 2019. © Estate of Enrico Donati; 154 Minneapolis Institute of Art. Nachlass von Maxine und Kalman S. Goldenberg 2005.127.1. Foto Minneapolis Institute of Art. © Estate of Louise Nevelson/ARS, NY and DACS, London 2019; 156–157 Tate, London. Foto 2019 Tate, London. © Karel Appel Foundation/DACS 2019; 159 Museum Jorn, Silkeborg. Foto Lars Bay. © Donation Jorn, Silkeborg/ billedkunst.dk/ DACS 2019; 161 Foto Yannick Luthy/Alamy Stock Photo; 162–163 © Yayoi Kusama
WWW.ARTESSENTIALS.DE WWW.MIDASCOLLECTION.COM IMPRESSUM
QUELLENANGABEN
© 2019 Midas Collection ISBN 978-3-03876-133-4
Cover: René Magritte, Two Men with Derbies (Zwei Männer mit Melone) 1965 (Detail). Gouache auf Papier, 25,4 x 31,8 cm, McNay Art Museum, San Antonio, Texas
Herausgeber: Gregory C. Zäch Übersetzung: Claudia Koch, Kathrin Lichtenberg Layout: Ulrich Borstelmann Midas Verlag AG Dunantstrasse 3 CH 8044 Zürich www.midas.ch
Englische Originalausgabe: Surrealism © 2019 Thames & Hudson Ltd, London Text © 2019 Amy Dempsey Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar unter: http://www.dnb.de Alle Rechte vorbehalten
Titelseite: Jacques-André Boiffard, Sous le masque (Hinter der Maske), 1930 (Detail von S. 76). Centre Pompidou, Paris Seite 4: Wilhelm Freddie, Les Tentations de Saint Antoine (Die Versuchung des Heiligen Antonius), 1939 (Detail von S. 42). Centre Pompidou, Paris Kapiteleinstiege: Seite 8 Le Facteur Cheval, Le Palais Idéal, 1879–1912, Hauterives, Frankreich (Detail von S. 28–29); Seite 30 Jindřich Štyrský, Aus meinem Tagebuch, 1933 (Detail von S. 44–45). Trade Fair Palace, Nationalgalerie Prag. Museum of Contemporary Art, Chicago; Seite 68 Andé Breton, Valentine Hugo, Paul Eluard und Nusch Eluard, Exquisite Corpse, 1934 (Detail von S. 94). Musee d’art et d’histoire, Saint-Denis; Seite 102 Frau sitzend auf einem Multi-use Chair von Frederick Kiesler, Foto K. W. Herrmann. © 2019. Austrian Frederick und Lillian Kiesler Private Foundation; Seite 136 Frederick Kiesler, Konzeptzeichnung für den Salle Superstition (Saal des Aberglaubens), 1947 (Detail von S. 147), Philadelphia Museum of Art, Philadelphia Zitate: (Übersetzung folgender Quellen) Seite 11 André Breton, Manifestoes of Surrealism, Ü. Richard Seaver and Helen R. Lane (Ann Arbor, MI, 1969); Seite 31 Surrealist Group in England, International Surrealist Bulletin/Bulletin International du Surréalisme, no. 4, September 1936; Seite 69 Salvador Dalí, in Times-Dispatch, 24. November 1940; Seite 103 Agar, Eileen, A Look at My Life (London, 1988), S. 232; Seite 158 (Jacqueline Lamba, 1974) Interview mit Arturo Schwarz 1974, Auszüge in Surrealist Women: An International Anthology, ed. Penelope Rosemont (Austin, TX: 1998), S. 77; (Luis Buñuel, 1982) Luis Bunuel: My Last Breath, trans. Abigail Israel (London, 1984), S. 123; (Conroy Maddox) Desmond Morris, Lives of Surrealists (London, 2018), S. 155; (Morris) Desmond Morris, Lives of the Surrealists (London, 2018), S. 16; (Eileen Agar, 1988) Hinds, Diana, ‘Womb magic from an artist who teases’, Independent, 28. September 1988
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