4 minute read
Vorwort, Gijs van Tuyl
Die Ausstellung ‘Josef Sudek - Das stille Leben der Dinge’ entstand in enger Kooperation mit der Mährischen Galerie Brünn, deren einzigartige Fotosammlung zu den ältesten Sammlungen künstlerischer Fotografie in europäischen Kunstmuseen zählt. Es finden sich hier über 2500 Arbeiten vor allem aus dem Gebiet des ehemaligen Österreich-Ungarn aus der Zeit vor 1918, aber auch eine wichtige Sammlung von Arbeiten der tschechischen fotografischen Avantgarde aus den Jahren 1918-1948.
Für das junge Kunstmuseum Wolfsburg, das von Beginn an der Fotografie große Aufmerksamkeit widmete, ist diese Zusammenarbeit eine besondere Ehre. Die Mährische Galerie zählt über 600 Arbeiten Josef Sudeks zu ihrer Sammlung und betreut diesen Schatz konservatorisch, wissenschaftlich und ausstellungspolitisch seit zwanzig Jahren. Sie hat 1976 nicht nur die erste umfassende Sudek-Ausstellung veranstaltet, ihr gebührt auch das Verdienst, 1995 zum ersten Mal die Panoramafotografien der Landschaft um Most veröffentlicht zu haben.
Advertisement
Ein besonderer Dank gilt Antonín Dufek, dem Leiter der Fotografischen Abteilung der Mährischen Galerie Brünn und exzellenten Kenner des Sudek'schen Werkes. Er hat als Kurator die Auswahl der Arbeiten vorgenommen. In seinem Katalogbeitrag stellt er die Werkentwicklung Sudeks vor und vermittelt, ergänzt durch einige Selbstzeugnisse, dem deutschen Publikum ein lebendiges Bild dieser eigenwilligen, ja eigenbrötlerischen Künstlerpersönlichkeit.
Photographien von Josef Sudek
Man wirft Ihnen manchmal vor, Sie sollten mehr, wie man sagt, aus dem Leben, machen.
Ich kann mir halt nichts aufzwingen. Wenn etwas über mich kommt, muß ich es machen. Sofort. Bevor es kalt wird. Und wenn ich zu etwas Lust habe, dann tue ich es. Wahrscheinlich ist das gut so. So werde ich zumindest nicht übergescheit. Und wissen Sie, warum ich es nicht mache? Weil zuviel gesagt wird, daß man es machen soll.
Alexej Kusák: Kleines fotografisches Panorama. (tsch.) Kultura 1959, Nr. 5.
Ich habe immer nur das fotografiert, wovon ich eingenommen war, was ich irgendwie lieb hatte.
Otakar Chaloupka: Es spricht der verdiente Künstler Josef Sudek.(tsch.) âs. fotografie 1963, Nr. 11, S. 373.
Alles muß nämlich eine gemeinsame, geschlossene Gestalt haben - es muß jedoch gleichzeitig eine selbständige Gestalt haben, nur die eigene.
dvk [Karel Dvofiák]: Dialog [MiloÀ Novotn˘s mit Josef Sudek]. (tsch.) âs. fotografie XVII, 1966, Nr. 2, S. 66.
1
1942 Milena
Der stille Häretiker Josef Sudek 1
Antonín Dufek
1 Vgl.: Jan Michl, Tich˘ Heretik [Der Stille
Häretiker], in: Jaroslav Andûl (Hrsg.), Pocta Josefu
Sudkovi [Zu Ehren von Josef Sudek], Manuskriptsammelband, 1976, Archiv der fotografischen Sammlung der Mährischen Galerie. Der für das Kunstgewerbemuseum in Prag vorbereitete Sammelband stellt die erste breiter angelegte Reflexion über Sudeks Werk dar und wurde mangels ausreichender Finanzmittel nicht herausgegeben.
2 Jifií Jeníãek, Josef Sudek. âs. fotografie VI, 1955, S. 26. Ein Häretiker ist der, dessen Wahrheit so kompakt ist, daß sie alle Konventionen sprengt. Josef Sudek war eine solche Persönlichkeit, ein einarmiger Fotograf, dessen Schaffen, obzwar automatisch als Kunst wahrgenommen, in der Welt der Fotografie lange nicht begriffen wurde. Heute ist er in allen bedeutenden Enzyklopädien, Lehrbüchern und Sammlungen, die sich mit Fotografie auseinandersetzen, vertreten. Sein Name wird vor allem in Verbindung gebracht mit dem tschechischen und slowakischen Lyrismus, der sonderbarerweise zuerst Amerika bezauberte und dann auch die übrige Welt bis nach Japan für sich einnahm. Sudek verwendete die Techniken und Technologien des vorigen Jahrhunderts. Seine Fotografien heben sich auf den ersten Blick durch seine charakteristische “Handschrift” von den übrigen ab. Sudek war nicht von seiner Zeit isoliert, er hatte jedoch seine eigene Vorstellung von ihrem Sinn. Er vollführte eine romantische Auflehnung eines sich mit der Ewigkeit auseinandersetzenden Individuums gegen die Moderne sowie gegen die offizielle Kunst. Er führte einen Dialog mit der Kulturgeschichte, setzte eine ganze Skala an Weltbetrachtungen um, von der Sachlichkeit bis hin zum Visionären, wobei er das modernistische Prinzip der rationalen Reduktion aus dieser Skala jedoch aussparte. Er war ein eigener Mensch, ein Künstler, ein Fotograf. Es stellt sich die Frage, ob man einige der Quellen dieser Originalität in seinem Leben aufdecken kann.
Seine Kindheit bezeichnete Sudek als glücklich. (“Nach dem Tod des Vaters sind wir nach Nové Dvory gezogen, wo es wie im Paradies war.”2) Er empfand nicht die Notwendigkeit, in der Schule etwas zu lernen. Er ließ nichts darüber verlauten, daß er den Vater und das männliche “Modell” der Beziehung zur Welt vermisse, er hat ihn einfach nicht gekannt. Wichtig war die Mutter, danach die Schwester, mit der er bis zu seinem Tode eine enge Beziehung hatte. Er heiratete nicht, und über sein Verhältnis zu anderen Frauen wissen wir fast nichts. Er gründete keine eigene Familie und blieb innerlich sein ganzes Leben lang in der Familie seiner Kindheit.
Man kann sich heute kaum vorstellen, was es für Sudek bedeutet haben mag, im Ersten Weltkrieg elf Monate an der Front zu verbringen. Eine Armverletzung befreite ihn, aber die spätere Amputation des ganzen rechten Armes war ein hoher Preis dafür. Alles deutet darauf hin, daß der Krieg und die Verletzung alle nicht gerade wenigen Eigenschaften Sudeks aktivierte und daß eine reife und starke, wenn auch gezeichnete Persönlichkeit aus dem Krieg nach Prag zurückkehrte. Ein Mensch, dessen Verletzungserlebnis ihn zu einem tieferen Individualismus motivierte, ein Mensch, der sein weiteres Leben bereits nach eigenem Gutdünken leben und sich nicht manipulieren