Schottisch hoch zwei - Nova Scotia

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REISE

DEFGH Donnerstag, 29. September 2011 • Nr. 225 • Seite V3/2

Damen und Herren der Meere In Halifax lernt man viel über die „Titanic“ und schwule Matrosen

Schottisch hoch zwei In Pictou in der kanadischen Provinz Nova Scotia wird das Erbe der alten Heimat gepflegt, eine Aufgabe, die man hier sehr ernst nimmt

D

onnie Campbell zeigt auf den McLellan-Bach. „Das ist das sauberste Wasser auf ganz Cape Breton Island“, sagt er stolz. Muss es auch, denn aus dem Bach wird das Wasser entnommen, mit dem der einzige Single-Malt-Whisky Nordamerikas gebrannt wird. Und Campbell ist Manager der Brennerei in Glenville, die diesen herstellt. Die Destillerie liegt abgelegen, es gibt keine Nachbarn. Hinter dem Gebäude ragt ein Hügel in die Höhe, und es gibt sehr viel Wald– ganz Nova Scotia ist voll von Bäumen. Cape Breton Island ist der nördliche Teil von Nova Scotia, Neuschottland. Donnie Campbell kann gut erzählen, er wirkt kompetent. Stolz erklärt er seinen Besuchern, wie sein Whisky hergestellt wird. Dann geht er von der Brennerei zur Scheune, wo die Fässer gelagert werden, nennt den Alkoholgehalt einer Sorte, verrät deren Alter, und schließlich erwähnt er beiläufig, dass gerade ein Bär über das Gelände gelaufen sei. Denn das ist nichts Besonderes hier. Bären gibt es fast so viele wie Bäume. Überall ist Wald. Laubwald. Mischwald. Nadelwald. Weihnachtsbäume sind neben Hummer und Blaubeeren der Exportschlager Nova Scotias – angeblich ist die kanadische Provinz der größte WeihnachtsbaumLieferant der Welt. Außer Wald und Bären gibt es viel Wasser und viele Schotten, das heißt: Nachkommen von Schotten, die 1773 damit begannen, diese Region zu besiedeln, denn in ihrer Heimat war das Leben unerträglich geworden. Die Schotten hatten 1746 die Schlacht von Culloden gegen englische Truppen verloren. Angeblich hatte der Kampf nur eine Stunde gedauert. Die Sieger zerstörten danach das Clansystem der Schotten, verboten ihnen, Gälisch zu sprechen, Kilts zu tragen und Dudelsack zu spielen – die Schotten durften keine Schotten mehr sein. Um ihre Kultur zu retten, so dachten sie damals, mussten sie ihre Heimat verlassen. Die ersten 184 Auswanderer fuhren 1773 mit dem Schiff

Hector über den Atlantik nach Nordamerika. Die Versprechungen der Schleuser waren groß: ein Haus für jede Familie, Proviant für ein ganzes Jahr und fruchtbaren Boden für alle sollte es geben. Doch was die armen und nur gälisch sprechenden Kolonialisten am 15. September 1773 vorfanden, war: Wald. Kein Haus, kein Essen. In den überlieferten Schriften heißt es, einige Siedler hätten sich auf den Boden geworfen und geweint. Dann standen sie auf, holzten den Wald nieder, fingen Fische und bauten Häuser. Es entstand der Ort Pictou. In Pictou gibt es heute Straßenschilder auf Englisch und Gälisch, vor dem Gedenkgelände „The Hector Heritage Quay“ bläst ein Dudelsackspieler, der Nachbau der Hector ist am Steg angetäut. Das Schiff wankt ein wenig, seine Segel flattern. Es ist ein windiger Tag. In

Die Jüngeren finden es cool, Gälisch zu sprechen und Kilt zu tragen einem großen, hölzernen Haus der Erinnerung hängen bunte Bahnen aus Stoff. Die Symbolik ist blau für das Meer, weiß für die Gischt und grün für den Wald von Pictou. Durchzogen wird der Stoff von schwarzen Linien – im Gedenken an diejenigen, die auf dem Weg von Schottland nach Kanada gestorben sind. Wo die echte Hector abgeblieben ist, weiß man nicht. In Pictou hat man das Schiff nachgebaut, einschließlich der aufgemalten, potemkinschen Luken für Kanonen, die Piraten abschrecken sollten. Man kann hinabsteigen in den Bauch des Schiffes, in dem die Passagiere in Stockbetten geschlafen haben, in kleinen, schäbigen Gestellen. Die Menschen damals waren kleiner als heute. Aber selbst für sie dürfte es hier drin klaustrophobisch

eng gewesen sein. Kapitän der Hector war der in England geborene, 35-jährige John Speirs. Als das Schiff in Schottland ablegen wollte, kam ein Dudelsackspieler an Bord, der nicht für die Reise bezahlt hatte. Speirs wollte ihn vom Schiff werfen, doch die Passagiere protestierten. Der Dudelsackspieler war ein Symbol – für Schottland, für die Heimat, für den Stolz. Er blieb. Die elfwöchige Überfahrt muss eine Tortur gewesen sein. Es waren Ratten an Bord, und Krankheiten wie die Pocken grassierten. 18 Passagiere starben, unter ihnen viele Kinder. Am Ende musste das Wasser rationiert werden, und die verschimmelten Essensreste wurden an den letzten Tagen der Reise gegessen, um nicht zu verhungern. Heute haben vier von fünf Bewohnern Nova Scotias Vorfahren von den britischen Inseln. Trotzdem war die keltische Sprache hier einmal vom Aussterben bedroht, besonders schlimm war es in den siebziger und achtziger Jahren. Mittlerweile beherrschen wieder etwa 5000 Menschen Gälisch – vor allem junge Leute. Angeblich ist es cool, Gälisch sprechen zu können, genauso wie es cool ist, im Kilt zu heiraten. Cape Breton Island ist nun neben Schottland und Irland die einzige Region der Erde, wo Gälisch noch Alltagssprache ist. Sie wird an zwei Highschools gelehrt – und am Gaelic College of Celtic Arts and Crafts in St. Ann’s auf Cape Breton Island. Das College in St. Ann’s ist in langgezogenen, kargen, grauen Gebäuden untergebracht; kurz geschnittener Rasen füllt die Lücken zwischen den Häusern. Das hat etwas von Schottland, von Irland, zumal auch hier der Wind über das weitläufige Gelände pfeift. Das College wurde 1938 gegründet, zunächst, um die gälische Sprache zu erhalten. Heute wird hier das gesamte schottische Erbe gepflegt. Die Sommerschule bietet Seminare an: Dudelsack spielen, Geschichten erzählen, Weben, keltische Musik spielen oder Tanzen. Die Schüler kommen aus aller Welt, aus

Australien, aus Deutschland, natürlich auch aus Schottland. Manche fertigen Kilts an, andere trocknen Stoffe und singen keltische Lieder dazu – man nennt das „milling frolic“. Lehrer und Schüler führen es vor. Es sind meist ältere Teilnehmer, gesetzte Menschen mit Gesichtern, die rot glühen vor Freude und Anstrengung. Es ist eine einfache, fröhliche Arbeit, die man gemeinsam macht. Für Besucher mag das Ganze etwas befremdlich wirken, aber für die Teilnehmer ist es offensichtlich ein großer Spaß. Sie werfen den Stoff über den Tisch, sie lächeln, sie singen: „He-ho, he-ho.“ Und sie sind stolz hier am College. Bilder an den Wänden erzählen von ausgewanderten Schotten oder deren Nachfahren, die etwas Großes geworden sind: der in Schottland geborene

Informationen SanktLorenzGolf

USA

KANADA Glenville Pictou Halifax

Cape Breton Island ATLANTIK

NOVA SCOTIA

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James Ramsey MacDonald zum Beispiel, er wurde 1924 Premierminister der ersten Labour-Regierung Großbritanniens. Auch die keltische Musik drohte auszusterben. Anfang der 1970er Jahre waren die meisten Musiker sehr alt, die Jugend interessierte sich eher für die Beatles. Lokale Radio- und Fernsehsender berichteten über die Not der keltischen Musik auf Cape Breton Island, und alle, die mit dieser Musik zu tun hatten, ob sie nun Jig oder Reel oder was auch immer liebten, ließen sich motivieren, um das Ende abzuwenden. Bei einem Festival in Glendale traten 120 Musiker auf – vor 10 000 Zuhörern. Heute wird keltische Musik auf Cape Breton Island wieder unterrichtet, und es gibt hier zwischen 300 und 400 Violinisten, Gitarristen, Pianisten und Mundharmonikaspieler. Weben, Geschichten erzählen, Dudelsack spielen, Tanzen, Musik, Sprache – das ist vermutlich mehr als das, was viele Schotten in Schottland tun, um ihre Kultur zu pflegen. Die Neuschotten sind in gewisser Weise schottischer als die Schotten. Und wenn etwas Schottisches fehlt, dann fahren sie zurück in die alte Heimat und holen es. So wie Bruce Jardine. Er hatte 1990 die Whisky-Destillerie in Glenville gegründet, aber zuvor eine einjährige Bildungsreise durch Schottland gemacht, wo er viele Brennereien besichtigte. „Er kam als Brennmeister zurück“, sagt Manager Donnie Campbell, „und die technische Ausstattung der Destillerie stammt ebenfalls aus Schottland.“ Ärger hatte Jardine auch mitgebracht, denn die Schotten in Schottland können sehr eigen sein. Er musste einen neunjährigen Rechtsstreit mit der schottischen Whiskey-Vereinigung darüber führen, ob sein Produkt das Glen – gälisch für „Tal“ – im Namen führen durfte. Nach vielen Urteilen und Revisionen stand schließlich fest: es durfte. Das Ganze hat Nerven gekostet, aber es machte sich bezahlt. Der öffentlich ausgetragene Rechtsstreit hat Jardines kanadischen Whisky bekannt gemacht. GERHARD FISCHER

Jane, ein Stewart aus Liverpool, trug gerne Frauenkleider In Großbritannien war Homosexualität in den fünfziger und sechziger Jahren verboten, das Leben an Land deshalb sehr schwierig. Also gingen viele Schwule auf Schiffe – auf manchen war laut Ausstellung mehr als die Hälfte der Stewards homosexuell. Vor den Passagieren wurde das zwar verborgen, aber nach Dienstschluss feierte die Mannschaft – im Meeresmuseum sind Bilder von ausgelassenen Matrosen zu sehen. Manche trugen auch Frauenkleider, etwa Jane, ein Steward aus Liverpool. Reederei und Kapitän hatten anscheinend nichts dagegen – schwule Crew-Mitglieder, heißt es in der Ausstellung, seien willkommen gewesen, „wegen ihrer Sauberkeit, ihres Humors, ihres Perfektionismus und ihres weiblichen Touchs“. Das Museum in Halifax hat die Liverpooler Ausstellung um einen hiesigen Teil erweitert. Einige Tafeln zeigen den Alltag auf kanadischen Schiffen – vor allem auf jenen aus Nova Scotia. Sie erzählen vom Leben der lesbischen Helen und des schwulen Frank. In Nova Scotia hatte man vor allem große Schiffe, und auf denen wurde Homosexualität eher geduldet als auf den kleinen – vermutlich, weil es dort weniger aufgefallen ist. Ganz so frei ist man also selbst auf hoher See nicht gewesen. gfi

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Gekommen, um zu bleiben: Die Hector brachte 1773 die ersten Schotten nach Nova Scotia. In Pictou ist heute ein Nachbau des Schiffs zu sehen.

Halifax ist ein netter, harmlos klingender Name. Aber er steht auch für Katastrophen. Eine Maschine der Swiss Air stürzte 1998 vor Halifax ab. 1917 explodierte ein Munitionsschiff im Hafen, verwüstete die halbe Stadt, 2000 Menschen kamen dabei ums Leben. Und dann war da im April 1912 noch der Untergang der Titanic. Der Kreuzfahrtdampfer stieß zwar in einiger Entfernung vor Neufundland mit dem Eisberg zusammen und sank, aber die Folgen betrafen auch die Hauptstadt von Neuschottland. Schiffe aus Halifax sammelten Überlebende auf – und Ertrunkene, 150 von ihnen Protestanten, die nun auf dem Friedhof Fairview Lawn Cemetery am Rand der Stadt begraben sind. Schlichte graue Marmorsteine stehen hier aneinandergereiht, auf manchen sind Namen zu lesen, auf anderen nicht. Zum Beispiel der von J. Ackerman, der als einer von vielen am 14. April 1912 mit der Titanic untergegangen ist. Zwei seiner Enkel haben einen Zettel mit einer Nachricht auf seinem Grab hinterlassen. Im Meeresmuseum im Hafen kann man Überreste der Titanic ansehen, zum Beispiel einen hölzernen Liegestuhl vom Deck des Schiffes. Man habe nicht viel, heißt es im Museum, aber das wenige sei „einzigartig“. Berührend sind die Dinge schon, sehr berührend sogar, etwa die winzigen Lederschuhe eines Kindes, das mit der Titanic unterging. So traurig will man die Besucher dann aber auch nicht gehen lassen. Und deshalb gibt es eine Sonderausstellung, die pralle Lebensfreude zeigt – eine Schau über schwule Seefahrer, die aus Liverpool geholt worden ist.

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