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Der stille Häretiker Josef Sudek, Antonin Dufek

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1955 Der Maler Václav Sivko

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3 Daniela Mrázková und Vladimír Reme‰,

A hudba hraje... Josef Sudek oãima fotografÛ [Und die Musik spielt... Josef Sudek mit den Augen von Fotografen], Praf 1996, S. 15.

4 Zu den Ereignissen in der tschechischen

Amateurfotografie der 20er und 30er Jahre, vgl.

Antonín Dufek, Adolf Schneeberger. Prag 1983;

Antonín Dufek, Jaromír Funke, prÛkopník fotografické avantgardy/Pioneering Avant-garde

Photography. Katalog, Mährische Galerie in Brünn 1996.

5 Jan €ezáã, Josef Sudek, Slovník místo pamûtí. [Josef Sudek, Ein Wörterbuch statt Memoiren.]

Prag 1994, S. 19. [Ursprünglich Kulturní tvorba 1966.] lassen wollte. Sudeks weiteres Handeln wurde sichtlich von dem Bewußtsein beeinflußt, daß die Gesellschaft ihm etwas schuldet, was sie ihm nie wieder geben kann, wobei ihm jedoch Verbitterung fern lag und Rebellentum nahestand. Durch das körperliche Opfer, das er brachte, fühlte er sich wohl gegenüber den Autoritäten aller gesellschaftlicher Pflichten entbunden. Er war entschieden ein Mensch, der sich von keiner Gesellschaft ein zweites Mal freiwillig zum Krüppel machen lassen würde.

Voraussetzungen Bald nach der Rückkehr aus dem Krieg kommt Klarheit in Sudeks Leben. Er lehnt die ihm angebotene Beamtenstelle ab (“Es war nämlich Frühling und die Sperlinge zwitscherten...”3). Das Fotografieren wird bei ihm insbesondere ab dem Jahre 1920 zur Leidenschaft, die in kurzer Zeit mit durchschlagenden Erfolgen auf in- und ausländischen Ausstellungen verbunden war (ab 1921, damals war er 25 Jahre). Die zwanziger Jahre sind faszinierend. Die Freundschaft mit dem Avantgardisten Jaromír Funke ist von Anbeginn ungetrübt und dauert bis zu Funkes Tod im Jahre 1945. Gemeinsam mit dem Fotografen Adolf Schneeberger führen die beiden Freunde ihren eigenen, intimen und um vieles interessanteren Krieg gegen die Autoritäten in der Fotografie, bei dem eine Palastrevolution von der anderen abgelöst wird. Funke und Sudek werden schließlich - zumindest zeitweilig - aus allen fotografischen Vereinen ausgeschlossen, denen sie beigetreten waren. Ihre Namen bleiben jedoch ständig verbunden mit der berühmten Tschechischen Fotografischen Gesellschaft. Im Jahre 1921 wird Drahomír Josef RÛÏiãka, ein Mitglied der Pictorial Photographers of America, der seine eigenen Fotografien und die von anderen sowie amerikanische Zeitschriften aus New York mitbringt, für tschechische Fotografen kurzfristig zur Autorität. Die Idee des fotografischen Purismus siegt und wird auch für den ersten programmatischen fotografischen Verein in der Tschechoslowakischen Republik, der Tschechischen Fotografischen Gesellschaft, zum Credo.4

Gleichzeitig lernt Sudek die Hauptvertreter des böhmischen fotografischen Jugendstils kennen, die Berufsfotografen Franti‰ek Drtikol und insbesondere Karel Novák, unter deren Leitung er an der Staatlichen Graphikschule eine Lehre im Fach Fotografie macht (1922 - 1924). Er hat Glück: auf sein ungestümes Verhalten und seinen Soldatenwortschatz reagiert der vornehme Novák angeblich nur durch einen kurzen Blässeanfall und durch einen vorübergehenden Gehörverlust. Auch Novák zeigt seine Fotografiesammlung und die Zeitschriften wie Camera Work, Sudek nimmt für seine Portraits jedoch eher die bezaubernden Hollywoodstreifen und Filmfotos von Schauspielerinnen als Ausgangspunkt. Nach Abschluß der Schule beschreitet er seinen beruflichen Weg. Im Jahre 1927 erwirbt er gemeinsam mit Adolf Schneeberger ein älteres Atelier und richtet es mit ihm auch her. In diesem Atelier wirkt er bis zu seinem Tode. Ein Jahr später gibt er zum zehnten Jahrestag der Republik seine erste Publikation heraus. Ein Portfolio mit Originalfotografien der Prager St. Veitskathedrale. Neben dem Piktorialismus beginnt sich hier schon die Neue Sachlichkeit durchzusetzen. Es folgen Buchpublikationen, Kalender - die harte Arbeit eines gewerbetreibenden Fotografen. Und dann sind die abenteuerlichen zwanziger Jahre auch schon vorbei.

Innerhalb kurzer Zeit wird der Name Sudek zu einem Synonym von Professionalität in der Fotografie. Er ist vor allem gesucht bei den Vertretern der funktionalistischen Kultur der dreißiger Jahre. Am engsten ist die Zusammenarbeit mit dem Designer Ladislav Sutnar. Die Impulse kommen bereits nicht mehr aus der Welt der Fotografie, sondern aus dem Design, der Architektur und vor allem aus der bildenden Kunst. Sudek lernt den Maler und Theoretiker Emil Filla kennen, den Redakteur der Zeitschrift Volné smûry, für die er Bilder und Statuen reproduziert (seine Reproduktionen kann man heute für gewöhnlich von den anderen deutlich unterscheiden). Filla nimmt nach Funkes Tod (1945) für Sudek offensichtlich die Rolle des intellektuellen Gegenspielers ein, er stirbt jedoch - unter Mitwirkung der Stalinisten - bereits im Jahre 1953. Anders geartet ist die Vorkriegsfreundschaft mit dem Maler Franti‰ek Tich˘, für den Sudek als “Dealer” tätig ist und ihm hilft, dessen Aufenthalt in Paris zu finanzieren. Tich˘ ist das ungebändigte Element, ein Trinker, der den Preis der Irrationalität gut kennt. Zum Irrationalismus führen auch die Begegnungen mit dem Surrealismus, der nach Paris in Prag das größte Echo fand. Im Jahre 1934, als schließlich eine Prager Surrealistengruppe gegründet wurde, fotografiert Sudek Baumwurzeln in Form von Tiergestalten, die im gleichen Jahr von dem Hauptvertreter des tschechischen Surrealismus Jindfiich ·tyrsk˘ gemalt werden. Als Fotograf wie auch als beginnender Sammler von Werken aus der bildenden Kunst verinnerlicht Sudek jede Begegnung mit der bildenden Kunst. Dies betrifft nicht nur die damalige Kunst, sondern auch die alten Meister. Später sollte sich zum Beispiel zeigen, wie wichtig die Begegnung mit den damals entdeckten Stilleben des Malers Josef Navrátil (1798-1865) war. Neben der bildenden Kunst wird Sudeks Aufmerksamkeit immer mehr auch von der klassischen und zeitgenössischen Musik gefesselt.

Der berufliche Erfolg Josef Sudeks vermag ihn nicht von seinem eigenen Schaffen abzubringen. Neben Prag photographiert er hauptsächlich Details aus der Natur und bisweilen auch Zufallsmomente in von ihm besuchten Innenräumen. Er nimmt an allen wichtigen Ausstellungen teil und hat auch eine eigene Ausstellung (1933), was damals eine Seltenheit ist. Methodisch allerdings überschneidet sich sein freies Schaffen mit der Gebrauchskunst, es sind alles scharf und detailliert konturierte Fotografien im Geiste der Neuen Sachlichkeit, ähnlich wie bei Strand, Weston und Renger-Patzsch. Er ist sicherlich einer der besten Fotografen der Neuen Sachlichkeit, doch einer von vielen. Die Motive können zum Bereich der Naturlyrik gezählt An der Schwelle des Zweiten Weltkrieges kann Josef Sudek bereits auf ein umfangreiches Werk zurückblicken. Darin können wir drei Schaffensperioden unterscheiden. Die Anfänge gehören der Jugendstilfotografie (fast alle Bromöldrucke und ein Teil der Pigmentdrucke werden von ihm später vernichtet), besonders nahe steht er Vladimír Jindfiich Bufka. Unter dem Einfluß von Drahomír Josef RÛÏiãka wendet er sich nach 1921 dem puristischen Piktorialismus zu und wird der Autor von vielen impressionistischen Fotografien, auf denen ein leicht schimmerndes Licht die Umrisse der Gegenstände gänzlich verschwinden läßt. Ende der zwanziger Jahre wendet er sich dem entgegengesetzten Pol zu, der präzisen Beschreibung der Wirklichkeit in neutralem Licht. Die Bedürfnisse der Gebrauchsfotografie, mit der er sein Brot verdient, sind unter anderem der Anlaß, die Neue Sachlichkeit zu akzeptieren.

Was ist von diesen drei Fotografiemodellen in Sudeks reifem Werk, das nach dem Zweiten Weltkrieg zu wachsen begann, übriggeblieben? Aus der ersten Schaffensperiode ist es der Subjektivismus, die Bildkonzeption als Resonanzboden der Gefühle.

Aus der zweiten Schaffensperiode die sogenannte “Lektion des Lichtes”. Sudek beschreibt sie folgendermaßen: “Die ersten Sachen, die ich machte, sind auf großen Kontrasten aufgebaut, die ich ganz und gar nicht beherrschte. Damals habe ich noch nicht gewußt, daß alles auf Schatten basiert.Damals kam Herr RÛÏiãka aus Amerika. Auf dessen Fotografien war alles mit Schatten. Wir haben uns das wie Blödmänner angeguckt. Aber wie war das möglich? Er sagte: ‘Stellt es auf Schatten, der Rest kommt dann von selbst.’ Damit habe ich angefangen.”5 So sah also die erste tschechische Lehrstunde des damals allerdings noch nicht existierenden Zonensystems aus.Sudek machte angeblich keinen Gebrauch von einem Belichtungsmesser, mit der Zeit schuf er sich jedoch eine individuelle “Belichtungsmetrie”, die am endgültigen Aussehen seiner Positive einen beträchtlichen Anteil hat. Über die Dauer von Sudeks Belichtungen erzählt man sich Legenden (genauso wie über alte Entwickler, abgelaufene Papiere usw.). Das Licht spielt im Spätwerk des Fotografen meistens die Hauptrolle.

Lubomír Linhart präsentierte in der ersten Monographie über Josef Sudek, die zu seinem sechzigjährigen Geburtstag erschien (1956) und von Franti‰ek Tich˘ graphisch gestaltet wurde, nur die drei unterschiedlichsten Fenster meines Ateliers. Erst Jan €ezáã legte den Grundstein für das Verstehen von Sudeks Werk. Die zweite, eine nichttschechische Monographie (Prag 1964), die Sudeks Werk ab den vierziger Jahren gewidmet ist, wurde mit 25 Fenstern eingeleitet. Die sorgfältige Auswahl an Fotografien war von der ersten adäquaten Würdigung begleitet: “Josef Sudek ist einer der größten Fotografen aller Zeiten. Auch wenn dieses Urteil gewagt zu sein scheint, ist es voll und ganz berechtigt.” Aus der dritten Periode ist fast nichts verschwunden, die beeindruckend getreue Darstellung der Wirklichkeit hat für gewöhnlich beträchtlichen Anteil an der Wirkungskraft der Fotografien.

Ein anderer Sudek

Die Änderung seiner fotografischen Methode datiert Sudek ins Jahr 1940 und beschreibt sie mehrmals als ihrer Art nach einleuchtend, er beschränkte sich jedoch auf die technische Seite. Er erzählte, wie ihn ein altes Kontaktpositiv von großen Abmessungen, das eine gotische Statue aus Chartres zeigte, beeindruckte. Er entschied sich dazu, nicht mehr zu vergrößern und in Zukunft nur noch Kontaktkopien anzufertigen (vgl. hierzu: Aus einem Interview mit Josef Sudek). Diese Entscheidung bescherte ihm eine Menge technischer Probleme, die er aber in Kauf nahm (wenn auch nicht vorbehaltlos). Nach und nach begann er, alte Kameras für größere Negativformate zu benutzen, er kam bis auf das Format 30x40cm. Nach dem Krieg entdeckte er auch eine Kodak Kamera für das Format 10x30cm und wurde berühmt mit Panoramafotografien. In den Jahren 1947-54 kehrte er zur Technik des Pigmentdrucks zurück, teilweise aus Befürchtungen bezüglich des Alterns der Bromsilberpositive, teilweise wegen einer günstigeren Übertragung vom Negativ (er hatte beim Kopieren immer Probleme mit nicht genügend weichen Bromsilberemulsionen).

Soweit die technischen Daten. Man könnte annehmen, daß Sudek mit den Kontaktkopien ursprünglich einen noch größeren Verismus im Geiste der Neuen Sachlichkeit erreichen wollte und daß der Pigmentdruck ihm zum Beispiel bei den Möglichkeiten der Farbtonwahl besser entsprach. Dann aber ergibt sich ein Paradox: als Sudek die modernen Aufnahmetechniken und Positivverfahren gegen anachronistische Techniken aus dem vorigen Jahrhundert austauschte, hatte er dabei tatsächlich im Sinn, eine moderne Fotografie mit einer unmodernen Ausrüstung zu machen? Oder wollte er ins vergangene Jahrhundert zurückkehren? Das Werk sagt etwas anderes aus, aber darüber erfahren wir aus dem Munde des Autors fast nichts.

Zusammen mit der Wahl neuer fotografischer Methoden began ein neuer fotografischer Zyklus zu entstehen: “Fenster meines Ateliers”. Es bietet sich die Hypothese an, daß der Autor die bequemste Art und Weise wählte, die Möglichkeiten der Kontaktpositive auszuprobieren. Aber sicherlich existierten bequemere Methoden (z.B. Stilleben). Wie dem auch sein mag, “Fenster meines Ateliers” stellt das originellste Motiv in Sudeks Schaffen dar. Es ist auch ein neues Motiv in der Geschichte der Fotografie, ein zu seiner Zeit schockierendes.6) Sudek gelang es, gerade zu einer Zeit mit etwas Neuem zu kommen, als alles bereits fotografiert zu sein schien. Ansichten durch geöffnete, bzw. auch durch geschlossene Fenster finden wir in der Geschichte der Malerei, was aber nur entfernte Parallelen sind. Das Fenster von Sudeks Atelier ist geschlossen, aber es eröffnet eine neue Einsicht in die Welt des Fotografen. In seinem Werk stellt es die erste Einladung ins Private, den Anfang eines neuen Weges dar. Mit dem Fenster aus Sudeks Atelier beginnt auch diese Ausstellung.

Gegenstand von Sudeks Interesse ist vor allem die Fläche des Fensters selbst, jedoch nicht in “normalem” Zustand, sondern beschlagen, vereist, mit Reif bedeckt, durch Feuchtigkeit in Bewegung gebracht, geformt durch herunterrinnende Regentropfen. Scheinbar geht es um das Fotografieren von “Strukturen”, eine der grundlegendsten Entdeckungen der modernen Fotografiegeschichte. Nur daß Sudek keine “abstrakten” Details fotografiert, sondern das ganze Fenster mit Segmenten aus der Welt vor und hinter ihm: er stellt einen Trialog dreier räumlicher Pläne dar, unter Umständen ein Dialog zwischen Fläche und Raum. Obwohl die Fensterfläche dominiert, mangelt es nicht an der Illusion des Gesamten. Sudek entledigt sich gewissermaßen auf einen Schlag der Abstraktion, des Rationalismus, der alles seiner konkreten, eigenen Ordnung unterordnenden Kompositions muster.

Durch die Abwendung von der Moderne, die Erneuerung der Illusion des räumlichen Ganzen als Ausschnitt aus der Gesamt heit der Welt, öffnet Sudek die Tür zu signifikanten Bilddimensionen als Verweis auf die gelebte Wirklichkeit. Was alles ist ein Fenster? Durch das Fenster schauen wir, es symbolisiert also eine Betrachtungsweise, ein Sehen. Das Fenster ist auch der Archetyp eines Bildes als Ausschnitt der Wirklichkeit. Das teilweise undurchsichtige Glas auf Sudeks Fotografien ist sowohl Hindernis der Betrachtung als auch Bildkonzeption als Sicht aus dem Fenster, andererseits verweist es offensichtlich auf ein antiillusionistisches Bildverständnis als gestaltete Fläche. Weil bei Sudek jedoch die Fläche des Fensters nicht mit der Fläche der Fotografie identisch ist (wie dies in der Neuen Sachlichkeit der Fall wäre) und sich den Raumkoordinaten vor der Kamera nicht entzieht, wird sie zu einem Bild im Bild. Die akzentuierte (für gewöhnlich durchsichtige) Glasfläche hat jedoch auch weitere Bedeutungen, sie macht zum Beispiel auf die Barriere zwischen dem Inneren und dem Äußeren aufmerksam, und zwar in einer faktischen, unter Umständen übertragenen Bedeutung. Gleichzeitig verschmilzt das Innere auf der Fensterfläche mit dem Äußeren, es spielt sich ein Dauerkonflikt zwischen der nach aussen drängenden Sicht und der nach innen dringenden äußeren Welt ab, wobei es jedoch unmöglich ist, ganz drin oder ganz draußen zu sein. Den Zyklus kann man als Gleichnis einer existentiellen, durch den Krieg geprägten Situation wahrnehmen. Hier ist der Blickwinkel der existentialistischen Philosophie relevant, die während des Krieges so aktuell wurde, auch wenn direkte Kontakte von Sudek mit dem tschechischen Existentialismus nicht belegt sind. Der Fenster-Zyklus ist die erste Serie von Sudek. Auch das ist ein Zeichen für einen Bruch. Das serielle Prinzip hat Sudek bisher ansonsten gemieden. “Fenster meines Ateliers” ist ein um-fangreicher monotoner Zyklus, der von einer außergewöhnlichen Eingenommenheit durch das Motiv zeugt. Von der Eingenommenheit (oder Gefangennahme, wenn man so will) hat der Foto-graf sich erst durch die Verlagerung seiner Aufmerksamkeit von der Fensterfläche auf die auf der Fensterbank stehenden Gegenstände befreit, und von hier aus auf weitere Stilleben, die innen und bald auch in der Außenwelt jenseits der Glasscheibe vorgefunden werden.

Bis in die vierziger Jahre macht Sudek gemeinsam mit seinen progressiven Zeitgenossen nach und nach die einzelnen “Etappen” des Schaffens durch, danach war alles bereits anders. Während des Krieges, in seinem fünften Lebensjahrzehnt, reift eine Persönlichkeit heran, der die Uniform der Neuen Sachlichkeit viel zu eng ist. Der Verismus, der Sudek auf den Kontaktkopien der Statuen aus Chartres wohl beeindruckt hatte, bringt ihn zum Illusionismus, der die wichtigsten Erfahrungen aus dem vorherigen Schaffen in sich vereint. Josef Sudek reift als Persönlichkeit langsam, aber ähnlich wie sein Lieblingskomponist Leo‰ Janáãek gelingt es ihm in spätem Alter, sich den Konventionen seiner Zeit zu entziehen. An Sudeks Wandlung ist sicherlich auch die merkwürdige Kriegszeit beteiligt, die die gesammelten Erfahrungen aktivierte. In der Einsamkeit, an der Leinwand des Fensters seines Ateliers beginnt Sudek ein neues Werk, das er mit niemandem teilt. Um von der Magistrale der modernen Fotografie wegzukommen und seinen eigenen Weg zu bahnen, mußte er über unermeßlichen Mut, Sicherheit, Entschiedenheit, Kraft und Ausdauer verfügen. Es ist eine verrückte Tat, aber er ist darauf vorbereitet. Je mehr ihm der Arm dabei fehlt, um so fester steht er auf beiden Beinen.

Die Nachkriegszeit

Josef Sudek ändert sich nicht plötzlich, bei ihm bedeutet die Geburt von Neuem nicht die Negierung des Alten. In einem seiner späteren Interviews sagte er, daß er in den dreißiger Jahren auf zu vielen Stühlen gesessen habe, was in abnehmendem Maße jedoch noch für zwei weitere Jahrzehnte gilt. Es ist schwer, im Portrait, in der Darstellung von Orten und in der Gebrauchsfoto-grafie Konventionen zu meiden, wenn man auf Aufträge angewiesen ist. In den Jahren 1940-55 entstehen jedoch - neben “Fenster meines Ateliers” - Werke, die sich kurz

Jaroslav Seifert, Josef Sudek - Pan fotograf [Josef Sudek - Der große Fotograf], in: Jan Mlãoch, Jan €ezáã, Katalog, Hrsg. Jan Mlãoch, Jan €ezáã, Verwaltung der Prager Burg und des Kunstgewerbemuseums 1996, S. 204.

Jaroslav Seifert, Josef Sudek - Pan fotograf, a.a.O., S. 204.

An einem Teil der fotografischen Arbeit Sudeks beteiligte sich jifií toman, einer der bemerkenswertesten tschechischen Künstler, der über Sudeks Arbeit in diesem Buch Zeugnis ablegte: ·est otázek Jifiímu Tomanovi aneb vyptávání na Josefa Sudka. [Sechs Fragen an Jifií Toman oder Befragung über Josef Sudek.] âs. fotografie 1966, S. 54.

Das komplette Buchmodell mit 128 Originalaufnahmen und Texten von Dalibor Kozel wurde von der Mährischen Galerie erstanden. Bisher wurde für das Buch noch kein Verleger gefunden.

Die Fotografien von Josef Sudek und Josef Koudelka aus der Gegend um Most wurden im Jahre 1995 in der Mährischen Galerie parallel aus gestellt. darauf zu Sudeks charakteristischen Motivthemen entwickeln. Aufnahmen der Prager Peripherie und vom nächtlichen Prag, des Prager Kleinseitner Friedhofs, von Hukvaldy, den Beskiden und der zahlreichen Stilleben, alle zählen bereits zu den Fotografien, die ihm später weltweiten Ruhm einbringen werden.

In den vierziger und fünfziger Jahren festigt sich auch Sudeks Lebensstil und sein damit zusammenhängendes Image. Im Vergleich zu den dreißiger Jahren, während der er auf regelmäßige Auftragsarbeiten angewiesen war, ist er jetzt freier: meistens arbeitet er auf Motiven, aus welchen früher oder später Publikationen entstehen können aber nicht müssen. Sein Verhältnis gegenüber Autoritäten ändert sich nicht. Es sind Zeugnisse von ihm darüber überliefert, daß er problemlos vermochte, den größten tschechischen Kapitalisten BaÈa in den dreißiger Jahren, wie auch den kommunistischen Funktionär, der ihm in den fünfziger Jahren einen Preis überreichte, in die Schranken zu weisen. Als Opfer eines “imperialistischen Krieges” ist er auch in den fünfziger Jahren in relativer Sicherheit und muß sich keine Gewalt antun. Er steht für gewöhnlich spät auf, läuft in abgetragenen Kleidern herum, an denen fast immer irgendein Knopf fehlt, geht selten zum Friseur. Man pflegt zu sagen, daß er lediglich das ißt, was auf seinen Stilleben zu sehen ist (Brot, Zwiebeln, Eier). Er hat weder Telefon noch Fernseher. Dabei gibt er Bücher heraus, erhält Ehrungen und erfreut sich allgemeiner, jedoch wohlwollender Anerkennung (“er ist doch eigentlich ein Armer”). Er ist auf jedem guten Konzert zu sehen und schlechte verläßt er nach einer Weile. “In den Pausen bewegte er sich in den erleuchteten Gängen völlig gelassen zwischen den eleganten Zuhörern, Herren in schwarz und Damen mit schönen Frisuren, in langen Abendkleidern. Man könnte sagen, daß sie ihn in keinster Weise störten.../Er sagte sich mit den Dichtern, daß die Welt eine einzige große Maskerade ist, in der er, unbesorgt und wie ein Bettler bekleidet, wandelt. Und wenn ihm das irgendwer auch nur sachte vorhielt, war er für immer beleidigt. Vielleicht zurecht. Er war was das angeht völlig einzigartig und völlig sich selbst.”7) In seinem Atelier und später in der Wohnung finden die dienstäglichen Hörstunden klassischer Musik statt. Die Besucher setzen sich auf engem Raum auf die verschiedenartigsten Gegenstände “und die Musik spielt”, was der berühmteste Spruch Sudeks ist. “Die Musik spielt” für Sudek vor allem dann, wenn er draußen mit der Kamera auf ein photographierwürdiges Motiv stößt.

Sudeks Image ist ein stilisiertes Bild proletarischer Schlichtheit und Armut, wozu sich noch ein wenig seine durch die Körperbehinderung zum Ausdruck gebrachte Exzentrizität gesellt. Jeder in Prag begegnet ihm und kennt ihn, er ist einer der wenigen Farbtupfer in der grauen und toten Großstadt. Er wird zum wohlgelittenen Kontrapunkt des kommunistischen Kollektivismus, der Linientreue und der Intoleranz. Ihn umgibt ein Hauch von Freiheit. Symbol dieser Freiheit ist seine allseits bekannte Unordnung (wie soll man auch mit einer Hand aufräumen?), die von ihm sogar photographiert wird. “In zwei Worten: dort war eine phantastische Desorganisiertheit. Bretons Surrealismus wäre da auf seine Kosten gekommen. Eine Zeichnung von Jan Zrzav˘ lag zusammengerollt bei einer Flasche mit Salpetersäure, die auf einem Teller stand, auf dem Brotrinde und angebissenes Rauchfleisch war. Und darüber war der Flügel eines Barockengels mit Sudeks Barett aufgehängt, das dem Ende seiner irdischen Existenz

entgegenzitterte. Dies alles betrachtete sich mit beneidenswerter Ruhe Sudeks Schwester. Sie war sich sehr wohl dessen bewußt, daß jeder Eingriff im Namen der Ordnung und Sauberkeit diese Ordnung stören würde. Sudek kannte sich nämlich in dieser einzigartigen Unordnung, in all diesen Sachen und diesem Krimskrams genau aus. So wie ein Orgelspieler in der Fülle der Tasten und Pedale. Falls er etwas brauchte, griff er ohne nachzudenken an die richtige Stelle.../Dieses einmalige Durcheinander der Sachen war so pittoresk, so unerschöpflich reich, daß es fast einem sonderbaren, aber sehr raffinierten Kunstwerk gleichkam.”8)

Im kommunistischen Regime voller Paradoxe wird Sudek trotz seiner Außergewöhnlichkeit nicht vom institutionellen Geschehen ausgeschlossen. Sein Name hilft zunächst ehemaligen Gewerbetreibenden, Mitglieder im Verband bildender Künstler zu werden, später taucht er in verschiedenen Kommissionen und Räten auf, mit welchen gegen Ende der fünfziger Jahre eine neue Hochkonjunktur der Fotografie beginnt. Sudek, ein Mensch mit “gesundem Menschenverstand”, pflegt zu den Vertretern seiner sowie der jüngeren Generation, die die Vergangenheit nicht vergessen haben und sich bemühen, etwas Sinnvolles zu machen, größtenteils ein gutes Verhältnis. Solche finden sich fast in allen kulturellen Institutionen. Dank ihnen kann Sudek ausstellen und publizieren.

Panoramabilder der Zivilisation

Die Reaktion der meisten Fotografen auf den Faschismus und den Krieg war es, Denkmäler zu fotografieren, die die Identität und die ruhmreiche Vergangenheit des tschechischen Volkes symbolisierten. Sudek wendet sich hingegen der Prager Burg und den Prager Straßen zu. Nach dem Krieg gibt er verschiedene Publikationen über Prag heraus. In dieser Hinsicht ereignet sich in seinem Werk nichts Umstürzlerisches. In diesen und späteren Fotografien Prager Denkmäler kann er seine Persönlichkeit am wenigsten realisieren. Nichtsdestoweniger sind es vor allem er und Karel Plicka, die das Bild des alten Prag festhielten.

Im Jahre 1959 kommt jedoch das Buch Prag als Panorama heraus, dessen Bedeutung entschiedenermaßen nicht nur auf dem ungewöhnlichen Format der Fotografie beruht (10x30cm). Es ist das erste Buch des “neuen Sudek”. Es entzieht sich einfach der damals herrschenden Norm für Publikationen über Städte. So als ob ein Stein ins Wasser geworfen würde, präsentiert Sudek die Stadt in Kreisen, vom Zentrum bis zur Peripherie, für die sich bisher niemand interessierte. Der umfassende Band (284 Abbildungen) entsteht unter unglaublichem körperlichem Einsatz.9) Sudek durchkämmt dabei wohl die ganze Umgebung der Stadt. Er huldigt der Alltagsästhetik, die in der tschechischen Kunst bereits im 19. Jahrhundert eine außerordentliche Bedeutung hatte und in der vorkommunistischen Ära insbesondere durch die Gruppe 42 (der Theoretiker Jindfiich Chalupeck˘) aktualisiert wurde. Heute können wir Prag als Panorama in die Koordinaten der sogenannten neuen Topographie übertragen. Dank dem Bestreben, Prag komplex zu erfassen, ist das Buch eine bewegende Konfrontation des historischen Zentrums mit weiteren Zeitschichten der sich entwickelnden Stadt einschließlich der provisorischen Disharmonie der Peripherie. Fotografisch jedoch wird alles mit der gleichen Wichtigkeit und Kultiviertheit, mit der gleichen eigentümlichen Optik des Panoramagerätes verewigt. Als Bild kann dann ein Holzschuppen würdevoll mit dem Nationaltheater konkurrieren.

Das zweite Buch von Sudeks Panoramen wurde - obwohl von größerer Bedeutung - leider bis heute nicht publiziert. Es entsteht in der Gegend um Most in den Jahren 1957-62.10) Als Josef Koudelka in den Jahren 1990-94 für seine Ausstellung und Publikation “Schwarzes Dreieck” (Prag 1994) an denselben Orten fotografierte, ahnte er nicht, daß er dreißig Jahre später auf den Spuren von Josef Sudek wandelte.11) Die Darstellung der durch Braunkohletagebau und die damit verbundene Industrie verwüsteten “Todeslandschaft” Nordwestböhmens, nehmen wir heute natürlich mit ökologischen Augen, unter Umständen durch das Prisma des Programmes einer “neuen Topographie”, wahr. Sudek konnte das Wort “Ökologie” damals noch nicht kennen, trotzdem schuf er das erste ökologisch bedeutende Werk - nicht nur - in der tschechischen Fotografie. Man muß kein Wissenschaftler sein, um in diesem Falle begreifen zu können, was da vor sich geht. Öffentlich reden konnte man darüber jedoch nicht, sodaß wir aus einem der Interviews nur erfahren, daß Sudek diese Landschaft als traurig empfand. Für damalige Verhältnisse war das eine kühne Aussage über die Hauptader der tschechischen Energiewirtschaft.

Es scheint, daß ähnlich wie im Falle der Prager Peripherie, Sudek auch in der Gegend um Most eingenommen ist von der “Andersartigkeit” der Region, die sich dem Kanon einer kultivierten und nicht kultivierten Landschaft entzieht und die er auf anderen Fotografien so wirkungsvoll zu gestalten wußte.

Z.B. Liebende I, II; die späteren “Ostererinnerungen” sind anders.

Wir erinnern zumindest an die Fotografien von Emila Medková aus der Zeit um 1950 und an die Gemälde ihres Mannes MikulበMedek. Beide waren Mit-glieder der illegalen Gruppe der Surrealisten in Prag. Eine Verbindung besteht vor allem im Augenmotiv. Sein Zyklus, der neben zerstörter Erde sowohl Vegetationsüberreste als auch verschwundene Städte und Dörfer festhält, ist von unermeßlichem dokumentarischem Wert. Bemüht um Objektivität, fotografiert Sudek bei Tagesstreulicht unter einem deprimierend grauen Himmel, der die meisten Fotografien des Zyklus miteinander verbindet. Die Panorama-kamera aus dem vorigen Jahrhundert wurde dadurch zum richtigen Instrument, das dazu in der Lage war, das Ausmaß der Verwüstung zu erfassen. “Die Gegend um Most” stellt wohl den äußersten Gegenpol von Sudeks Romantik dar. Den Landschaftsbildern im stillen Dialog zwischen Himmel und Erde stehen hier das Schweigen der Ödnis unter einem durch Entsetzen verstummten Himmel gegenüber. Es ist ein Bild der Arroganz des kommunistischen Regimes, das die Landschaft in ein Produktionsmittel verwandelte. Es ist ein Gleichnis der Sackgasse Zivilisation, der Kehrseite des Humanismus.

Bäume, Wälder, Parks, Gärten

Im ganzen Werk Sudeks sind Bäume von Anfang an das dominante Motiv. Für ihn stellen sie Lebewesen dar, die ähnlich wie Menschen wachsen und sterben. Er ist auch fasziniert vom jährlichen Kreislauf der Natur. Seine Zeit ist der Vorfrühling. Dann zieht er mit seiner Kamera los, die ersten Knospen, Blätter und Blumen einzufangen. Im Sommer fährt er manchmal in die Landschaft seines geliebten Leo‰ Janáãek (Hukvaldy), in den Beskidenurwald Mion‰í, bisweilen auch woandershin. In den Beskiden fotografiert er häufig kranke und abgestorbene Bäume, “verschwundene Skulpturen”. Wir können uns kaum des Gedankens erwehren, daß er zu diesen Torsi eine gewisse Ähnlichkeit und emotionale Verbundenheit verspürt. Er meidet weder zoomorphe noch anthropomorphe Formen, seine Aufnahmen gehen jedoch immer über eine Selbstzweckästhetik der Urwüchsigkeit hinaus. In den “Waldinterieurs” kann er somit an die Urwälder von Jaromír Funke aus der Karpatho-Ukraine (1937-38) anknüpfen, der Zusammenhang beschränkt sich jedoch auf das Motiv. Der Urwald Sudeks ist eine einzigartige Umgebung, die die ursprüngliche Landschaft symbolisiert, den Schoß der Natur und die Mutter Erde. Es ist ein mystischer Ort, der Ort, den der Mensch in der Welt ursprünglich bewohnte. So wahrhaftig diese Aufnahmen im Vergleich zur Landschaftsromantik sind, um so innerlicher, vergeistigter und wahrhaftiger sind sie! Dies ist freilich eine allgemeiner gehaltene Charakteristik von Sudeks Werk, das in der ewigen Rivalität zwischen Malerei und Fotografie zweifellos Bestand hat.

Die kultivierte Vegetation von Parks, Gärten und Friedhöfen stellt in Sudeks Werk einen gewissen Kontrast zu den Wäldern dar. Kontrapunkt zu Sudeks eigenem Gärtchen mit dem Atelier, in dem sich die Ästhetik der Peripherie konzentriert, ist der Zauber-garten von Otto Rothmayer, dem Architekten der Prager Burg. Sudek verwendet dort abwechselnd wohl alle seine Kameras (und Objektive), und lagert dort auch seine größte Kamera für das Format 30x40cm. Hier entstehen seine liebsten Fotografien, hier setzt er seine Sehnsucht nach Schönheit und nach dem Geheimnisvollen um.

Mit dem “Zaubergarten” örtlich verbunden ist der faszinierende und einzigartige Zyklus “Erinnerungen”. Sudek ist zu dieser Zeit von der Literatur inspiriert und wollte ursprünglich einige literarische Werke illustrieren, die auch sein Freund Franti‰ek Tich˘ gestaltete. (Die ersten Namen lauteten “Erinnerung an E. A. Poe, Erinnerungen an Jakub Arbes”, usw.) Diese neue Position in Sudeks Schaffen beeinflussen auch die Freunde Jan €ezáã, Otto Rothmayer, Václav Sivko und weitere. In den fünfziger Jahren, zur Zeit des Stalinismus und des sozialistischen Realismus, entsteht bei den Rothmayers ein düsterer, dämonischer Traumzyklus voller kaum entschlüsselbarer Bedeutungen. (Das häufige Auftreten von Glasaugen kann man heute fast nicht anders deuten als einen Verweis auf die paranoide Atmosphäre jener Zeit.) Er stellt eine künstliche, inszenierte Wirklichkeit dar und entzieht sich allein damit schon dem Kontext der europäischen Fotografie. Der Name des Zyklus ist an sich verwirrend, da unverkennbar der Traum Modell stand für diese Fotografien, worauf der Autor auch dadurch Aufmerksam macht, daß er die meisten davon nachts aufgenommen hat.

Der Zyklus “Erinnerungen” reflektiert zusammen mit einigen anders betitelten Fotografien12) die Tradition des Surrealismus. Im Kontext der tschechischen Kunst ist er kein Einzelfall.13) Gleichzeitig entfernt er sich aber durch die Traumhaftigkeit und durch eine ganz und gar freie lyrische Imagination vom Surrealismus. Sudek hielt sich, obwohl ihm das Werk Salvadore Dalis gefiel, an keine Muster und Theorien; er ging von den durch die eigene Erfahrung inspirierten Vorstellungen sowie von dem Milieu aus, das ihm vertraut war. Gerade die Umgebung, das Motivrepertoire seiner Fotografien aus dem Zyklus “Erinnerungen” sowie einiger weiterer Arbeiten aus dem “Zaubergarten” und aus dem Zyklus “Kontraste”, prägen den manieristischen Charakter dieser eigenständigen Fotografien, die eine der gefühlvollen Faszinationen der Postmoderne formulieren. Die manieristische Linie von Sudeks Schaffen verändert sich feinsinnig und schlägt sich später insbesondere in arrangierten Stilleben nieder (wahrscheinlich beginnend mit dem Stilleben nach Caravaggio I, II, 1956). Auf sie bezieht sich das Credo des Autors: “Der Reiz von allem liegt im Rätselhaften”. Das Stilleben ist in Sudeks Werk bis in die fünfziger Jahre nicht zahlreich vertreten. Ab dem Jahre 1950 wird es zum Laboratorium des Fotografen und zugleich zum Ort des intensivsten Dialoges mit der Vergangenheit der Malerei, angefangen von den alten Niederländern über Caravaggio und Navrátil bis hin zum Kubismus, Surrealismus und weiteren Richtungen der modernen Kunst. In der Postmoderne wird dieses Schaffen unglaublich aktuell, man möchte manchmal fast nicht glauben, daß es sich dabei nicht um Werke der Gegenwart handelt. Woanders wiederum scheint es, als ob Sudek die ungeschriebene Pflicht eines Fotografen erfülle, die visuelle Wahrhaftigkeit von Werken der Malerei aus der Zeit vor der Entdeckung der Fotografie zu testen.

Jedes Stilleben ist eine Weltanschauung. Die unzähligen Stilleben vermögen Sudeks Weg am besten zu charakterisieren. Am Anfang steht die Sachlichkeit, eine radikale Einfachheit, ein Elementarismus bis hin zum Minimalismus. Die fotografierten Gegenstände sind oftmals verbunden mit dem menschlichen Grundbedürfnis, der Ernährung: ein Glas Wasser, ein Brot, ein Ei, eine Zwiebel, ein Apfel, eine Birne. Am Ende steht hier die “Welt als Labyrinth”: die Unordnung auf Sudeks Tisch und um ihn herum, ferner “Gläserne Labyrinthe”, “Kontraste”. Andere späte Stilleben sind eher Äquivalente der inneren Verfassung und lassen sich frei dem Zyklus “Erinnerungen” zuordnen: die “Flugerinnerungen” (mit der Luftpost von Freunden) und die “Ostererinnerungen”. In dem zuletzt genannten späten Zyklus leuchtet ein mystisches Licht, Josef Sudek hat wohl bereits an den Tod gedacht. Lichtstrahlen dringen an manchen Stellen durch den Rokokorahmen und “tragen” religiöse Gegenstände in schwerelosem Zustand. Ein schräg von oben einfallendes Gegenlicht dominiert manchmal und ist nicht nur Instrument der Darstellung, sondern auch deren Objekt, ähnlich wie es in den zwanziger Jahren auf den Aufnahmen aus dem Versehrtenheim Invalidovna und aus dem St. Veitsdom der Fall ist.

Der Ordnung halber sei hinzugefügt, daß Sudek bereits zu Beginn der fünfziger Jahre auch einige “ästhetische Objekte” wie etwa Muscheln fotografiert hat und daß seit den zwanziger Jahren auch im St. Veitsdom, bei Bekannten und in den Straßen vorgefundene Stilleben ihren bedeutenden Platz in seinem Schaffen einnehmen (überwiegend zählen sie zum Zyklus “Kontraste”).

Über die Komplexheit von Sudeks Werk können wir uns vorerst noch keine richtige Vorstellung machen. Ständig tauchen noch unbekannte Fotografien von grundlegender Bedeutung auf. Die Vorbereitung seiner Ausstellung im Jahre 1976 hat Sudek nicht mehr reaalisieren können.

15 Sudek vermochte auch auf politische Ereignisse außergewöhnlich (und originell) zu reagieren. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei im Jahre 1968 übergab er Jan €ezáã als Neujahrskarte eine traurige

Ansicht der Prager Burg durch einen aus Bäumen bestehenden schwarzen Trauerflor (Kat.-Nr. 48).

16 Jaroslav Andûl: Obrazová kvalita ve fotografiích

Josefa Sudka. [Die Bildqualität in den Fotografien

Josef Sudeks] Fotografie XVII, 1973, Nr. 2, S. 18-19.

Im Bereich der Malerei und Bildhauerei ist Vojtûch

Volavka Begründer der Theorie der Autorenhandschrift.

17 Jaroslav Andûl, Poezie prostoru a filozofie ãasu [Poesie des Raumes und Philosophie der Zeit], in:

Jaroslav Andûl (Hrsg.), Pocta Josefu Sudkovi [Zu

Ehren von Josef Sudek], op. cit. Anm. 1. Andûls

Formulierungen sind gekürzt wiedergegeben.

Jaroslav Seifert, Josef Sudek - Pan fotograf [Josef Sudek - Der große Fotograf], op. cit. Anm. 7, S. 203. Der kurze Überblick über die einzelnen Zyklen aus Sudeks reifem Schaffen der Jahre 1940-70 hat angedeutet, um welch komplexes Werk es sich handelt.14) Sudek umfaßt alle traditionellen Genres und schafft darüber hinaus noch ein eigenes Repertoire. Die Dokumentarzyklen (Prag, die Gegend um Most, Janáãeks Hukvaldy...) gehen mit den Höhepunkten des Subjektivismus in der Fotografie einher. Er war Romantiker, Lyriker und ein knallharter Diagnostiker. Er verlieh den beiden lebendigsten Traditionen der tschechischen Nachkriegskunst seine eigene Gestalt: der vom Surrealismus abgeleiteten Tradition und der Tradition des “Zivilismus”, der Alltagspoesie.

Eine Unterteilung der einzelnen Zyklen ist in diesem Text wie auch in der Ausstellung wahrscheinlich notwendig, denn einerseits respektiert sie den Autor und andererseits muß die außerordentliche Komplexität von Sudeks Werk irgendwie strukturiert werden. Die vom Autor stammende Datierung in Jahrzehnten (nach den Formaten der Kameras, die er benutzte und nach verschiedenen weiteren äußerlichen Anhaltspunkten) gliedert zwar eigenwillig sein Schaffen, aber wenn wir uns um eine genauere Datierung bemühen, reicht er uns nur selten eine helfende Hand. Man kann sich fragen, was uns in dieser Hinsicht die Auswertung von Sudeks Nachlaß bringt, mit der in den zwanzig Jahren seit seinem Tode kaum begonnen wurde. Hinsichtlich der Schaffensdiachronie ist es klar, daß die Zahl der Fotografien, die außerhalb Prags entstanden sind, mit der Zeit zurückgeht. Am längsten fährt Josef Sudek in die Beskiden, bis ins Jahr 1970. Es kann wie ein Paradox oder wie ein Wunder erscheinen, daß die heroische Zeit Josef Sudeks gerade die vierziger und fünfziger Jahre sind, die Zeit des Krieges und die danach, ab dem Jahre 1948, die der stärksten politischen Unterdrückung, die sich erst ab dem Jahre 1956 zu entspannen begann. Um so wichtiger ist sein Werk. Sudek reagierte nur darauf, was unter der Oberfläche der jeweiligen Zeit verborgen war.15)

Hinsichtlich der Synchronie des Schaffens ist es erstaunlich, welche unterschiedlichen Werke gleichzeitig oder mit geringem zeitlichen Abstand entstanden sind. Nehmen wir z.B. nur das Jahr 1959, damals erschien das Buch Prag als Panorama, Sudek portraitierte das zweite Jahr die Gegend um Most, er fotografierte den Frühling in Prag, den “Zaubergarten”, die “Erinnerungen”. Und das ist sicherlich noch nicht alles.

Bei all seiner Vielfalt ist Sudeks reifes Werk einheitlich, weil seine Integrität tiefer liegt als alle Unterschiede. Wer einmal Sudeks Fotografien begegnet ist, kann sie auf den ersten Blick erkennen, häufig noch bevor er das Bild “liest”. Es war gerade Sudeks Werk, das Jaroslav Andûl inspirierte, bei Fotografien den kunstwissenschaftlichen Terminus “Autorenhandschrift” zu verwenden.16) Gewöhnlich genügt auch ein Ausschnitt eines Positivs mit einem nicht erkennbaren Motiv, um Sudeks “Handschrift” darin zu erkennen.

Josef Sudek kann als Modellschöpfer des fotografischen Schaffens angesehen werden. Jaroslav Andûl begrenzte dieses Modell in negativem Sinne als Kontradiktion der Moderne.17) Sudeks Werk hat keinen programmatischen Charakter, es erschöpft sich

nicht in einer Methode, Spezialisierung oder Reduktion, es altert nicht, ist nicht polemisch, es ist gegenüber allen Traditionen und der Zeit offen. Es macht auf die fesselnden Konventionen der Moderne aufmerksam, es bietet eine Plattform, von welcher die Prinzipien der modernen Kunst neu betrachtet werden können. Eine Plattform, die von den Prinzipien der Postmoderne durchdrungen ist.

Eine positive, wenn auch partielle Betrachtungsweise von Sudeks Art zu fotografieren ist es, die alten Kameras und die Technik der Kontaktpositive hervorzuheben. Das Werk kann dann als eine mehr oder weniger konsequente Rückkehr ins 19. Jahrhundert gelesen werden. Jan €ezáã, der erste sensible Interpret von Sudeks Werk, sah in Josef Sudek gewissermaßen eine Seelenwanderung von Eugène Atget. (Der Vergleich ist zutreffend, auch wenn es um die Verwandtschaft des sich auf das Handwerk und auf die Ablehnung der Theorie gründenden Schaffenstypus geht.) Basiert Sudeks Werk demzufolge auf der Modellfotografie, die nur die Wirklichkeit und ihre Kopien auf dem lichtempfindlichen Material in der Kamera kennt?

Wie erklärt sich dann aber, daß man Sudeks Fotografien von allen anderen unterscheiden kann, daß nur ein sehr unsensibles Auge sie für unpersönliche “Abdrücke der Wirklichkeit” halten kann, sei sie Vergangenheit oder Gegenwart? Was wenn die von Sudek zustande gebrachte Verschiebung die ganze Geschichte der Fotografie umspannt? Die Fotografie hat sich direkt zu An-beginn ihrer Existenz als Medium formiert, das eine Verselbständigung der visuellen Gestalt der Erscheinungen ermöglicht. Der Fotograf konnte in begrenztem Maße entscheiden, inwieweit er die Lage der “entpräparierten” Gestalten in Raum und Zeit, ihr “hier und jetzt”, illusionistisch vermittelt. Die fotografische Zwischenkriegsavantgarde - insbesondere die Neue Sachlichkeit - knüpfte an dieses Modell an, griff sich jedoch lediglich den darstellenden Verismus heraus und unterdrückte in höchstem Maße die konkrete Lage der dargestellten Objekte mit ihren Abstrak-tionsmethoden (ungewöhnliche Blickwinkel, Details, Flächen-kompositionsprinzipien u.ä.). So hat in den dreißiger Jahren auch Josef Sudek gearbeitet. Ein noch höherer Abstraktionsgrad ist für die Nachkriegs-, d.h. subjektive Fotografie kennzeichnend. Gerade und nur die Abstraktion wurde für Sudek jedoch unannehmbar. Die Fotografie des vorigen Jahrhunderts imponierte ihm wahrscheinlich wegen ihrer Illusionskraft, von der aus es nur noch ein kleiner, wenn auch mühseliger Schritt war bis zur Vermittlung der authentischen Wahrnehmung, des authentischen Erlebnisses. Durch sein Spätwerk sträubte sich Sudek gegen die Entfremdung des fotografischen Bildes sowohl von der Wirklichkeit vor der Kamera, als auch von dem wahrnehmenden Auge hinter der Kamera.

Der Zyklus “Fenster meines Ateliers” nimmt in Sudeks Werk eine prophetische Stellung ein. Er enthält die Voraussetzung der Betrachtung, der Inaugenscheinnahme, die Betonung auf die Anwesenheit eines wahrnehmenden Subjektes. Das ist der Schlüssel zu Sudeks reifem Werk. In ihm ist das Kontaktpositiv bereits nicht allein Mittel zur mikroskopischen Beschreibung der Dinge. Es ermöglicht auch die Abbildung von Lichtsituationen, die sowohl auf die Zeit, als auch auf die sinnliche Wahrnehmung und auf die von der Wahrnehmung abgeleiteten subjektiven Resonanzen verweisen. Beständige und unveränderliche “Dinge an sich”, die für die Neue Sachlichkeit kennzeichnend sind, werden in veränderliche Ereignisse des Sehens transformiert. Aus einer Welt der Objekte und ihrer aus Raum, Zeit, Ort und allen Zusammenhängen gerissenen Teile wurde eine betrachtete Welt. Die illusionistischen Räume von Sudeks Fotografien begannen, sich insbesondere in den Landschaften auf den Betrachter zu beziehen, ihn in die Position der Kamera zu bringen, ihm die Beobachtung der durch Licht- und zeiträumliche Situationen “sich eröffnenden Welt” zu ermöglichen, die mit dem Gedächtnis, der Vorstellungskraft, der geistigen Erfahrungen des Wahrnehmenden korrespondieren. Die glaubwürdige und Dank der Kontaktkopien detailliert dargestellte Situation vor der Kamera ermöglicht es, sowohl die Authentizität der konkreten “hier und jetzt”- Situation, als auch die Authentizität des visuellen Erlebnisses, das den Fotografen dazu brachte zu fotografieren, zu transportieren. Sudek hat seit dieser Zeit nie mehr aus solch unmittelbarer Nähe fotografiert, daß die Situationskoordinaten vor der Kamera verschwunden wären.

“Situationsabdrücke” werden mit polyfunktionalem Licht vermittelt, was für Sudek das ist, was für den Maler Pinsel und Palette sind; nicht nur ein unerläßliches Mittel beim Entstehen einer Fotografie, sondern auch Gegenstand der Portraitierung und vor allem der gestaltenden Macht der Gestalt dessen, was portraitiert wird. “Mit dem Licht kämpfte er wie Jakob mit dem Engel.” 18) Am häufigsten kursieren Geschichten über das Warten auf das richtige Licht bei Sudek. Der Umgang mit dem Licht ist um vieles schwieriger als der mit Pinsel und Palette. Trotz einem reichen Erfahrungsschatz was die Transformation

19 Rudolf KfiesÈan, Josef Sudek. MuÏ s ãernou bed˘nkou [Der Mann mit dem schwarzen Kasten].

Mlad˘ svût 1976, Nr. 18.

20 Antonín Dufek, Zrcadlo vzpomínek / Mirror of

Remembrances, in: RÛÏe pro Josefa Sudka [Eine Rose für Josef Sudek], op. cit. Anm. 7, S. 18 - 21.

Ursprünglich in: Jaroslav Andûl (Hrsg.), Pocta Josefu

Sudkovi [Zu Ehren von Josef Sudek], op. cit. Anm. 1.

Aus einem Interview mit Jaroslav Andûl, 1976, Tonbandaufnahme, Archiv der Fotosammlung der Mährischen Galerie.

My Camera on Point Lobos, 1950. Weston betonte, ähnlich wie Sudek, bereits in dem Titel seinen Anteil, sein Ich. Das Buch wurde Josef Sudek aus den USA von MUDr. Josef V. Brumlík geschickt, wann, ist nicht bekannt. Weston wurde von Sudek wahrscheinlich zum ersten Mal in einem Interview aus dem Jahre 1956 erwähnt, vgl. hier Aus Interviews mit Josef Sudek”. der fotografierten Realität in ein Bild angeht, war Sudek oftmals vom Resultat enttäuscht und eignete sich die Gewohnheit an, seine Negative so lange “liegen” zu lassen, bis er vergessen hatte, wie er sich das Ergebnis des Bildes während seiner Belichtung vorgestellt hatte. Erst dann fertigte er eine Kopie davon an.

Heute können wir uns schwerlich vorstellen, daß das Licht sich der Macht dieses Fotografen entziehen konnte. Während die gesamte Nachkriegsfotografie dem graphischen Ausdruck entgegenstrebt, treten auf seinen Fotografien keine leeren weißen oder schwarzen Flächen auf. Das durch zarte Valeurs der Farbtonskala der Positive repräsentierte Licht organisiert zugleich das Bild als seine dynamische Komponente, als “Bildgeschehen”. Es gestaltet die harmonische und rhythmische Gliederung, Akzente und Intervalle, Kontrapunkte und Akkorde, und ermöglicht es dem Autor, seine musikalische Wahrnehmung umzusetzen. Das Licht strahlt und flimmert, es kämpft mit der Dunkelheit, es leuchtet aus den abgebildeten Gegenständen, es verhindert die Verselbständigung ihrer Formen und konserviert ein früheres “hier und jetzt”. In der Fotografie werden die Bilder der Dinge stets durch Licht geboren, selten jedoch macht ein Fotograf in seinem Werk darauf aufmerksam. Sudeks Arbeit macht in diesem Sinne manchmal einen metaphysischen Eindruck, so als ob alle Wirklichkeit durch eine Verdickung oder Verdünnung des Lichtes entstünde. In der Malerei stellen die Stilleben von Giorgio Morandi eine Parallele zu solchen Fotografien dar. Sudek erinnert gerne an Andersens Märchen Der Zinnsoldat, in welchem Dinge in der Nacht zum Leben erwachen. Auf Sudeks Fotografien werden die Dinge durch das Licht zum Leben erweckt. Am häufigsten geschieht dies bei einer intimen Beleuchtung, oftmals an der Grenze des Sichtbaren, die eine enge Beziehung zu den Dingen herstellt. Das lebendige und belebende Licht schafft die Illusion einer universellen Einheit der Welt. Die Zerschlagung der modernen Welt in voneinander unabhängige Seinsganzheiten hat für Sudek keine Gültigkeit.

Während der Vorbereitung der Ausstellungen in Brünn und Prag (1976) fügt Sudek vor seinem Tod den Zyklen Worte wie “Spaziergang durch...”, “Ansicht von...” bei, er subjektiviert sie: “Es ist mir mit Ach und Krach gelungen, die Fotografien nach den “Erinnerungen”, “Labyrinthen” und “Spaziergängen” zusammenzubasteln...”19) Die Bezeichnungen implizieren die Existenz der Person, die spazierengeht, sich mühsam durch das Labyrinth kämpft, sich erinnert: die des Autors. Es sind manifeste Bezeichnungen. Sudek gelangt offenbar zu der Meinung, daß in seinen Fotografien nicht nur ein “Abdruck” des Visuellen zu finden ist, sondern auch seiner Persönlichkeit selbst. Es gelingt ihm noch, darauf aufmerksam zu machen, daß seine Fotografien nicht nur Illusionen der Wirklichkeit sind, sondern Illusionen von geschauter Wirklichkeit und ihres fixierten Durchlebens.

Man kann sich anhand seiner Fotografien leicht vorstellen, wie Josef Sudek spazierengeht, denn auf jedem von ihnen hinterließ er seine Spuren, seine Handschrift. Signifikant ist auch der Titel “Erinnerungen”. Bezeichnet man die Fotografie des 19. Jahrhunderts als einen Spiegel mit Gedächtnis, können Sudeks Fotografien mit Spiegeln der Erinnerungen gleichgesetzt werden.20 ) Wenn die Metapher “Spiegel mit Gedächtnis”

unter anderem auch das Faktum zum Ausdruck bringt, daß alle Fotografien alt sind, daß sie nichts anderes zu fixieren vermögen als vergangene Augenblicke, wird die Vergangenheit in Erinnerungen für die Gegenwart zum Leben erweckt. Sudeks “reife” Fotografien gehören alle in eine Geisteswelt, in der Bilder aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Orten koexistieren. Es sind Bilder aus Momenten, die jeweils so stark waren, daß sie in der Erinnerung haften geblieben sind. Sie haben jeweils einen ähnlichen Sinn und Gewichtigkeit. Sie ähneln in ihrer unerschöpflichen lebendigen Bedeutsamkeit Erinnerungen, und sind durchdrungen von Emotion und Illusion, Assoziationsreichtum und der Fähigkeit, aktuell zu sein.

Zusammenhänge

Bis heute wird mehr über Sudek als über sein Werk geschrieben, das nebenbei bemerkt überwiegend als Selbstverwirklichung des Autors interpretiert wird. So als ob es aus dem Kontext der künstlerischen Fotografie herausgerissen worden wäre. Gehört es überhaupt in seine Zeit? Sind die mit uralten Kameras belichteten Kontaktkopien von Großformatnegativen nicht genauso kurios wie ihr Autor? In der Ära des Fotojournalismus und der sogenannten bildkünstlerischen Fotografie war dieser Fotograf eine Erscheinung aus einer anderen Welt, warum also sollte die Welt nicht genauso alt wie seine Kameras sein? Dem hat Sudek schließlich nicht widersprochen: “Ich dachte, daß mit mir irgendwas aufhört.” 21) Heute hat Sudek in seinem Heimatland allerdings viele Nachfolger, die Großformatkameras verwenden.

Sudek entzog sich seiner Zeit nicht, er vermochte jedoch, sich vielen ihrer Irrtümer zu entziehen. Sein Werk ist aus der Tradition der tschechischen Kultur erwachsen und knüpft an die wahren Werte der tschechischen Kunst an. In ihm erklingt die Innigkeit der Musik Leo‰ Janáãeks, das flimmernde Licht von Josef ·ímas Bildern, die Einfachheit von Jan Zrzav˘s Gemälden, der Lyrismus des Dichters Jaroslav Seifert aber auch das Suchen der “Perlen auf dem Boden” des Alltäglichen (Bohumil Hrabal).

Als Häretiker tritt Josef Sudek vor allem im Vergleich zum dominanten Trend der Nachkriegsfotografie in Erscheinung, die östlich vom Eisernen Vorhang als bildkünstlerische Fotografie und auf der anderen Seite als subjektive Fotografie bezeichnet wurde. Während diese Fotografie den Anteil des Subjektes am Lichtbild durch die Abkehr von der Illusion und durch die Zuwendung zu den verschiedensten Abstraktionsarten manifestierte, wollte Sudek alle rationale Verfahren meiden. Er wollte das Bild aus der Kamera weder reduzieren noch ändern, was vor allen Dingen auch auf ihn selbst zutraf. Er brauchte nur die “kühle Sichtweise” der Neuen Sachlichkeit in eine komplexere und innerlichere Sichtweise zu verwandeln, was ihm auch gelungen ist. Man kann ihn als den bedeutendsten Vertreter der Subjektivierung des rationalen und unpersönlichen Stiles der dreißiger Jahre betrachten. Makellos und mit außerordentlicher Vielseitigkeit vollzog er die Wende, die im letzten Buchzyklus Edward Westons 22) angedeutet und später auch durch die enger gefaßten Intentionen der Irrationalisten wie es Minor White oder Wynn Bullock waren, entwickelt wurde. Er umspannte auch die imaginative Position, die in den USA von Clarence John Laughlin, einem Neoromantiker aus New Orleans parallel entwikkelt wurde. Im Alter stand Sudek auch Paul Strand (Naturfoto-grafien von Orgeval) nahe, der ein halbes Jahr vor ihm starb. In Europa, wo die Tradition der Großformatfotografie und der Kontaktpositive noch nicht entwickelt war, treten die Zusammenhänge mit der Vergangenheit stärker in Erscheinung, vor allem die mit Eugène Atget. An die Vergangenheit erinnern oft auch die Objekte, die Sudek fotografierte. Wegen ihnen und wegen seiner Darstellung des Lichtes wird er gewöhnlich zu den Romantikern, unter Umständen zu den barocken Künstlern gezählt. Wir können jedoch annehmen, daß für Sudek alles Bestandteil der Gegenwart war was erhalten blieb, und zwar nicht nur faktisch, sondern auch als schöpferische Möglichkeit. Die lineare historische “Entwicklung” war für ihn wohl kein Begriff. Es war ihm egal, ob er modern ist, und er wußte nicht, daß er postmodern ist. Wenn er sich von der zeitgenössischen Mode inspirieren ließ, gelangte er zu Formulierungen, die über die jeweilige Zeit hinausgingen, er näherte sich dem Absoluten. Die Bedeutung seines Werkes kommt der Bedeutung der Musik gleich.

Die Bezüge von Sudeks Werk führen nicht nur in die Vergangenheit. Es ist kein Wunder, daß es in der Postmoderne zu einer “Neuinterpretation” eines Werkes mit einem solch beachtenswerten Verhältnis zur Tradition kommt. (Sudeks Werk muß sorgfältig Stück für Stück analysiert werden.) Bei der Komplexheit von Sudeks Werk überrascht noch nicht einmal der Umstand, daß man einerseits Robert Adams oder James Welling, und andererseits Claudio Parmiggiani oder Olivier Richon als Erbe seines Vermächtnisses ansehen kann. Für viele ist Sudek heute der größte europäische Fotograf.

Fenster meines Ateliers und Stilleben am Fenster

Als ich dann während des Krieges mein Fenster zu fotografieren begann, entdeckte ich, daß unterhalb des Fensters sehr oft etwas geschah, das für mich immer bedeutungsvoller wurde. Irgendein Gegenstand, ein Blumenstrauß, ein Stein, kurz, irgend etwas trennte diese Stilleben und machte daraus unabhängige Bilder. Ich glaube, die Fotografie liebt banale Gegenstände, und ich liebe das Leben der Gegenstände. Sicherlich kennen Sie das Märchen von Andersen: Die Kinder gehen schlafen, und da erwachen die Gegenstände, die Spielsachen. Ich möchte vom Leben der Gegenstände erzählen, etwas Mysteriöses darstellen: die siebente Seite eines Würfels.

Ich kenne diese Stilleben aber auch jene aus den sechziger Jahren, deren Motive durchaus nicht einfach und banal sind; es gibt darunter sehr bizarre Gegenstände, sehr raffinierte und kostbare, die den Bildern einen Hauch der Manieriertheit geben.

Ich nenne sie „Die Erinnerungen“. Ich wurde durch Geschenke von Freunden zu diesen Bildern angeregt und versuchte, durch die Kompositionen die Spender, die nicht mehr unter uns weilen, zu ehren.

Anna Fárová, Gespräche mit Sudek zwischen dem 12. Dezember 1975 und dem 2. Februar 1976. Camera LV, 1976, Nr. 4, S. 36.

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